Novembermord: Martin Velsmann ermittelt – Der erste Fall - Berndt Schulz - E-Book
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Novembermord: Martin Velsmann ermittelt – Der erste Fall E-Book

Berndt Schulz

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Beschreibung

Begleiten Sie Kommissar Martin Velsmann bei seinem Aufsehen erregenden ersten Fall: in Berndt Schulz‘ „Novembermord“ jetzt als eBook bei dotbooks. Hauptkommissar Martin Velsmann ist ratlos: Eigentlich war er sich sicher, dass ihn nach 37 Dienstjahren nichts mehr überraschen könnte. Doch dann geschieht ein Mord, der alles in den Schatten stellt, das dem erfahrenen Polizist bisher begegnet ist. Am Stausee wird ein Meteorologe auf bestialische Weise getötet. Am Tatort finden die Ermittler eine mysteriöse Nachricht. Wird es Velsmann gelingen, die Botschaft zu entschlüsseln und den Täter zu finden, bevor er ein zweites Mal zuschlagen kann? Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Novembermord“ von Berndt Schulz. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Hauptkommissar Martin Velsmann ist ratlos: Eigentlich war er sich sicher, dass ihn nach 37 Dienstjahren nichts mehr überraschen könnte. Doch dann geschieht ein Mord, der alles in den Schatten stellt, das dem erfahrenen Polizist bisher begegnet ist. Am Stausee wird ein Meteorologe auf bestialische Weise getötet. Am Tatort finden die Ermittler eine mysteriöse Nachricht. Wird es Velsmann gelingen, die Botschaft zu entschlüsseln und den Täter zu finden, bevor er ein zweites Mal zuschlagen kann?

Über den Autor:

Berndt Schulz wurde 1942 in Berlin geboren. Er veröffentlichte zahlreiche Kriminalromane und Sachbücher. Außerdem ist Schulz unter dem Pseudonym Mattias Gerwald als Autor historischer Romane erfolgreich. Er lebt in Nordhessen und Frankfurt am Main.

Bei dotbooks erscheint Berndt Schulz' Krimi-Reihe rund um Kriminalkommissar Martin Velsmann, die folgende Bände umfasst: »Novembermord: Martin Velsmann ermittelt – Der erste Fall« »Engelmord: Martin Velsmann ermittelt – Der zweite Fall« »Regenmord: Martin Velsmann ermittelt – Der dritte Fall« »Frühjahrsmord: Martin Velsmann ermittelt – Der vierte Fall« »Klostermord: Martin Velsmann ermittelt – Der fünfte Fall« Die ersten zwei Romanen der »Martin Velsmann«-Reihe sind auch als Sammelband unter dem Titel »Novembermord & Engelmord« erhältlich.

Außerdem erscheinen bei dotbooks Berndt Schulz' Kriminalromane »Wildwuchs« und »Moderholz«, der Roman »Eine Liebe im Krieg« sowie der Kinderkriminalroman »Das Geheimnis des Falkengottes«.

Ebenfalls bei dotbooks veröffentlicht Berndt Schulz unter dem Pseudonym Mattias Gerwald folgende Bände der »Tempelritter-Saga«:

»Die Suche nach Vineta«, »Das Grabtuch Christi«, »Der Kreuzzug der Kinder«, »Die Stunde der Gerechten«, »Die Säulen Salomons«, »Das Grab des Heiligen« Und die historischen Romane »Die Geliebte des Propheten«, »Das Geheimnis des Ketzers«, »Die Entdecker«, »Die Sternenburg«, »Die Gottkönigin«, »Die Gesandten des Kaisers« und »Die Hetzjagd«.

***

eBook-Neuausgabe Oktober 2014

Copyright © der Originalausgabe © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2004

2. Auflage: April 2005

Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Atelier Nele Schütz, München, unter Verwendung von shutterstock/andreiuc88

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95520-792-2

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Novembermord« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

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Bernd Schulz

Novembermord

Martin Velsmann ermittelt – Der erste Fall

dotbooks.

Für die Berliner, für Gisela und Bernd

Dies ist ein Roman – Handlung, Figuren und Dialoge sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit tatsächlich existierenden Orten und Personen reiner Zufall.

»Der andere ist mein Feind. Sein Blick löst meine Welt auf«

Jean-Paul Sartre

Teil Eins  

I

Es sollte lebendig aussehen.

Doch in der Kälte, die jetzt einsetzte, war das nicht einfach. Die Temperaturen lagen bereits unter null. Von Osten her begann es zu schneien. Zu früh im Jahr, dachte er, dadurch wird alles schwerer. Aber er hatte es nicht nur befürchtet, sondern auch lange darauf gewartet. Nun war die Zeit da. Seine weiße, schwere Zeit.

Seine Blicke suchten den Himmel ab. Er sah diese gleichgültige, sprachlose Leere, aber das war es nicht, was ihn im Moment interessierte. Es würde kräftig weiterschneien, die Spuren verwischen. Das war wichtig.

Am See blieb es ganz ruhig, und er selbst wurde es nach und nach auch. Er wusste, er hatte noch fünfundzwanzig schlimme Berufsjahre vor sich, eine unerträgliche Vorstellung, aber im Moment war der Sonnenuntergang sehr schön. Denn eine weißgelbe, sehr ferne, sehr tiefe Sonne brach in diesem Augenblick mit ihren letzten Strahlen durch die Schneewolken und tauchte die Landschaft in ein Licht, das nicht zur Jahreszeit passte. Er schloss für einen Moment die Augen, er wollte es gar nicht sehen. Er brauchte sein eigenes Licht. Als er die Augen wieder öffnete, lag schon die Barriere des Horizonts vor den Sonnenstrahlen.

Dann wurde es endgültig dunkel.

Es war ihm nicht klar, dass er etwas wiederholte, er wusste nur, dass er Spuren auslegen würde, und die konnten, wenn er nicht nachdachte, in seine eigene Richtung weisen. Er musste also aufpassen. Es sollte unverdächtig wirken, und später sollte es lebendig aussehen. Alles andere war unwichtig.

Der Mann im gefütterten dunkelgrünen Trainingsanzug aus Kunststoff, mit einem roten Firmenemblem auf der Brust, dort wo das Herz sitzt, folgte nur seinem Gefühl. Und das sagte ihm, dass die alten Rechnungen noch offen waren, dass sie immer offen bleiben würden. Dieser Schmerz war niemals zu stillen.

Der Mann zog jetzt die Kapuze mit der angenähten Maske über den Kopf. Es schneite plötzlich in Böen heftiger, und seine Plastikbrille beschlug. Die Kälte kribbelte auf seiner Kopfhaut. Er wartete noch einige Zeit, bis die schnell hereinbrechende Novembernacht den letzten Lichtstrahl aufgesogen hatte. Als es zu kalt wurde, legte er die erforderlichen Meter zurück und tauchte dann im Wald vor dem Turm unter.

Der Turm besaß oben ein rundum laufendes Fenster und darüber, auf der Spitze, Antennen, die in die Kälte lauschten. Er kannte den Grundriss, die Pläne knisterten in seiner Brusttasche, außerdem war er schon oft hier gewesen, immer wieder. Mittags. Nachts. Wenn alle schliefen. Wenn sogar diejenigen schliefen, die über die Kälte zu wachen hatten. Manchmal versahen sie ihren Dienst nicht so, wie man es erwarten konnte, dachte er. Denn musste man nicht immer und überall Bescheid wissen über den Stand und den Lauf der Sterne, über die zu erwartende Kälte, über den Grad der Dunkelheit, die unversehens hereinbrechen konnte?

Für ihn war es jedenfalls entscheidend geworden. Ob seine Mitmenschen das ebenso sahen, wusste er nicht. Es interessierte ihn wenig. Er dachte: Sie beschäftigen sich sowieso mit ganz anderen Sachen, die ich nicht verstehe.

Plötzlich stutzte er. Er zog den Plan aus der Brusttasche und studierte ihn hastig. Nein, das war schon in Ordnung. Jetzt wusste er wieder, wohin der Seiteneinstieg, an dessen Verlauf er sich nicht erinnerte, führte, natürlich, direkt durch den Kohlenkeller, einen von Heizungsröhren bedachten Gang entlang bis zum seitlichen Gebäudekomplex, in dem die Wohnung lag. Die der Bestie.

Er war hier, um eine Kreatur auszulöschen, die auf frevelhafte Weise mit dem. Leben spielte. Solche Kreaturen machten das Dasein unerträglich. Nur wenn sie nicht mehr waren, konnte man in dieser Zeit, in dieser Kälte und Dunkelheit, weiterleben.

Der Eindringling lauschte in die Schwärze des Ganges. Hinter ihm lag jetzt das zugezogene Kellergitter. Vor ihm der Weg, den er zu gehen hatte und an dessen Ende sich zeigen musste, ob eine ausgleichende Gerechtigkeit möglich war oder nicht. Ob ein Gleichgewicht aus Grauen und Ruhe wiederherstellbar war.

Oder nicht.

Ob die Dämonen endlich schliefen.

Denn wenn nicht, dann war dies sein letzter November, das wusste er. Der letzte in einer Abfolge von unzählbar vielen, in denen die Finsternis drinnen und draußen immer mehr zugenommen hatte.

Der Mann tastete sich vorwärts. Er zählte die Schritte, die er zu gehen hatte. Bei einhundert blieb er stehen. Er ließ die Stablampe ausgeschaltet, weil er wusste, wo er war. Direkt vor ihm, in Augenhöhe, würde die Verriegelung der Stahltür liegen. Seine klammen Finger in den dicken Wollhandschuhen fanden den Metallriegel sofort. Er bemühte sich, keinen Lärm zu machen. Trotzdem erzeugte das Zurückziehen des Riegels ein quietschendes Geräusch, es kam dem Eindringling unerträglich laut vor. Aber danach blieb alles still.

Er zwang sich, bis zehn zu zählen, bis fünfzig, bis dreihundert. Dann zog er die Tür auf und ging hindurch.

Auf der anderen Seite hing ein Geruch nach Metall in der Luft. Ein scharfer Geruch nach Apparaturen, nach den Messgeräten, die jenseits des Vorraums im Turm standen. Er hörte einen entfernten, singenden Ton. Aber dafür interessierte sich der Mann nicht, zumal die Arbeit beendet und die Station menschenleer war. Die nächste Schicht begann um drei Uhr in der kalten, dunklen Frühe, deshalb ging der andere, der hier von Montag bis Freitag wohnte, auch früh schlafen.

Ihn interessierte die Treppe, die hinaufführte. Dorthin, von wo ein schwacher Lichtschimmer herunterdrang.

Ein Gefühl unbändigen Grimms beherrschte den Mann am Fuß der Treppe. Es war ein so übermächtiges, scharfes Gefühl, dass er glaubte, es jetzt herausschreien zu müssen. Er beherrschte sich nur mühsam, spürte aber sofort einen Hustenreiz, es war so, als ob eine Luftblase aus seiner Lunge aufstieg, die Hass, Schadenfreude und Kälte mit sich führte.

Jetzt!, dachte er. Gleich!

Nein, die Dielen knarrten nicht. Das hatte er nicht gewusst, davor hatte er sich gefürchtet. Denn in dieser Stille war alles verräterisch laut, das Knacken des Holzes konnte sofort den Alarm auslösen.

Es war ihm, als seien die Stufen mit ihm im Bunde, er ging auf ihnen empor, als trügen sie ihn auf Händen. Stufe für Stufe kam er dem Lichtschein näher. Jetzt sah er schon, dass dieser aus dem Spalt unter der Tür zur Linken kam, ein schmaler Streifen weißgoldenen Lichts, wie es ihm schien, mit einer Korona. Nein, das täuschte. Natürlich täuschte das. Es war die Einbildung, die ihm seine Vorfreude bereitete. Eine Korona aus Licht – er wusste, es gab ein anderes, passenderes Wort dafür, suchte dieses passende Wort, fand es aber nicht – eine Korona aus Licht hatte diese Kreatur nicht verdient.

Er zog die Waffe aus der Seitentasche des Sportanzugs. Ein langes, feines Stilett. Mit einem Perlmuttgriff und einer Gravur, die ihren Besitzer ermahnte, die Weisung des übermächtigen als Feuer in die Welt zu tragen. Dorthin, wo die Richtigen, die Dankbaren saßen.

Er kannte sich inzwischen gut aus mit solchen Waffen. Sie waren in den vergangenen zwölf Monaten zu seinen einzigen Gefährten geworden, zu vertrauenswürdigen, kalten Begleitern, in jeder Größe, in jeder Form.

Der Mann besann sich einen Moment und steckte das Stilett wieder ein. Er musste die Hände frei haben. Auf Zehenspitzen trat er an die geschlossene Tür heran. Von drinnen war kein Laut zu hören.

Dann gab es plötzlich ein klackendes Geräusch, das Licht verlöschte.

Der Mann erstarrte.

Er lauschte mit angehaltenem Atem.

War er trotz seiner Gewissheiten in eine Falle getappt? Würden sie sich jetzt auf ihn stürzen?

Er hörte ein rutschendes, schleifendes Geräusch, dann ein Ausatmen, wie ein Seufzer, sich entfernende Schritte, nein, weniger als Schritte, ein flüchtiges Aufeinandertreffen zweier leichtester Dinge, irgendwo hinter der Tür.

Dann ertönte ein deutliches Plätschern.

Im nächsten Augenblick wusste er, was hinter der Tür vor sich ging. Wie in einer Simulation aus Pixeln, Tastendruck und Licht lag die Szenerie der Wohnung und alles, was sich darin befand, vor seinem geistigen Auge.

Der Computer in seinem Kopf lieferte ihm sein Paradigma.

Der Mann straffte sich. Mit jedem Schritt, den er jetzt tat, wurde er zielstrebiger, schien zu wachsen. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Als er dann in der Wohnung stand, hätte nicht einmal er selbst sich wiedererkannt.

Er war in kürzester Zeit ein ganz anderer geworden.

Die Bestie war im Bad. Der Eindringling hörte Wasser rauschen. Er wusste, hinter dem Bad lag das Schlafzimmer. Die Gefahr, dass der andere zurückkommen würde, um nachzusehen, ob die Tür verschlossen war, war nicht groß. Und wenn, dann würde es die Sache nur abkürzen.

Der Mann im Trainingsanzug bewegte sich jetzt vorwärts, als sei dies seine Wohnung. Ungeniert ging er in Richtung des Bades, des Wasserrauschens, des Mannes, den er jetzt am Waschbecken stehen sah. Die Kreatur pinkelte in das Becken.

Der Eindringling schaute verwundert auf dieses unerträgliche, ordinäre Bild. Er brauchte ein paar Sekunden zu lang, um seinen Plan nicht zu gefährden. Jähe Wut durchpulste ihn für einen Moment.

Er bekam durch diese Welle der Wut selbst das Gefühl, hilflos zu werden, sich nicht helfen zu können.

Dann zog er das Stilett wieder aus der Tasche.

Der andere bemerkte ihn jetzt. Ein Ausdruck von Ratlosigkeit huschte über sein Gesicht. Er sah ihn nur an. Ratlos. Der Eindringling machte vier schnelle Schritte nach vorn und stach zu.

Wie viele Stiche er benötigte, um zum Ziel zu kommen, das wusste er nicht. Er vermied es, das Gesicht oder den ausrasierten Schädel zu treffen.

Seine Wut verebbte dabei.

Er beobachtete während seines Tuns, wie der andere kleiner wurde. Wie er zusammensackte. Ob er am Boden noch zitterte und an welchen Gliedern.

Als Blutblasen auf seine Lippen traten und seine Blicke sich weiß und starr zur Decke richteten, hörte der Mann auf. Er hielt noch eine Weile das Stilett über dem Kopf erhoben, stand halb über das auf den kalten Kacheln liegende Bündel aus Schlafanzug, Blut und Knochen gebeugt und richtete sich dann langsam auf. Er hörte einen scharfen Laut, den er selbst verursachte, stieß die Atemluft zwischen den Lippen hervor, das war sein letzter Laut der Anspannung.

Ja, dachte er, vielleicht hat es doch einen Sinn, sich dem Leben zu stellen. Vielleicht kann man überleben.

Der Mörder begann ruhig zu arbeiten. Er löste mit dem Gürtel einen farblosen Plastiksack, den er am Körper getragen hatte, und legte ihn auf die Erde. Dann packte er die Leiche. Der andere war schwer, vielleicht in seiner gestauchten, toten Haltung schwerer als zu Lebzeiten. Er schob die Leiche mit den nackten Füßen voran in den Sack. Es ging zu langsam. Der Mörder ruckelte an dem Sack, hob die Beine des Toten an, schob sie in den Sack. Stück für Stück verschwand der blutüberströmte Körper. Als nur noch der Kopf freilag, wischte der Mörder mit einem Zipfel des Schlafanzugs Blut ab, das am Hals ausgetreten war und sich als Rinnsal über den Adamsapfel zog.

Es sollte lebendig aussehen.

Er betrachtete sein Werk. So hatte er es sich vorgestellt. Kurz entschlossen fasste er die beiden oberen Kanten des Plastiksacks an, setzte der Leiche einen Fuß gegen den Kopf – erst jetzt fiel ihm auf, dass der Ermordete trotz seiner jungen Jahre oben schon kahl wurde – und trat ihn in die Plastikhülle. Er verschloss sie geschickt mit Knoten eines flachen, glänzenden Seidenbandes, wie man es zur Weihnachtszeit benutzt.

Der Tote lag verkrümmt im Sack, er sah jetzt aus wie ein Fötus, der im weißlichen Fruchtwasser des Plastiksacks schwamm. Seine Gesichtszüge waren ausdruckslos, ohne Panik und Todesangst, sein Körper schwamm im Blut, das sich jedoch nicht ausbreitete, sondern schon trocken schien.

Die weiße, schwere Zeit, dachte der Mörder. Aber die Farbtupfer, die auftauchen, wenn ich es richtig mache, können mich retten.

Er war ganz leidenschaftslos, fühlte nichts. Hass und Glut waren in ihm erfroren. Jetzt verhielt er sich nur noch wie ein Arbeiter, der den Auftrag erfüllt, Abfall zu entsorgen.

Er schleifte den Plastiksack mit dem Fötus des anderen hinaus. Auf den Treppenabsatz. Die Stufen hinunter. Durch den Röhrengang.

Am Kellerfenster hielt er an. Schon hatte er das Gitter aufgestoßen und wollte den Sack hinausdrücken, die Leiche der Kälte aussetzen, damit sie zu dem wurde, was sie zu werden verdiente – ein Stück knackender, gefrorener Abfall, an dem sein schwarzer Gott keine Freude mehr hatte. Dann beschloss er jedoch, seinen Plan zu ändern. Welcher Impuls ihn dazu verleitete, wusste er später nicht zu sagen. Etwas in seinem Kopf nahm einfach eine andere Richtung.

Er zog den Plastiksack wieder in den Gang zurück.

Am Fuß der Treppe drehte er die Leiche, bis sie an der nur angelehnten Tür zum Turm angekommen war. Er zog sie in den Apparateraum hinein, atmete inzwischen infolge der Anstrengung schwerer und setzte den Toten so auf den Drehstuhl am Kartentisch, dass es aussah, als beuge er sich über die Keyboards, als prüfe er die zuckenden Linien von Oszillograph und Hydrograph, die verwischenden Wolken des Radargerätes, die unbestechlich weiterarbeiteten, auch wenn ihre Wächter schliefen.

Der Mann begutachtete den Anblick.

Es wirkte, als sei ein erwachsener Fötus in seiner Fruchtblase, die oben mit einem Band undurchlässig zusammengebunden war, einen nicht vorgesehenen Weg gegangen. Als sei er schon vor seiner Zeit neugierig auf das Leben geworden. Oder als hätte er einen Vorsprung vor den anderen erkämpft. Als sei hier einer auf dem Sprung in die Welt, der begabter war als die anderen. Versuch es noch einmal, dachte der Mörder, schlag eine andere Richtung in deinem verpfuschten Leben ein.

Der Mörder war fasziniert von dem, was er sah. Welch schönes, beruhigendes Bild! Ein flüchtiger Beobachter hätte denken können, die technischen Apparaturen und ein denkender Mensch sprächen miteinander, tauschten ihre Erfahrungen aus. Vielleicht aus Sorge um die Gemeinschaft, auf die alle angewiesen waren, vielleicht auch nur, um bessere Vorhersagen zu erstellen, um zu helfen.

Vielleicht ging es auch um viel mehr.

Einer Eingebung folgend, riss er einen gelben, quadratischen Zettel von dem auf der Arbeitsplatte liegenden Post-it-Block, nahm einen der Stifte und schrieb: »Der wahre Allmächtige kommt aus der Dunkelheit und tilgt sie in der Welt.« Wunderbar, dachte er, einfach wunderbar. Er ließ die Botschaft auf dem Kartentisch liegen und hatte plötzlich das Gefühl, eine ganz neue Verbindung geschaffen zu haben, eine Darstellung, wie sie höchstens früher möglich gewesen war. Als sei wieder alles in Ordnung, auch für ihn selbst, alles an einem Vertrauen erweckenden Platz. Als sei das einfache, das alltägliche Leben, so wie es alle gelernt hatten, möglich und lebenswert. Aber so war es nicht. Das Leben verlöschte. Es versiegte einfach in Dunkelheit und Kälte. Es sei denn, man fand für sich einen Ausweg. Und das musste ein gewalttätiger Ausweg sein. Ein anderer hätte dem Auftrag, den er angenommen hatte, nicht entsprochen. Dem Auftrag, der ihm von innen, dort wo die Angst saß, gegeben wurde.

Der Mann ging hinaus, lehnte die Tür wieder an und verließ die Station durch das Kellerfenster, ohne darauf zu achten, ob ihn jemand sah. Er war daran gewöhnt zu denken, dass ihn niemand sah.

Draußen waren seine Spuren bereits völlig verweht.

Er würde neue erzeugen, ging aber davon, ohne sich umzudrehen.

Es schneite in immer dickeren Flocken. Auf der Dunkelheit lastete die Stille einer erfrorenen Nacht. Hinter dem Mörder wischte die Natur sofort mit einem dichten Schneeschleier seine flachen Fußabdrücke auf.

II

Hauptkommissar Martin Velsmann ließ die linke Hand am Steuer und tastete mit der rechten, ohne den Blick von der Fahrbahn zu lassen, nach dem Handy. Es piepte abgehackt und anklagend. Vielleicht, dachte er, sollte ich doch wieder »Für Elise« einspeichern, es klingt weniger empört, und wenn es nervt, dann nur die anderen.

»Ja?«

Die Stimme am anderen Ende gehörte Freygang. Velsmann fand es alarmierend, dass sein Assistent keine flapsige Bemerkung machte, sondern ernst und schnell sprach. Freygang sagte: »In der Wetterstation am Stausee ist ein Meteorologe tot aufgefunden worden. Offensichtlich ermordet. Kommen Sie am besten gleich her, Chef.«

»Wieso denn, wer soll denn in einer Wetterstation sonst ermordet werden, wenn nicht ein Meteorologe?«

Es rauschte an Velsmanns Ohr, dann sagte sein Assistent: »Wow, Chef. Und ich dachte immer, Witze wären mein Metier. Kommen Sie erst mal her, dann vergeht Ihnen der Humor.«

Velsmann sah auf die Autouhr. »Ich bin unterwegs und habe um acht meinen Arzttermin.«

»Hätten Sie das dem Täter vorher gesagt, vielleicht ...«

»Schon gut, schon gut ...«

»Alle sind hier. Die ganze Mannschaft. Volles Rohr.«

»Und warum erfahre ich das erst jetzt?«

Velsmann sah es vor sich, wie Freygang die Schultern hochzog und seine typische Geste mit ausgestreckten Armen machte. Das Handy musste er zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt haben. »Weil ich Sie nicht eher erreicht habe! Ihr Handy ist irgendwie kaputt, vielleicht ist die Mailbox voll. Sie müssen sie hin und wieder ausschütten wie einen Aschenbecher, Chef.«

»So senil bin ich noch nicht, dass ich das nicht selbst wüsste, Freygang. Warum glaubt ihr Nachwuchsheinis eigentlich, die Welt erfunden zu haben?«

»Wenn Sie mich damit meinen – das glaube ich gar nicht. Aber ich habe es schon mehrfach bei Ihnen versucht. Genauer gesagt seit sieben Uhr im Zehnminutentakt.«

»Also gut, meine Mailbox war voll, das habe ich auf der Fahrt selbst gemerkt.«

»Nehmen Sie den Weg über die Rimbachfarm. Die Station ist dann den Waldweg runter direkt am See.«

»Ich kenne die Station. Wer ist aus Fulda noch da?«

»Wie gesagt alle!«

»Also auch Abteilung B?«

»Der Boss zuallererst. Er hat sich schon die Bemerkung erlaubt, ob Sie vielleicht der Mörder seien, weil Sie nach der Tat spurlos untergetaucht sind, hahaha.«

Velsmann beendete das Gespräch, kurbelte das Seitenfenster herunter, setzte das Blaulicht aufs Dach, wendete und trat auf das Gaspedal. Die Scheibenwischer arbeiteten auf Hochtouren, es schneite nun schon seit achtundvierzig Stunden in dicken Flocken. In Rauch und Schneeschleier gehüllte Räumfahrzeuge versuchten mit Streusalz die Straßen freizuhalten. Es sind nur gewöhnliche Räumfahrzeuge, dachte Velsmann, aber warum sehen sie aus wie Raumfahrzeuge, irgendwo im Nebel des Universums, wo auch ich herumschwebe?

Er seufzte und verschaffte sich Bodenhaftung, indem er noch einmal zum Handy griff.

»Polizeiassistent Freygang!«

»Ist der Staatsanwalt auch informiert?«

»Keine Ahnung, muss ich nachfragen.«

»Überprüfen Sie das mal gleich.«

»Mach ich, Chef. Oder nein, das kann Tosca übernehmen. Hier kommt gerade Dr. Gell. Bis nachher, Chef.«

Velsmann blickte angestrengt durch die Frontscheibe. In seinem Magen brannte es seit zwei Tagen. Sein Magen war sein körperliches Gewissen, es meldete sich sofort, wenn sein Besitzer achtlos lebte, zu schnell und zu fett aß, sich nicht ausruhte. Genau das hatte er in den letzten vier Monaten getan.

Velsmann nahm die Kurven zu schnell und fuhr deshalb langsamer. Er versuchte sich zu erinnern, ob er jemals über einen längeren Zeitraum ohne Magenprobleme gewesen war. Schon als Jugendlicher in Berlin hatte er Schleimhautentzündungen bekommen, unfähige Ärzte muteten ihm zu, aus Pappbechern eine weiße, dicke Flüssigkeit zu, trinken, die nach gekalkter Wand schmeckte. Jeden zweiten Tag gekalkte, weiße Wand. Und dann musste er sich hinter klobige Durchleuchtungsgeräte stellen, wahre Monster, die mit strahlensicheren grünen Tüchern abgedeckt waren. Auf dem Röntgenschirm sah er dann, wie sich amöbengleich weiße Wölkchen durch seine Innereien wälzten. Er hatte endlose Wochen in Krankenhäusern und Sanatorien verbracht.

Stahlau kam in Sicht.

Warum bin ich trotzdem Polizist geworden?, dachte Martin Velsmann, das reinste Selbstmordkommando. Diese Frage hatte er sich schon oft gestellt und nie beantwortet. Er musste an der Ampel vor der Einfahrt nach Stahlau scharf bremsen, das Auto schlingerte. Eigentlich ein Wunder, dachte er, dass ich nur ein einziges Mal, als ich den Geiselnehmer durch die Lange Rhön verfolgen musste, ein richtiges Magengeschwür bekam. Aber jetzt ist es sowieso egal, die letzten sechs oder sieben Jahre werde ich noch durchhalten. Vielleicht gehe ich auch in den Vorruhestand, und es sind nur noch zwei. Dann ziehe ich ans Meer.

An der nächsten roten Ampel, direkt vor dem Gasthof »Zum Grünen Baum«, wo er vor einer Woche allein Kalbfleisch mit Thunfischsoße gegessen hatte, fiel ihm ein, dass er sich einen neuen Arzttermin geben lassen musste. Er erledigte das mit einem Anruf, hatte aber gleichzeitig das unbestimmte Gefühl, auch den neuen Termin nicht wahrnehmen zu können.

Hinter Stahlau bog er von der B 66 nach rechts ab. Aus den Augenwinkeln nahm er zur Linken den dünnen Bergfried des Renaissanceschlosses wahr, der die geduckte Stadtsilhouette unproportional überragte. Velsmann fuhr bis zu den letzten Häusern, ein Stück am Stausee entlang, dann wieder nach rechts. Als die lang gestreckte Rimbachfarm mit ihren Blockhäusern und jetzt leeren Pferdekoppeln im Schnee in Sicht kam, musste er sich wieder auf der Karte orientieren. Er steuerte nach links einen Abhang hinunter und fuhr auf rutschigen, schneebedeckten Waldwegen weiter. Leise fluchte er in sich hinein. Es fehlt nicht viel, und ich bleibe hier stecken, dachte er. Ich bleibe im Schnee stecken und muss zu Fuß zum Tatort. Ich hätte die Bundesstraße um den See herum, durch Bad Salmünster nehmen sollen, auch wenn es ein Umweg von zehn Kilometern ist.

Wieder meldete sich sein Handy. Es war der inzwischen informierte Staatsanwalt. »Wir treffen uns am Tatort«, erklärte Dr. Keuper knapp, und Velsmann sah ihn vor sich, wie er seine Umgebung aus den Augenwinkeln beobachtete, ohne den Kopf zu drehen.

Nach zwei weiteren Kilometern hielt Velsmanns flaschengrüner Ford Scorpio, Baujahr 1993, ohne Polizeiaufdruck und Landeswappen, vor dem Turm der Wetterstation.

Schon von weitem hatte er die parkenden Autos gesehen. Waren etwa auch die Journalisten schon da? Velsmann verfluchte sein Handy und seinen schlampigen Umgang mit dem Gerät. Es machte wahrscheinlich keinen guten Eindruck, wenn er als Letzter am Tatort eintraf. Das war ihm, soweit er sich erinnerte, noch nie passiert. Aber er konnte es nun nicht mehr ändern.

Seine beiden engsten Mitarbeiter liefen auf ihn zu. Alfons Freygang hatte rote Backen, seine runde Brille, die ihm das Aussehen eines Studenten gab, war verrutscht und beschlagen. Tosca Poppe war wie immer viel zu dünn angezogen und blickte wie immer feindselig. Ihre Unterlippe, in der ein Ring nicht nur eingeklemmt, sondern durchgebohrt war, war blau angelaufen und bebte. Velsmann befiel bei ihrem Anblick regelmäßig ein väterliches Gefühl, als habe er seine beiden Kinder vor sich.

»Wo stehen wir?«, fragte er beim Aussteigen.

Freygang wies über die Schulter zurück. »Ein Toter. Er heißt Roman Gut, Meteorologe, siebenundzwanzig. Mit mehreren Stichen getötet.«

»Mord?«

»Kann nur Mord sein, denn er steckt in einem Plastiksack, der von außen verschlossen ist. Müssen Sie sich ansehen, Chef. Ein bizarres Bild.«

»Irgendwelche Spuren?«

»Natürlich nicht!«, sagte Tosca Poppe patzig. »Nur eine Art Botschaft auf einem Zettel.«

Der Kommissar war an ihren Ton gewöhnt. »Was steht drauf?«

»Sehen Sie es sich am besten selbst an, Chef.«

Martin Velsmanns Blicke suchten die Umgebung ab, die abgesperrte Wetterstation, den See mit der Staumauer im Hintergrund, die bewaldeten Hänge, die leeren Pferdekoppeln im Tal. Das Geräusch eines Zuges schwoll an, im gleichen Augenblick rauschte hinter schneebedeckten Tannen zur Rechten ein ICE vorbei. Velsmann fragte laut: »Sonstige Hinweise?«

»Bisher nicht. Jemand muss von außen eingedrungen sein, aber der Schnee hat alle Fußspuren verwischt. Ob es Fingerabdrücke gibt, untersuchen die Techniker gerade.«

»Tatzeit?«

»Irgendwann in der Nacht. Vielleicht schon am späten Abend. Zwischen drei Uhr und sieben Uhr hätte der Tote arbeiten müssen, es merkte aber anscheinend niemand, dass er es nicht tat.«

»Die Mordwaffe?«

»Wahrscheinlich ein Dolch oder so was, mit ziemlich langer, dünner Klinge.«

»Ein Stilett«, warf Poppe bissig ein. Velsmann bemerkte jetzt, dass ihre blauen Lippen nicht von der Kälte, sondern von ihrem Lippenstift herrührten. Das minderte seine väterlich besorgten Gefühle im Nu. Die zweiundzwanzigjährige Polizeiaspirantin war vor einem Jahr aus Gotha zu ihnen gekommen und leistete sich eine professionelle Trotzphase, aber Velsmann schätzte ihr Gespür für abseitige Spuren und ihren Sinn für eigenwillige Fahndungsmethoden. Vielleicht, dachte er, muss man sich ein unkonventionelles Aussehen verleihen, um genau so zu denken.

Freygang fuhr in seinem Bericht fort. »Hier wird nachts zwischen achtzehn Uhr dreißig und drei Uhr morgens nicht gearbeitet. Ab drei beginnt eine kurze Schicht bis sieben, dann folgen zwei weitere Tagesschichten bis abends. Außer Roman Gut sind noch drei weitere Meteorologen beschäftigt, zwei davon wurden informiert und werden am Vormittag in Schlüchtern verhört. Der dritte fand den Toten bei Beginn seiner Frühschicht kurz vor sieben und alarmierte die Polizei in Stahlau. Es gibt jedoch keine Verdachtsmomente. Der Ermordete war Junggeselle, nichts Ungewöhnliches bei einem Alter von siebenundzwanzig. Seine Familie lebt in Frankfurt, ist auch schon verständigt, dort verbringt er die arbeitsfreien Wochenenden.«

»Irgendwelche Vorstrafen? Schulden? Auffällig geworden?«

»Vorstrafen nein, das andere wissen wir noch nicht.«

»Dann lasst uns hineingehen.«

Der Tatort war großräumig mit rotweißen Bändern gesichert. Drinnen herrschte das übliche Chaos. Laboranten und Techniker rannten herum, Spurenleser in gelben Ganzkörperanzügen krabbelten über den Boden, einer lag auf dem Rücken und spähte unter einen Tisch. Die Fotografen hatten ihre Aufnahmen bereits gemacht und rauschten gerade ab. Der Polizeiarzt traf ein. Velsmann trat an die Leiche im Plastiksack heran.

Ein Toter, der noch bei der Arbeit ist, war sein erster Gedanke. Was sollte das darstellen? Es sah aus wie eine Inszenierung.

Martin Velsmann schüttelte den unangenehmen ersten Eindruck ab, der ihn nach siebenunddreißig Dienstjahren noch immer überfiel. Ein Gefühl der völligen Mutlosigkeit angesichts von Gewalt. Eigentlich sagt man »angesichts sinnloser Gewalt«, dachte er. Aber war Gewalt wirklich sinnlos?

Der Polizeiarzt kreuzte jetzt seinen Weg, Schonlage war jung, begabt und unfähig, einen Tatort als Ort von Emotionen zu erleben. »Kann ich dann die Leiche untersuchen?«, wollte er wissen.

Velsmann starrte auf den Plastiksack. Er hatte plötzlich das Gefühl, keine Entscheidung treffen zu können. Sein Magen meldete sich wieder. »Warten wir noch ein paar Minuten«, gab er zur Antwort. Schonlage verzog das Gesicht. »Ich habe mir noch kein Bild gemacht.«

Der junge Mediziner sah ihn mit einem sprechenden Blick an, in dem Velsmann las, dass Alter offensichtlich langsam mache. Er ließ sich davon nicht irritieren und wandte sich wieder der Leiche zu.

Etwas störte ihn.

Gleichzeitig war ihm bewusst, dass dieser Tatort, wie jeder andere vorher, wie ein aufgeschlagenes Buch zu lesen war. Wie lautet dieser Text?, dachte er.

Ein Techniker im weißen Kittel rempelte ihn an und entschuldigte sich zerstreut.

Poppe deutete auf einen gelben Zettel. Martin Velsmann hatte ihn schon bemerkt und las jetzt die in ungelenken Großbuchstaben geschriebene Botschaft. »Der wahre Allmächtige kommt aus der Dunkelheit und tilgt sie in der Welt.« Die ersten drei Wörter waren mit Schnörkeln versehen, die wie Runen aussahen, der letzte Buchstabe im Wort »Welt« sah aus wie ein umgedrehtes Kreuz.

Er trat seitlich an die Leiche heran, sah in das wachsweiße Gesicht des Toten. Er suchte nach einem passenden Ausdruck, um das Bild, das er vor sich sah, zu beschreiben.

»Wie ein Fötus im Mutterleib, wie ihn die Digitalaufnahmen zeigen, die man jetzt immer öfter im Fernsehen sieht, finden Sie nicht, Chef?« Freygang flüsterte fast. Velsmann nickte, ja, das war der Eindruck.

»Eine Wetterstation, Messgeräte«, sagte der Kommissar, formte seine rechte Hand zu einer Forke und strich nachdenklich langsam, dabei seine Kopfhaut massierend, seine dichten, noch nicht ergrauten Haare aus der Stirn. Nur sein kurz geschnittener Bart zeigte bereits graue und weiße Stellen. »Ich kenne mich da nicht aus. Aber was ich sehe, ist Folgendes. Die Geräte arbeiten offensichtlich alle, metereologisch-klimatische Informationen, Geodynamik, das ganze Zeug. Hier werden Luftdruck, Temperatur, Feuchtigkeit, Wolkenart und Ähnliches gemessen. – Ist diese Station eigentlich auch für die Wettervorhersage wichtig?«

Freygang zuckte die Schultern. Er winkte eine Frau in mittleren Jahren heran, die mädchenhaft lange, rotbraune Haare trug. »Frau Dr. Kosell aus Offenbach, Expertin des Deutschen Wetterdienstes«, stellte er sie vor. »Sie ist zufällig wegen einer Inspektion in Stahlau.«

Ja, sind denn alle schon hier? dachte Velsmann. Er schüttelte der sympathisch wirkenden, hoch gewachsenen Frau, die kaum kleiner war als er selbst, die Hand. In ihren grünen Augen lag ein seltsamer Ausdruck. Als Velsmann ihn als eine Art stilles Glück deutete, baute sich in ihm ungewollt ein innerer Widerstand auf. Als er seine Frage wiederholt hatte, sagte sie: »Die Daten aller Wetterstationen werden für die Vorhersage herangezogen. Beim Deutschen Wetterdienst, wo ich arbeite, läuft dann alles zusammen. Klimatologie, Agrarmeteorologie, weltweite Kommunikation für den Verkehr. Ich bin allerdings nur für den hessischen Bereich zuständig.«

»Aha«, sagte Velsmann. »Dann können Sie mir sicher sagen, wie sich das Sauwetter hier weiter entwickelt.«

Die Frau lächelte, und ihr Gesicht wurde dabei noch mädchenhafter. »Es bleibt Spätherbst, wie es sich gehört.«

»Schnee, Kälte, alles drum und dran?«

»Ja. Wie gesagt, wir haben Ende November. Um diese Zeit sieht es mit dem Wetter eben schlecht aus.«

»Es ist immerhin noch nicht Winter, und eine solche Kälte würde ich eher als ungewöhnlich bezeichnen.«

»Das sehe ich anders. Im letzten Jahr war es ganz genauso. Und auch in den letzten zwanzig Jahren davor schneite es immer Mitte November.«

»Und dann nicht mehr«, warf Freygang überzeugt ein.

»Haben Sie eine Theorie«, sagte Velsmann, »warum man einen Meteorologen umbringt?«

»Natürlich nicht. Es sei denn, er hatte irgendwelche persönlichen Feinde. Aber glauben Sie wirklich, das Opfer sei umgebracht worden, weil er Meteorologe war?«

Freygang meinte: »Vielleicht ist er einem zum Opfer gefallen, der über seine Schlechtwetterbotschaften empört war.«

»Ermordet man jemanden, weil einem dessen Vorhersage nicht passt? Kann ich mir nicht vorstellen. Ist so was schon mal vorgekommen?«

Velsmann sah die Fragerin, in deren Gesicht sich ein ehrliches Erstaunen gebildet hatte, an. »Weiß ich nicht. Muss man prüfen lassen. Sie können sich also keinen klassischen Grund für einen Mord an einem Meteorologen vorstellen?« Er hatte Wetterfrosch sagen wollen, verschluckte den flapsigen Ausdruck aber angesichts der Leiche.

»Wie ich schon sagte – nein.«

Velsmann wusste einen Moment lang nicht weiter, das Bild der Leiche irritierte ihn. Das hier war nicht nur ein Mord, es war mehr, aber was wollte der Mörder ihnen mitteilen? Er spürte ein Kratzen im Hals und räusperte sich. »Versuchen wir, die Fakten zu sehen. Der Mord muss irgendwas mit der Tätigkeit zu tun haben, die an diesem Ort ausgeübt wird, sonst hätte er möglicherweise nicht hier stattgefunden und zumindest die Umstände sähen wohl anders aus. Mich würde also interessieren, wie eine Wettervorhersage zustande kommt. Können Sie mir ein paar verständliche Informationen liefern?«

»Nun. Wir machen Aussagen über die zu erwartende Wetterlage durch die Auswertung von Vorhersagewetterkarten, die aufgrund von lokalen Messwerten einerseits und von Satellitenbeobachtungen andererseits gemacht werden. Es gibt rein graphische Verfahren, die wir die synoptische Methode nennen, Hochdruck, Tiefdruck, Fronten – Sie kennen das aus den Zeitungen. Für das numerische Verfahren stellen wir zunächst ein Rechenmodell auf, bei dem die Atmosphäre in Volumina aufgeteilt wird ...«

»In ...?«

»Volumina. Würfel. Für jeden dieser Luftkörper werden aus den meteorologischen Beobachtungen durch ziemlich aufwendige Interpolationen die charakteristischen Werte ermittelt, ferner das dazugehörige Geopotenzial.«

»Hört sich kompliziert an«, warf Freygang missmutig ein. Er hielt sich zugute, ein ganz fixer Junge mit blitzartigem Verstand zu sein.

»Dabei müssen«, fuhr die Meteorologin ungerührt fort, »durch numerische Glättung Inhomogenitäten in den Feldern der meteorologischen Größen verhindert werden. Aus den vorliegenden Ausgangsfeldern lassen sich mit einer der barometrischen Höhenformel entsprechenden Gleichung das Geopotenzial für alle Würfel berechnen sowie die jeweiligen Vertikalwinde mit der Kontinuitätsgleichung für Luft.«

»Und hat das was mit unserer Leiche hier zu tun?«, fragte Freygang.

Velsmann, der ruhig zuhörte, hob abwehrend die Hand. Die Meteorologin sprach weiter.

»Dann liegen alle Werte vor, die zur Berechnung der zeitlichen Änderung des Windes, der Temperatur, der Feuchte und des Geopotenzials benötigt werden. Summiert man diese Änderungen über eine bestimmte Zeit und addiert sie zu den Ausgangsfeldern, so dienen uns die danach vorliegenden Felder im nächsten Schritt für eine Wiederholung der Berechnungen.«

»Ich verstehe vorläufig so viel«, sagte Martin Velsmann, »dass auch diese Station hier für die Erstellung der allgemeinen Wettervorhersage von gewisser Bedeutung ist.«

»Aber unbedingt. Wenn ich auch sagen muss, dass ich keine Expertin bin, was diese Station hier angeht, und also nicht genau sagen kann, welche Hauptdaten hier erhoben werden. Ich bin, wie gesagt, zufällig hier.«

»Aber Sie gaben doch an, wegen einer Inspektion in Stahlau zu sein.«

»Es ging nur um das Personal. Effizienz, Arbeitsplatzbewertung, eine Maßnahme des Personalrates, dem ich vorstehe.«

»Also wirklich nur einer dieser seltsamen Zufälle?«

»Seltsam keineswegs. Aber ein Zufall.«

»Übrigens – seit wann genau sind Sie in der Station?«

Sie sah ihn irritiert an. »Bin ich etwa verdächtig?«

Velsmann machte mit dem Kopf eine Geste. »Dort drüben liegt ein Ermordeter. Da sind alle verdächtig, die in der Nähe des Tatortes angetroffen werden.«

»Ich kam um sieben Uhr dreißig, um genau zu sein. Und ich kam unangemeldet. Das ist nämlich genau der Sinn von Personalinspektionen.«

»Sicher. Kehren wir zurück zu meiner vorherigen Frage.«

»Ich habe mich jedenfalls nicht mit den Messungen, die aus Stahlau kommen, zu beschäftigen. Aber so viel kann ich sagen: Wenn die Daten, die von hier kommen, falsch sind, geht auch unser Großrechner in Offenbach in die Irre. Sie müssen sich vorstellen, dass die Berechnungen für jeden Zeitschritt rund fünfzigtausend Mal durchgeführt werden, die kleinste Ungenauigkeit – und in der Potenzierung ergibt das ein falsches Wetterbild.«

In Velsmanns Verstand bildete sich ein vager Gedanke. »Könnten die Abweichungen dramatisch sein?«

»Unter Umständen, wenn einige unglückliche Verkettungen zustande kommen, ja.«

»Gut. Ich danke Ihnen erst mal. Vielleicht brauche ich Sie später noch, es wäre also nett, wenn Sie sich noch ein Weilchen zur Verfügung hielten.«

Freygang sah den Kommissar neugierig an. Er wusste, sein Vorgesetzter war in der Lage, aus den nebensächlichsten Details Schlüsse zu ziehen. Sein Gespür für Zusammenhänge, die disparat schienen, war berühmt. Nicht wenige der Häftlinge, die ins geplante Gefängnis von Schlüchtern einziehen würden, waren dieser Fähigkeit zum Opfer gefallen.

»Und? Was meinen Sie, Chef?«

Velsmann schüttelte nur den Kopf. »Ich meine noch gar nichts. Ich versuche mir vorzustellen, was uns der Täter mit dieser Inszenierung hier sagen will.«

Tosca Poppe stand plötzlich neben ihm. »Das ist ja Ekel pur! Installation mit Leiche. Echt krass. So was bringen nur Kerle fertig.«

Velsmann sah sie verdutzt an. »Wie meinen Sie das, Tosca? Kennen Sie den Täter?«

»Natürlich nicht. Aber so was fällt nur Männern ein, oder können Sie sich vorstellen, Chef, dass eine Frau zu einem solch ekelhaften Mord in der Lage wäre?«

»Wenn wir den Täter oder die Täterin überführt haben, können Sie mich das noch einmal fragen«, meinte Velsmann nicht unfreundlich.

Wieder tauchte der Mediziner auf und sah den Kommissar ungeduldig an. Velsmann machte eine abwehrende Geste. Er kniete sich hin und blickte dem Toten ins Gesicht.

Der Mann in dem Plastiksack sah aus, als lebe er und denke über die Messergebnisse seiner Geräte nach. über Geopotenziale und Höhenformeln, wie sich die Meteorologin ausgedrückt hatte.

Ein täuschender, aber faszinierender Eindruck.

Velsmann fiel die Frisur des Toten auf, an den Seiten ausrasiert, von dem schmalen Haarstreifen oben ragten drei Spitzen wie eine Art Dreizack in die Stirn. Im ersten Moment dachte er an besonders ausgeprägte Geheimratsecken, aber dann sah er, dass die Ecken ausrasiert waren. Eine modebewusste Leiche, dachte er.

Warum hatte der Täter – Velsmann fiel auf, dass er automatisch auch »der Täter« sagte und nicht »die Täterin« – den Ermordeten in einem Plastiksack dorthin geschafft? Damit es aussah, als sei er noch bei der Arbeit? Er saß leicht vornübergebeugt auf dem drehbaren Lehnstuhl. Warum dieser Plastiksack? Damit man den Eindruck eines Fötus bekam, wie Freygang assoziiert hatte?

Welchen Sinn sollte das ergeben?

Was für eine Botschaft steckte dahinter?

Das alles ergab für Martin Velsmann keinen verständlichen Zusammenhang. Aber wenn es eine Botschaft gab, lag darin verschlossen natürlich das Motiv.

Velsmann ging um den Drehstuhl herum auf die andere Seite. Auch hier der gleiche Eindruck eines zwar in sich zusammengesunkenen, geschundenen, aber wachen Menschen, der sich auf die Geräte konzentrierte. Velsmann fiel jetzt auf, dass das Gesicht des Toten sauber war, wie gereinigt von Blut und Schmutz, das stand ganz im Gegensatz zum schauerlichen Anblick, den der blutverkrustete Körper in einem zerfetzten Schlafanzug bot. War dieser Eindruck beabsichtigt? Was hatte sein Assistent gesagt? Ob der Täter vielleicht jemand sei, der sich über die Prognosen geärgert hatte? Früher wurden die Boten getötet, die die Nachricht vom verlorenen Krieg überbrachten, dachte Velsmann. Lebt dieser Brauch etwa wieder auf?

Das war Unsinn! Bei der Brutalität der Tat mussten ganz andere Emotionen eine Rolle gespielt haben als Ärger über Wetterprognosen! Diese Tat war ein Ausdruck von äußerstem Hass.

Und ebenso sehr ein Ausdruck von kühler Kalkulation.

Wie passte das zusammen?

»Gut, Doktor«, sagte er und drehte sich um. »Fangen Sie an. Ich bin gespannt, wie viele Einstiche Sie zählen.«

»Wollen Sie den Meteorologen vernehmen, der die Leiche seines Kollegen fand?«, fragte ein Polizist. Velsmann sah zu der fraglichen Person hinüber: ein Mann im legeren Anzug, Mitte dreißig, der mit aschfahlem Gesicht in einer Ecke wartete, flankiert von zwei Uniformierten.

»Später auf jeden Fall«, sagte er.

»Draußen lauert die Presse, Chef«, sagte Tosca Poppe. »Soll ich was sagen?«

»Lokale Zeitungen?«

»Kinzigtal Nachrichten. Hanauer Anzeiger. Gelnhäuser Neueste Nachrichten. Fuldaer Zeitung. Bild. Keine Prominenz.«

»Sagen Sie den Journalisten, sie sollen draußen warten. Ich äußere mich in einer halben Stunde.«

»Die sind ziemlich renitent.«

»Das ist ihr Problem. Übrigens, wo ist eigentlich Hauptkommissar Gell?« Im gleichen Augenblick sah er seinen Vorgesetzten eintreten und mit dem Kollegen des Ermordeten sprechen. Er und Hubert Gell waren nicht gerade Freunde, aber der dreiunddreißigjährige Hauptkommissar und Leiter der Fuldaer Polizei verhielt sich korrekt, und Velsmann besaß so viel Selbstbewusstsein, sich als dienstältester und erfolgreichster Kommissar Hessens auch von ehrgeizigen jungen Konkurrenten nicht ins Bockshorn jagen zu lassen.

Der Doktor und seine beiden Assistenten legten die Leiche auf den Boden, schnitten sorgfältig das Plastik auf und glätteten es an den Rändern.

In der Eingangstür tauchte jetzt der zuständige Staatsanwalt auf, und Velsmann konstatierte mit Genugtuung, dass Dr. Alexander Keuper noch später als er an den Tatort kam. Er schien außer Atem zu sein, hatte einen versteinerten Gesichtsausdruck und fixierte Velsmann sofort. Der grüßte kurz und wandte seine Aufmerksamkeit dann den Technikern zu, die Spuren mit Pinseln, Lupen und kleinen Tütchen sicherten, in die sie alles legten, was sich fand, vom Haar auf dem Gerätetisch bis zur Erdkrume auf dem Fußboden. Velsmann fiel auf, dass der geflieste Fußboden blitzsauber war, sicher wurde hier wegen der staubempfindlichen Geräte jeden Tag geputzt. Ob es Fingerabdrücke gab, die etwas taugten, war deshalb fraglich.

Velsmann winkte Freygang heran und wies ihn an herauszufinden, wann der Putzdienst hier tätig war. Bis zu Freygangs Rückkehr stand er einfach da und sah dem Mediziner zu. Mein Gott, dachte er, das müssen mindestens dreißig Einstiche sein. Wer tut so etwas? Und warum? Als Freygang zurückkam, sagte er: »Jeden zweiten Tag zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht. Gestern Nacht nicht, also heute wieder.« Velsmann überlegte, ob der Mörder das gewusst hatte.

Er forderte Freygang, der gerade wieder verschwinden wollte, auf, ihn darüber zu informieren, was sich im Rest des Stationsgebäudes befand.

»Also, unten gibt es nur Diensträume für insgesamt vier Meteorologen, diesen zentralen Geräteraum, Abstellkammern, einen Keller darunter. Oben im ersten Stock befindet sich eine Wohnung, der Ermordete wohnte dort während der Woche.«

»Ach? Warum sagen Sie mir das erst jetzt?«

»Sie haben mich nicht gefragt, Chef.«

»Freygang, Sie sollen mir zuarbeiten, nicht nur Fragen beantworten. Eine Dienstwohnung also.«

»Sieht so aus. Ich hab sie mir zusammen mit den Technikern schon angesehen. Offensichtlich ist der Mord da oben ausgeführt worden. Jetzt warte ich auf den Anruf des Einwohnermeldeamts im Rathaus Stahlau, zu dem die Liegenschaft hier gehört. Aber in diesen kleinen Käffern arbeitet niemand vor neun.«

»Die Station gehört zu Stahlau, nicht zu Bad Salmünster?«

»Sie haben's erfasst, Chef. Muss man so sehen.«

»Hm. Und was sagt uns das?«

»Nichts. Rein gar nichts.«

»Die Wohnung sehe ich mir gleich an, jetzt muss ich erst mal mit Gell und mit Keuper reden. Sie fletschen schon die Zähne.«

»Die tun so, als seien wir für Morde im Kinzigtal persönlich verantwortlich«, meinte Freygang.

»Als würden wir sie in Auftrag geben«, schnaubte Tosca und verschwand wieder.

Obwohl der Arbeitsraum gut temperiert war, fror Velsmann plötzlich. Erneut spürte er den Kratzer im Hals. Ich werde doch wohl keine Erkältung kriegen, dachte er, das fehlte mir noch. Während er auf seinen Vorgesetzten und den Staatsanwalt aus Fulda zuging, fiel ihm sein Urlaub in Portugal ein. Es war der letzte mit Andrea gewesen. Anfang Februar blühten bei Lagos schon die Mandelbäume, sie hatten sich noch einmal gut verstanden, aber dann kam Andreas heftige Reaktion, die er bis heute nicht begriff. Er hatte im letzten Jahr manchmal gelitten wie ein Tier, nachts in Albträumen gestrampelt. Morgens war das Bett zerwühlt wie nach einem Kampf. Wenn man die Zeit zurückdrehen könnte, dachte er, noch einmal eintauchen in die Geborgenheit und Wärme, mit Andrea neben mir. Und er wusste gleichzeitig, dass seine Reaktion die nackte Angst vor dem einsamen Altwerden war. Gingen etwa so trostlos die hochfliegenden Pläne und Träume seines Lebens zu Ende? Er wollte nicht daran denken.

»Ein Ritualmord! Grauenvoll! Der Täter muss ein Fremder sein, im Kinzigtal gibt es solche Bestien nicht!« Die Worte des Hauptkommissars brachten Velsmanns Gedanken in die Gegenwart zurück. Er schüttelte Gell und Keuper die Hände. »Was sagen Sie zu der Sache, Martin?«

»Ich weiß nicht, es ist noch viel zu früh, um etwas zu sagen, Hubert. Vielleicht finden wir ein Mordmotiv, wenn der Arzt fertig ist. Im Moment bin ich ziemlich sprachlos.«

»Das sollte sich schnell ändern, Kommissar, die Medien verlangen eine Stellungnahme.«

Velsmann sah den Staatsanwalt, den er um die vierzig schätzte – mein Gott, dachte er, er ist nicht älter als Andrea –, unwirsch an. »Die Medien, Dr. Keuper, sind mir im Moment scheißegal. Ich muss erst mal meine Eindrücke sortieren, dann schauen wir, was die Tatortspuren hergeben, und dann kommt eine Weile gar nichts. Danach sind die Medienleute dran.«

»Die Öffentlichkeit verlangt, auf den Punkt informiert zu werden. Wir leben in einer Mediendemokratie!«

»Das haben Sie mir schon oft gesagt. Ich weiß das aber durchaus auch selbst.«

»Schon gut, meine Herren«, warf Hauptkommissar Gell ein. »Streiten wir nicht, da drüben liegt ein Toter. Warten wir ab, was die Tatortuntersuchung ergibt.«

»Ich werde mit den Presseleuten in einer halben Stunde sprechen. Vorher sehe ich mir die Wohnung des Toten an.«

»Und für morgen früh beraumen wir eine Pressekonferenz im Präsidium ein. Ist das akzeptabel?«

Keuper sagte: »Natürlich.«

Velsmann brummelte etwas, winkte seine Assistenten heran und deutete nach oben.

»Hält sich für einen scharfen Hund, der Keuper«, sagte Poppe feindselig.

Velsmann erwiderte auf die vorlaute Bemerkung nichts. Als er hinter der jungen Polizeiaspirantin die Treppe hinaufstieg, bemühte er sich, nicht auf ihr heftig wackelndes Hinterteil in den knallengen, von künstlich ausgefransten Löchern übersäten Jeans zu schauen. Wieder bekam er Sehnsucht nach seiner Frau, die aber vielleicht gerade mit einem anderen im Bett lag. Nein, dachte er, eher geht sie mit einem am Meer spazieren und diskutiert über das Licht im Spätwerk von Vermeer. Das war es ja, was sie ihm vorgeworfen hatte, dass er bequem und langweilig geworden war, den Dingen des Lebens nichts mehr abgewann. Vielleicht hast du Recht, Andrea, dachte Velsmann, und es ist eine Altersfrage. Wenn man zwanzig Jahre jünger ist, hat alles noch seinen Zauber. Warum, verdammt noch mal, hilfst du mir nicht, diese Sicht wiederzugewinnen?

Eine junge Kollegin von der Spurensicherung mit einem Aktenkoffer ging schnell an ihnen vorbei. Vor der Eingangstür zur Wohnung des Ermordeten standen zwei Beamte. Sie grüßten mit verlegener Miene, und Velsmann musste sich den Tatort nicht zeigen lassen. Das Badezimmer, in dem der Mord begangen worden sein musste, war übersät mit braunroten, schon getrockneten Flecken. Überall auf den weißen Bodenfliesen, den Wandfliesen und selbst noch auf dem grünen Bordürenband in Augenhöhe befanden sich die Blutspritzer. Freygang deutete auf die Spuren. »Von hier aus hat der Eindringling die Leiche hinuntergeschafft. Das ist eine der vielen Ungereimtheiten. Jedenfalls deuten die Schleifspuren des Plastiksacks darauf hin, dass die Leiche zuerst ins Freie rausgeschafft werden sollte, Spuren am Kellerfenster beweisen das. Dann muss er es sich anders überlegt haben und schleppte den Sack in das Arbeitszimmer.«

»Warum?«

»Warum was? Es gibt zwei Warums, Chef.«

»Ich weiß. Das erste Warum betrifft die Absicht, die Leiche nicht hier oben liegen zu lassen, sondern ins Freie zu schaffen, das zweite die Tatsache, dass die Leiche jetzt im Arbeitsraum mit den Messgeräten liegt. Was könnte ihn dazu verleitet haben?«

»Interessante Frage.«

»Jedenfalls bedeutet das zweite Warum, dass er seinen ursprünglichen Plan nicht ausführen konnte.«

»Oder wollte.«

»Er änderte ihn jedenfalls kurz entschlossen.«

»Ja. Vielleicht kam ihm draußen etwas in die Quere, und er befürchtete, entdeckt zu werden.«