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Sie sind emanzipiert, anspruchsvoll oder einfach nur normale Paare oder Einzelgänger und suchen mit Gleichgesinnten das Glück außerhalb der Städte. Endlich auf dem Land angekommen, machen sie erste, schöne Erfahrungen mit Menschen, die noch ihre "ureigensten Eigenschaften" zu besitzen scheinen. Davon handelt der spannende und amüsante Roman. Aber in seinen Erzählungen entwickelt sich zunehmend eine andere Realität. Die vernetzten und die tatendurstigen "Aussteiger" erleben auch die Abgründe des Landlebens. Ein Episodenroman, der Witz, Weisheit und Wahnsinn vereint – und Hoffnung auf ein Happy End macht. "Geht es wirklich um den Gegensatz von Stadt und Land, und nicht eher um die Abgründe im Alltag – hier wie dort? Nachdem ich aus der Stadt geflüchtet bin, sehe ich im Morgengrauen, dass mein schöner, grüner Gartenteich sich in ein Gehirn verwandelt hat. Wir leben also auch hier in einer Welt, die seltsamer ist, als wir überhaupt denken k ö n n e n."
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Seitenzahl: 188
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„Geht es wirklich um denGegensatz von Stadt und Land,und nicht eher um die Abgründeim Alltag – hier wie dort?Nachdem ich aus der Stadtgeflüchtet bin, sehe ich imMorgengrauen, dass meinschöner, grüner Gartenteich sichin ein Gehirn verwandelt hat.Wir leben also auch hierin einer Welt, die seltsamer ist,als wir überhaupt denkenk ö n n e n.“
AUTOR:
Berndt Schulz
TITELFOTO:
Norbert Schrepfer
GESTALTUNG UND SATZ:
Gerhard Mohler
VERLAG:
edition federleicht, Frankfurt am Main
www.edition-federleicht.de
1. Auflage 2019
© edition federleicht
ISBN 978-3-946112-36-5
E-BOOK ISBN 978-3-946112-43-3
Berndt Schulz
Episoden vom Land
Roman
Den „Schwalmgegenden”der Brüder Grimm mit ihren inspirierendenMenschen und Tieren gewidmet.
TEIL EINS
Angekommen!
TEIL ZWEI
Flucht aus den Städten
TEIL DREI
In der Schwälmer Senke
Die Blätter fallen im Tanz, rote Äpfel an den Bäumen, die Luft frisch wie am ersten Tag. Überall in den Wäldern regen sich die Zeichen des üppigsten Lebens. Geheimnisvolle Pilze wachsen plötzlich genau hier und nicht irgendwo. Spuren von Tieren im verlockenden Moos. Alles verabredet sich, und überall leuchtet es im Unterholz. Es ist etwas Überwältigendes da, etwas Wunderbares. Etwas Flüsterndes und sich Regendes. Viel wird erzählt in diesen Herbstzeiten. Man bereitet sich vor.
Neulich kam einer aus der Stadt und behauptete, wir hier auf dem Land lebten doch im Glück. Jeder liebt jeden. Und alle sind Wiederkäuer. Das war natürlich ein unglaublich komischer Scherz. Wir lachten alle herzlich darüber! Herzlich darüber!
Aber wenn ich es genau überlege, dann stimmt das sogar. Und dass wir alle darüber lachten, das zeigt mir, wie sehr wir tatsächlich auf dem Land angekommen sind. Wir bilden eine echte Gemeinschaft. Von Tüchtigen. Von Freundlichen. Von Vorurteilslosen.
Der Pfarrer sagt zu mir: „Sie müssen den Leuten an der Nasenspitze ansehen, was sie denken!“ Da hat er recht. Man kriegt von ihnen keinen Kommentar zur Lage. Höchstens hintenrum, über die Äcker, der Wind weht dann und wann was heran. Aber die Stimmung bleibt heiter und entspannt. Nicht wie in der Stadt, wo man dauernd alles Mögliche um die Ohren gehauen bekommt. Wo man sich dauernd verteidigen muss. Nein, hier auf dem Land lässt man den Anderen in Ruhe. Er ist eben so, wie er ist. Und damit muss zuallererst er selbst zurechtkommen.
Wir gewöhnten uns also schnell an die konservative Gelassenheit der Landbewohner, und wir dachten: Mein Gott, es ist eben so!
Eine solche Haltung nimmt die kritische Schärfe aus den Urteilen. Man nimmt das Leben in allen seinen Äußerungen horizontal wahr. Aus Urteilen werden Betrachtungen.
Man wird ziemlich gelassen dadurch.
So habe ich es mir immer vorgestellt. Und ich habe es bekommen. Meine Frau ist regelrecht glücklich darüber. Sie geht über die Wiesen, der Wind spielt in ihrem schon leicht ergrauten Haar, sie pflückt Blumen. Jedenfalls die, die noch da sind. Denn die Giftspritzerei auf den Feldern – naja, das ist ein anderes Thema. Sie geht über die Wiesen und wirft Blicke auf alles um sich herum. Die Katze springt heran. Die Amseln umschwirren den Kirschbaum und singen. Die Blindschleichen züngeln. Meine Frau findet das Glück im Garten. Und ihr Fazit lautet: „Ist das Leben nicht schön!“
Ja, das ist es tatsächlich. Man kann auf dem Land Leute kennenlernen, die gibt es in der ganzen Stadtlandschaft nicht. Menschen, die noch ihre ureigensten Eigenschaften besitzen und nichts Geborgtes haben. Hier triffst du sie. Jeder kann sein, wie er eben ist. Platz ist genug da.
Nimm nur den Landarzt. In seiner Praxis hängen Uhren an den Wänden, die falsch herum laufen. Oder nimm den Ortsvorsteher. Er regiert seinen Ort ausschließlich vom Traktor herab. Oder die mit dem schönsten Garten. Sie lacht ständig über nichts. Oder der Pferdezüchter. Er lässt sich mit einer Antwort Zeit, bis die Sonne untergeht. Oder der Metzger. Er ist hässlich wie die Nacht, aber grundgütig bis in die Tiefen seiner Seele. Auch der Tankstellenbesitzer ist ein Original, er rettet Hornissen an den Zapfsäulen, während die Kundschaft Schlange steht. Oder nimm meinetwegen unseren nächsten erreichbaren Nachbarn. In seinen Nebengebäuden hängen Gartengeräte an den Wänden, deren genaue Abstände voneinander du mit dem Millimetermaß nachmessen kannst.
Sie alle machen genau das, was ihnen passt und scheren sich nicht um Leitbilder.
Ich denke, mit unserem Umzug aufs Land haben wir die richtige Entscheidung getroffen. Ich bin gespannt, wie viele aus der Großstadt unserem Beispiel folgen werden. Ganz entfernt am Horizont sehe ich sie schon heranrücken.
Na gut, ich freue mich darauf. Wir sind jedenfalls schon hier.
„Erdmuthe hält nie hinter dem Berg mit der Wahrheit“, sagte die Frau und deutete mit dem Messer in der linken Hand auf den Besucher in ihrer Küche.
Den Besucher erfreute das. Er liebte Menschen, die unbedingt die Wahrheit sagten. Er blickte auf das Küchenmesser in der Hand von Erdmuthe und dann hinaus in den Garten, auf dem die Sonne hell und heiß lag, der Himmel war hier oben auf der Höhe sehr niedrig.
„Erdmuthe sagt auch dann die Wahrheit“, sagte sie, „wenn es den anderen nicht passt.“
„Das bringt eine Menge Schwierigkeiten“, wusste der Gast.
„Ja, denkst du denn, davon kannst du nicht ausgehen?“, sagte Erdmuthe in ihrer umwegreichen Diktion, die sie in ihrem kurzen und konfliktreichen Berufsleben ausgebildet hatte. „Nein! Nein, nein! Hör mal! Damit schafft man sich nicht immer Freunde!“
„Schon gar nicht als Fremde hier oben auf dem Berg!“, sagte der Besucher.
„Sag mal! Nein! Das ist überall schwierig!“, sagte Erdmuthe.
Der Besucher sah ihr zu, wie sie das Messer jetzt senkte und das Gemüse sorgfältig fein hackte. Dann die Kräuter aus ihrem Garten.
„Ich könnte dir helfen, Erdmuthe“, bot der Besucher an.
„Willst du das tun?“, sagte Erdmuthe, stemmte die Arme in die Hüften und beugte den Oberkörper zurück. „Alles kommt in die große Schüssel. Es macht dir doch nichts aus, wenn wir das Essen zusammen zubereiten?“
„Überhaupt nicht, in dieser schönen Küche, und bei diesem herrlichen Blick nach draußen“, beteuerte der Besucher.
Tatsächlich bot der Ausblick durch die hohen Fenster, über die gemütliche Terrasse, den überquellenden Garten, die hinteren Obsthecken hinunter ins Tal bis zum fernen Horizont Bilder wie aus einem Landlust-Katalog. Verstohlen blickte der Besucher hinüber zu den Küchenregalen, in denen ganze Jahrgänge dieser Kataloge standen.
Der Besucher hackte den Knoblauch fein.
Erdmuthe sah ihm im Stehen zu, ließ ihn gewähren, ohne ihn anzuleiten, sie vertraute ihm offensichtlich. Das gefiel ihm.
Als er den Knoblauch fein hatte, blickte er sie an. Wie lange er sie schon kannte, ohne ihr je wirklich nahegekommen zu sein! Ihr sonnengegerbtes Gesicht wirkte alt, uneben, fleckig an den breiten Backenknochen, aber ihre Augen sprühten. Ihre Stimme war lebhaft und ihre Gestalt jung, sie bewegte sich geschmeidig.
„Erdmuthe kann immer darauf bauen, ein reines Gewissen zu haben“, sagte sie unvermittelt. „Hör mal! Das kommt ja gar nicht in die Tüte!“
„Dass du die Unwahrheit sagen müsstest?“, vermutete der Besucher.
„Na, was denn! Das kannst du doch überhaupt nicht anders sehen!“, sagte Erdmuthe.
„Bist du deshalb auf den Berg geflüchtet?“, fragte der Besucher.
„Ach, Quatsch! Hör mal! Ich bin doch nicht geflüchtet!“, protestierte sie. „Der Mann ist tot, die Kinder aus dem Haus, da bin ich doch frei!“
„Du bist freiwillig hier in der ländlichen Einsamkeit, fast ohne Mitmenschen?“
„Aber was denkst du denn! Nein! Ich treffe viele Leute!“
„Früher, in deinem erfüllten Berufsleben, kanntest du mehr Menschen“, sagte er. „Ich erinnere mich an große Gesellschaften in der Hauptstadt. Das ist aber wohl vorbei!“
„Ach, Quatsch! Nein!!! Hör mal!“
„Um dich herum waren Menschen, die Ansprüche an dich hatten“, blieb er hartnäckig.
Sie wiegte ihren verbrauchten, schlanken Leib, wie zu einer unhörbaren Musik.
„Man hat in meinem Beruf oft die Unwahrheit von mir verlangt“, sagte sie. „Egal, wo ich hinkam. Rund um die ganze Welt. Aber ich habe es nicht getan! Ich habe lieber auf eine Karriere verzichtet.“
„Du bist ein Mensch, der gerecht sein will“, sagte der Besucher.
Ihr Lachen war laut, aber bezaubernd. Es dauerte lange, dabei bog sie wieder ihren Oberkörper zurück und stemmte die Arme in die Seite. Das Lachen lief in ein neckisches Schmunzeln aus. Sie strich sich die weißen Haare mit den kleinen Fingern ihrer beiden Hände aus der Stirn. Dann beugte sie sich über den Tisch, steckte einen Finger in das Dressing und leckte ihn ab.
„Das könnte man doch wohl fertig nennen, oder etwa nicht?“, fragte sie. „Oder was fehlt noch?“
„Es wird köstlich schmecken“, sagte der Besucher.
„Erdmuthe kann schon kochen, das ist wahr“, sagte sie. „Aber sie ist nicht perfekt. Das kann man wirklich nicht sagen! Sie muss noch viel lernen. Und dieser Garten macht so viel Angebote, das ist Wahnsinn! Willst du mir das glauben!“
Er sah hinaus. Gemüse und Obst überall. Und dazu nickten Kosmeen, Sonnenschirme, Akeleien mit den Köpfen.
„Hier auf dem Berg wächst das Gemüse sicher wie die Feuerwehr?“, sagte der Besucher.
„Ja, wie denn! Davon kannst du ausgehen! Das war doch mit ein Grund, weshalb ich hier heraufgezogen bin.“
„Du bist auf keinen Fall geflohen, ich weiß! Auf gar keinen Fall. Und du hast dir ein perfektes Haus gebaut, Erdmuthe! Ein Traumhaus!“
Sie rang die Hände.
„Ich habe es mir von den paar Nachbarn, die es hier oben gibt, bauen lassen, das ist wahr! Aber alles nach meinen Vorgaben! Es kann doch gar nicht anders sein, als dass ich dafür lange gebraucht habe! Sehr lange! Aber ich habe es geschafft. Was Erdmuthe beginnt, führt sie zu Ende!“
Er erhob sich von dem alten Tisch, der genau in der Mitte der Küche stand. Drinnen kochen, draußen essen, dachte er, dazwischen nur ein paar Schritte auf die Terrasse, in den Garten. Weite Blicke ins Tal. Den freundlichen Nachbarn zuwinken. Dann wieder zurück in die offene Küche. Drinnen und Draußen als Einheit. Ein alter Traum, von dem sie früher oft gesprochen hatte.
Sie wusch sich unter dem Wasserhahn die Hände, trocknete sie sorgfältig ab. Dann trat sie auf ihn zu, sah ihn liebevoll an und nahm sein Gesicht in beide Hände.
„Wie ich mich freue, dass du gekommen bist!“, sagte sie. „Wie ich mich wirklich freue! Hör mal, das ist so schön! So wunderschön!“
„Ja, Erdmuthe!“, sagte er verlegen.
„Hör mal!“, sagte sie, „denkst du etwa, wir werden nicht bald essen? Doch, das werden wir! Ich decke schon mal. Draußen ist es noch warm genug, denkst du etwa nicht?“
„Doch, das denke ich“, sagte der Besucher. „Wir werden draußen essen.“
Die untergehende Sonne beschien warm den Gartentisch. Er nahm Platz. Sie kam kurze Zeit später, stellte alles hin und setzte sich gegenüber.
„Erdmuthe bringt alles zu Ende“, sagte sie. Sie lachte, sah ihn eindringlich an und sagte: „Na, weißt du, jetzt kannst du doch loslegen! Lass es dir schmecken! Und wenn es dir nicht schmeckt, dann sagst du es laut und deutlich. Ja? Laut und deutlich! Versprichst du mir das? Du musst es mir unbedingt sagen!“
„Ja, Erdmuthe“, sagte er.
Das Essen schmeckte wunderbar.
„Ja, Sie müssen doch wissen, ob Sie einen Öko-Rasengitterstein verwenden wollen oder eine Gehwegplatte grau, einfach, wenn auch mit Edelsplittvorsatz.“
„Weiß ich nicht.“
„Oder ob Sie für die Rasenkanten, die Sie offensichtlich planen, die bewährten Abgrenzungselemente nehmen, die wir anbieten, natürlich mit Nut und Feder. Oder den farbigen Palibord klein.“
„Weiß ich eben nicht.“
„Dann kann ich Ihnen kaum helfen. Denn Sie müssen schon mitarbeiten. Sie können es ja nicht den Mitarbeitern hier überlassen, wie Ihr Bereich mal aussehen soll.“
„Ich dachte, das könnte ich.“
„Sehen Sie – wenn sich Ihre Gestaltungsphantasie im Rahmen dessen bewegt, was die Produkthersteller anbieten, dann haben Sie eben eines Tages einen Vorplatz, der genauso aussieht, wie der Ihrer Nachbarn.“
„Genauso aussieht, wie aller Nachbarn?“
„Im schlimmsten Fall!“
„Ob ich das will, meinen Sie, das muss ich mir dann überlegen?“
„Es sei denn, Sie platzieren ein paar Hingucker.“
„Wie zum Beispiel?“
„Eine Ruine klein, mit Fenster? Durch das nachts der Vollmond schaut? Sehr romantisch!“
„Den Vollmond müsste ich wohl extra bestellen?“
„Wir bieten auch Ratenzahlung an!“
„Eine Sitzbank wäre auch denkbar?“
„Absolut! – Oder ein Outdoor-Set Mini mit rustikaler Optik, auf der Basis von Ruck-Zuck-Beton. Der absolute Blickfang! Sie haben ja so viele Gestaltungsmöglichkeiten!“
„Ich möchte eben nicht im Wettbewerb der ländlichen Spießer mitwirken, verstehen Sie mich!“
„Ich verstehe Sie! Deshalb meine Angebote! Denn ich sehe doch, dass Sie – wie soll ich sagen – etwas Besonders wollen, und auch etwas Besonderes sind!“
„Aber dann wird es teuer!“
„Nicht wahr!“
„Dann muss ich mir die Sache tatsächlich noch mal überlegen.“
„Wir sind von 8 bis 18 Uhr für Sie da.“
„Ich denke nur, ich brauche zumindest eine Rasenkante. Denn an unserem Grundstück gehen ja so viele vorbei. Es liegt am Dorfeingang, wissen Sie? Wer da alles rüberguckt! Und schnell ist man eingeordnet.“
„Dagegen ist keiner gefeit!“
„Es sei denn, ich weiche auf ein Element in meiner Größe aus?“
„Auf den Palibord groß, genau! Dann sieht keiner rein. Dann können Sie sogar eine Gartendusche als Spaß für Groß und Klein mit einem pfiffigen Bausatz aufrichten. Schnell und effektiv. Kein Problem!“
„Niemand sieht mich!“
„Und auch Sie niemanden!“
„Oder im Gras auch ein Springbrunnenset, was?“
„Mit Terrazzokugeln ihrer Wahl!“
„Oder mit Amphoren im Antiklook aus Terracotta!“
„Jetzt arbeiten Sie mit!“
„Ich beweise meine individuelle Note?“
„Jederzeit!“
„Womöglich mit eingebautem Wasserreservoir!“
„Sie wären – ich will mal sagen – unabhängig!“
„Ach, Freizeit kann schön sein, nicht wahr!“
„Mit den passenden Geländesystemen …“
„Ich bräuchte halt nur einen Garten!“
„Das – wäre von Vorteil!“
„Aber woher nehmen!“
„Do it yourself!“
Als sie an diesem Morgen aufbrachen, bestand die Welt aus drei Farben: Rot, Grün und Gelb. Der Himmel, obschon deutlich zu sehen, schrumpfte zusammen. Wie in einem Mosaik kam auf seiner blassen Fläche ein Teilchen bunter Herbstfarbe nach dem anderen dazu, hineingesetzt von einer unsichtbaren Hand. Wenn Harrietts Blicke eine Lücke durch die dichter werdenden, bizarren Formen der Baumkronen fanden, endeten sie vor dem Wind, der die Bäume bewegte. Der Herbst umschloss sie.
Es war Harrietts liebste Jahreszeit. Die Natur wurde übermächtig, sie beherrschte jetzt alles, es war ein Schauspiel. Aber Harriett wusste, dass dahinter noch etwas anderes wartete. Etwas immer Wiederkehrendes, etwas Beständiges. Vielleicht trug es nur den Namen John, der sie auf dem Spaziergang begleitete. Er wartete. Nun schon seit zwanzig Herbstzeiten, wie Harriett gerade an diesem Morgen während des Frühstücks verwundert ausgerechnet hatte. Er war lange an ihrer Seite gewesen.
Das Wetter blieb unbeständig. Die Luft mild. In manchen Senken lag bereits Nebel. Die Landschaft bestand aus Wellen von Anhöhen und kleinen Tälern, durch die Hohlwege führten, an Obstwiesen vorbei, auf denen einsame Pferde grasten. Eine enge, holprige Welt, die sich jäh weitete und Blicke über Hügelketten zuließ; in der Ferne verblassten die Berge, vor denen die Städte lagen.
Harriett verspürte Lust, sich auf eine Bank zu setzen und mit John zu reden. Die Beine übereinandergeschlagen, bequem zurückgelehnt, viel Zeit auf ihrer Seite, ihr Arm auf seiner Schulter. So konnte er ihr nicht entkommen. Sie fand diesen Gedanken belustigend, denn John wollte nicht fort. Aber wie so oft, hatte sie auch in diesem Augenblick das Gefühl, dass er ihr fremd war.
Sein Körper. Diese Bewegungen. Eine weiche Stimme, die erklärte. Der immer abgelenkte Blick, mit dem er sie erstaunt musterte. Erstaunt über ihre Anwesenheit. Er schob Sätze zwischen sie, Gedanken. Nur wenn sie ihn berührte, war er ihr nahe. Dann wendete er sich ihr zu.
John rutschte näher, saß schief auf der Bank, die unter ihm klein wirkte, legte seine Hand auf Harrietts Knie. Er erklärte, was er vorhatte. Eine Arbeit über eine unbekannte Autorin des vorigen Jahrhunderts, aufwendige Recherche. Harriett selbst hatte sich mit diesem Thema beschäftigt, dann gab sie es an John ab. Er nahm es ihr aus den Händen. Er war hartnäckig im Verfolgen von Projekten.
Harriett erschrak. Ein Tier brach durch niedriges Gebüsch, sie konnten es beide hören, sahen es aber nicht. Es gab Wild, überall standen Hochsitze, im Morgengrauen wurde es in dieser abgelegenen Gegend lebendig. Harriett musste lachen, sie war in letzter Zeit schreckhaft, so als stünde etwas bevor, das sie ahnen konnte.
John war schon bei seinem nächsten Gedanken. Er redete eine Weile mit zurückgelegtem Kopf, dann suchten seine treuen Augen ihren Blick. Er nahm ihr ein Versprechen ab. Harriets Blicke wanderten über sein vertrautes Gesicht, in dem noch etwas Jugendliches lebte, das auch sie besaß. Es war einer dieser Momente, für die Harriett lebte, so nahe kamen sie sich manchmal, untrennbar. Sie versprach es ihm, sie würde sein Werk fortsetzen, wenn ihm je etwas geschah. Sie küssten sich mit gespitzten Lippen.
Als sie weitergingen, kam ein Hügel in Sicht, dessen rotbraune Erde wie ein Wall wirkte. Die Natur war rundum ihre neue, ländliche Heimat auf kleinstem Raum abwechslungsreich. Rechts und links des Hohlweges, durch den sie jetzt gingen, standen Dornenhecken, für jeden Feind undurchdringlich. Als die Felder sich wieder öffneten, blieb John zurück und rief, dass er schnell einmal verschwinden müsse. Sie solle nur weitergehen.
Harriett schlenderte weiter. Zur Rechten sah sie die kahlen Äste einer Buche, deren Stamm sich im Würgegriff einer parasitären Pflanze befand. Als ihr Blick an den verkrüppelten Ästen emporwanderte, nahm sie wahr, dass sich der Himmel mit schweren Wolken schloss. Vielleicht würde es regnen.
Sie drehte sich um in Richtung des Waldstücks, zwischen dessen Büschen John verschwunden war. Er ließ sich Zeit. Harriett blieb stehen, um auf ihn zu warten. Sie wollte nicht allein sein.
Nach einer Weile überlegte sie, ob ihm etwas passiert war. Schließlich war John nicht mehr der Gesündeste. Einen Herzinfarkt hatte er schon hinter sich. Sie zögerte. Sie wollte nicht aufdringlich sein.
Die Minuten verstrichen. Harriett blickte zurück, wo nur das hohe Buschwerk sich beständig bewegte, dann ließ sie ihre Blicke schweifen, sie blieben an dem Baum hängen, dessen kahle Äste in den dunkler werdenden Himmel ragten. Die Regenfront kam näher, sie hatten den Schirm vergessen. Harriett entschloss sich, das Stück Weg zu John zurückzugehen. Aber stattdessen beobachtete sie den Ort, an dem er sich aufhalten musste. Kein Laut drang herüber. Der immer stärker werdende Wind fuhr durch die Äste des Buschwerks. Dahinter schloss sich dunkler Wald an.
Harriett konnte sich nicht rühren. In keine Richtung. Die Kronen der Bäume und Büsche übernahmen für sie die Bewegung. Im Rauschen des Windes stand Harriett wie angewurzelt. Die Natur umschloss sie. Erst nach einer Weile gelang es ihr, einen Gedanken zu fassen. Sie warf noch einen Blick zurück. Ihre Augen suchten die Landschaft ab. Sie empfand alles gleich weit entfernt.
Harriett spürte ein Gefühl der Trauer über all diese Verluste in ihrem Leben. Dinge und Menschen. Wenig war ihr gelungen. Fast nichts geblieben. Dann ging sie weiter.
Es geht also ums Verschwinden, wie gesagt. Es verschwindet so viel im Leben. Manches kehrt nie mehr zurück.
Aber immer wenn es hier auf dem Land Herbst wird, atme ich auf. Vorbei ist die quälende Zeit heißer Sommer in der Stadt, in denen man den Atem anhält, weil jede Absicht sinnlos erscheint und jeder Plan zum Scheitern verurteilt.
Jetzt hingegen bleibt jeder Tag und bringt Veränderungen. Die Türen gehen wieder auf, Winde wehen, alles Draußen wird bunt. Die Katze nimmt Anlauf und springt aus dem Fenster, rennt den Hügel hoch, als erwarte sie dort weitere Nachrichten.
Und sie weiß natürlich, was los ist. Die Landschaften in unserer Region öffnen sich nämlich, der Himmel ist weit und tief, da lässt sich hineinspringen, um einen Star oder Kranich herunterzuholen. Aber tausend Vögel schließen sich in ihren lang vorher ausgetüftelten Formationen zusammen und werden ungreifbar. Dann fliegen sie fort, das stört allerdings mein Glücksgefühl in den Herbstzeiten. Es gleicht einer Flucht aus Unkenntnis, denn hier bei uns wird es jetzt schön.
Die Blätter fallen im Tanz, rote Äpfel an den Bäumen, die Luft frisch wie am ersten Tag. Überall in den Wäldern regen sich die Zeichen des üppigsten Lebens. Geheimnisvolle Pilze wachsen plötzlich genau hier und nicht irgendwo. Spuren von Tieren im verlockenden Moos. Alles verabredet sich, und überall leuchtet es im Unterholz. Es ist etwas Überwältigendes da, etwas Wunderbares. Etwas Flüsterndes und sich Regendes. Viel wird erzählt in diesen Herbstzeiten. Man bereitet sich vor.
Es ist natürlich zu allen Jahreszeiten schön, das sehe ich jetzt ganz klar, seit wir auf dem Land leben. Man lernt ja so viel – neue Sichtweisen, eine neue Sprache im Umgang mit den Einwohnern. Selbst dass der Jasmin im Frühsommer so unverschämt blüht und alle Aufmerksamkeit für sich beansprucht, habe ich inzwischen akzeptiert.
Aber nur in den Herbstzeiten sehe ich, wie alles freiwillig seinen Platz einnimmt. Und auch die Katze kehrt am Abend zurück.
Er war auf dem Sprung. Kleine, hellgrüne Kapseln auf haardünnen Zweigen, auch im Wind unbewegt. Der breit gefächerte Busch hielt sich am Boden, sammelte seine Kräfte in einer dunklen, geheimnisvollen Mitte und blieb unbeeindruckt vom Geschehen im Garten. Er hatte seine eigene Zeit in einem eigenen Leben. Dennoch war spürbar, dass er etwas vorbereitete. Es würde solange unsichtbar bleiben, bis der Ausbruch unmittelbar bevorstand. Dann konnte man über die Ausmaße fassungslos sein.
Eines Tages war es soweit.
Wenn ich mich traute, seine Nähe zu suchen, umkreiste ich ihn respektvoll. Ich bemerkte, wie er ausfranste, wie er gewisse Zweige mit Blättern, Herzen gleich, wachsen ließ und hinausstreckte – man konnte zusehen. Andere drehten sich nach Innen gewendet, das waren wohl die Wächter. Ich starrte hinein. Ich wagte nicht, ihn zu berühren, etwa die Zweige mit einem langen Holz zur Seite zu drücken, um in der tiefen Höhle unter dem grünen Dach sein Geheimnis zu entdecken.
Es war der Morgen des vierten Tages, an dem mein Mann verschwunden war. Er hatte uns ohne einen Abschiedsgruß verlassen. Wenn Menschen von einem Moment zum anderen verschwinden, bleibt für unbestimmte Zeit etwas wie eine farblose Leerstelle zurück, die sich nur zögernd auffüllt. Ich will es den lebenden Abdruck nennen. Das bemerkt nicht jeder, aber doch die Empfindsamen, die Schuldbewussten. Dort, wo die Verschwundenen bis vor kurzem noch saßen, bleibt ihr Schatten, dort, wo sie standen, werden die Dinge dahinter undeutlicher, dort, wo sie gingen, zwingen sie das Gras, sich widerwillig zu bewegen.