Schöne Bescherung auf Compton Bobbin - Nancy Mitford - E-Book

Schöne Bescherung auf Compton Bobbin E-Book

Nancy Mitford

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Köstlich amüsant und very British: eine elegante Weihnachtsgesellschaft auf dem Land endet im Fiasko.  Der Schriftsteller Paul Fotheringay kann es nicht fassen: Nicht genug, dass ihn seine Angebetete Marcella verschmäht. Sein tödlich ernstes Romandebüt wird von der Presse als das lustigste Buch des Jahres gefeiert. Um zumindest seinen literarischen Ruf wiederherzustellen, recherchiert er für eine Biografie über die viktorianische Schriftstellerin Mary Bobbin und schleicht sich auf Compton Bobbin, dem Anwesen ihrer jagdbesessenen Nachfahrin, ein. Lady Bobbin organisiert dort eine Weihnachtsfeier mit wild zusammengewürfelten Gästen: Es treffen u. a. ihre rebellische Tochter Philadelphia, deren Schar an Verehrern und eine Horde ungezogener Kinder aufeinander. Und dann ist da noch Pauls Bekannte, die schöne Ex-Kurtisane Amabelle Fortescue, die ihre Feiertage zufällig in einem nahegelegenen Cottage verbringt ...  Je deutlicher wird, wie wenig die Gäste der Weihnachtsgesellschaft zusammenpassen, desto vergnüglicher die Lektüre: Nancy Mitfords zweiter Roman, erstmals 1932 veröffentlicht, ist ein köstlich amüsanter Ausflug in die Welt der Reichen und (nicht immer) Schönen. Mitfords bissiger Humor und Sinn für Situationskomik lässt kein Auge trocken.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 299

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Nancy Mitford

Schöne Bescherung auf Compton Bobbin

Aus dem Englischen von Eva Regul

Schöffling & Co.

Schöne Bescherung auf Compton Bobbin

Prolog

Vier Uhr nachmittags am 1. November, einem dunklen, nebligen Tag. Sechzehn Personen suchen einen Autor.

Paul Fotheringay sitzt in seiner Wohnung in der Ebury Street und betrachtet die Freiexemplare seines Romans Kuriose Kapriolen, die soeben per Post eingetroffen sind. Vor ihm liegt ein einsamer Abend, und er überlegt, ob er ein paar Freunde anrufen soll, aber dann beschließt er, dass es keinen Sinn hätte. Sie wären alle längst beschäftigt. Er bewundert die Energie, die andere Leute besitzen – sie sind nicht nur den lieben langen Tag beschäftigt, sondern obendrein in der Lage, diese Beschäftigungen zu planen und vorzubereiten. Paul ist schon froh, wenn er es schafft, seine Beschäftigungen überhaupt auszuüben, er weiß genau, dass es ihm niemals gelingen wird, sie auch noch zu planen. Also bleibt er allein.

Walter Monteath spielt mit drei sehr viel reicheren Leuten Bridge. Er setzt mehr, als er sich zu verlieren leisten kann, und gewinnt ein Spiel nach dem anderen.

Sally Monteath probiert ein Kleid an, für das sie, falls nicht ein Wunder geschieht, niemals das nötige Geld haben wird. Sie sieht sehr hübsch darin aus.

Marcella Bracket ruft einen jungen Mann an und gibt ihm einen Wink mit dem Zaunpfahl, dass sie am Abend von ihm ausgeführt werden will.

Amabelle Fortescue deckt den Tisch fürs Dinner und überlegt, ob sie einen geschiedenen Mann neben seine erste Frau setzen soll. Ja, das ist eine gute Idee. Seit es nicht mehr notwendig, ja, nicht einmal mehr wünschenswert ist, dass die beiden miteinander auskommen, verstehen sie sich prächtig.

Jerome Field schläft in seinem Büro.

Die noch namenlose Miss Monteath schläft in ihrem Kinderwagen.

Bobby Bobbin schreibt am Eton College eine Nachricht an einen älteren Jungen.

Philadelphia Bobbin sitzt im Salon ihrer Mutter, starrt in den Kamin und hofft, dass der Tod weniger langweilig wird als das Leben.

Lady Bobbin stapft durch den Matsch von Gloucestershire und verflucht die Maul-und-Klauen-Seuche, deretwegen in diesem herrlichen, frostfreien Winter die Jagd ausgesetzt werden muss.

»Im Leben liebt’ ich dich zu wenig, im Tode liebt’ ich dich zu sehr«, singt Lord Leamington Spa bei einem Benefizkonzert zugunsten der Aktion »Fröhliche Dörfer«. Danach gibt er »Schauderhaft ist des Tauchers Tod« zum Besten und als Zugabe »Unterm Zedernbaum«. Lady Leamington Spa stimmt der Vorsitzenden der Aktion zu, dass ihr Mann eine sehr schöne Stimme habe. »Und unser Sohn ist genauso musikalisch wie sein Vater«, sagt sie stolz.

Besagter Sohn, Squibby Almanack, lauscht gemeinsam mit drei befreundeten jungen Männern mit blondem Haar und beginnender Glatze in der Bond Street einem Bach-Konzert.

Major Stanworth fährt in seinem Morris Cowley von Oxford nach Cheltenham, um seinen kleinen Sohn, der ziemlich schlimm Mumps hat, im Internat zu besuchen.

Michael Lewes verschickt Einladungen zu einer Gartenparty in der Residentur Seiner Britischen Majestät in Kairo. Dabei dankt er mehrfach laut dem Himmel, dass er den diplomatischen Dienst an Weihnachten für immer verlassen wird.

Die Herzogin von St Neots tauscht mit einer alten Freundin den neuesten Klatsch und Tratsch aus. Jede einzelne ihrer Äußerungen würde reichen, um sie wegen Verleumdung vor Gericht zu bringen.

Ihre Tochter aus einer früheren Ehe, Miss Héloïse Potts, sitzt versteckt in einem Alkoven, lauscht der Unterhaltung und hofft, nicht entdeckt zu werden.

Sechzehn Personen suchen einen Autor.

1

In der Tate Gallery gibt es einen Raum, der in diesen unbelehrbaren Zeiten kaum je gezielt angesteuert wird, sondern meist nur als Durchgang zu den französischen Gemälden der Sammlung von Sir Joseph Duveen dient. Viele Kunstliebhaber, die schon unzählige Male hindurchgeeilt sind, könnten vermutlich kein einziges der hier ausgestellten Glanzstücke der viktorianischen Kultur benennen, geschweige denn beschreiben, so sehr verweigert sich der menschliche Geist jenen Eindrücken, mit denen er nichts anfangen kann.

Und so war die Existenz dieses Raums auch Paul Fotheringay nicht bewusst gewesen, bevor er sich am 2. November hier wiederfand. An diesem Tag nahm er zum ersten Mal die unansehnlichen großformatigen Werke der »Ein Bild sagt mehr als tausend Worte«-Schule wahr, die hier hingen, aufgelockert von ein paar drittklassigen Präraffaeliten und einigen sorgfältig ausgeführten Zeichnungen von Ruskin. Paul saß auf einer harten, blank polierten Bank und beobachtete eine ältere Dame, die mit mäßigem Erfolg versuchte, die hübschen, aber schlichten Gesichtszüge von Mrs Rossetti abzumalen. Denn es war Publikums-Maltag in der Tate. Paul fragte sich, wie die alte Dame es schaffte, die Farbe so wunderbar glatt aufzutragen. Sie war wirklich sehr geschickt. Bei seinen eigenen künstlerischen Versuchen mit Pinsel und Leinwand hatte er stets nur einen Haufen dicker Farbkleckse hervorgebracht, aber das war natürlich sein persönlicher Stil und, wie er meinte, kein ganz schlechter. Dennoch war er sich bewusst, dass er selbst mit größter Anstrengung die Farben niemals so ebenmäßig auftragen könnte, wie es der alten Dame scheinbar mit leichter Hand gelang.

Bald jedoch wanderten seine Gedanken von der Außenwelt zu seinem inneren Elend. Wenn ein Mann in den zwei wichtigsten Bereichen seines Lebens über das erträgliche Maß hinaus leiden muss, wenn monatelange Mühen Früchte tragen, die bitterer sind als ein Scheitern, und wenn sich im selben Moment auch noch seine Angebetete endgültig als aller Bewunderung unwürdig erweist, dann ist dieser Mann wahrhaft unglücklich.

Dies ging Paul durch den Kopf, und unter dem marternden Doppelblick von Mrs Rossetti grübelte er zum hundertsten Mal über die beiden Gründe für seine momentane Schwermut nach, nämlich das Verhalten seiner Verlobten Marcella Bracket sowie die Reaktion der Öffentlichkeit auf seinen ersten Roman Kuriose Kapriolen, der in dieser Woche erschienen war. Es war schwer zu sagen, was ihn mehr verletzte. Das Echo auf den Roman wirkte auf den ersten Blick äußerst positiv. Selbst jene Kritiker, die nicht mit ihm in Eton oder Oxford gewesen waren, hatten das Buch ausführlich und überraschend einhellig gelobt; der Scheck, den er später von seinem Verleger bekommen würde, versprach deutlich größer auszufallen als jene, die (gottlob) so oft junge Autoren davon abhalten, jemals wieder den Stift aufs Papier zu setzen. Kurz, das Buch war unzweifelhaft ein Erfolg. Aber welches Lob, welche Aussicht auf klingende Münze konnte den unglücklichen Paul darüber hinwegtrösten, dass sein Buch, dieses Kind seiner Seele, in das er mehr als ein Jahr Arbeit gesteckt hatte, in das all die Verbitterung eines leidenden Gemüts geflossen war und das, wie er meinte, mit hingebungsvollem Ernst von den feinen Schattierungen der Psyche eines jungen Mannes erzählte und sich schließlich mit dem Selbstmordpakt von Held und Heldin zu einem fast unerträglich tragischen Höhepunkt aufschwang, dass dieses Buch von allen Seiten als das witzigste und absurdeste Werk der letzten Jahre bejubelt worden war. Er, der beim Schreiben nur ein einziges Ziel vor Augen gehabt hatte, nämlich von der kleinen Schar der Gebildeten und Kultivierten aufrichtigen Beifall zu erhalten, stand jetzt als Clown und Witzbold da und musste das Gekicher und Gejohle des Pöbels ertragen.

Seine Augen füllten sich mit Tränen, während er noch Mrs Rossettis Gesicht anstarrte, sodass ihre Züge verschwammen und ihr wolliges Haar noch wolliger wurde, und bekümmert dachte er daran zurück, wie ein Kritiker nach dem anderen ihn als den neuen Humoristen und sein Buch als das komischste Buch des Monats beschrieben hatte. Traurig zog er ein Bündel Zeitungsausschnitte aus der Tasche. Er kannte sie längst auswendig, und sie noch einmal anzusehen war, als würde man auf einen entzündeten Zahn drücken in der Hoffnung, dass der Schmerz vielleicht doch nicht unerträglich ist.

 

 

WITZIGER ROMAN EINES NEUEN SCHRIFTSTELLERS

 

Eine willkommene Abwechslung zur Düsternis von Miss Lions Tragödie auf dem Bauernhof beschert uns Paul Fotheringay mit seinem ersten Roman, Kuriose Kapriolen, der amüsantesten Neuerscheinung seit Monaten. Die launige Komödie ist durchweg humorvoll und wird sicherlich den Weg ins Bücherregal all jener Leser finden, die eine gute Schmunzellektüre zu schätzen wissen.

 

 

AMÜSANTER DEBÜTROMAN

 

… Und so konnte auch ich nicht umhin, angesichts der absurden Abenteuer von Mr Fotheringays Helden Leander Belmont mehrfach in lautes Lachen auszubrechen … Auch wenn Kuriose Kapriolen wenig bis gar nichts mit dem wahren Leben zu tun hat, muss man dem Autor für eine so witzige Geschichte überaus dankbar sein.

 

 

EHEMALIGER STUDENT DEBÜTIERT ALS HUMORIST

 

 

Paul Fotheringays erster Roman Kuriose Kapriolen (Fodder & Shuttlecock, 7 Shilling 6 Pence) ist eines der unterhaltsamsten Bücher, die ich als Kritiker jemals zu lesen das Vergnügen hatte. Es erinnerte mich hier und da an die lustigsten Szenen bei Mr Wodehouse, hier und da an die zynischsten bei Mr Evelyn Waugh und war dabei dennoch von einer verblüffenden Originalität. Ich konnte es kaum aus der Hand legen und werde es so bald wie möglich noch einmal lesen. Kuriose Kapriolen ist die Geschichte des verarmten jungen Aristokraten Lord Leander Belmont, der nach seinem Abschluss in Oxford keine angemessenere Arbeit findet als die eines Assistenten in einem Pfandleihhaus … Lord Leander ist eine ungemein komische Figur und seine Verlobte Clara ebenso. Insbesondere das letzte Kapitel, in dem sie sich in der Themse ertränken wollen, dank der Wachsamkeit der Wasserschutzpolizei aber nichts Tragischeres als ein Schlammbad zustande bringen, ist ein humoristisches Meisterstück. Ich habe gelacht, bis ich es buchstäblich nicht mehr aushalten konnte …

 

Verbittert erinnerte Paul sich daran, wie er dieses letzte Kapitel verfasst hatte, wie er die ganze Nacht hindurch an der richtigen Mischung aus Tragödie und Pathos gefeilt hatte. Beim Schreiben waren ihm die Tränen über die Wangen gelaufen. Die Verzweiflung zweier an ihrem Schicksal zerbrechender Seelen, denen es nicht einmal gelingt, aus einer Welt zu entfliehen, in der sie nichts mehr hält, schien ihm ein erhabenes, wunderschönes und bewegendes Thema zu sein. Aber absolut niemand, kein einziger Mensch hatte auch nur ansatzweise verstanden, was er ausdrücken wollte.

Er steckte die Zeitungsausschnitte wieder in die Tasche und zog einen Brief heraus, der seine Gedanken in noch schmerzlichere Bahnen lenkte.

 

Liebster Paul, (stand da,)

 

wie lieb von dir, mir ein Exemplar von Kuriose Kapriolen zu schicken – ich war ganz aus dem Häuschen, als ich die Widmung las, was für eine tolle Überraschung. Ich hoffe, dass es den Riesenerfolg hat, den es zweifellos verdient, ich persönlich fand es unendlich komisch. Ich habe von Anfang bis Ende gebrüllt vor Lachen. Ich wusste gar nicht, dass du so etwas Witziges schreiben kannst. Muss jetzt los, mein Schatz, ich gehe mit Eddie aus, also alles Liebe und viele Küsse von

 

Marcella

P. S. – Bis bald mal wieder.

 

Paul stieß einen tiefen Seufzer aus. Dass die Frau, für die er eine so verwirrende Bewunderung empfand, sein Buch auf diese Weise lächerlich machte, war ein Schlag, wenn auch kein tödlicher; um ehrlich zu sein, hatte er nie allzu große Stücke auf ihre geistigen Fähigkeiten gehalten. Unglücklich war er vor allem wegen der Grausamkeit und der Herablassung, mit der sie ihn behandelte.

Marcella Bracket besaß die schlimmsten Eigenschaften einer Großwildjägerin, und das in einem für ihr jugendliches Alter (sie war zweiundzwanzig) außerordentlichen Maß. Sie gehörte zur seltenen und unangenehmen Spezies des hohlköpfigen intellektuellen Snobs. Was für den gewöhnlichen Snob Earls und Marquis sind, waren für sie Dichter und Maler; sie wollte unbedingt zu den Kreisen gehören, die sie für die »geistige Elite« hielt, und von Berühmtheiten angebetet werden. Doch während sie über ihre Eltern einige Earls und Marquis kannte, war es ihr zu ihrem Leidwesen bisher noch nicht gelungen, auch nur die entfernteste Bekanntschaft mit einem Literaten zu schließen, und der einzige achtbare Künstler, dem sie je vorgestellt worden war, hatte sich nicht darum gerissen, ein Porträt von ihr anzufertigen. Daher sah sie im armen Paul, der sich aus vollkommen unverständlichen Gründen auf den ersten Blick in sie verliebt hatte, die verheißungsvolle unterste Sprosse jener Leiter des gesellschaftlichen Erfolgs, die sie so gerne erklimmen wollte. Sie ließ ihn sogar glauben, sie seien heimlich verlobt, damit sie mit ihm und seinen Freunden, die sie schon lange hatte kennenlernen wollen, umherziehen konnte und um sich von ihm bestimmte Floskeln und Meinungen anzueignen, die möglicherweise eine Eintrittskarte in jene Kreise darstellten, auf die sie es abgesehen hatte. Später wollte sie natürlich irgendeinen reichen, farblosen Mann heiraten und sich in Chelsea niederlassen, wo sie die High Society empfangen würde. In der Zwischenzeit aber schmeichelte es ihrer Eitelkeit, Objekt der hoffnungslosen Leidenschaft eines Mannes zu sein, der unter den jungen Leuten als ungeheuer geistreich galt.

Obwohl Paul von alldem eine dunkle Ahnung hatte, begriff er die Situation nur zum Teil, und da er außerdem glaubte, sehr verliebt zu sein, hatte sie ihn mit ihrem Verhalten in einen Dauerzustand von finsterster Schwermut gestürzt. An ebendiesem Tag hatte er sie, um sich ihre Begleitung für den Nachmittag zu erkaufen, zum Lunch ins Ritz eingeladen, ein Luxus, den er sich eigentlich gar nicht leisten konnte. Als er erschienen war, zugegebenermaßen ein wenig verspätet, hatte er sie zusammen mit der hirnlosen Hülle von Archibald Remnant, genannt »Chikkie«, angetroffen. Die beiden tranken Sektcocktails. Paul gesellte sich zu ihnen, doch Marcella richtete kaum ein Wort an ihn, sondern plauderte noch mindestens zwanzig Minuten weiter mit dem Schwachkopf, und erst nachdem »Chikkie« mehrfach erfolglos angedeutet hatte, man könne ihn gerne zum Lunch einladen, zog er Leine und überließ Paul die Cocktailrechnung. Das anschließende Essen gestaltete sich sehr unbefriedigend, Marcella hatte grauenvolle Laune. In den Pausen zwischen ihren Bestellungen – sie bestellte nur die teuersten Gerichte, denn es war eines ihrer Lebensprinzipien, dass man umso mehr aus den Menschen herausholen konnte, je mehr man sie für sich zahlen ließ – plapperte sie unaufhörlich über ihre Erfolge bei verschiedenen jungen Männern, die Paul nicht kannte. Diesem Geplauder entnahm er, dass es beileibe nicht ihre Absicht war, den Nachmittag mit ihm zu verbringen, sondern dass sie sich vielmehr direkt nach dem Lunch verabschieden wollte, um mit einem anderen Verehrer eine Flugstunde am Flugplatz Heston zu absolvieren. Die Aussicht, sie schon so bald wieder zu verlieren, hatte ihn so nervös und wütend gemacht, dass er fast schon froh gewesen war, als sie endlich in einem großen Bentley zu ihren Loopings und ihren Wapiti-Doppeldeckern aufgebrochen war. Mittlerweile wäre dort ein luftiger Flirt im Gange, das war ihm klar, denn Marcella war eine unverbesserliche Verführerin.

Und so hatte er sich zum Trost nach Millbank in die Tate begeben, nur um feststellen zu müssen, wie vermutlich schon viele vor ihm, dass gute Kunst im Betrachter eine gewisse Zufriedenheit, wenn nicht gar Fröhlichkeit erfordert, da ansonsten ihr harmonischer Anblick die innere Disharmonie nur umso deutlicher hervortreten lässt. Die Betrachtung zweitrangiger Kunstwerke hingegen, die eine Mischung aus Ärger und Belustigung erweckt, bietet oft eine ganz gute Ablenkung. Daher Mrs Rossetti. Paul aber hatte das Gefühl, dass gegen seine tiefe Niedergeschlagenheit nichts auszurichten war und selbst die Zeit seine Wunden nicht heilen würde. Es schien keinen Trost, keinen Hoffnungsschimmer mehr zu geben. Von Kindesbeinen an hatte er davon geträumt, Schriftsteller zu werden, aber offensichtlich würde es ihm verwehrt bleiben; mit Lobeshymnen, die solch mangelndem Verständnis entsprangen, wollte er nie wieder konfrontiert werden. Und auch seine Affäre mit Marcella würde kein glückliches Ende finden, denn obwohl er sie liebte, wusste er, dass sie ihm immer unsympathisch bleiben würde.

Jetzt erhob sich die Kopistin von ihrem Malhocker und begann zusammenzupacken. Das Licht ging an, was die Atmosphäre noch trister machte, und obwohl es draußen ein klarer, schöner Tag gewesen war, wirkte es im Raum fast ein wenig neblig. Pauls Gedanken kehrten zu seiner Umgebung zurück. Er sah auf seine Uhr, die wie üblich stehen geblieben war, und beschloss, nach Hause zu gehen. Vielleicht würde Marcella anrufen, und dann wäre er gerne da – seine Vermieterin war nicht sehr zuverlässig im Übermitteln von Nachrichten. Er erhob sich und wollte gerade zur Tür gehen, als er die unverwechselbare Gestalt Walter Monteaths erblickte, der, zweifellos auf dem Weg zu den französischen Gemälden, durch den Turner-Raum eilte. Als Walter seinen Namen hörte, drehte er sich zu Paul um.

»Hallo, alter Junge, dass ich dich hier treffe! Das freut mich aber. Sally und ich haben uns übrigens krank gelacht über dein Buch, es ist wirklich göttlich. Diese Polizisten! Ehrlich, ich hatte Bauchschmerzen vor Lachen. Und der Pfandleiher war auch urkomisch. Wie hast du dir das nur alles ausgedacht? Ich würde einiges darum geben, so ein Buch schreiben zu können, die Leute sprechen von nichts anderem mehr. Na, und wo willst du gerade hin?«

»Ich weiß nicht«, sagte Paul und versuchte, eine erfreute Miene aufzusetzen. »Was hast du denn vor? Können wir nicht irgendwo etwas zusammen trinken?«

»Gute Idee. Ich wollte gerade auf einen Cocktail zu Amabelle, warum kommst du nicht einfach mit? Sie will dich ohnehin sehen, sie hat gestern schon nach dir gefragt. Wenn es dir nichts ausmacht, einen Moment zu warten, damit ich mir eben noch den Puvis ansehen kann, dann können wir direkt los. Ich bin mit dem Auto da, es ist ausnahmsweise einmal nicht in der Werkstatt.«

Während Walter, der einen Artikel über Puvis de Chavannes schreiben wollte, dessen Gemälde von Johannes dem Täufer betrachtete, starrte Paul einen großen Manet an und wünschte sich, er wäre tot. Er ahnte jedoch, dass er, ähnlich wie der Held seines eigenen Buchs, zu ängstlich wäre, um einen vernünftigen Selbstmord zustande zu bringen; er würde sich nie wie ein römischer Soldat ins Schwert stürzen.

Als sie schließlich zu Mrs Fortescues Haus am Portman Square fuhren, brüllte Walter über dem Dröhnen, Ächzen und Quietschen des uralten Autos: »Sally und ich haben gestern Abend deine Marcella getroffen, sie war mit dem armen Trottel Remnant aus, und die beiden sind später zu uns gestoßen. Wir waren uns einig, dass sie eine ziemlich langweilige alte Schnepfe ist. Was siehst du nur in ihr, Paul?«

»Das weiß der Himmel«, seufzte Paul trübsinnig.

2

Anders als viele Mitglieder ihres ehemaligen Gewerbes war Amabelle Fortescue eine intelligente, kultivierte und durch und durch liebenswürdige Frau. Ihre Berufswahl war seinerzeit weniger einer natürlichen Neigung entsprungen als vielmehr den Umständen geschuldet gewesen. Als sie nach dem Tod ihres Vaters, eines angesehenen Oxford-Professors, im Alter von achtzehn Jahren plötzlich allein und mittellos dastand, hatte sie mit scharfem Verstand ihre Situation erfasst und sofort beschlossen, jenes ihrer vielen Talente, das an eine geniale Begabung grenzte, einzusetzen, um sich ihr Brot und ein Dach über dem Kopf zu verdienen. Gesagt, getan; nur kurze Zeit später war das Brot unter einer beträchtlichen Schicht russischen Kaviars begraben, und das Dach über dem Kopf, anfangs nur eine Mietwohnung auf der falschen Seite von Campden Hill, war inzwischen ein wunderschönes, großes Haus am Portman Square.

Offenbar vollkommen mühelos, ohne Neid zu erwecken oder Skandale zu verursachen, war Amabelle an die Spitze ihres Berufsstands aufgestiegen. Und als sie kurz davorstand, sich in ungewöhnlich jungem Alter mit ihren Ersparnissen zur Ruhe zu setzen, hatte sie einen charmanten, prominenten und überaus begehrten Parlamentsabgeordneten geheiratet, den sie allerdings nur drei Jahre später wieder verlor (auf ehrbare Art und Weise, nämlich durch den Tod). Nach ihrer Hochzeit war sie eine der beliebtesten Frauen Londons geworden. Ihre Vergangenheit war vergeben und vergessen – nur von den Allerprüdesten nicht –, und ihre Einladungen wurden von wichtigtuerischen Alten wie von temperamentvollen Jungen gleichermaßen freudig angenommen.

Das Haus selbst war eines von Amabelles wertvollsten Besitztümern, und seine Ausstattung, die sich ganz bewusst am Geschmack ihrer halbintelligenten Freunde orientierte, offenbarte eine ebenso tiefgreifende wie seltene Kenntnis der menschlichen Natur. Zeugte es nicht beispielsweise von einem äußerst feinsinnigen Instinkt, dass sie für ihren Salon drei Gemälde von Le Douanier Rousseau ausgewählt hatte? Wenn ihre Gäste den Raum betraten, nahm ihnen der Anblick von Bildern, noch dazu »modernen« Bildern, die sie auf den ersten Blick erkennen konnten, sogleich jegliche Befangenheit. Werke von Seurat oder Matisse, selbst von Renoir hätten sie eventuell verunsichert, vielleicht hätten sie den Namen des Künstlers nicht sofort auf der Zunge gehabt. Doch beim Anblick des leuchtenden Laubwerks, der aufgeweckten Affen gab es keinen Zweifel, selbst die Unkultiviertesten konnten säuseln: »Was für herrliche Rousseaus Sie hier haben. Ich finde es immer so erstaunlich, dass ein einfacher Zollbeamter sie gemalt hat – im Ausland natürlich.« Und getragen von der Überzeugung, angemessen gebildet zu sein, konnten sie sich anschließend bestens amüsieren.

Der Rest des Hauses war ebenso klug eingerichtet. Alles ließ sich in Kategorien einteilen und in Schubladen sortieren, nichts war überraschend oder schockierend. Die Gäste konnten problemlos zu jedem Gemälde oder Möbelstück etwas sagen. Wenn ihr Blick in der Halle auf die viktorianischen Glasglocken voller Wollblumen fiel, riefen sie: »Wie dekorativ! Ist es nicht goldig, dass solche Sachen wieder in Mode kommen? Ich habe auch so ein hübsches Ding in Brighton gekauft und es Sonia zur Hochzeit geschenkt.« Wer das Glück hatte, die Badewanne aus schwarzem Glas zu Gesicht zu bekommen, sagte dazu: »Das ist ja ein verrücktes modernes Ding, meine Liebe, aber haben Sie nicht Angst, dass sie vom heißen Wasser platzt?« Und zu den italienischen Stühlen und Anrichten, deren edle Patina abgebeizt worden war, weil der moderne Geschmack nacktes Holz verlangte: »Wie faszinierend, Sie müssen mir unbedingt verraten, woher Sie all diese schönen Sachen haben!«

Amabelles Charme funktionierte auf ganz ähnliche Weise. Sie besaß die Klugheit, immer nur so viel von ihrer Persönlichkeit zu offenbaren, dass ihr Gegenüber problemlos darauf eingehen konnte. Ihr ganzes Leben lang hatte sie nur ein einziges Ziel vor Augen gehabt, nämlich Erfolg in der Welt der Kultur und Mode, und nur dafür hatte sie stets ihr beachtliches Talent und all ihre Energie eingesetzt; schon als Kind wusste sie sich ganz unbefangen in Szene zu setzen. Falls das Erreichen dieses Ziels auch nur einen Hauch von Enttäuschung mit sich brachte, so wusste sie dies sehr erfolgreich zu verbergen – vor allen außer sich selbst und vielleicht noch einem anderen Menschen, nämlich Jerome Field.

Jerome Field war sozusagen Amabelles offizieller bester Freund, von ihr selbst auf diesen Posten berufen, und zwar auf Lebenszeit. Ihre Freundschaft bestand schon seit über zwanzig Jahren und war für beide Seiten äußerst angenehm, denn während Jerome absolut unentbehrlich für Amabelles Wohlbefinden und Zufriedenheit war, weil er als ihr einziger Vertrauter ihr Wesen vollkommen verstand und doch keine ihrer Verhaltensweisen jemals infrage stellte, brauchte er sie, die viel Frohsinn und Häuslichkeit in sein ansonsten einsames Leben brachte, nicht weniger. Dass sich in ihre Freundschaft nie auch nur der kleinste Hauch von Liebe gemischt hatte (denn seine ganze Liebe galt seinen Geschäften und ihre dem gesellschaftlichen Leben, und keiner der beiden war zu einer weiteren wahrhaftigen und beständigen Leidenschaft im Stande), verlieh ihr eine besondere Qualität, für die zumindest Amabelle dankbar war.

Am Nachmittag von Pauls traurigem Besuch in der Tate saß Jerome Field wie fast jeden Tag beim Tee im Douanier-Rousseau-Salon.

»Heutzutage ist das Schlimmste am Altwerden«, sagte er, »dass alle Freunde, die nicht tot, todkrank oder bankrott sind, im Gefängnis sitzen. Es ist wirklich deprimierend, man kann nie wissen, ob man vielleicht selbst bald an der Reihe ist. Gerade heute habe ich noch zu meinen Direktoren gesagt: ›Denken Sie daran, sollte ich vors Strafgericht zitiert werden, dann habe ich nicht vor, allein auf der Anklagebank zu sitzen. Ich habe Ihnen allen Ihre Direktorenposten unter der ausdrücklichen Voraussetzung gegeben, dass Sie genauso gut wie ich addieren, subtrahieren und sogar multiplizieren können, und ich zähle darauf, dass Sie ebenso verantwortlich sind wie ich, wenn hier Fehler gemacht werden.‹ Ich sage dir, das hat sie ganz schön getroffen, besonders den dicken alten Dummkopf Leamington Spa. Er hätte beinahe gefragt, wie lange wir noch damit rechnen können, auf freiem Fuß zu sein.«

»Aber ich hoffe doch«, erwiderte Amabelle besorgt, »es besteht keine akute Gefahr, dass du verhaftet wirst? Du musst damit bitte wenigstens bis nach Weihnachten warten.«

»Warum, brauchst du mich an Weihnachten für etwas Bestimmtes?«

»Nicht mehr als sonst auch, mein Lieber. Du weißt genau, dass ich dich immer brauche. Aber ich hoffe, du wirst die Weihnachtszeit mit mir verbringen – ich habe nämlich ein Haus auf dem Land gemietet.«

»Doch nicht in England?«

»Allerdings, in Gloucestershire, um genau zu sein.«

»Gütiger Himmel, Amabelle!«

Jerome Field war einer jener seltenen, entgegenkommenden Menschen, die stets bereitwillig die für sie vorgesehene Rolle übernehmen. In diesem Moment wurde offensichtlich ein leicht beleidigtes Staunen von ihm erwartet, und dieser Erwartung kam er gerne nach.

»In der englischen Provinz, du liebes bisschen, was für eine merkwürdige Idee. Wie bist du darauf bloß gekommen? Und du hast tatsächlich ein Haus gemietet?«

Amabelle nickte.

»Hast du es dir angesehen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Für wie lange hast du es denn gemietet, wenn man fragen darf?«

»Für zwei Monate. Ich habe heute den Vertrag unterschrieben.«

»Ohne das Haus gesehen zu haben?«

»Ja, der Weg war mir zu weit. Der Makler findet es sehr hübsch und gemütlich und so weiter, und es ist ja nur für kurze Zeit. Ich habe gedacht, ich kann direkt vor Weihnachten hinausfahren. Die Monteaths kommen und bringen ihr Baby mit, und natürlich will ich dich auch dabeihaben. Es wird bestimmt ein großer Spaß.«

»Aber das ist doch eine verrückte Idee. Was willst du denn zwei Monate lang auf dem Land machen, und dazu noch zu dieser Jahreszeit? Du wirst dich zu Tode langweilen.«

»Da bin ich mir nicht so sicher. Schließlich leben doch Hunderte von Leuten auf dem Land, wenn ich mich nicht irre, und die müssen sich ja wohl auch irgendwie beschäftigen. Außerdem ist es patriotisch, nicht ins Ausland zu fahren. Das sagst du selbst bei jeder Gelegenheit.«

»Ins Ausland, ja. Aber nichts hindert dich daran, in London zu bleiben, was bestimmt angenehmer wäre, als bei diesem Wetter nach Gloucestershire zu reisen.«

»Du machst mir nicht gerade Mut.«

»Wo ist das Haus denn überhaupt?«

»Es heißt Mulberrie Farm, und es ist in den Cotswolds, nicht weit von Woodford – zufälligerweise ganz in der Nähe von Compton Bobbin, sodass ich davon ausgehe, dass Bobby fast jeden Tag vorbeikommen wird, und du weißt ja, wie sehr ich in den Jungen vernarrt bin. Angeblich ist Mulberrie Farm ein sehr altes und schönes Haus. Ich freue mich schon riesig darauf.«

»Aber warum in aller Welt, abgesehen von deiner offensichtlichen Begeisterung für diesen fürchterlichen Rüpel Bobby, hast du dich für die Cotswolds entschieden? Es gibt kaum eine Gegend, die im Winter trostloser wäre. Devonshire oder Dorset wären wahrscheinlich sogar noch ganz nett gewesen, aber die Cotswolds –!«

»Oh, das hatte gar nichts mit Bobby zu tun, auch wenn ich es herrlich finde, ihn in der Nähe zu haben. Aber dass er dort wohnt, habe ich erst herausgefunden, nachdem ich den Mietvertrag unterschrieben hatte. Nein, ich habe einmal, als ich in Oban auf den Zug gewartet habe, an einem Kiosk ein Buch über die Cotswolds gekauft, ich weiß gar nicht mehr, warum. Wahrscheinlich wollte ich nur eine Pfundnote kleinmachen. Jedenfalls habe ich es gelesen und erfahren, dass es in den Cotswolds kahle graue Hügel und sattgrüne Täler, angelsächsische Kirchen, elisabethanische Bauernhäuser und einsames Heideland gibt, das klingt doch zauberhaft, einsames Heideland, findest du nicht? Wenn es mir gut gefällt, und ich bin ganz sicher, dass es das tut, dann kaufe ich mir dort vielleicht sogar ein Haus und lasse mich für immer im einsamen Heideland nieder.«

Jerome schnaubte.

»Du bist doch nicht verärgert, mein Lieber?«

»Nein, natürlich nicht. Aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass du dort viel Spaß haben wirst.«

»In dem Fall kann ich einfach zurückkommen, oder nicht?«

»Ja, das stimmt.«

»Es gibt noch einen anderen Grund, warum ich zurzeit nicht in London sein möchte«, fügte Amabelle zögernd hinzu. »Michael kommt an Weihnachten zurück, und ich ertrage es einfach nicht, diese Sache zum x-ten Mal durchzukauen. Meine Belastbarkeit hat ihre Grenzen.«

»Bisher hast du ihn ganz gut in Schach gehalten«, erwiderte Jerome trocken.

»Ich bin inzwischen drei Jahre älter und schneller gelangweilt von solchen Dingen. Außerdem macht Michael immer solche entsetzlichen Szenen, die ich wirklich nicht mehr aushalte.«

»Wer sagt denn, dass du sie aushalten musst? Darf ich dich daran erinnern, dass in Michaels Alter drei Jahre eine Ewigkeit sind. Ich würde doch sehr bezweifeln, dass er nach all dieser Zeit immer noch in dich verliebt ist.«

»Herrje, wenn du einfach nur unausstehlich sein willst –«

In diesem Moment wurden Paul und Walter angekündigt.

3

Amabelle stand auf, gab den beiden die Hand und begann, Tische und Stühle herumzurücken.

»Ihr Lieben, ich freue mich so, euch zu sehen.«

»Komm, ich helfe dir.«

»Paul, dich habe ich ja seit Monaten nicht mehr zu Gesicht bekommen.«

»Du müsstest mir nur sagen, wo du sie hinhaben möchtest.«

»Ist gut, das schaffe ich schon. So ist es perfekt. Jetzt können Jerome und Walter eine Runde Backgammon spielen, denn ich weiß, dass sie ganz wild darauf sind, und ich kann in Ruhe mit Paul plaudern. Komm hier rüber an den Kamin, mein Lieber, und erzähl mir alles, was ich wissen will. Erstens, sollte dein Buch wirklich lustig sein? Du musst nicht antworten, wenn du nicht möchtest. Zweitens, warum hast du mich heute im Ritz wie Luft behandelt? Und drittens, wer war diese überaus abstoßende Frau, mit der du beim Lunch gesessen hast?«

»Wie klug du bist, Amabelle«, sagte Paul voller Bewunderung. »Es ist absolut erschreckend, dass diesen kleinen gelben Augen wirklich nichts entgeht.«

»Eigentlich sind sie groß und grün.«

»Du bist wirklich einzigartig – zum Glück. Das Buch war als entsetzliche Tragödie gedacht, die Frau war meine Verlobte Marcella Bracket, und ich habe dich wie Luft behandelt, weil sie sonst mit Sicherheit darauf bestanden hätte, dir vorgestellt zu werden, und ich weiß genau, wie sehr sie dich gelangweilt hätte.«

»Ah, verstehe. Sie ist also nicht nur hässlich, sondern auch langweilig? Um ehrlich zu sein, so sieht sie auch aus.«

»Ich finde sie zum Niederknien schön.«

»Das ist sie definitiv nicht, das arme Ding. Ich sehe schon, wir müssen dich da irgendwie herausholen.«

»Ich wünschte, das könntet ihr, aber leider bin ich verliebt.«

»Das wird nicht lange anhalten«, tröstete Amabelle ihn. »Tut es bei dir nie. Und was das Buch angeht: Wenn du ernst genommen werden möchtest, darfst du nicht über die oberen Zehntausend schreiben. Das musst du doch inzwischen verstanden haben? Bahnhofsvorsteher, mein Lieber, Bahnhofsvorsteher.«

»Ich weiß, ich weiß. Natürlich habe ich das verstanden. Aber das Problem ist, dass ich Bahnhofsvorsteher nicht ausstehen kann, sie sind mir ein Gräuel, genau wie Leuchtturmwärter und Frauen mit Hasenscharte und Grubenarbeiter und Lastkahnschiffer und Leute vom Zirkus, ich verabscheue sie allesamt. Außerdem kann ich keinen Dialekt schreiben. Aber du musst zugeben, dass es in meinem Buch immerhin einen Pfandleiher gibt.«

»Ja, und was für einen – mit Sätzen wie von Gibbon! Mein Lieber, so reden im echten Leben die wenigsten Pfandleiher, zumindest kann ich es mir nicht vorstellen. Kein Wunder, dass die Leute ihn für eine komische Figur gehalten haben. Wenn ich dein Buch und deine junge Dame so sehe, scheinst du ja momentan ziemlich in der Tinte zu sitzen, mein armer Schatz.«

»Das kannst du wohl sagen«, stimmte Paul düster zu. Er genoss die Unterhaltung so sehr, wie man nur Unterhaltungen genießen kann, die sich ausschließlich um einen selbst drehen.

»Obwohl ich überhaupt nicht verstehe, was du in ihr siehst.«

»Ja, hämmere mir das ein. Sag mir, dass sie unausstehlich und hässlich und dumm und grausam ist, du ahnst gar nicht, wie gut mir das tut.«

»Das mache ich gerne, aber bitte weine nicht, wenn es geht, das wäre lieb von dir. Ich bin sicher, du kommst bald über sie hinweg, das hast du doch schon öfter geschafft. Na ja, im Moment ist es sicherlich die Hölle für dich, jeden Tag dieses Pilzgesicht ansehen zu müssen. Das arme Mädchen ist gewiss kein Ölgemälde.«

»Oh, ich bin froh, dass du das sagst, Amabelle, das muntert mich unendlich auf. Wenn du sie wirklich unansehnlich findest, ist die Sache gleich nicht mehr so schlimm. Vielleicht kann ich sie eines Tages auch so sehen wie du, und dann wird alles wieder gut.«

»Bring sie einfach mal her, dann werde ich dir schon ein paar Takte über sie sagen.«

»Haha, sie würde dich zu Tode langweilen, sie ist die grandioseste Schlaftablette, die ich kenne.«

»Wirst du sie heiraten?«

»Keine Chance. Ich bin nicht reich genug. Ihre Mutter will ihr einen Gardisten angeln.« Für Paul war das Wort »Gardist« ein Synonym für Millionär. »Und außerdem liegt ihr nicht das Geringste an mir. Sie hat sich nur mit mir verlobt, weil sie meint, ich hätte kluge Freunde, und die möchte sie kennenlernen. Sie ist nämlich unter anderem ein enormer intellektueller Snob.«

»Du kennst sie schon ganz gut, was?«

»Oh, sie treibt mich in den Wahnsinn.«

»Nicht weinen, sonst höre ich sofort auf, über dich zu reden. Willst du bald mit einem neuen Buch anfangen?«

»Wozu soll das gut sein? Ich werde ja doch nur ausgelacht. Ich will nicht noch einmal so zum Narren gehalten werden. Das hat mich schwer verletzt, sehr schwer. Sieh dir das an.« Er zog die Zeitungsausschnitte aus der Tasche. »Sie verspotten mich, sie lachen über meine heiligsten Gefühle. Das ist nicht besonders schön, oder?«

»Armer Kerl.«

»Es ist wirklich eine furchtbare Enttäuschung, das muss ich schon sagen. Mein Leben lang habe ich davon geträumt zu schreiben, ich liebe es. Was soll ich denn jetzt machen? Es ist die Hölle – die Hölle!«

»Wenn ich du wäre, würde ich die Finger von Romanen lassen. Wahre Tragik verstehen die Leute heutzutage nicht mehr, alles muss rührselig sein, und offen gestanden war dein Buch ja auch ein wenig melodramatisch, nicht wahr, mein Lieber? Warum versuchst du dich nicht an etwas anderem, einem anderen Genre?«

»Ja, vielleicht sollte ich das tun.«

»Eine Biografie zum Beispiel. Ich habe gehört, dass das ein hervorragender Denksport ist, und obendrein kann es recht profitabel sein.«

»Du bist wirklich eine wundervolle Frau, Amabelle.« Pauls Laune heiterte sich sichtlich auf. »Was für ein Glück, dass ich zu dir gekommen bin. Eine Biografie wäre mir nie in den Sinn gekommen, aber das ist tatsächlich genau das Richtige für mich. Nur wessen Biografie? Darf ich vielleicht dein Boswell sein, meine Liebe?«

»Ich fürchte, in England wird noch Zensur ausgeübt, mein Freund, und ich habe keine große Lust auf eine öffentliche Hinrichtung, aber trotzdem sehr herzlichen Dank. Nein, du musst dir in aller Ruhe einen wirklich sympathischen Menschen aussuchen. Apropos sympathischer Mensch, da ist ja die liebe Sally. Wie geht’s der jungen Mutter?«

»Den Umständen entsprechend recht gut«, antwortete Sally, die eine Stola aus Seehundfell trug und bezaubernd aussah. »Schön, dich zu sehen, Paul – nicht so schön, dass Walter schon wieder am Backgammontisch sitzt. Was hattest du mir versprochen, Schatz?«

»Ist schon in Ordnung, Liebling. Ich würfele einen Pasch nach dem anderen. Siehst du, ich stecke den alten Jerome in den Sack. Ich habe gewonnen, das ist ein Backgammon. Und wir hatten auf 16 verdoppelt«, sagte er, lehnte sich zurück und legte Sally den Arm um die Taille. »Außerdem ist dein Gemurre wohl kaum fair, meine Süße, wenn man bedenkt, dass wir das seltsame Ding, das du da trägst, komplett von meinem Gewinn der letzten Woche bezahlt haben, hm? Und jetzt geh weg, du vertreibst mir das Glück.«

»Wie geht es meiner Patentochter, Sally?«, fragte Paul.

»Du lieber Himmel, sollst du etwa auch Taufpate werden?«, rief Amabelle. »Sally, warum ausgerechnet er? Und wie viele Paten sind es dann insgesamt?«

»Ungefähr zwölf, glaube ich«, sagte Sally ein wenig unsicher. »Wir haben gedacht, es wäre dumm, Paul nicht zu fragen, schließlich ist er der einzige religiöse Fanatiker, den wir kennen.«

»Ich bin kein Fanatiker«, widersprach Paul empört.

»Wirklich, mein Lieber? Ich glaube doch.«

»Nur weil ich zufällig Buchanianer bin –«

»Was sagst du da?«, fragte Amabelle. »Ich hätte nie gedacht, dass ein alter Intellektueller wie du so etwas offen zugibt. Ich lese seine Bücher auch manchmal, aber nur im Zug, wenn niemand mich sieht.«

»Ich bezog mich nicht«, sagte Paul würdevoll, »auf die Romane von John Buchan, falls du das meinst. Die lese ich selbstverständlich nicht. Der Buchanismus ist eine religiöse Sekte, gegründet von der Schottin Mrs Elspeth Buchan, einer Vorläuferin von Mrs Eddy und Mrs Besant, nur dass sie diesen deutlich überlegen ist. Sie hat die inzwischen weit verbreitete Mode, dass verheiratete bürgerliche Damen Religionsgemeinschaften gründen, überhaupt erst erfunden. Ihr letzter Anhänger ist 1848 gestorben, und ich habe mich selbst zum Oberhaupt der N. B. B., der Neuen Buchanianer-Bewegung, ernannt. Da mit ihren Jüngern auch ihre Lehren untergegangen sind, kann ich für mich einfach neue Regeln aufstellen, was sehr angenehm ist. Wann findet die Taufe denn statt, Sally?«