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Ohne jegliche Erinnerung wurde Máire von ein paar Jugendlichen aus dem Fluss Fal gefischt. Sie kennt nicht einmal ihren richtigen Namen. Jahre später lebt sie mit ihren sieben Rettern in Tremain, der nördlichsten Stadt der Südlande, ein entbehrungsreiches Leben und verdingt sich dort als Diebin. Doch als sie eines Tages ein geheimnisvolles Phönixamulett stiehlt, holt sie ihr vergessenes Leben ein. Sie begegnet dem mysteriösen Krieger Cadan. Von ihm erfährt sie, dass ein Fluch auf ihr lastet, der sie töten wird. Kann sie mit Cadans Hilfe diesen Fluch brechen?
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Seitenzahl: 346
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Epilog
Rotkäppchen–Werwolfjägerin
Leseprobe
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Die Schattenreich Chroniken – Kreaturen der Nacht
Prolog
1. Kapitel
Manchmal träume ich, ich würde durch tiefe Wälder galoppieren, frei und ungezügelt. Nichts und niemand vermag, mich aufzuhalten. Doch dann öffne ich die Augen und finde mich in der schäbigen Unterkunft wieder, in der ich mit den anderen Verlassenen hause.
In diesen Momenten frage ich mich, ob der ewige Schlaf nicht besser wäre …
»Máire, wach auf.« Declan rüttelte an meinem Arm. »Máire«, wiederholte er den Namen, der inzwischen meiner geworden war. Keine Ahnung, wie ich wirklich hieß. Diesen hatten mir die anderen sieben Verlassenen gegeben, die mich vor ein paar Jahren aus dem großen Strom namens Fal fischten, der parallel zum Eras-Gebirge verlief. Ihr Dorf war von wilden Bestien überfallen worden. Um sie zu retten, hatten ihre Eltern sie in das einzige Boot gesetzt, über das das Dorf verfügte. Dabei waren sie ein großes Risiko eingegangen, weil der kleine Flusslauf sehr unberechenbar war und das Boot leicht hätte kentern können. Aber es war auch der einzige Weg gewesen, um die Bestien abzuschütteln, denn im Wasser konnten sie einer Spur nicht folgen. Ihre Eltern befahlen ihnen, nach Tremain zu gehen, sie würden bald nachkommen. Bis heute hatten die Verlorenen nichts von ihnen gehört, und ich wagte es zu bezweifeln, dass sich dies jemals ändern würde. Die Bestien verschonten niemals ein Leben.
Nachdem die Kinder tagelang von einem Fluss in den nächstgrößeren getrieben waren, erreichten sie den Fal und fanden mich. Sie gaben mir einen neuen Namen, weil meine Erinnerungen nur bis zum Augenblick des Erwachens zurückreichten und ich daher keine Ahnung hatte, wie mein richtiger lautete. Máire bedeutete Rebellin, und vielleicht passte das zu mir? Ich wollte für uns ein besseres Leben; dass die Menschen aus Tremain uns respektierten und nicht wie den Dreck behandelten, der die matschigen Straßen bedeckte. Aber Diebesgesindel bekam keinen Respekt, nur Schläge, oder schlimmer noch: Ihm wurden die Hand abgehackt.
»Jetzt wach schon auf. Die ersten Sonnenstrahlen kitzeln bereits die Dächer. Es wird ein schöner Frühlingstag werden.« Declan wurde energischer, unter mir knisterte das Stroh. Ich kam mir wie ein Schiff im Sturm vor.
»Lass es sein, mir wird ja schon schlecht. Bitte, nur noch ein paar Augenblicke«, murmelte ich verschlafen.
»Nein, der Markt beginnt, das ist die beste Zeit für Diebe. Die Stände sind zum Bersten gefüllt mit Waren und die Menschen noch müde und somit unaufmerksam.« Declan hörte einfach nicht mit dem Rütteln auf.
»Bin ja schon wach.« Ich schlug die löchrige Decke zurück und setzte mich schwerfällig auf. Alle anderen Betten waren leer. Genaugenommen waren es keine Betten, sondern strohgefüllte Säcke auf dreckigen Dielen, und ich konnte mich nicht erinnern, ob ich jemals in einem richtigen Bett geschlafen hatte.
»Wo ist der Rest?«, fragte ich und strich über mein Haar. Vielleicht sollte ich es neu flechten? Ach, der Zopf tat's noch.
»Sie sind schon unterwegs«, antwortete Declan. Das Gute war: Ich brauchte mich nicht lange anzuziehen, denn wir schliefen grundsätzlich in unserer Kleidung, falls wir schnell flüchten mussten. Es war schon des Öfteren vorgekommen, dass Leute, die uns Unterschlupf gewährten, die Belohnung für die Ergreifung von Dieben lukrativer fanden als den Anteil an der Beute. Wie dem auch sei – wir mussten erst Beute machen, um die Wirtin bezahlen zu können, und was sie für diesen schäbigen Dachboden verlangte, war unverschämt. Das hieß leider: aufstehen und Münzen für unser sagenhaftes Domizil heranschaffen. Daher ergriff ich meine Stiefel. Aber was beschwerte ich mich. Es gab die Strohsäcke und dazu sogar eine Kerze. Die wir sparsam gebrauchen mussten. Wir entzündeten sie meist nur, wenn ich mit Keena, unserer Jüngsten, zum Einschlafen in dem einzigen Buch las, das wir besaßen. Zur Verwunderung aller hatte ich ziemlich schnell nach meiner Rettung festgestellt, dass ich lesen konnte. Daher vermutete Hal, der Älteste unter uns und damit unser Anführer, ich könnte die Gesellschafterin einer Maid aus adligem Hause gewesen und als ich nicht mehr gebraucht wurde, weil man meine Herrin vermählt hatte, einfach entsorgt worden sein. Nach seiner Meinung hatte sie mich bewusstlos geschlagen und in einen Fluss geworfen, der in den Fal mündete. Die Wunde, die ich bei meinem Auffinden am Hinterkopf hatte, sprach für diese Theorie. Wenn dem wirklich so war, konnte trotzdem keiner sagen, wo genau dies geschehen sein mochte. Es mündeten so viele kleine Flüsse in den Fal, fast wie die Adern eines Blattes in den Stängel. Das war auch der Grund, dass ich nicht wusste, wie viele Winter ich schon gesehen hatte. Hal schätzte damals sechzehn, und rechnete man die vier hier in Tremain dazu, müssten es wohl zwanzig sein. Aber wer zählte das schon so genau? Ein Winter war wie der andere und man konnte froh sein, dass man ihn überlebt hatte. Denn so nah am Eras-Gebirge, das das gesamte Nordreich vom Süden trennte, waren die Winter bissig. Doch die Stadt bot bessere Überlebenschancen als die bestienverseuchten Wälder.
Tremain war inzwischen zu einer der größten Städte des südlichen Reiches angewachsen, nicht nur vom Fluss Fal umschlossen, sondern auch von einer dicken Steinmauer, die erst vor wenigen Jahren nach Vorbild der großen Städte des Nordens komplett fertiggestellt worden war. Das machte Tremain, die einst nur vom Fluss geschützt wurde, besonders, denn die meisten Siedlungen hier im Süden waren aus Holz und Lehm erbaut, die höchstens ein Palisadenwall umgab. Die leicht geneigten Dächer aus äußerst tragfähigem Flussschilf waren wesentlich robuster als die aus Stroh. Doch man munkelte, dass die Dächer im Norden Stein bedeckte. Alles in allem bot die Stadt Sicherheit und quoll daher von Menschen über, denn viele flüchteten sich hinter ihre Mauern. Jeder Winkel wurde ausgenutzt. Es gab Zeiten, da hatte man das Gefühl, es würde täglich ein neues Haus in die Höhe wachsen, schneller als Pilze im Wald. Weiter südlich existierten meist nur kleine Dörfer, ab und zu eine Festung, und Wälder voller Bestien. Aber das lag jenseits dieser Mauer.
»Komm jetzt.« Declan stand schon an der Luke, durch die frische Luft in den Raum gelangte, und auch Licht. Der Wind spielte mit seinem dunklen Schopf. Wir durften das Haus nur auf diesem Weg verlassen, denn die Wirtin wollte nicht, dass uns ihre anderen Gäste zu Gesicht bekamen. Ich stieg auf den schmalen Holzbalken vor der Luke, spähte auf die vier Stockwerke tieferliegende Straße. Keiner der Passanten bemerkte uns. Der immerwährende Gestank des Geberviertels wehte zu uns herauf. Daher lebten hier nur die Ärmsten der Armen – keiner, der nur etwas Geld hatte, ertrug den bestialischen Gestank. Ich verzog das Gesicht. Doch lieber auf einem schäbigen, stinkenden Dachboden leben, als in den Straßen betteln zu müssen. Es hatte zum Glück schon lange nicht mehr geregnet, wodurch der Matsch zum größten Teil erstarrt war. Tiefe Fahrrillen zeugten davon, dass es hier ganz anders zugehen konnte.
»Komm jetzt«, drängelte Declan. Er lief über das Dach, das Schilf raschelte unter seinen Schuhen. Leichtfüßig sprang er auf den gegenüberliegenden Holzerker, hangelte sich behände am Gebälk hinunter und stand nur wenig später in der kleinen Gasse. Ich tastete nach meinem Dolch am Gürtel und stellte beruhigt fest, dass er da war. Anschließend trat ich ebenfalls den Weg nach unten an. Auf den Dächern der Stadt fühlten wir uns zuhause, sie waren häufig unsere einzige Fluchtmöglichkeit. Declan und ich folgten der schmalen Gasse, die in eine größere Straße mündete. An der Ecke saß Arto, wie jeden Tag. Einst war er ein Krieger gewesen, doch in einer Schlacht hatte er ein Bein verloren. Jetzt musste er für seinen Lebensunterhalt betteln. Ich blieb vor ihm stehen.
»Na, wie geht es dir heute?«, fragte ich ihn.
»Nicht besser als gestern, und morgen wird es mir nicht besser als heute gehen«, erwiderte er. Ich ging in die Hocke und blickte in seine Augen, die fast das gleiche dunkle Blau besaßen wie meine.
»Du wirkst etwas kränklich. Ich werde dir Brot besorgen.« Sanft fuhr ich über sein schmutziges Gesicht, spürte seine lange Narbe unter meinen Fingern.
»Sieh weg, du bist viel zu schön, um dir solche Hässlichkeit anzuschauen«, sagte er rau. Er wollte sich abwenden, doch ich hielt ihn mit sanfter Gewalt auf.
»Ich sehe hier keine Hässlichkeit. Nur einen Mann, der für sein Land gekämpft hat. Es ist eine Schande, dass du an deinem Lebensabend hier sitzen und betteln musst. Wäre ich Herrscherin, würde ich dafür sorgen, dass tapfere Männer wie du ein Auskommen haben.«
»Du hast ein so gutes Herz, Máire.« Er umfasste meine Hand, zog sie von der Wange und hielt sie fest. »Ich wünschte mir für dich, du wärst eine Herrscherin.« Er gab mich frei.
»Komm jetzt.« Declan zog an meinem Ärmel.
»Geh nur, ich sitze hier und wache über die Gasse«, meinte Arto. Ich erhob mich. Während ich weiterlief, zog ich die Kapuze, die an meinem Wams befestigt war, tief ins Gesicht, damit mich die Leute nicht gleich als Frau erkannten. Denn wie die Jungs trugen auch wir Mädchen Hose, Hemd und Wams. In einem bodenlangen Kleid war nur schlecht über Dächer zu klettern. Zudem versteckte die Kapuze mein Gesicht. Meine auffällig bleiche Haut leuchtete fast wie der Mond am Nachthimmel aus der Menschenmenge heraus. Die meisten hier besaßen einen mehr oder weniger sonnengebräunten Teint. Aber ich konnte tun, was ich wollte, ich blieb so bleich, wie ich war. In adligen Kreisen würde man das als vornehm empfinden, doch auf der Straße war es eher lästig. Wenigstens entsprach mein ebenholzschwarzes Haar den hier vorherrschenden dunklen Schöpfen. Denn das Wichtigste für einen Dieb war es, nicht hervorzustechen, in der Menge unterzugehen und keinerlei Wiedererkennungsmerkmale zu besitzen. Umso unauffälliger das Erscheinungsbild, desto besser. Hinter Declan wich ich den Fahrrinnen aus, die sich in den matschigen Boden gegraben hatten. Schweine suchten im Unrat, den die Leute einfach aus ihren Fenstern auf die Straße schütteten, nach Fressbaren. Im Schatten der Häuser huschten Ratten umher. Aus jeder Richtung drang Gestank zu mir.
Wir erreichten den Markt, auf dem es schon zu der frühen Stunde sehr geschäftig zuging. Ein Durcheinander an Karren und Ständen. Declan und ich trennten uns. Unzählige Mägde und Burschen besorgten die Zutaten für ein reichhaltiges Frühstück oder Mittagessen. Hier roch es wesentlich besser. Das Aroma von Gewürzen, frischen Broten und Seifen umgarnte meine Nase. Ich schlenderte zwischen den Wagen und Ständen umher, auf denen die Waren präsentiert wurden. Tatendrang rauschte durch meine Adern, wie er es immer tat, wenn ich auf Diebestour ging. Mein gesteigertes Interesse galt den Geldbörsen, die an Gürteln hingen oder in Körben lagen. Außerdem hielt ich nach meinen Kameraden Ausschau, die vermutlich bereits bei der Arbeit waren. Hal hatte ich schon entdeckt. Er lehnte neben der Schmiede an der Wand und beobachtete ebenfalls das Geschehen. Die dunklen Locken hingen tief in sein Gesicht, verbargen fast seine warmen braunen Augen. Unsere Blicke trafen sich. Er nickte mit dem Kopf in Richtung einer Magd, die aufgebracht mit dem Fischhändler diskutierte. Schon war ich bei der Maid, stieß wie zufällig gegen ihren Korb.
»Verzeihung, Herrin«, murmelte ich, und einen Wimpernschlag später gehörte die Börse, die im Korb wie auf einem Präsentierteller gewartet hatte, mir.
»Pass doch auf, Tollpatsch«, fuhr sie mich an. Ich trollte mich, übergab die Börse unter der Hand an Hal, als er mir entgegenkam. Dann verschwand er in der Menge.
»Den Preis bezahle ich nicht. Schau dir diesen Fisch an! So etwas kann ich meinem Herrn nicht servieren«, fuhr die Magd lautstark mit der Diskussion fort.
»Ich kann dir einen anderen anbieten«, versuchte der Händler, einzulenken. Dann waren die beiden außer Hörweite.
Ich kam an einem Brotstand vorbei. Der Bäcker schäkerte mit einer Kundin, schlichtete galant Brote in ihren Korb, blitzschnell griff ich mir zwei Laibe und drehte mich um. Zügig, aber keineswegs zu hastig, damit ich nicht verdächtig wirkte, entfernte ich mich von dem Stand und stopfte die kleinen Laibe in den Beutel an meinem Gürtel. Unterdessen sah ich Gael, die geschickt eine Dame um ihr Armband erleichterte. Sofort steuerte ich auf sie zu und Gael drückte mir das Armband unauffällig in die Hand, das ich wiederum an Hal weiterreichte.
»Du kleine Diebin. Ich sorge dafür, dass man dir die Hände abhackt«, brüllte ein Mann. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Er hielt Keena fest.
»Nein Herr, ich wollte das Buch nur ansehen. Bitte lasst mich gehen«, flehte sie und versuchte, sich ihm zu entwinden.
»Was will Gesindel wie du mit einem Buch? Du kannst ja nicht einmal lesen«, schrie der Mann, während er erbarmungslos ihren dünnen Arm umklammerte. »Gib mir das Buch zurück.«
Ich trat ganz dicht neben Keena, fischte mit einer fließenden Bewegung das handgroße Buch aus der Innentasche ihres Umhangs, wo sie gewöhnlicherweise ihr Diebesgut versteckte, und ließ es fallen.
»Meint Ihr das Buch hier, Herr?« Ich hob es vom Boden auf. »Es scheint runtergefallen zu sein.«
Um uns versammelten sich immer mehr Leute. Bald würden Soldaten auftauchen, trotzdem bemühte ich mich, ruhig zu bleiben.
»Das ist es«, bestätigte der Mann und gab Keena frei. Er nahm es entgegen.
»Das bezahlst du, du Kröte. Ich kann es so nicht mehr verkaufen«, zischte er, zog einen Lappen von seinem Gürtel und wischte das Buch ab.
»Ich habe aber kein Geld.« Dicke Tränen liefen über Keenas Wange und sie zitterte wie ein Rehkitz. Am liebsten hätte ich dem grobschlächtigen Kerl eine verpasst.
»Dann übergebe ich dich an die Soldaten«, erwiderte der Händler ohne Mitleid.
»Mein Herr, das Buch besitzt ja nun mal keinen Wert mehr. Ich würde Euch einen Laib Brot dafür geben«, schlug ich vor.
»Es ist wesentlich mehr wert.« Er funkelte mich an.
»Wie es aussieht, ist es jetzt gar nichts mehr wert, auch die Soldaten können kein Geld aus der Kleinen herauspressen, um den Schaden zu ersetzen, und ein Laib Brot ist mehr als nichts.« Ich ballte die Fäuste, hob ihm mein Kinn entgegen und wich seinem wütenden Blick nicht aus.
»Zeig mir das Brot«, sagte er, und ich zog einen Laib aus dem Beutel.
»Es ist noch warm. Riecht daran, wie es duftet. Der Bäcker verwendet nur die frischesten Kräuter.« Ich hielt es ihm entgegen, er nahm es und drückte mir das Buch in die Hand. »Viel Spaß damit. Es sind ein paar Bilder drin, dann habt ihr wenigstens etwas davon. Denn essen kann man das nicht«, meinte er hämisch.
»Komm«, sagte ich zu Keena und nahm ihre Hand. Soldaten bahnten sich gerade den Weg durch die Menschenmenge. Schnellen Schrittes bogen wir in die nächste Seitengasse ab. Ich drückte mich mit wummerndem Herzen an die Wand, spähte um die Ecke, schob dabei das Buch unter mein Wams. Die Soldaten erreichten den Buchhändler. Vielleicht, wenn wir etwas warteten, würden sie wieder verschwinden und wir konnten noch ein paar Geldbörsen abstauben.
»Ich danke dir«, wisperte Keena. Noch immer schluchzte sie leise und ich sah zu ihr. Sanft strich ich durch ihr Haar, schenkte ihr ein Lächeln.
»Das war echt knapp«, erwiderte ich. Hinter mir ging eine Tür auf.
»Na, Máire, wieder mal in Schwierigkeiten?« Diese Stimme kannte ich.
»Briana, was tust du schon so früh hier?« Ich sah erstaunt zu ihr. Das rote Haar war zerzaust, ihr langer Rock saß auch nicht richtig und sie wirkte übermüdet.
»Ist eine lange Nacht gewesen. Jetzt muss ich erst mal schlafen.« Sie schnürte gerade ihr Mieder, hielt dabei inne und blickte zu mir. »Ich kann es nicht oft genug sagen. Mit deinem Aussehen könntest du viel Geld verdienen und die Soldaten würden dich in Ruhe lassen. Sie gehören zu den besten Kunden. Der Soldtag ist einer der lukrativsten in meinem Gewerbe.«
»Ich hatte schon oft das zweifelhafte Vergnügen, dich und die anderen bei ihrer Arbeit in dunklen Gassen zu erwischen, wenn ich nach einem Versteck gesucht habe. Und nicht zu vergessen dieser Kerl, der dich wirklich schlimm zugerichtet hat, bis ich ihn mit meinem Messer kitzelte. Ich glaube, ich bleibe lieber beim Stehlen.« Ich spähte um die Ecke. Eine Frau schrie, dass man ihre Geldbörse gestohlen habe. Das alarmierte die Soldaten, deren Blicke suchend über den Platz glitten. Hastig wich ich zurück.
»Du weißt, ich unterhalte mich immer gerne mit dir, Briana, aber wir müssen uns nun verabschieden.« Damit half ich Keena eilig dabei, die Fachwerkfassade zu erklimmen, anschließend kletterte ich selbst hinter ihr aufs Dach, und wir nahmen die Beine in die Hand.
Gegen Nachmittag erreichten wir endlich unsere Unterkunft. Nachdem es auf dem Markt zu heiß geworden war, hatten Keena und ich andere Jagdgründe aufgesucht, aber die Ausbeute war mager geblieben.
»Geh schon nach Hause, ich hab noch etwas zu erledigen«, trug ich ihr auf. Sie nickte und lief weiter, während ich das Dach hinunterrutschte, meinen Fall in die Tiefe stoppte, indem ich mich an einem Balken festhielt, dann zu einem Erker sprang und diesen hinunterkletterte, bis mich nur noch ein Stockwerk vom lehmigen Boden trennte. Geschmeidig kam ich auf den Füßen auf.
»He, Alter. Was hast du heute schon eingenommen?« Ein junger Kerl wollte Arto die Holzschale wegnehmen, in der er die milden Gaben sammelte. Neben dem Pöbler stand ein zweiter Tunichtgut mit verschränkten Armen.
»Haut ab«, schrie Arto und drückte das Gefäß an seinen Leib.
»Na, ihr Idioten, legt euch mit einem Gegner an, der euch gewachsen ist.« Ich stellte mich zwischen Arto und die beiden Mistkerle, die gut einen halben Kopf größer als ich waren.
»Und du Bürschchen bist uns gewachsen?«, fragte einer der Bastarde spöttisch.
»Mehr als ein Mann, den die Schlacht ein Bein gekostet hat«, erwiderte ich mit fester Stimme und verschränkte die Arme. Ein bisschen flatterten mir schon die Knie, aber das sollten diese Holzköpfe nicht merken.
»Dann wollen wir dir mal dein vorlautes Maul stopfen«, meinte mein Gegenüber mit breitem Grinsen und kam einen Schritt näher. Angriff war die beste Verteidigung. Ich rammte ihm mein Knie in seine Männlichkeit. Jaulend sackte er zusammen. Der andere holte aus, ich duckte mich weg und seine Faust donnerte gegen die Nase seines Freundes.
»Sag mal, bist du noch bei Sinnen?« Der hielt sich den lädierten Riechkolben, Blut sickerte zwischen seinen Fingern hervor. Wahrscheinlich war die Nase gebrochen.
»Verzeih mir, das war keine Absicht«, entschuldigte sich der andere. Ich nutzte die Ablenkung und stieg ihm mit Wucht auf den Fuß.
»Verfluchter Bastard«, schimpfte er und hüpfte auf einem Bein herum. »Ich werde dir den Hals brechen.«
»Was ist hier los?« Egan trat neben mich und baute sich vor den Angreifern auf. Er war zwar erst achtzehn Winter alt, doch von seiner Statur her sah er wesentlich älter aus, wie sein Zwillingsbruder Faol, der sich zu uns gesellte. Auch die beiden waren einen halben Kopf größer als ich. Ehrlich, ich es hasste, so klein zu sein.
»Hab alles im Griff«, zischte ich.
»Nichts anderes haben wir erwartet, Máire.«
»Máire?«, nuschelte der Angreifer mit der gebrochenen Nase durch die Hände. »Ein Mädchen?«
»Das ist unsere Máire.« Egan klopfte mir auf die Schulter.
»Und wenn schon eines unserer Mädchen euch so zurichten kann, was denkt ihr, können wir euch dann antun. Also seht zu, dass ihr Land gewinnt.« Faol machte einen Schritt auf die Männer zu. Die nahmen die Beine in die Hand.
»Ich hätte das schon hinbekommen«, brummelte ich und drehte mich zu Arto um.
»Das glauben wir unbestritten. Wir wollten ja nur beide Kerle vor größerem Schaden bewahren.« Egan lachte und ich holte das Brot aus meinem Beutel.
»Ich kann dir leider nur ein Stück abgeben, denn ich konnte heute nur eines erbeuten.« Ich ging vor Arto in die Hocke, brach etwas von dem Laib ab und reichte ihm das Stück.
»Ich danke dir.« Er lächelte. »Für alles.«
»Schon gut, wir sorgen für die Unseren. Es tut ja sonst keiner«, antwortete ich und erhob mich. Die Zwillinge erklommen bereits das Dach, ich folgte ihnen hinauf. Als wir die Luke zum Dachboden erreichten, konnte ich schon Hals Gebrüll hören.
»Wegen eines dummen Buches?«, schrie er.
»Aber Hal…« Keena weinte.
»Kein Aber. Das war dumm …«
»Jetzt reicht es.« Ich schritt ein und zog Keena zu mir, die wie ein neugeborenes Häschen zitterte.
»Natürlich, du musst wieder ihre Partei ergreifen. Warum wundert mich das nicht?« Hal funkelte mich an.
»Es ist alles gut gegangen. Das nächste Mal wird Keena vorsichtiger sein. Oder, Kleines?« Sanft strich ich über ihr Gesicht. Sie nickte. »Setz dich auf deinen Strohsack«, wies ich sie an, und sie löste sich von mir. Das Stroh raschelte, als sie Platz nahm. Währenddessen trat ich zu Hal.
»Sei nicht mehr böse«, sagte ich mit sanfter Stimme, und sein Blick wurde weich, die Arme sanken nach unten.
»Na gut, reden wir nicht mehr darüber«, brummte er. »Doch eines möchte ich noch sagen. Alle hier liegen mir sehr am Herzen. Ich hätte es nicht ertragen können, wenn sie Keena geschnappt hätten. Sie ist noch so jung, gerade einmal zwölf Winter.«
»Ich weiß, und das zeichnet einen guten Anführer aus«, erwiderte ich.
»Dann will ich mal der Alten ihren Anteil bringen.« Hal grinste, und wieder einmal fiel mir auf, wie verflucht attraktiv er war. Doch ich konnte nicht mehr als einen Bruder in ihm sehen. Er schritt von einem zum anderen und ließ sich die Beute aushändigen, dann verließ er den Raum durch die Tür.
»Ich hab da was für dich«, sagte ich zu Keena und setzte mich neben sie. Das Stroh knisterte.
»Wir wissen doch eigentlich gar nicht, wie alt du bist, Máire. Vielleicht bist du ja älter als Hal, dann wärst du unsere Anführerin«, bemerkte Gael und löste ihren Zopf.
»Hör damit auf, herum zu sticheln«, mischte sich Irven ein, der es nicht leiden konnte, wenn Unfrieden in unserer Familie herrschte. Denn das waren wir: eine Familie.
»Es ist gut so, wie es ist«, antwortete ich und zog das Buch unter meinem Wams hervor, woraufhin Keena in die Hände klatschte.
»Wegen dem Ding hättest du dir beinahe die Hand abhacken lassen?« Egan nahm es mir ab und beäugte es.
»Gib es zurück«, sagte Keena energisch.
»Her damit«, pflichtete ich bei.
»Ist ja schon gut.« Er reichte Keena das Büchlein.
»Warum wolltest du es unbedingt haben?«, fragte ich und strich über ihren Rücken.
»Deshalb.« Sie blätterte darin herum und fand das Gesuchte. Es war die Zeichnung eines Phönix. »Ich finde ihn wunderschön.«
Ich nahm ihr das Buch ab. Plötzlich war es, als würde sich für einen winzigen Augenblick der Schleier lüften, der meine Erinnerungen einhüllte. Ich sah mich durch einen wunderschönen Garten laufen. Als ich an mir herabblickte, stellte ich fest, dass ich Jungengewänder trug. Aber sie unterschieden sich sehr von meiner üblichen Kleidung. Sie waren bei Weitem nicht so schäbig. Ein Amulett, das einen Phönix mit ausgebreiteten Schwingen darstellte, baumelte um meinen Hals. Schnell krabbelte ich in einen Busch, in dem ich Schutz fand. Mein Herz klopfte wie wild in der Brust.
»Hier bin ich sicher«, flüsterte ich und nahm das Amulett. »Schutzgeist, hilf mir, dass sie uns nicht findet. Das tut sie sonst immer.« Ein Kichern entkam mir, schnell hielt ich mir die Hand vor den Mund. Ein wunderbares Gefühl der Unbeschwertheit umfing mich.
»Kind«, rief eine Frau. Ich spähte durch die Zweige. Sie war wunderschön. Ihre Augen erinnerten an den Himmel an einem eisigen Wintertag. Das Haar war heller als Flachs. Sie war nur noch wenige Schritte von dem Busch entfernt, in dem ich saß. Ich biss mir auf die Lippen, machte keinen Mucks. »Du sollst nicht in Jungenkleidung herumlaufen …« Dann war alles vorbei. Verzweifelt versuchte ich, die Erinnerung festzuhalten, wollte, dass sie weiterging, aber sie war weg. War dies meine Mutter gewesen? Aber sie sah mir gar nicht ähnlich. Wer war sie dann? Sie musste für mich wichtig sein. Wenn ich nur gewusst hätte, wo der Garten lag. Auf keinen Fall in dieser Stadt, so viel stand fest.
»Was ist mit dir? Du bist noch blasser als sonst.« Gael kniete vor mir, strich über mein Gesicht.
»Keine Ahnung, was da eben passiert ist«, erwiderte ich. Ich vermochte nicht zu sagen, ob dies eine wahrhaftige Erinnerung oder nur das Echo eines Traums gewesen war, weil ich mir es so sehr wünschte, mehr über meine Vergangenheit zu erfahren. Daher zog ich es vor, gar nicht darüber zu reden.
»Die Alte hat mir fast alles abgenommen und uns Reste gegeben, die sogar für die Schweine zu schlecht waren.« Hal betrat den Raum und brachte fleckige Äpfel und etwas, das in ein schmutziges Tuch gewickelt war. Er kniete sich in die Mitte auf den Dielenboden, legte die Äpfel und das Päckchen vor sich und schlug das Tuch zurück.
»Was soll das sein? Käse?«, fragte Gael und musterte die weiße Masse.
»Es stinkt zumindest so. Der Geruch ist schlimmer als der der Gerbereien«, meinte Faol und rümpfte die Nase.
»Das esse ich auf keinen Fall«, meldete sich Egan.
»Was anderes haben wir nicht, um die Bäuche zu füllen.« Hal blickte von einem zum anderen.
»Nein, Moment.« Ich kramte das Brot aus dem Beutel am Gürtel. Davon riss ich ein Stück ab und gab es Keena, dann reichte ich den Laib an Egan weiter, der mir am nächsten stand. Es klopfte an der Tür.
»Ja«, rief Hal. Vorsichtig wurde die Tür geöffnet, Kattie, eine der Mägde des Hauses, trat ein. Sie brachte einen Beutel und einen Krug mit. Obwohl sie sehr zierlich war, zählte sie so viele Winter wie Hal.
»Esst den Käse nicht. Er ist mit Sicherheit nicht mehr gut. Ich habe das für euch.« Als sie Hal den Stoffbeutel und dann den Krug reichte, wurden ihre Wangen ganz rot. Das rothaarige Mädchen hatte eine Schwäche für unseren gutaussehenden Anführer. Alle merkten das, nur eben Hal nicht.
»Weiß sie davon?«, fragte er.
»Nein, ich hab’s vom Schweinefutter abgezweigt. Es ist alles noch gut, und im Krug ist Apfelwein.«
»Wenn sie das rausfindet, wird sie dich schlagen«, sagte Hal.
»Keine Sorge, sie wird es nicht bemerken.« Kattie lächelte.
»Dann danke ich dir.« Hal verzog keine Miene.
»Das nehme ich mal mit.« Damit schnappte sich Kattie das Tuch mit dem grausigen Käse und eilte davon. Als sie gegangen war, öffnete Hal den Beutel und wir staunten. Es gab Früchte, Brot und sogar etwas Wurst.
»Heute müssen wir nicht hungrig ins Bett gehen. Langt zu.« Er stand auf und trat zur Seite, während sich die anderen wie hungrige Wölfe auf das Essen stürzten. Den Wein tranken sie direkt aus dem Krug. Ich schnitt mit meinem Messer ein Stück Wurst ab, das ich Keena gab, dann trat ich zu Hal ans Fenster. Die Sonne wanderte gemächlich in Richtung Dächer.
»Du solltest auch etwas essen«, meinte ich und verstaute den Dolch in der Scheide am Gürtel.
»Du isst selbst nichts«, erwiderte er.
»Vielleicht willst du das nicht bemerken oder du bist wirklich ahnungslos, aber Kattie hat ein Auge auf dich geworfen«, sagte ich. Hal blickte zur Tür, dann wieder zu mir zurück.
»In meinem Leben habe ich keinen Platz für so was«, erwiderte er pragmatisch.
»Kann man das wirklich mit dem Kopf entscheiden, wenn es eine Herzensangelegenheit ist?« Ich legte meine Hand auf seine Brust, spürte den Schlag seines Herzens.
»Sie ist keine von uns. Wie könnte ich ihr dieses Leben zumuten?« Hal streckte die Hand aus und strich eine lange Strähne, die sich aus meinem Zopf gelöst hatte, hinter mein Ohr. Es war eine kleine Geste, die so viel aussagte, dass es mich schlucken ließ. Ich liebte Hal wie einen Bruder und ich war bisher der Meinung gewesen, dass er mir gegenüber ebenso empfand, aber wie er mich gerade ansah, das war nicht der Blick, den ein Bruder seiner Schwester zuwerfen sollte.
»Máire, hilfst du mir mit dem neuen Buch?«, fragte Keena, und ich war froh.
»Natürlich« Ich durchquerte den Raum. Wir nahmen nebeneinander auf ihrem Strohsack Platz. Sie schlug das Buch auf.
»Was heißt das?« Sie deutete auf das Wort Phönix neben dem Bild.
»Versuch, es zu lesen«, forderte ich sie auf.
»P… p… h…«
»In diesem Fall liest man den ersten Buchstaben, auch wenn es ein P ist, wie ein F, das H wird nicht gesprochen, und der dritte Buchstabe ist ein ö«, erklärte ich. »Es ist ein schweres Wort, aber du schaffst es.« Aufmunternd nickte ich ihr zu.
»Fööönix«, las sie.
»Sehr schön.« Ich klatschte. Die anderen waren mit Essen fertig und sanken auf ihre Strohsäcke.
»So muss das Götterreich sein.« Faol rieb sich den Bauch.
»Jetzt du.« Keena gab mir das Buch, und ich stellte fest, dass die Geschichte zu dem Bild ein Märchen war.
»An einem schönen Sommertag wanderte ein reicher Mann einen Fluss entlang«, las ich und Keena schmiegte sich an mich. »In dem Fluss trieb ein Weidenkörbchen, worin ein Säugling lag …«
»Wir haben dich auch im Fluss gefunden«, unterbrach mich Keena.
»Lass sie weiterlesen«, sagte Gael. Sie lag auf ihrem Strohsack und starrte zum Gebälk.
»Ja, das stimmt. Das habt ihr.« Ich strich über Keenas dunkles Haar. Dann wandte ich mich wieder dem Buch zu. »Der Mann hatte ein gutes Herz und nahm das Kind mit nach Hause, um es großzuziehen. Die Jahre gingen ins Land, und der Junge wuchs heran. Dem Verwalter des Gutes war der Knabe schon immer ein Dorn im Auge gewesen, und als das Kind sechs Winter zählte, setzte der Mann es in ein Ruderboot und ließ es treiben …«
»Siehst du, das machen die reichen Leute, sie setzen Kinder auf Flüssen aus, wenn sie ihnen lästig sind«, sagte Declan. Ich musste zugeben, die Geschichte aus dem Märchen passte zu meinem Schicksal. Wieder sah ich mich in einem Garten Verstecken spielen. Wenn das nun kein Traum gewesen, sondern es mir wirklich widerfahren war? Wo, bei den Göttern, hätte das gewesen sein können?
»Bitte lies weiter«, riss Declan mich aus meinen Gedanken, und ich fuhr fort.
Ich lauschte dem gleichmäßigen Atmen der anderen. Sie schliefen tief und fest, während ich den Balken über mir betrachtete, auf den das fahle Mondlicht fiel. Ich kannte bereits jedes Astloch. Immer, wenn ich die Augen schloss, war ich wieder in dem Garten und sah diese wunderschöne Frau. Aber so sehr ich mir den Kopf darüber zerbrach, wo dieser Garten lag oder wer sie sein konnte, ich fand keine Antwort. Es war zum Verrücktwerden. Seufzend setzte ich mich auf. Der Mond brauchte noch eine Nacht, bis er voll war. Sein Licht würde ausreichen, dass ich meinen Weg nach unten fand. So leise ich konnte, stand ich auf, schlich zur Luke und schlüpfte hinaus. Nach wenigen Sprüngen stand ich schon in der Gasse. Auch zu dieser späten Stunde schlief die Stadt nicht, obwohl die Nächte um diese Jahreszeit noch etwas kühl waren. Zwar heizte die Sonne die Gassen auf, aber die Dunkelheit trieb die Wärme aus der Stadt. Die Kälte fuhr unter mein Wams und ich erschauerte, doch ich wollte nicht zu anderen zurück. Also lief ich einfach los, ohne Ziel ließ ich mich treiben. Händler wie Einheimische waren auf dem Weg zu den Schenken. Die, die bereits genug hatten, torkelten durch die Gasse. Zwei ziemlich betrunkene Männer waren gerade aus einer Spelunke gekommen. Fiedelklänge und Gesang, der nicht schön war, dafür aber laut, drangen zu mir. Nachdenklich betrachtete ich die Tür. Etwas Durst hatte ich schon, und vielleicht half Starkbier beim Einschlafen. Manchmal ließen die Betrunkenen ihre Krüge halbvoll zurück. Ich zog die Kapuze über den Kopf und trat in die Schenke ein. Eine Frau, die Brianas Zunft angehörte, tanzte auf den Tisch, die Männer standen um sie herum und klatschten johlend im Takt. Andere von Brianas Gewerbe umgarnten willige Freier. Rauchschwaden hingen in der Luft wie Schleier. Ich suchte hinter einem Tragbalken etwas Deckung, ließ meinen Blick über die johlende Meute schweifen und hatte Glück.
»Komm schon, mein Freund, du hast genug«, schrie ein Mann so laut, dass man ihn wahrscheinlich noch am anderen Ende der Stadt vernahm. Ein wirkliches Phänomen – je betrunkener einer war, desto schlechter wurde offensichtlich sein Gehör. Der laute Kerl stand schwankend auf und half seinem Saufkumpan hoch. Ihre Krüge blieben auf dem Tisch zurück. Ich schlich an der Wand entlang, während die Männer wie zwei Ochsen mitten durch den Raum wankten und dabei jeden unsanft touchierten, der in ihrem Weg saß, was wiederum lautes Gezeter zur Folge hatte.
Der Schreihals gab der Schankmaid Münzen, die Zeche war damit bezahlt. Schnell nahm ich auf der Bank Platz, so hatte ich die Wand im Rücken. In jedem der zwei Krüge war noch ein Rest, und ich schüttete sie zusammen. Den leeren Krug schob ich nach vorne.
»Na, Kleiner, was willst du?«, fragte mich die Schankmaid.
»Hab noch was.« Ich hob den Krug hoch, worauf sie grinste. »Die Herren waren sehr großzügig, lass es dir schmecken.« Sie zwinkerte mir zu, nahm den leeren Krug und eilte davon. Ich trank einen kräftigen Schluck. Das Starkbier ging mir sofort in den Kopf. Damit musste ich aufpassen, sonst würde ich nicht mehr aufs Dach und in unsere Unterkunft kommen. Die Menschen feierten ausgelassen. Ich versuchte, mich möglichst ruhig zu verhalten und nicht aufzufallen. Vor allem wollte ich niemanden merken lassen, dass ich in Wirklichkeit eine Frau war. Lachend sank die tanzende Maid nach hinten, und einer der umstehenden Männer fing sie auf. Er hob sie herunter, setzte sich und zog sie auf seinen Schoß. Innig küssten die beiden sich, und ich musste sie einfach anstarren. Bisher hatte ich noch nie einen Mann geküsst. Wie das wohl war? Bestimmt glitschig. Mich schüttelte es. Darauf sollte ich trinken, um die Vorstellung herunterzuspülen. Doch die Dirnen küssten nicht nur, sondern trieben noch ganz andere Dinge mit ihren Freiern in den dunklen Gassen hinter den Schenken oder dem Markt. Briana meinte immer, dass es gar nicht so schlimm wäre, und wenn der Kerl hübsch sei, mache es manchmal sogar Spaß. Durch sie wusste ich mehr darüber, als mir lieb war. Wieder schüttelte es mich. Da riskierte ich es lieber, dass man mich als Diebin erwischte und mir die Hand abschlug.
Die Tür der Schenke wurde geöffnet und zwei Männer traten ein. Die Kerle, die von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt waren, passten überhaupt nicht hierher. Sogar die Hände steckten in schwarzen Handschuhen. Nun gut, dunkle Farben waren nichts Außergewöhnliches für das normale Volk, aber die Aura war ebenso düster wie ihre Kleidung. Sie wählten den Tisch neben meinem, und mir sträubten sich die Nackenhärchen. Vielleicht handelte es sich bei den beiden um Attentäter aus dem Süden. Solcherlei Menschen sollte man nicht so viel Aufmerksamkeit schenken, die wurden schnell nervös und damit unberechenbar. Also versuchte ich, sie zu ignorieren, doch mein Blick wanderte immer wieder zu den beiden. Als der eine seinen Umhang ablegte, erstarrte ich. An einem dünnen Lederband trug er das Phönixamulett, das heute in meiner Erinnerung aufgetaucht war. Wie konnte das sein? Aufgeregt trank ich vom Bier. Mein Blick klebte förmlich an dem Amulett. Leider waren das Gejohle und die Musik ziemlich laut, oder es lag daran, dass die Männer so leise redeten. Auf jeden Fall vermochte ich zu meinem Verdruss nicht zu verstehen, was die beiden miteinander sprachen.
»Na, möchtest du vielleicht doch noch was?«, fragte mich die Schankmaid. Erst wollte ich verneinen, doch dann sah ich zu meinen düsteren Nachbarn.
»Sind die des Öfteren hier?«, erkundigte ich mich. Der Blick des Mädchens folgte meinem.
»Nein, heute das erste Mal«, berichtete die Maid. »Sie sind wohl auf der Durchreise, denn sie haben nach einem Zimmer gefragt. Doch wir haben hier keine Zimmer für Übernachtungsgäste, nur den Schankraum und Strohsäcke, daher schickte ich sie zum Haus von Iona, die Straße herunter, sie vermietet Zimmer.«
»Danke dir«, erwiderte ich. Irgendjemand rief nach ihr, und einen Wimpernschlag später war sie schon auf dem Weg. Nachdenklich lehnte ich mich zurück. Ich musste an das Amulett kommen, und es ihnen abzukaufen war keine Option, denn ich hatte nicht eine einzige Münze. Die Männer bestellten sich Wasser, von dem sie nur wenig tranken, und etwas Brot. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie aufbrachen. Doch dann erhoben sie sich und nahmen ihre Umhänge. Ich stand ebenfalls auf. Ohne mir Beachtung zu schenken, schritten sie zur Tür. Jedermann ging ihnen freiwillig aus dem Weg. Auch die anderen spürten offensichtlich ihre Düsternis. Auf der fackelbeleuchteten Straße torkelten Betrunkene herum. Einer erleichterte sich an der Wand. Ich verfolgte die beiden Männer, schloss auf, bis ich direkt hinter ihnen war.
»Ich bin froh, wenn ich aus dieser Drecksstadt heraus bin. Das hier war wieder eine verfluchte Sackgasse«, sagte der Rechte, während er sich den Umhang umlegte. Der mit dem Amulett trug seinen über dem Arm.
»Wie ich den Süden hasse. Ich verstehe einfach nicht, warum die Meisterin hier weiter verweilt.«
»Solange wir nicht finden, was sie sucht, wird die Meisterin uns zwingen, in den Südlanden zu bleiben. Es ist ein Jammer. Die rückständigen Bastarde denken doch wirklich, sie könnten unsereins per Gesetz verbieten. Zu gerne würde ich denen zeigen, was ich zu tun imstande bin, aber die Meisterin will, dass wir unauffällig vorgehen und unsere Fähigkeiten verbergen.« Der Mann mit dem Amulett machte einen abschätzigen Laut, als ein angeheiterter Färbergeselle in ihn rannte. Dass er Färber war, erkannte ich an den blauen Händen, und seinen Gesellenstatus an der Kleidung. Der Umhang des Kerls mit dem Amulett landete auf der Straße.
»Pass doch auf«, zischte der wie eine Schlange.
»Oh…dasssss tud mir abee sooooo …«, lallte der Geselle, hob ungelenk den Mantel auf und fuhr mit der Hand darüber, um den Dreck abzuwischen.
»Das ist ja widerlich. Er ist in einer Bierpfütze gelandet und stinkt wie ein Bierfass.« Sein Gegenüber entriss ihm das Kleidungsstück. Doch der Geselle hörte nicht auf, den Dreck vom Mantel zu putzen.
»Dasssss tud mir sooooo leid.«
Das war meine Chance. Ich zog das Messer, blitzschnell hatte ich das lederne Band durchschnitten. Es fiel nach unten und landete lautlos im von vielen verschütteten Bieren durchtränkten Matsch. Der Mann bemerkte den Verlust nicht mal.
»Geh mir aus dem Weg!« Er schob den Gesellen unwirsch zur Seite und stapfte weiter, warf sich energisch den Umhang um die Schultern; sein Kumpan folgte ihm. Hastig schob ich den Dolch in die Scheide und hob das Schmuckstück auf.
»Weher biesst duu dänn?«, fragte mich der Geselle. »Dasch haahat woooohl der Heeeerr verlor…« Er deutete auf das Amulett.
»Ich bring's ihm«, antwortete ich schnell.
»Heeerr, Heeerr«, rief der Geselle und drehte sich um. Was für ein Trottel. »Ihhihr habt wasch verloren.«
»Das Amulett«, brüllte der Kerl. Wie von Kreaturen der Unterwelt gehetzt rannte ich los, erklomm behände das nächste Fachwerkgebälk und erreichte das Dach. Im Schein des Mondlichts rannte ich über die Dächer, sprang von einem zum anderen, rutschte dann nach unten – das Schilf kratzte auf meiner Haut – hüpfte auf ein Vordach und hangelte mich an dem Erker herunter. Ich folgte der Gasse, sie führte zu Speichern, in denen Händler ihre Waren lagern konnten, ehe sie auf die Flussschiffe geladen wurden. Hier gab es immer wieder mal ein paar, die leer standen. Verstohlen blickte ich mich um. Niemand war zu sehen, ich zog die Tür auf und betrat einen dieser leeren Speicher. Er war unser Treffpunkt, wenn wir nicht mehr imstande waren, in die Unterkunft zurückzukehren. Hier konnte ich mir das Amulett erst mal in Ruhe ansehen, bevor ich zu den anderen zurückkehrte. Durch die Öffnungen, die zur Belüftung dienten, schien das Mondlicht. Ich hielt das Amulett in einen Strahl und wischte mit den Fingern den Matsch ab. Es war wirklich genau das aus dem Erinnerungsfetzen, den ich erlebt hatte, als mir Keena den Phönix im Buch gezeigt hatte. Noch immer konnte ich nicht begreifen, was das bedeuten mochte.
»Na, da ist ja das Bürschchen, das mich bestohlen hat.« Der der Besitzer des Amuletts trat ein und ich wich zurück. Verflucht, wie hatten sie mich nur finden können?
»Wie wird hier mit Diebesgesindel verfahren?«, fragte er.
»Es wird Dieben die Hand abgehackt«, antwortete der andere, der sich hinzugesellte.
»Dazu bräuchten wir Schwerter. Da habe ich doch was Besseres. Hier wird uns niemand sehen, und ich kann endlich mal wieder die Magie sprechen lassen.« In der Hand des einen wuchs eine blau schimmernde Kugel, die pulsierte.
Das waren zwei verdammte Magier. Ich hatte gehört, dass es Menschen mit solchen Fähigkeiten gab, aber niemals auch nur einen zu Gesicht bekommen, denn die Südlande waren nicht wirklich magiefreundlich. Der König hatte einen regelrechten Feldzug gegen Magie geführt und sie per Gesetz verboten. Sie galt seither in diesen Landen als ausgerottet. Aber es wurde immer wieder gemunkelt, dass sie im Verborgenen weiter existierte. Jetzt hatte ich den eindeutigen Beweis. Der Mann schleuderte die Kugel nach mir. Ich hechtete zur Seite, und sie schlug in den Tragbalken ein, vor dem ich eben noch gestanden hatte. Holzstücke wirbelten herum. Ich schützte mein Gesicht.
»Die kleine Made ist schnell.« Wieder wuchs eine Energiekugel in der Hand des Magiers.
»Ihr könnt das Amulett wiederhaben. So schön ist es gar nicht«, rief ich und warf es zu den Männern. Das Schmuckstück landete drei Schritte von ihnen entfernt auf den Boden. Das ließ sie etwas stutzen und verschaffte mir genug Zeit, um den Tragbalken hochzuklettern. Ich musste es nur über den Querbalken bis zu den Belüftungsluken schaffen.
»Du wirst hierbleiben«, rief der Magier wütend. Doch ich kletterte weiter, erreichte gerade das Dachgebälk, da traf eine Kugel den Querbalken und riss ein Stück heraus. Ich rutschte ab. Als ich mit dem Rücken voran am Boden aufschlug, wich mir sämtliche Luft aus den Lungen. Mir tat alles weh und ich konnte mich kaum bewegen.