Schönes Mädchen - Alle Lügen führen zu dir - Claire Douglas - E-Book
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Schönes Mädchen - Alle Lügen führen zu dir E-Book

Claire Douglas

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Beschreibung

Sie ist die unangefochtene Thriller-Königin aus England: Unfassbar atmosphärisch, unvergleichlich spannend – Erfolgsautorin Claire Douglas ist ein Garant für Pageturner erster Güte.
Sie war deine größte Rivalin. Doch ist sie eine Mörderin?


Die Schwestern Katy und Viola McKenzie waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Und doch teilten sie viele Geheimnisse miteinander. Bis zu jenem Tag, an dem Viola spurlos aus ihrer Heimatstadt Bristol verschwand. Viele Jahre später zieht Una als Betreuerin in das Haus der McKenzies, wo sie sich um die Mutter der Mädchen kümmern soll. Una spürt auf Anhieb, dass etwas mit der Familie nicht stimmt. Was ist damals mit Viola geschehen? Und warum will niemand mehr über sie sprechen? Die Suche nach der Wahrheit bringt Una in höchste Gefahr ...

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Seitenzahl: 551

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Claire Douglas

Schönes Mädchen

Alle Lügen führen zu dir

Aus dem Englischen von Ivana Marinović

Die englische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Just like the other Girls bei Penguin UK, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2020 by Claire Douglas

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: Favoritbüro

Umschlagmotiv: © Rekha Garton / Trevillion Images; © David Lichtneker / Arcangel © Shutterstock (Evgeny Murtola, Ewelina W, Evannovostro, Helen Hotson, Simona Dibitonto)

Redaktion: Christine Neumann

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-27678-2V001

www.penguin-verlag.de

Für Juliet

Prolog

Der aufsteigende Nebel vermischt sich mit der Dunkelheit, macht die Nacht dicht und undurchschaubar. Ich kann kaum etwas sehen, und doch weiß ich, dass ich nicht allein auf der Hängebrücke bin.

Ich kann jemanden atmen hören.

Wie dumm ich doch gewesen bin.

Niemand wird kommen und mich retten. Es ist viel zu spät – selbst der Autoverkehr über die Brücke ist wegen des Wetters zum Erliegen gekommen. Fest umklammere ich mit meinen Handschuhen das Geländer, um mir Halt zu verleihen.

Jemand ruft meinen Namen. Desorientiert drehe ich mich um, kann aber nicht ausmachen, aus welcher Richtung die Stimme kommt. Ich weiß nur, dass ich hierhergelockt worden bin. Ich muss irgendwie von dieser Brücke wegkommen. Ich lasse das Geländer los, stolpere panisch, mein Atem beschleunigt.

Dreh jetzt bloß nicht durch. Ich muss Ruhe bewahren. Ich muss lebend aus dieser Sache herauskommen.

Selbstmord. Sie werden sagen, dass es Selbstmord war. Genau wie bei den anderen Mädchen.

Ich höre ein Lachen. Es klingt manisch. Höhnisch.

Und da löst sich eine Gestalt aus dem Nebel, presst mir die Hand über den Mund, noch bevor ich dazu komme zu schreien.

BRISTOLDAILYNEWS

Betreuerin/Gesellschafterin für betagte Dame in Clifton gesucht * junge Bewerberinnen bevorzugt * Unterkunft in Haushalt verpflichtend * angemessene Vergütung * freie Kost und Logis * Kontakt ausschließlich telefonisch bei Mrs. Elspeth McKenzie.

Oktober 2018 

Es ist sogar noch umwerfender, noch perfekter, als ich es in Erinnerung hatte. Einen Augenblick lang stehe ich einfach nur da und starre diese Villa an, die ich schon bald mein Zuhause nennen werde.

Die Kulisse vor mir gleicht einem Foto aus einem Hochglanzmagazin – oder der Eröffnungsszene eines romantischen Spielfilms. Ich kann beinahe schon das Anschwellen der Musik im Hintergrund hören, während ich die Reihe georgianischer, in unterschiedlichen Pastelltönen gestrichener Stadthäuser auf mich wirken lasse, ihre filigranen schmiedeeisernen Balkone samt den schwarz-weiß gestreiften Markisen sowie die stattlichen Fassaden, die sich in den wolkenlosen blauen Himmel recken. Ausladende alte Bäume, deren Kronen gerade dabei sind, sich rot, braun und orange zu färben, säumen den Bürgersteig, und eine weitläufige Rasenfläche trennt die Straße von der Clifton-Hängebrücke, die sich mit ihren zwei imposanten Türmen über die tiefe Schlucht mit dem Fluss Avon spannt. Eine Handvoll Leute sitzt plaudernd und lachend im Gras, genießt den für Mitte Oktober seltenen Sonnenschein. Neben mir hockt ein älteres Ehepaar mit einer Thermoskanne auf einer Holzbank mit Blick auf die historische Brücke. Ein Stück dahinter hilft ein junger Vater seinem Sohn einen viel zu großen Drachen steigen zu lassen.

In der Luft liegt eine geradezu elektrisierende Spannung, die mich zu dem Gedanken verführt, dass alles möglich sei. Ich lächle in mich hinein, während ich mich bücke, um meinen kleinen Rollkoffer mit dem kaputten Rädchen anzuheben. Das Flackern von Nervosität in meiner Magengrube ignorierend tasten meine Finger wie von selbst nach der herausgerissenen Zeitungsannonce, die sich immer noch in der Tasche meiner Jeansjacke befindet. Ich kann mich nicht dazu durchringen, sie wegzuwerfen. Sie ist mein Talisman.

Das ist es also. Mein neuer Job. Mein neues Leben.

So lange habe ich auf das hier gewartet.

Ich drehe den Ring an meinem kleinen Finger, wie ich es immer tue, wenn ich aufgeregt oder ängstlich bin. Das hier ist ganz anders als alles, was ich je getan habe. Zum ersten Mal in meinem Leben werde ich mit fremden Menschen zusammenwohnen. Ich werde mich außerhalb meiner Komfortzone bewegen.

Ich atme tief durch und schlucke meine Bedenken hinunter, während ich festen Schrittes auf das Haus der McKenzies zugehe. Dieser Job wird alle meine Probleme lösen. Was könnte schon schiefgehen?

ERSTER TEIL

1 Drei Monate später, Januar 2019, Una

Das Eis knirscht unter meinen Sohlen. Ich muss vorsichtig auftreten in meinen Stiefeln, die für modische Zwecke gedacht sind, nicht für arktische Verhältnisse. Trotzdem rutsche ich aus und kann gerade noch verhindern, auf dem Hintern zu landen, indem ich mich verzweifelt an dem eisernen Geländer festhalte und die Beine grätsche, um mich unbeholfen wieder hochzustemmen. Zwei Teenager latschen vorbei, einer von ihnen lacht laut auf. Ich widerstehe dem Drang, ihnen den Mittelfinger zu zeigen, nur für den Fall, dass meine potenzielle Arbeitgeberin mich gerade beobachtet und beschließt, dass meine Manieren nicht den Jobanforderungen entsprechen. Stattdessen versuche ich, die Kontrolle über meine Beine wiederzuerlangen, und stakse vornübergebeugt wie eine alte Oma den Bürgersteig entlang, bis ich das Haus von Mrs. McKenzie erreiche. Ich bleibe stehen – meine Hände umklammern immer noch das Geländer, das Eis durchnässt die Wollhandschuhe – und starre ehrfürchtig an dem Gebäude empor.

Es hat die Farbe eines Erdbeer-Milchshakes, mit nach vorne gewölbter Fassade, die sich über vier Etagen hochzieht, samt altmodischen Schiebefenstern, die alle auf die Hängebrücke hinausblicken. Im ersten Stock befindet sich außerdem ein Balkon mit einer schwarz-weiß gestreiften Markise, die zurückgezogen wurde. Ganz kurz überlege ich, auf der Stelle umzudrehen und die Biege zu machen – was angesichts des Schnees und Eises eher knifflig wäre. Was hat mich bloß geritten zu glauben, ich könnte einen Job wie diesen hier bekommen? Ich werde bis ans Ende meiner Tage mit Rammel-Roger und Miesepeter-Cynthia im Altersheim arbeiten.

Ich klopfe die Schneeflocken von der Vorderseite meines besten – meines einzigen – Mantels. Er ist bordeauxrot und hat einen schwarzen Samtkragen. Ich sehe in ihm jünger aus als meine zweiundzwanzig Jahre, aber er war der ganze Stolz meiner Mutter. Sie hatte ihn mir zu meinem achtzehnten Geburtstag in einem Vintage-Lädchen in London gekauft. Wir liebten unsere Ausflüge zum dort ansässigen Camden Market und machten ein alljährliches Ritual daraus, wobei wir erst spätabends in Mums klapprigem Alfa zurückfuhren, weil das billiger war, als den Zug zu nehmen. Dieser Mantel hatte sie fast ein ganzes Wochengehalt gekostet. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ihre Augen leuchteten, als ich ihn auspackte.

Ich schlucke den Kloß in meinem Hals runter. Heute kann ich es mir nicht erlauben, sentimental zu werden. Wozu soll das schon führen? Mum hätte sich das hier für mich gewünscht. Ich muss mein Bestes geben. Ich hatte bisher nur ein einziges Vorstellungsgespräch in meinem Leben, und das war direkt nach meinem College-Abschluss.

Das Gartentor quietscht und bleibt im Schnee stecken; ich muss ihm einen kräftigen Stoß verpassen, um es aufzukriegen. Der Pfad, der zum Haus führt, wurde zwar gestreut, doch verschreckt von meinem vorherigen Ausrutscher setze ich nur behutsam einen Fuß vor den anderen. Ich bemerke eine Bewegung hinter dem riesigen Sprossenfenster und muss erneut schlucken, mein Hals ist ganz trocken.

An dem Haus ist eine Schiefertafel angebracht, die teilweise mit Schnee bedeckt ist. Ich wische den Schnee mit meiner behandschuhten Hand weg und lese darauf: Das Kuckucksnest. Ein seltsamer Name für ein Haus wie dieses. Irgendwie unheimlich. Ich klopfe laut gegen die Haustür (die ungefähr viermal so groß ist wie meine Wohnungstür) und fühle mich dabei, als hätte ich Liliput verlassen und Gullivers Welt betreten. Sie ist glänzend schwarz lackiert und hat eine hübsche eingelassene Buntglasscheibe. Dann trete ich gespannt einen Schritt zurück.

Zu meiner Überraschung öffnet mir eine Frau Ende vierzig. Ich habe mit einer wesentlich älteren Dame gerechnet. Sie sieht, um es mit den Worten meiner Mutter zu sagen, »trutschig« aus, in einem unvorteilhaften formlosen Rock, einer hochgeschlossenen Bluse und einer übergroßen Strickjacke. Aber dazu muss man auch sagen, dass meine Mutter mit Ende vierzig immer noch ziemlich cool war mit ihrem blondierten Kurzhaarschnitt und ihrer ledernen Bikerjacke. Und wieder werde ich sentimental. Ich verdränge die Gedanken an sie aus meinem Kopf, um mich auf die Frau vor mir zu konzentrieren.

»Hallo. Mrs. McKenzie? Ich komme wegen des Vorstellungsgesprächs.« Ich ziehe meine Handschuhe aus und strecke ihr überschwänglich meine Hand hin. »Mein Name ist Una Richardson.«

Die Frau starrt meine Hand an, als würde Hundekacke dran kleben. »Ich bin nicht Mrs. McKenzie. Ich bin ihre Tochter, Kathryn.«

Angesichts meines Patzers laufe ich knallrot an und ziehe meine Hand wieder zurück. Sie muss mich jetzt bestimmt sowohl für dumm als auch unverschämt halten. Kein besonders toller erster Eindruck. Sie schürzt ihre dünnen Lippen, während sie mich mustert; die Missbilligung steht ihr ins Gesicht geschrieben, als sie meinen für das Wetter viel zu dünnen Mantel und den billigen Rock von New Look registriert. Dann tritt sie, ohne weiteren Kommentar, beiseite, um mich ins Haus zu lassen.

Ich trete ein und muss mir echt Mühe geben, damit mir die Kinnlade nicht runterklappt. Ich war noch nie in einem so … so herrschaftlichen Haus. Ich komme mir vor, als wäre ich versehentlich in ein riesiges Puppenhaus gestolpert. Der Boden ist mit kunstvollen braunen und blauen viktorianischen Fliesen bedeckt, begrenzt von einer bogenförmigen Wand, die zu beiden Seiten von Säulen flankiert wird, und als wäre das nicht genug, erhebt sich vor mir noch eine geschwungene Treppe mit einem blau und cremefarben gestreiften Läufer. An einer anderen Wand steht stolz aufgerichtet eine antike Standuhr. Alles ist in geschmackvollen neutralen Farbtönen gehalten. Der Flur ist größer als meine komplette Wohnung.

»Es freut mich zu sehen, dass der jüngste Schneefall Sie nicht von Ihrem Kommen abhalten konnte«, bemerkt sie steif, ja fast schon bedauernd, als hätte sie gehofft, dass ich nicht zum Vorstellungsgespräch erscheine.

Ich muss mich praktisch schon davon abhalten, mich für mein Auftauchen zu entschuldigen. »Die Hauptstraßen sind frei. Und zum Glück fuhr mein Bus.«

»Ja. Was für ein Glück.« Sie dreht sich auf ihren flachen Absätzen um und steuert eine geschlossene Tür zu ihrer Linken an. Ich stopfe meine durchnässten Handschuhe in die Manteltaschen, dann folge ich ihr. Bei der Vorstellung, gleich Mrs. McKenzie zu treffen, steigt meine Nervosität noch ein Stück, vor allem falls sie ihrer Tochter ähneln sollte.

»Sie können eintreten.« Kathryn versucht erst gar nicht, die Genervtheit in ihrer Stimme zu verbergen. So aus der Nähe betrachtet, kann ich sehen, dass sie eigentlich attraktiv ist. Die Augen hinter den großen Brillengläsern sind haselnussbraun, und sie hat diese Art von Haut, die aussieht, als würde sie schnell braun werden. Ihr volles Haar glänzt in einem satten Kastanienbraun. Doch sie trägt eine derart verkniffene Miene zur Schau, dass ich mich nicht für sie erwärmen kann.

Als ich keine Anstalten mache, mich zu rühren, schnaubt sie kaum hörbar und beugt sich dicht an mir vorbei nach vorne, um die Tür zu öffnen, wobei sie mich in eine Moschuswolke aus Parfüm hüllt.

Komm schon, reiß dich zusammen. Das ist meine Chance, ganz neu anzufangen und von diesem schrecklichen Altersheim wegzukommen, auch wenn ich seine Bewohner vermissen werde.

Zögernd betrete ich das Zimmer. Es hat hohe Decken, und in seinem Inneren stehen mehrere unterschiedliche Lehnsessel sowie ein dunkelblaues Samtsofa mit Knopfpolster. In der Ecke neben dem hölzernen Schiebefenster befindet sich ein Mahagonischreibtisch. Eine elegant gekleidete Dame in einem Bleistiftrock aus Tweed und einem hellblauen Pullover samt Perlenkette um den Hals sitzt mit adrett übereinandergeschlagenen Beinen in einem Sessel neben dem großen marmornen Kamin. Ihr Haar ist schlohweiß und zu einer eleganten Frisur hochgesteckt. Auf ihren Knien hat sie ein Klemmbrett liegen, auf dem irgendwelche Notizzettel befestigt scheinen, die sie gerade durchgeht.

Als ich mich nähere, hebt sie die Augen. Sie sind klein und von einem strahlenden Blau, wie die nach Minze schmeckenden Eisbonbons, die meine beste Freundin Courtney immer aß, als wir noch klein waren. Obwohl sie sitzt, kann ich erkennen, dass sie groß ist – auf jeden Fall größer als ich – und schlank. Für eine Frau Ende siebzig macht sie einen robusten und kräftigen Eindruck.

»Hallo«, sagt sie, ohne sich zu erheben. Sie wendet ihren Blick nicht ab von mir, selbst dann nicht, als sich Kathryn in dem Sessel neben ihr niederlässt. »Sie müssen Una sein. Ein ungewöhnlicher Name.«

Ich lächle und nicke, als sie mir bedeutet, auf dem Sofa gegenüber Platz zu nehmen. »Meine Mutter war ein großer Fan der Schauspielerin Una Stubbs. Sie wissen schon, die die Tante Sally in Die Vogelscheuche gespielt hat?« Ich hocke mich auf die Sofakante, schlage meine Beine nach ihrem Vorbild übereinander und zupfe den Saum meines Rocks zurecht, der mir in Gegenwart dieser beiden Frauen auf einmal unanständig kurz vorkommt. »Also, ich selbst kenne sie ja am besten aus Sherlock …« Halt, ich gerate ins Plappern.

Mrs. McKenzie kräuselt die Stirn. »Das sagt mir nun zwar nichts, aber ich weiß, wen Sie meinen. Ich habe sie bei mehreren Aufführungen im West End gesehen«, sagt sie, ohne zu lächeln. Mein Blick huscht durchs Zimmer. Es gibt keinen Fernseher. Sie räuspert sich, und ich setze mich etwas aufrechter hin. »Nun, erzählen Sie uns doch ein wenig von sich.« Sie hat einen gepflegten Akzent, und ich bemühe mich um eine korrekte Aussprache, die Mum immer als »Telefonstimme« bezeichnete.

»Na ja … ich …« Ich schlucke. Komm schon, Una, vermassle das jetzt bloß nicht. Lass dich nicht von diesen Leuten einschüchtern, nur weil sie reich sind. Mir entgeht nicht, wie Mrs. McKenzies Blick zu meinen Beinen wandert und dann wieder zurück zu meinem Gesicht. Vielleicht wirke ich nicht erwachsen genug. Ich weiß, dass ich für mein Alter jung aussehe. Ich werde ständig nach meinem Ausweis gefragt. »Ich arbeite seit viereinhalb Jahren in einem Altersheim, nachdem ich mit achtzehn die weiterführende Schule abgeschlossen habe. Zudem habe ich regelmäßig Freigang bekommen, um Zusatzqualifikationen am College zu erwerben …«

»Klingt wie im Gefängnis«, wirft Elspeth McKenzie ein, ohne zu lächeln.

Ich kichere nervös, da ich mir unsicher bin, ob sie nur einen Witz macht. »So haben wir es genannt, wenn der Arbeitgeber uns freigegeben hat, um uns nebenher weiterzubilden.«

»Verstehe.« Sie wirft einen Blick in die Notizen auf ihrem Schoß, und mir wird klar, dass es sich um meinen Lebenslauf handelt.

»Ich bin examinierte Pflegekraft … und kann auch Erste Hilfe.«

Sie schaut wieder auf. »Das sehe ich hier. Fahren Sie fort.«

»Und … ähm … ich bin auf der Suche nach einer neuen Herausforderung.«

»Ihnen ist bewusst, dass es sich hierbei um eine Stelle mit Unterkunft vor Ort handelt?«, erwidert sie. »Sie hätten Ihr eigenes Schlafzimmer. Samstags würde ich Sie zwar benötigen, aber mittwochs und sonntags hätten Sie frei. Wir hätten dabei sehr gerne jemanden ohne … Verpflichtungen.«

»Verpflichtungen?«

»Ehemann. Kinder. Und dergleichen.«

»Nein. Ich habe keine Verpflichtungen.«

»Familie in der Gegend? Einen Freund?«

Ich schaue zu Kathryn, die den Blick auf ihre im Schoß verschränkten Hände gerichtet hat, doch etwas, das ich nicht ganz entziffern kann, huscht über ihr Gesicht. Haben sie etwa Angst, dass ich Männer mit auf mein Zimmer bringen könnte?

»Nein. Weder Freund noch Familie. Es gab nur mich und meine Mum, aber sie … sie ist gestorben. Letzten November.« Ich spüre, wie mir die Hitze in die Wangen steigt. Ich wollte Mum nicht erwähnen. Wenn ich Leuten von ihr erzähle, ändert sich schlagartig ihre Miene, ihre Stimme wird behutsamer, und sie sehen mich mitleidig an, ohne zu wissen, was sie sagen sollen.

Allerdings ist das bei Mrs. McKenzie nicht der Fall. »Es tut mir leid, das zu hören«, erwidert sie knapp, wobei sie nicht sonderlich mitleidsvoll klingt. »Also gut«, fährt sie nach einem kurzen Moment betretenen Schweigens fort, »dann ein wenig zu mir.« Sie setzt sich aufrechter hin. »Nächstes Jahr werde ich achtzig …« Sie legt eine Pause ein, vermutlich damit ich ihr versichere, dass sie für ihr Alter fit aussieht, was ich natürlich auch tue. »… aber seit einem unglücklichen Sturz vor zwei Jahren leidet meine Gesundheit.« Auf mich macht sie einen überaus gesunden Eindruck. »Ich bin nicht mehr so agil wie früher«, fährt sie fort, woraufhin Kathryn neben ihr ein leises Schnauben ausstößt. Elspeth ignoriert sie geflissentlich. »Daher benötige ich jemanden, der mir beim Ankleiden, Baden etc. behilflich ist. Mich zu Veranstaltungen begleitet – ich besuche jede Menge Veranstaltungen und möchte das auch weiterhin tun. Außerdem Theaterbesuche, Shoppingausflüge. Im Grunde alles.«

Aufregung macht sich in mir breit. Das klingt so viel interessanter als mein aktueller Job, bei dem der Höhepunkt des Tages darin besteht, einen der Bewohner, so es denn das Wetter erlaubt, in den kleinen Garten hinauszubegleiten.

»Hört sich das für Sie annehmbar an?«

Ich nicke. »Es klingt perfekt. Wie … ähm, wie ist es denn mit dem Kochen? Ich bin eine schreckliche Köchin … Mir brennt sogar noch der Käse auf dem Toast an.« Ich laufe knallrot an, als mir klar wird, dass ich das gerade laut gesagt habe.

Sie lacht. Dieses Mal ein richtiges Lachen. »Oh, darum müssen Sie sich keine Sorgen machen. Ich habe eine Köchin. Und eine Zugehfrau. Nein, ich benötige einfach nur Gesellschaft. Wahrscheinlich denken Sie jetzt, dass ich dafür ja eine Tochter habe. Mein einziges Kind.« Sie wirft einen raschen Blick zu Kathryn, die stumm in ihrem Sessel sitzt, bevor sie ihn wieder auf mich richtet. Reichlich seltsam, so etwas zu sagen. »Aber Kathryn hat einen Ehemann und zwei überaus fordernde Jungen. Sie hat nicht die Zeit.«

»Du weißt, dass ich Zeit habe«, murmelt Kathryn, die immer noch ihre Hände anstarrt, und ich kann die Spannung zwischen den beiden spüren.

»Papperlapapp.« Sie wendet sich wieder mir zu. »Ich bin gerne von jungen Menschen umgeben. Es hält mich selbst jung.«

Ich meine zu hören, wie Kathryn spöttisch die Luft durch die Nase ausstößt, aber entweder hört Mrs. McKenzie es nicht, oder sie hat für sich beschlossen, es zu ignorieren. »Ich denke, Sie werden feststellen, dass die Vergütung mehr als angemessen ist.« Sie nennt mir eine Summe, die doppelt so hoch ist wie mein aktuelles Gehalt – was natürlich nicht schwer ist, da es gerade so über dem Mindestlohn liegt. Ohne Miete und Nebenkosten, um die ich mich kümmern muss, kann ich anfangen, meine Kreditkartenschulden abzuzahlen, deren Rahmen dank meines Ex, Vince, völlig ausgeschöpft ist. Mein Traum, irgendwann die Welt zu bereisen, rückt damit tatsächlich in greifbare Nähe. Mrs. McKenzie erhebt sich, und ich und Kathryn tun es ihr gleich.

»Ich melde mich bei Ihnen. Kathryn wird Sie hinausbegleiten.«

»Vielen Dank, Mrs. McKenzie. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen.« Ich strecke eine Hand aus, und sie drückt sie mit einem Anflug von Überraschung, ganz so, als hätte sie erwartet, dass es mir an jedweden Manieren mangeln würde. Trotz Kathryns bedrückender Anwesenheit möchte ich diesen Job unbedingt.

»Bitte«, fordert sie mich, immer noch meine Hand haltend, auf, »nennen Sie mich doch Elspeth.«

Bis ich nach Hause komme, ist es bereits dunkel. Ich musste zwei Busse von Clifton nach Horfield nehmen, wo ich wohne. Zum Glück sind die Hauptstraßen jetzt größtenteils schneefrei, aber auch so dauert die Fahrt noch immer über eine Stunde.

Die Wohnung, die ich mir mit Courtney teile, befindet sich über einer Apotheke und besteht aus einem beengten Wohn- und Esszimmer samt Kochnische, zwei kleinen Schlafzimmern und einem Bad. Ich habe nicht übertrieben, als ich sagte, dass die komplette Wohnung in Elspeth McKenzies Hausflur passen würde. Aber es ist alles, was wir uns mit unserem Gehalt leisten können. Courtney erzählt den Leuten gerne, dass sie als Stylistin arbeitet, aber im Grunde ist sie bloß frei angestellte Friseurin in einem Salon in der Gloucester Road. Ich weiß jetzt schon, dass sie noch nicht zu Hause sein wird. Jeden zweiten Freitag hat sie Schicht bis spätabends.

Die Gasse, die hinter der Apotheke zu unserer Wohnung führt, ist dunkel und vereist, und einen flüchtigen Moment lang denke ich an Vince. Wenn wir noch zusammen wären, hätte er für uns den Schnee geschippt. Aber seit unserem großen Streit an Silvester – vor achtzehn Tagen, nicht, dass ich zählen würde – haben wir nicht mehr miteinander gesprochen. Und ich will nicht missverstanden werden: Ich möchte ihn nicht zurück. Nicht nach dem, was er abgezogen hat.

Niedergeschlagen steige ich die Betonstufen zum Eingang hoch, die immer nach Pisse stinken. Normalerweise würde ich nach einem Tag wie dem heute meine Mutter anrufen. Ich würde ihr alle Einzelheiten über Elspeth McKenzie, ihr piekfeines Haus und ihre verklemmte Tochter erzählen. Oder wir würden uns gleich treffen und bei Tee und Keksen darüber lachen – Mum liebte ihren Tee, sie trank Minimum zehn Tassen am Tag. Dann würde sie mir sanft raten, mich nicht von Äußerlichkeiten blenden zu lassen, da es womöglich gar nicht so sei, wie es auf den ersten Blick erschien. Wie so oft überkommt mich die Trauer, dass sie nicht mehr nur ein paar Straßen oder einen Anruf entfernt ist – sondern für immer fort. Ich muss einen dicken Kloß runterwürgen. Es ist noch keine drei Monate her. Seit ihrem Tod habe ich erst ein Weihnachten und ein Silvester durchgestanden, dabei ist das Ganze immer noch so frisch und so roh, und für mich zeichnet sich auch kein Ende ab. Ich weiß, dass ich immer so empfinden werde. Ich werde sie den Rest meines Lebens vermissen.

Ich schließe die Wohnungstür auf, betrete den winzigen Flur und schalte das Licht an, das allerdings nur die Tristesse der Wohnung noch deutlicher zum Vorschein bringt: den braunen kratzigen Teppich, die beigefarbene Melamin-Einbauküche, die blassgrauen Wände. Courtney und ich haben versucht, die Bude mit kunterbunten Decken aufzupeppen, die ich selbst gehäkelt und über das alte, abgenutzte Sofa geworfen habe, mit knalligen Drucken und lustigen Fotos von uns, die wir an zahlreichen feuchtfröhlichen Abenden gemacht haben, um die Raufasertapete zu bedecken, aber es hat nicht wirklich viel gebracht. Nach Elspeths prachtvollem Haus wirkt die Wohnung nur noch trostloser, beengter und schäbiger.

Ich lasse meine Tasche auf den Kiefernholztisch plumpsen, den wir gegen die Wand geschoben haben, um Platz für das Sofa zu schaffen, ziehe meinen feuchten Mantel aus und hänge ihn über die Stuhllehne. Wenn Courtney da ist, gebe ich mir wie abgemacht Mühe, ordentlich zu sein. Was das angeht, sind wir komplett verschieden. Als ich noch zu Hause wohnte, haben Mum und ich uns ständig wegen des Chaos in meinem Zimmer gezofft, aber Courtney ist so dermaßen ordentlich, dass es schon fast an eine Neurose grenzt.

In der Wohnung ist es eisig, also drehe ich die Speicherheizung ein wenig auf und puste mir in die Hände, die vor Kälte schon aussehen wie zwei Scheiben roher Schinken. Sie fangen an zu kribbeln und zu beißen, und ich klemme sie zum Aufwärmen unter meine Achselhöhlen – ein Tipp, den Mum mir vor Jahren mal gegeben hat. Ich schmeiße den Wasserkocher an und nehme mir ein Co-op-Fertiggericht aus dem Gefrierfach. Während es in der Mikrowelle rotiert, sitze ich am Tisch und starre ins Leere. Ich muss mein Leben ändern. Ein neues Jahr, ein neuer Anfang. Die Dinge können nicht so weitergehen wie bisher. Selbst Courtney kriege ich nicht mehr so häufig zu Gesicht, da sie ganz andere Arbeitsschichten hat und immer mehr Zeit mit ihrem Freund Kris – Kris mit K – verbringt.

Mein Handy vibriert, und ich schrecke auf. Da ich davon ausgehe, dass es Courtney ist, bin ich überrascht, als eine mir unbekannte Nummer auf dem Display aufleuchtet.

»Una?«, fragt eine Stimme knapp, als ich rangehe. »Hier spricht Elspeth McKenzie. Ich denke, du wärst ganz wunderbar für die Stelle geeignet. Wann kannst du anfangen?«

Elspeth legt auf, und ich starre verdutzt mein Handy an. Ich kann nicht glauben, dass ich den Job bekommen habe. Nun endlich also doch ein bisschen Glück.

Ein Klappern von draußen lässt mich zusammenzucken, und ich ziehe die superhässlichen Lamellenvorhänge beiseite, die unser Vermieter unbedingt an jedem Fenster anbringen musste. Unsere Mülltonne ist umgekippt und liegt wie ein Besoffener im Schnee. Ich werde warten, bis Courtney da ist, um das anzugehen. Ich will gerade die Lammellenvorhänge wieder zuziehen, als ich eine Gestalt am Ende der Gasse stehen sehe. Ich kann nicht erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, da das Gesicht im Schatten liegt und die Person dunkle Kleidung trägt. Aber irgendwas an der Art, wie sie dasteht – mir zugewandt, reglos in ihrer Haltung verharrend, die Hände in den Hosentaschen und die Schultern gestrafft –, verunsichert mich. Ich ziehe die Lamellen zu, entschlossen, mich nicht davon irritieren zu lassen. Vermutlich wartet die Person nur auf jemanden, obwohl die Apotheke schon zu ist. Ein paar Sekunden stehe ich da und denke nach. Ich hatte nie Angst, alleine in der Wohnung zu sein, und ich werde auch jetzt nicht damit anfangen, nur weil ich Vince aus meinem Leben gestrichen habe.

Da kommt mir ein Gedanke. Könnte es vielleicht doch Vince sein? Abermals schiebe ich die Lamellen ein Stück beiseite und drücke die Nase gegen die Fensterscheibe, aber wer auch immer es war, ist fort.

Du bist also die Neue. Die Auserwählte. Ich verstehe, warum sie sich für dich entschieden hat. Das gleiche frische Gesicht, die gleiche unverbrauchte Schönheit, das gleiche seidige blonde Haar. Augen, die ein kleines bisschen zu groß sind, ein Rosenknospenmund, zierlich und schlank, aber dennoch vollbusig. Ein wandelndes Klischee. Dabei heißt es doch, so etwas gefalle den Männern. Wie es scheint, den Frauen auch.

Ich bin dir nach Hause gefolgt. Ich habe dich beobachtet, in deinem weinroten Wollmantel und deinen billigen Stiefeln, wie du versucht hast, dir, ohne zu stürzen, den Weg durch den Schnee zu bahnen. Dir ist wichtig, was andere Leute über dich denken. Ich habe gesehen, wie du mit dem Busfahrer gesprochen hast – scheues Lächeln, mit den Wimpern klimpernd. Hast du gehofft, er würde dich attraktiv finden? Ich habe auch gesehen, wie du deinen Platz für die Alte mit den Krautstampfern frei gemacht hast, sodass du selbst im Gang stehen und dich an der Stange über deinem Kopf festhalten musstest. Weißt du eigentlich, dass dein Mantel ein kleines Loch unter der Achselhöhle hat? Bist du wirklich so nett? Oder geht es doch nur um den Schein? Du bist jemand, der es immer allen recht machen will.

Du wohnst in einer Bruchbude. Aber das war ja klar. Deshalb bist du auch so von ihren Allüren beeindruckt, von ihrem unverschämt teuren Haus und ihrem Geld. All das Geld. Dabei ist sie eine gnadenlos spießige Despotin. Das wirst du schon bald feststellen. O ja, du wirst es schon bald bereuen, diese Stelle angenommen zu haben.

2 Kathryn

Elspeth sitzt mit kerzengeradem Rücken auf dem Rand ihres Lieblingssessels und plappert munter in den Hörer. Ihre Augen versprühen eine Begeisterung, die Kathryn seit Wochen nicht mehr bei ihr gesehen hat.

Sie bricht in ein perlendes Lachen aus, das Kathryn durch und durch geht. »Oh, du bist aber lieb«, gurrt sie. »Nun, ich freue mich ebenfalls, dich bald wiederzusehen. Danke, dass du mir Bescheid gegeben hast. Wir sehen uns Samstag. Bis dahin, auf Wiederhören.«

Bis dahin, auf Wiederhören. Meine Güte. Kathryn verspürt Übelkeit.

Elspeth legt den Hörer auf der Gabel ab – sie ist der einzige Mensch, den Kathryn kennt, der noch immer über einen Festnetzanschluss verfügt und sich weigert, ein Handy zu besitzen – und blickt mit geröteten Wangen zu ihrer Tochter auf. »Das war Una. Sie hat es geschafft, alles so einzurichten, dass sie in drei Tagen anfangen kann.«

»Natürlich hat sie das«, murmelt Kathryn kaum hörbar, als Elspeth ihr den Rücken zuwendet. Zweifelsohne ist Una Richardson beeindruckt von dem herrschaftlichen Haus und seiner Lage in Clifton, ganz so, wie es die anderen auch gewesen waren.

Fünf Tage sind seit dem Vorstellungsgespräch vergangen, und an jedem der darauffolgenden Tage hat Kathryn versucht, ihre Mutter doch noch davon abzubringen, Una einzustellen – überhaupt irgendwen einzustellen –, aber Elspeth McKenzie ist schon immer eine sturköpfige Frau gewesen, die noch nie einen Ratschlag von Kathryn angenommen hat. Warum also sollte sie jetzt damit anfangen?

Sobald Kathryn vergangene Woche Una Richardson die Tür geöffnet und das elfenhafte Gesicht, die großen grauen Augen und ihr langes, feminines blondes Haar gesehen hat, war ihr klar, dass sie den Job bekommen würde. Ihre Mutter hat etwas von einer Elster, wenn sie sich derart auf schöne Dinge stürzt: ein Kleid, ein Schmuckstück, ein Gemälde, ein hübsches Gesicht.

Kathryn hat sich oft gefragt, wie sich ihr Leben wohl entwickelt hätte, wenn sie ihrer Mutter zwei grazile blonde Enkeltöchter anstelle von zwei grobschlächtigen, ungestümen Enkelsöhnen geschenkt hätte. Sie wären wohl ungleich öfter zum Sonntagsessen eingeladen worden. Vielleicht hätte sie dann das Gefühl gehabt, wirklich zu dieser Familie zu gehören. Sie hätte voller Stolz dabei zugesehen, wie ihre Mutter ganz vernarrt um sie herumscharwenzelte und sie verwöhnte, anstelle jenes höflichen Desinteresses, das sie ihren Enkeln zukommen lässt.

Kathryn tritt noch einmal in den Salon, während sie sich den Mantel überzieht. Sie muss nach Hause, zu Ed und den Jungs. Es ist längst Zeit fürs Abendessen, und sie bezweifelt, dass ihr Mann darüber nachgedacht hat, was er kochen könnte, obwohl sie ihm heute Morgen klare Anweisungen gegeben hat, was sich noch im Tiefkühlfach befindet. »Wie wirst du die nächsten drei Tage zurechtkommen, bevor Una anfängt?«

Sie weiß nur zu gut, dass es ihrer Mutter an nichts mangeln wird. Denn die Wahrheit ist, dass sie eigentlich niemanden braucht, der sich um sie kümmert. Sie hat Aggie, die Köchin, Carole, die Zugehfrau, und eine stetig wechselnde Batterie an Gärtnern und Handwerkern, die auf Abruf bereitstehen. Sie ist bestens dazu in der Lage, für sich selbst zu sorgen, da sie über mehr als genug Mittel verfügt, um sich jede Marotte zu finanzieren. Nein, das Problem mit ihrer Mutter ist, dass sie es nicht erträgt, allein zu sein, noch nicht einmal für ein paar Stunden. Im Unterschied zu Kathryn hat sie sich in ihrer eigenen Gesellschaft nie wohlgefühlt. Schon als junge Frau musste Elspeth ihre Tage mit Terminen und Erledigungen aller Art füllen, sodass für jede Stunde des Tages gesorgt war. Es schien gerade so, als würde sie unter der allgemeinen Hektik und Geschäftigkeit ihres Lebens aufblühen, als gäbe es ihr Aufwind, die Kunstgalerien abzugrasen, quer durchs Land zu reisen, um Antiquitäten zu erstehen, oder sich in einem fort um Huw zu kümmern – indem sie beispielsweise nach London fuhr, um maßgeschneiderte Anzüge oder sein Lieblingsaftershave zu kaufen, das nur im Harrods zu finden war. Früher wünschte sie sich, dass ihre Mutter hier und da innehalten und etwas mehr Zeit mit ihrer Familie verbringen würde. Und nun, da sie in die Jahre gekommen ist, bleibt ihr nichts anderes übrig, als kürzerzutreten, doch Kathryn kann sehen, dass sie das in den Wahnsinn treibt.

Elspeth nimmt ein Buch vom Beistelltisch. Es ist die Erstausgabe eines hochkarätigen Autors, dessen Name Kathryn noch nie aussprechen konnte. Sie fragt sich, ob ihre Mutter es jemals gelesen hat. Es wirkte immer eher wie eine Requisite. In ihrer Kindheit und Jugend durfte Kathryn nie fernsehen: »Liebling, das ist nicht kultiviert genug. Es ist so viel besser, ins Theater zu gehen oder ein gutes Buch zu lesen« – nicht dass ihre Mutter jemals lange genug still gesessen hätte, um zu lesen. Und Elspeth duldet nach wie vor kein Fernsehgerät in ihren Räumlichkeiten. Huw schlich sich früher immer in den Garten, um sich auf einem tragbaren Modell, das er im Schuppen aufgestellt hatte, heimlich Cricketspiele anzuschauen.

Elspeth räuspert sich und blättert gemächlich um, ohne auch nur ein Wort zu lesen. »Nun, ich habe ja dich, nicht wahr, Liebling? Du warst jeden Tag hier, um nach mir zu sehen«, erwidert sie, ohne aufzuschauen.

»Natürlich hast du mich. Ich verstehe nicht, warum du dir den Umstand machst, jemand anderen dafür zu bezahlen.« Kathryn geht zum Fenster und zieht die schweren Vorhänge zu, wobei sie erschauert, als ihr Blick auf die Hängebrücke fällt – selbst nach all der Zeit flößt sie ihr nachts immer noch Angst ein. »Ich kann jeden Tag vorbeikommen. Warum also dein Geld verschwenden?«

»Das haben wir doch schon besprochen«, erwidert ihre Mutter in gelangweiltem Tonfall. »Ich habe mehr als genug Geld übrig. Mir ist es lieber, die Gewissheit zu haben, dass jemand den ganzen Tag bei mir ist. Was, wenn ich wieder stürze? Du hast eine Familie und einen Job. Ich kann mich nicht allein auf dich verlassen.«

Kathryn unterdrückt einen Seufzer. Vor zwei Jahren ist ihre Mutter ausgerutscht, als sie die Treppe runterging. Sie besteht heute noch darauf, dass sie dabei das Bewusstsein verloren und stundenlang am Fuß der Treppe gelegen habe – bis Aggie sie fand. Aggie rief natürlich einen Krankenwagen, doch abgesehen von einem verstauchten Handgelenk hatte sie sich nichts getan. Danach jedoch setzte Elspeth sich urplötzlich in den Kopf, dass sie eine Gesellschafterin brauche – ganz so, als wäre sie eine dieser Aristokratinnen des ausgehenden 19. Jahrhunderts –, und wie es schien, kam dafür nur ein junges blondes Ding infrage. Wenige Wochen nach ihrem Sturz hatte sie schon die Erste eingestellt, ein attraktives, quirliges Mädchen namens Matilde – wohlgemerkt ohne auch nur mit Kathryn darüber zu reden.

»Du weißt, dass ich jederzeit die Arbeit aufgeben würde, falls du Sorge hast, allein zu sein und wieder zu stürzen. Es wäre doch sicher besser für dich, wenn sich jemand aus der Familie um dich kümmert und nicht so eine … eine Fremde.«

»Und wer würde dann die Galerie deines Vaters leiten?«, fragt Elspeth, ohne von dem Buch aufzuschauen, das sie zu lesen vorgibt.

»Ich könnte es nebenher tun. Daisy kommt auch ohne mich zurecht. Sie ist äußerst kompetent und …«

»Nein, ich brauche jemanden, der rund um die Uhr bei mir ist. Und ich bezahle dir in der Galerie mehr, als du als meine Gesellschafterin verdienen würdest.«

»Du bist meine Mutter! Du weißt, dass ich es auch ohne Geld tun würde!«

»Sei nicht albern. Das könntest du dir gar nicht leisten. Nicht bei dem Gehalt deines Mannes.« Und da ist er wieder: der kleine beiläufige Seitenhieb, den sie sich nie verkneifen kann, wenn die Sprache auf Ed kommt. Die schlichte Tatsache, dass Kathryn es vorgezogen hat, aus Liebe und nicht des Geldes wegen zu heiraten, stellt für Elspeth einen persönlichen Affront dar. Ihre Mutter klappt das Buch zu und legt es wieder auf den Beistelltisch. Sie mustert Kathryn mit ihrem hellen, durchdringenden Blick. Kathryn muss sich alle Mühe geben, nicht die Augen zu verdrehen. Sie weiß, dass Elspeth Ed nie gebilligt hat, da er kein schnieker Anwalt oder Chirurg aus gutem Hause ist. Stattdessen war er auf einer staatlichen Schule und hat heute einen normalen Job in der IT-Branche. Doch was ihre Mutter nie verstehen wollte, war, dass Kathryn sich Hals über Kopf in Ed verliebt hatte, weil sie sich bei ihm sicher und geborgen fühlte. Er vermittelte ihr das Gefühl, dass er sie niemals verlassen oder verletzen würde. Als sie sich damals an der Uni kennenlernten, war er der erste Mensch gewesen, bei dem sie das Gefühl hatte, dass sie ganz sie selbst sein konnte.

»Aber uns geht es doch gut«, log sie. »Die Hypothek ist fast abbezahlt …« Sie verrät nicht, dass sie sich weiter verschuldet haben, da sie darauf hofft, dass sie eines Tages genug von ihrer Mutter erben wird, um alles zurückzahlen zu können.

»Ich möchte nicht weiter darüber reden«, unterbricht Elspeth sie scharf. »Una wird meine Gesellschafterin, und damit hat sich das Thema erledigt.«

Frustriert beißt sich Kathryn auf die Lippe. Na schön, denkt sie sich. Aber dann erwarte ja nicht, dass ich in der Zwischenzeit einspringe. Doch sie weiß, dass sie das nicht laut aussprechen wird. Natürlich nicht. Das tut sie nie.

»Ich glaube, es ist das Beste, wenn du jetzt nach Hause gehst«, verkündet Elspeth kühl. »Aggie ist da, um mir mein Abendessen zuzubereiten. Ich bin sicher, dass es ihr nichts ausmachen wird, mir heute Abend zu Bett zu helfen.«

Du bist bestens dazu in der Lage, ganz allein zu Bett zu gehen, denkt Kathryn mit vor Wut hämmerndem Herzen. Sie wagt es nicht, den Mund noch mal zu öffnen, ohne dass ihr doch etwas herausrutscht, daher verlässt sie schweigend das Zimmer. Ihre flachen Absätze klackern hohl über die Fliesen, als sie den Flur durchquert, um ihre Tasche aus dem Garderobenschrank zu holen.

»Gute Nacht!«, ruft Elspeth heiter, als Kathryn schon halb zur Tür hinaus ist.

Sie knallt sie hinter sich zu.

Das ist es, was Kathryn am meisten an ihrer Mutter ärgert. Immer muss sie das letzte Wort haben, während Kathryn nichts anderes übrig bleibt, als ihre runterzuschlucken – um bloß nichts zu sagen, was sie bitter bereuen könnte.

Von ihrer Mutter zu Kathryns eigenem Haus auf der anderen Seite der Bristol Downs, der weitläufigen Grünanlagen nördlich von Clifton, sind es normalerweise keine fünf Minuten Fahrzeit, doch wegen des Berufsverkehrs und auch weil die Nebenstraßen teilweise immer noch von Eis und Schnee bedeckt sind, benötigt sie heute Abend deutlich länger. Außerdem muss sie sich immer noch an dieses riesige Auto gewöhnen, das sich wie ein Panzer anfühlt, trotzdem sie es doch schon seit fünf Monaten besitzt.

Behutsam lenkt sie den SUV in die Einfahrt. An den Rändern häuft sich noch immer der Schnee, obwohl Ed heute früh gestreut hat. Ein paar Minuten sitzt sie einfach nur so da und betrachtet das Haus, das sie mit ihm und den Jungs bewohnt: eine geräumige Doppelhaushälfte aus den 1930er-Jahren, mit Garage zwar, aber ohne den Charme des eleganten Stadthauses ihrer Mutter und auch nur einen Bruchteil so groß. Obwohl die Vorhänge zugezogen sind, weiß Kathryn, dass Ed im Wohnzimmer sein wird, vor dem Fernseher fläzend, vielleicht sogar dösend, den Mund weit geöffnet, die Hände auf dem Bauch ruhend. Bei den Jungs geht sie davon aus (ja, bei Jacob hofft sie es sogar), dass sie vor irgendeinem elektronischen Gerät kleben und ihre Hausaufgaben vernachlässigen. Sie seufzt und wappnet sich innerlich für die bevorstehenden Kämpfe. Am liebsten wäre ihr, wenn sie keine Verpflichtungen hätte. Keine anstrengende, störrische Mutter, keinen faulen Ehemann und auch keine eigensinnigen Kinder. Sie könnte einfach nach Hause kommen, ihre Schuhe abstreifen, eine Flasche Wein öffnen und sich vor Netflix entspannen. Noch während sie sich das vorstellt, plagt sie schon das schlechte Gewissen. Sie liebt ihre Familie, natürlich tut sie das. Ohne sie wäre sie ganz verloren.

Und obwohl ihre Mutter sie verrückt macht, weiß Kathryn, wie viel sie ihr zu verdanken hat.

Als sie den Flur betritt, wird Kathryn von der näselnden Stimme eines Fußballkommentators und dem Jubeln der Menge im Hintergrund begrüßt. Ob es wohl eine nervigere Geräuschkulisse nach einem langen Tag gibt? Schon hört sie die Jungs oben streiten und Harry, der aus Leibeskräften »Muuuuuuum!« brüllt. Ja, offensichtlich gibt es das. Sie versucht, ihre Schultern zu entspannen, die sie unwillkürlich angezogen hatte, und schluckt ihren Ärger runter.

Sie lächelt duldsam, als ihr Elfjähriger mit erboster Miene die Treppe runtergestürmt kommt. »Jacob macht mich bei Minecraft die ganze Zeit fertig«, jammert er.

Jacob, der vier Jahre älter ist und mit fünfzehn bereits aussieht wie ein Mann, erscheint oben auf der Treppe. »Ich möchte dieses Scheißspiel sowieso nicht mit dir spielen. Das ist doch kindisch!«

»Das ist nicht kindisch!«, erwidert Harry, stampft mit dem Fuß auf und schiebt schmollend seine Unterlippe vor. »Stimmts, Mum? Nur weil er immer seine blöden Ballerspiele zocken will.«

Kathryn verschränkt die Arme vor der Brust. »Du solltest überhaupt nichts spielen. Hast du deine Hausaufgaben schon gemacht?«

Bei der Erwähnung der Hausaufgaben zieht Jacob sich unauffällig zurück, während Harry rot anläuft und an dem dichten dunklen Haar in seinem Nacken zupft. »Äh. Ich hab keine auf. Was gibts zum Abendessen?«

»Ich weiß es noch nicht. Aber wir essen in einer Stunde. Wo ist dein …?« Doch Harry ist nach oben geflitzt, ehe sie ihre Frage zu Ende bringen kann.

Genauso, wie sie es vorhergesehen hatte, sitzt Ed vor der Mattscheibe, allerdings schenkt er dem Fußballspiel keine Beachtung, sondern scheint ganz gebannt von dem, was er gerade auf seinem Laptop liest. Sobald sie das Zimmer betritt, schaut er auf, und bei ihrem Anblick breitet sich ein Lächeln über sein Gesicht. »Oh, hallo, Schatz. Du bist aber früh zu Hause.«

»Es ist schon halb sieben durch, Ed.«

Verlegen setzt er sich aufrechter hin. »Ach so. Ich habe ganz die Zeit vergessen.«

»Hatten die Jungs schon ihr Abendessen?« Sie kennt die Antwort bereits, will aber dennoch hören, was er zu sagen hat.

»Ähm, nein, nicht wirklich. Ich wusste nicht, was ich kochen soll.«

»Im Gefrierschrank ist Lasagne. Das habe ich dir heute früh gesagt.« Sie schüttelt den Kopf. »Egal. Ich mach schon.«

Er folgt ihr in die Küche und bleibt unsicher hinter ihr stehen. Mit kritischem Blick mustert sie die Echtholzarbeitsflächen und weißen Ikea-Elemente. An einem Ende stehen eine offene Milchpackung und zwei Teller mit Toastresten, welche die Jungs sich gemacht haben müssen, als sie von der Schule kamen. Die Kühlschranktür ist halb offen und piept, an einem der Schränke zieht sich ein Fleck hinab. Sie schließt die Kühlschranktür und legt hektisch los, wobei sie das schmutzige Geschirr wegräumt und die Küchenfronten abwischt. Ed drückt sich in der Tür herum und wirkt, als wäre er lieber woanders. »Wie geht es deiner Mutter?«, fragt er schließlich.

»So charmant wie eh und je«, antwortet sie, wirft den Lappen in die Spüle und holt die Lasagne aus dem Gefrierschrank. Sie weiß nicht, was sie ohne Aggies Kochkünste machen würde. Ihre Mutter wäre ganz sicher nicht einverstanden, wenn sie herausfinden würde, dass ihre Köchin Extraportionen für Kathryn und ihre Familie abzweigt.

Sie schaltet den Backofen an und dreht sich dann zu ihrem Mann um. Er trägt noch immer seine Arbeitsklamotten, seine Krawatte ist verrutscht, und sein Hemd hängt aus der Hose. Obwohl er beinahe fünfzig ist, erinnert sie irgendwas an Ed an einen zu groß geratenen Schuljungen. Er hat sein volles goldbraunes Haar immer noch nicht eingebüßt, da ist bloß eine Spur von Grau an den Schläfen, und oben auf dem Scheitel wird es etwas lichter. Ob sie ihn noch attraktiv findet? Sie glaubt schon – aber, herrje, er kann sie manchmal nerven! So wie jetzt zum Beispiel.

»Du tust zu viel für sie«, sagt er sanft. »Du siehst fertig aus. Ich setze mal Teewasser auf.«

»Sie hat eine neue Gesellschafterin eingestellt. Blutjung, unglaublich hübsch …«

Er schaltet den Wasserkocher ein und greift nach den Teebeuteln. »Ach? Was ist denn mit Jemima passiert?«

Wie oft denn noch? Er hat ein Gedächtnis wie ein verdammtes Sieb. Trotzdem hat sein schlechtes Gedächtnis auch seine guten Seiten, denkt sie, während sie ihm dabei zusieht, wie er heißes Wasser auf der Arbeitsfläche verschüttet, als er die Becher füllt. »Ed, würdest du das wegwischen? Das Holz quillt sonst auf.«

Er schnappt sich ein frisches weißes Geschirrtuch, und Kathryn schließt die Augen und kneift sich in die Nasenwurzel. Es ist besser, nicht hinzusehen. Sie wird sich darum kümmern, wenn er aus der Küche verschwunden ist.

»Alles in Ordnung, Schatz? Schon wieder Kopfschmerzen?«

Ja, wegen dir, will sie sagen, du machst mir Kopfschmerzen, aber sie schweigt. Sie weiß, dass sie wegen ihrer Mutter gereizt ist und dass sie es an Ed auslassen würde, was nicht fair ist. Sie schnappt sich den Lappen und wischt hinter ihm her, während er ihr mit leicht verdutzter Miene zusieht.

»Geh schon und setz dich«, fordert er sie auf, als sie fertig ist. Er reicht ihr einen Becher Tee. Er hat zu viel Milch hineingegeben, aber sie nimmt ihn dennoch, hockt sich an den Küchentisch und entledigt sich ihrer Schuhe. Sie hat eine Blase an ihrem kleinen Zeh. »Jemima ist gegangen. Weißt du nicht mehr? Vor Weihnachten. Dabei hatte sie erst seit Oktober für Mutter gearbeitet. Keine drei Monate hat sie es ausgehalten.«

Ed zieht ebenfalls einen Stuhl unter dem Küchentisch hervor und lässt sich schwerfällig darauf nieder. Sie lächelt in sich hinein. Ed ist wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen. Der Duft nach Lasagne macht sich allmählich in der Küche breit und lässt Kathryns Magen knurren. Sie hat seit Stunden nichts mehr gegessen. »Tja, deine Mutter ist ja auch nicht gerade einfach.«

Das weiß sie selbst. Warum also muss er das gerade sagen? Er greift über den Tisch und drückt ihre Hand. Er will nur nett sein, ruft sie sich in Erinnerung. Das ist das Schöne an Ed. Er ist immer auf ihrer Seite. Komme, was wolle.

Doch da meldet sich die leise Stimme in ihrem Kopf, die sie stets zu unterdrücken versucht.

Wäre er auch dann noch so loyal, wenn er wüsste, was du getan hast?

3 Una

Meine Hand liegt auf dem schmiedeeisernen Tor, der Koffer steht zu meinen Füßen, und ich blicke zum Haus empor, während ich innerlich zwischen Vorfreude und Angst hin und her schwanke. Der Schnee und das Eis sind geschmolzen, und das Haus sieht noch schöner, noch majestätischer aus als beim ersten Mal, wie es sich vor dem Hintergrund der winterlichen Sonne und des wolkenlosen Himmels abzeichnet. Es ist nach wie vor kalt, genau genommen frostig, und ich bin dick in meinen Schal und meine Handschuhe eingemummelt, aber in diesem Moment kann ich mir fast schon vorstellen, dass Frühling ist.

»Kommst du nun rein, oder nicht?«

Eine Männerstimme schreckt mich aus meinen Gedanken. Und dann sehe ich ihn. Er wird beinahe vollständig von dem großen immergrünen Busch im Vorgarten verborgen, nur sein Kopf ist über der Spitze zu sehen. Mit dem olivfarbenen Teint und den hellen Augen sieht er gut aus, auf diese wilde naturverbundene Art. Er trägt eine graue Wollmütze und hat dunkle Locken, die seitlich darunter hervorlugen. Ein Grinsen erscheint auf seinem Gesicht. »Hast du gerade Selbstgespräche geführt?«

»Äh …« O mein Gott, habe ich gerade laut gedacht? Courtney lacht mich deswegen immer aus. Mein ganzes Gesicht brennt vor Scham. »Ist mein erster Tag heute. Ich bin ein bisschen nervös.«

Er steigt von seiner Leiter herunter. Er ist wirklich groß, hat breite Schultern und sieht ein paar Jahr älter aus als ich. »Tja, dann beeil dich mal besser, die alte Dame mag keine Drückeberger.«

»Ich bin kein Drückeberger, ich bin …« Seine Augen funkeln, er zieht mich bloß auf. Ich schiebe das Tor auf, und er kommt herüber, um mir den Koffer abzunehmen.

Als wir an der Haustür angelangt sind, streckt er mir eine behandschuhte Hand hin. »Ich bin übrigens Lewis.«

»Hi, Übrigens Lewis. Ich bin Una.«

Ein amüsiertes Grinsen breitet sich über sein Gesicht. »Ich hoffe, wir sehen uns bald. Una.«

In dem Moment öffnet sich die Tür, und Kathryn bedenkt mich mit einem missbilligenden Blick, als hätte sie uns in einer kompromittierenden Situation erwischt.

»Sie sind zu spät«, bemerkt sie spitz, obwohl es Punkt neun ist, also genau die Uhrzeit, für die Elspeth mich bestellt hat. »Und Sie, haben Sie keine Arbeit zu erledigen?«, fragt sie ungehalten an Lewis gewandt. »Das Gewächshaus muss ausgeräumt werden.« Er antwortet mit einem entschuldigenden Lächeln und zieht ab.

Ich betrete das Haus. Ich hatte gehofft, dass Kathryn heute nicht da sein würde. Hat sie keinen Job oder was Besseres zu tun? Ich frage mich, ob das Arbeiten für Elspeth immer so sein wird, dass mir ihre mürrische, missbilligende Tochter den lieben langen Tag über die Schulter schaut. Das wäre ja noch schlimmer als mit Miesepeter-Cynthia – und ich hätte nicht gedacht, dass irgendwer so schlimm sein könnte. Selbst Rammel-Roger mit seinen anzüglichen Blicken und zweideutigen Kommentaren konnte da nicht mithalten. Plötzlich sehne ich mich nach meinem alten Leben: meiner WG mit Courtney, dem Job, den ich die letzten vier Jahre gemacht habe. Allem, was mir vertraut war. Ich fühle mich wie damals in der sechsten Klasse, während des verregneten Schullandheimaufenthalts in Wales, als ich einfach nur noch zu Hause bei Mum sein wollte, um mich vor der Glotze an sie zu kuscheln und Kekse in den Tee zu tunken, statt durch die Pampa zu wandern und mir mit fünf anderen von Heimweh geplagten Mädchen ein Zimmer zu teilen.

Kathryns Miene wird sanfter, ganz so, als ob sie meinen Kummer spüren könnte. »Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer und gebe Ihnen dann eine halbe Stunde, damit Sie sich einrichten können. Danach können Sie runterkommen und sich mit Mutter zusammensetzen. Ich muss um zehn zur Arbeit. Ist das in Ordnung?«

Mutter. Das klingt so förmlich.

»Ich … Ja, das ist super.« Ich schleppe meinen Koffer die zwei Stockwerke hoch ins Dachgeschoss, wo sich bestimmt einmal die Dienstbotenquartiere befunden haben. Als wir oben an der Treppe ankommen, ist da ein schmaler Flur und eine Tür. Kathryn öffnet sie und verkündet: »Das ist Ihr Zimmer.«

Als ich hineingehe, klappt mir die Kinnlade runter. Es ist eher eine kleine Wohnung als ein Zimmer. Vom eigentlichen Schlafzimmer mit einem angeschlossenen Bad geht ein zweiter, kleinerer Raum ab, der zu einer Art Sitzecke umfunktioniert wurde.

»Damit Sie etwas Privatsphäre haben, wenn Sie mal nicht mit meiner Mutter im Salon sitzen wollen«, erklärt Kathryn, während ich mich völlig baff umschaue. »Glauben Sie mir, es wird Momente geben, da werden Sie froh sein, sich zurückziehen zu können.« Daraufhin bricht sie zu meiner Überraschung in ein lautes, kehliges Lachen aus. Es ist das erste Mal, dass ich sie lachen höre. Sie überreicht mir einen Schlüssel. »Die Tür können Sie außerdem auch abschließen«, merkt sie an.

Warum sollte ich das wollen?

Kathryn sieht sich mit einem wehmütigen Ausdruck im Raum um. Dann scheint sie sich plötzlich wieder an meine Gegenwart zu erinnern und fasst sich. »Nun gut, ich lasse Sie in Ruhe auspacken.«

Als sie das Zimmer verlässt, hocke ich mich auf die Kante des Schlittenbetts, das unter den zwei Schiebefenstern steht und von dem aus man einen Blick auf die Hängebrücke hat, und schwöre mir, hier immer Ordnung zu halten. Der Bettbezug ist weiß, mit winzigen zarten Rosenknöspchen drauf, die Wände wurden in einem weichen Pastellgrau gestrichen, und die Holzdielen sind geschliffen und lackiert. Es ist um Längen hübscher als mein WG-Zimmer. Ich stehe wieder auf, streiche das Bettzeug an der Stelle glatt, auf der ich gerade gesessen habe, und gehe in mein kleines Wohnzimmer rüber. Ein hölzerner Schreibtisch steht unter einem weiteren großen Sprossenfenster, außerdem sind da noch ein graues Leinensofa mit rosa Zierkissen sowie eine hübsche Lampe, die neben einem kleinen Fernseher steht.

Von diesem Fenster aus hat man einen Blick auf den Garten hinterm Haus: Er ist riesengroß, samt Schuppen und einem Gewächshaus. Ich kann Lewis sehen, der mit gebeugtem Rücken Gerümpel in eine Schubkarre stapelt, wobei sein Atem Wolken bildet. Ganz hinten im Garten, durch die Baumkronen hindurchlugend, befindet sich eine hässliche Holzkonstruktion, die früher mal ein Baumhaus gewesen sein könnte. Ich versuche mir vorzustellen, wie Kathryn als Kind dort spielte. Ich frage mich, ob sie einsam war in diesem großen Haus mit seinem riesigen Garten, ganz ohne Geschwister als Spielkameraden. Ich bin zwar ein Einzelkind, aber ich war nie einsam. Andererseits gab es schon immer nur meine Mum und mich. Wir waren ein Team, eine Einheit. Unabhängig, ganz für uns und darum umso glücklicher.

Ich kehre in das große Schlafzimmer zurück, packe meine Klamotten aus und verstaue sie in dem elfenbeinfarbenen verschnörkelten Kleiderschrank sowie der dazu passenden zierlichen Kommode. Ich widerstehe dem Drang, alles in eine Schublade zu stopfen, wie ich es in der WG getan hätte. Hier muss ich mich ernsthaft mal um Ordnung bemühen. Ich krame ein gerahmtes Foto von mir und Mum heraus, das vor einem Jahr am Strand aufgenommen wurde. Vor der Krebsdiagnose. Ich halte es eine Weile in meinen Händen, während ich mich an unseren Urlaub in Devon erinnere und mir wünsche, ich könnte zurück in diese Zeit, als alles noch einfacher war; dann stelle ich es auf meinem Nachttisch auf.

Die unterste Schublade fülle ich mit Knabbereien, die ich vor der Herfahrt noch schnell gekauft habe. Alle meine Lieblingssnacks: Käsecracker mit Cheddar-Geschmack, Oreos, eine Packung Penguin-Kekse und zwei Dosen Sprite. Ich weiß schon, dass ich hier Verpflegung bekomme, aber ich nasche einfach gerne zwischendurch. Außerdem ist mir die Vorstellung unangenehm, mich an Elspeths Vorräten zu bedienen, was auch immer sie in ihren Schränken gebunkert hat.

Ich bringe meinen Kulturbeutel ins Bad. Es ist klein, aber gut ausgestattet, trotzdem verspüre ich einen kleinen Stich der Enttäuschung, weil es nur eine ebenerdige Dusche und keine Badewanne hat. Ein heißes Bad ist meine Art zu entspannen, auch wenn ich als Teenagerin Mum damit in den Wahnsinn getrieben habe, weil meine Badekugeln ständig einen farbigen Rand in der Wanne hinterließen. Trotzdem ist eine Dusche natürlich eine feine Sache, und was viel wichtiger ist, ich werde sie mit niemandem teilen müssen. Courtney konnte morgens Stunden mit ihren Haarextensions, falschen Wimpern und Selbstbräunercremes zubringen. Ich betaste eines der flauschigen grauen Handtücher. Es wurde an alles gedacht, bis hin zu dem Raumspray, das ordentlich auf dem Spülkasten parat steht.

Ich öffne den Schrank unter dem Waschbecken und schiebe meine Kosmetiktasche in das unterste Fach. Ich will ihn gerade wieder schließen, als etwas Glitzerndes in der Ecke aufblitzt. Es sieht aus wie eine zusammengerollte Halskette. Ich greife danach. Sie ist alt, angelaufen, die Kette selbst verknotet, aber an ihrem Ende befindet sich ein ovales Medaillon. Ich will es öffnen, aber es lag wohl so lange da, dass es zusammengeklebt ist. Ich breche mir fast einen Fingernagel ab bei dem Versuch, es aufzukriegen. Anstatt mich weiter damit abzumühen, lege ich die Kette auf meinen Nachttisch. Ich werde Kathryn später danach fragen. Sie muss dem Mädchen gehört haben, das vor mir hier wohnte.

Ich höre Schritte vor meinem Zimmer und dann Kathryns Stimme durch die Tür. »Sind Sie bereit? Mutter verlangt nach Ihnen.«

»Das Zimmer ist wunderschön, vielen Dank«, sage ich, nachdem ich die Tür geöffnet habe und ihr über den Flur folge.

»Das ist Mutters Werk. Sie mag es, wenn alles ganz nach ihren Vorstellungen ist. Das werden Sie selbst noch feststellen.«

»Ach so.«

»Sie haben das Stockwerk für sich allein, was zumindest ein gewisses Maß an Privatsphäre garantiert«, fährt sie fort, während sie die Treppe hinabgeht. Sie redet schon wieder über Privatsphäre, so, als würde das Haus vor Menschen nur so wimmeln, aber soweit ich weiß, werden zumindest abends und nachts nur ich und Elspeth da sein. Wir erreichen den ersten Stock, wo sich vermutlich die anderen Schlafzimmer befinden. Es sieht so aus, als würden vier Türen von dem geräumigen Flur abgehen, doch meine Neugier hat keine Chance, da ich schon die nächste Treppe hinabgeführt werde.

Elspeth sitzt aufrecht in einem Sessel in dem Raum, den Kathryn den »Salon« nennt, ich hingegen nur als Wohnzimmer bezeichnen würde. Als sie mich sieht, erhebt sie sich, eilt herbei und umarmt mich wie eine lang verloren geglaubte Tochter. Dabei muss sie sich ein gutes Stück bücken, denn sie ist mindestens zehn Zentimeter größer als ich. »Una! Es ist so schön, dich zu sehen! Ich hoffe, du hast dich in deinen Räumlichkeiten gut eingerichtet.«

Räumlichkeiten. Ich muss mir ein Kichern verkneifen. Ich fühle mich wie in Downtown Abbey.

Dann wendet sie sich an Kathryn, als würde sie sie zum ersten Mal bemerken, und ihr Gesichtsausdruck verdunkelt sich. »Was machst du noch hier? Du kannst jetzt gehen.«

Unwillkürlich zucke ich bei ihrem schneidenden Tonfall zusammen. Mir entgeht Kathryns gekränkter Ausdruck nicht, auch wenn sie ihr Bestes tut, sich nichts anmerken zu lassen. Sie hat die Schultern gestrafft, ihr Kinn ist gereckt, wie um weitere unfreundliche Worte abzuwehren. Ohne sich von einer von uns zu verabschieden, stakst sie davon und schließt geräuschvoll die Tür hinter sich.

»Gott sei Dank ist sie weg. Sie ist so eine Spaßbremse«, sagt Elspeth, ohne eine Miene zu verziehen, doch da ist ein Funkeln in ihren strahlend blauen Augen. Ich will lachen über ihre unverblümte Art, bin gleichzeitig aber auch ein wenig entsetzt darüber, dass sie so über ihre Tochter spricht. Meine Mum hätte nie so hinter meinem Rücken über mich geredet. »Na schön, dann komm mal mit, damit ich dir alles zeigen kann.« Sie nimmt meinen Arm und führt mich durch das Haus. Sie ist erstaunlich rüstig für eine ältere Dame, die eine Betreuerin und Gesellschafterin benötigt, und ich frage mich erneut, warum sie mich eingestellt hat. Ist sie einfach nur einsam? Aber wie kann sie einsam sein, wenn Kathryn sich ständig hier rumtreibt?

Sie zeigt mir die Bibliothek im hinteren Teil des Hauses, mit maßgefertigten deckenhohen Regalen voller Bücher – die meisten davon Klassiker, weit und breit keine Danielle Steele oder ein John Grisham zu sehen – sowie gläsernen Außentüren samt einer Terrasse, deren steile Stufen in den Garten hinabführen; dann das Aufenthaltszimmer: ein kleiner quadratischer Raum mit weichen Sofas, wo anscheinend ihre Enkel die Zeit verbringen, wenn sie zu Besuch sind; und zuletzt die Küche, die noch mal eine Treppe tiefer gelegen ist und den Großteil des Souterrains einnimmt, abgesehen von einem kleinen Raum, den Elspeth als ihr »Arbeitszimmer« bezeichnet. Mir fällt auf, dass keiner der Räume über einen Fernseher verfügt, daher bin ich umso dankbarer für das Gerät in meinem Schlafzimmer.

»Die Küche ist neu hinzugekommen«, erzählt Elspeth, wobei sie die Schränke und Arbeitsplatten mit liebevollem Blick betrachtet. Sie ist wirklich wunderschön, in Taubengrau und sanften Cremetönen gehalten und laut Elspeth handgeschreinert. Der Boden ist mit naturbelassenen Kalksteinplatten gefliest, und auch hier führen Terrassentüren in den Garten hinaus.

Ich wünschte, meine Mutter könnte das alles sehen. Sie hätte es kaum glauben können. Das Einzige, was mir ein wenig seltsam vorkommt, ist, dass es keine Fotos gibt. Das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, war voller Familienfotos: von mir, Mum und Oma gemeinsam; von mir in allen Phasen meiner Kindheit und Jugend; von Mum und ihren engsten Freunden; und natürlich Schnappschüsse aus den Urlauben. Selbst in der Bude, die ich mir mit Courtney geteilt habe, hatten wir Fotos an den Wänden, Bilderrahmen auf der Anrichte und Streifen alberner Automatenfotos, die an der Kühlschranktür klebten. Hier dagegen ziert Kunst die Wände: Landschaftsgemälde und ein paar skizzenhafte Zeichnungen, von denen mir eine irgendwie bekannt vorkommt, aber nichts, worauf die Familie zu sehen wäre. Noch nicht einmal ihre Enkel.

Wir wollen gerade die Küche verlassen, als wir ein fröhliches »Hallo!« hinter uns hören. Eine stämmige Frau Ende sechzig mit eng anliegenden grauen Löckchen und dem größten Busen, den ich je gesehen habe, kommt auf uns zugewatschelt. »Ich musste nur schnell ein paar Eier holen«, lässt sie uns wissen. »Möchtest du nach wie vor Quiche zum Mittagessen, Elspeth?« Sie wartet die Antwort nicht ab, während ihr Blick über mich hinwegschweift. »Du musst das neue Mädchen sein! Ich bin Agatha. Alle nennen mich Aggie. Ich bin die Köchin.« Ich habe gerade einmal genug Zeit, um mich vorzustellen, bevor sie fortfährt. »Jetzt aber husch, raus aus meiner Küche. Ich muss schließlich das Mittagessen zubereiten.« Sie wendet sich ab und macht sich daran, ihre Hände über dem großen Keramikspülbecken zu waschen.

Elspeth hakt sich erneut bei mir unter. »Lass uns unsere Mäntel holen und den Garten erkunden«, schlägt sie vergnügt vor, als hätte sie gerade angekündigt, dass wir uns auf eine Kreuzfahrt begeben.

»Seid aber pünktlich bis Mittag wieder zurück«, ermahnt uns Aggie über die Schulter wie zwei kleine Kinder.

Wir gehen nach oben, um unsere Mäntel zu holen, dann folge ich Elspeth durch die Bibliothek – wobei ich angesichts der Bücherregale abermals ins Staunen gerate: Meine Mutter, eine begeisterte Leserin, hätte sie geliebt – und von dort hinaus in den Garten. Der Rasen ist feucht vom Tau, unser Atem steigt in Wolken vor uns auf, und Elspeth schmiegt sich enger an mich.

»Die Mädchen haben es früher geliebt, hier draußen zu spielen«, sagt sie, während wir über den Rasen schlendern. Der Wind zerrt an unseren Haaren und am Saum meines Mantels. »Mein verstorbener Mann, Gott sei seiner Seele gnädig, hat dieses Baumhaus gebaut.«

»Haben Sie denn außer Kathryn noch andere Kinder?«, will ich wissen.

Sofort spüre ich, dass ich die falsche Frage gestellt habe: Ihr Arm versteift sich merklich, und einige Sekunden schweigt sie. Schließlich antwortet sie: »Nein, nur Kathryn.«

Ich bin verwirrt. Von wem hat sie dann gesprochen? Welche Mädchen hat sie gemeint?

Sie klammert sich immer noch an meinem Arm fest, während wir im Garten unsere Runden drehen, doch nun ist sie still geworden. Ich warte ab, da ich nicht abermals in ein Fettnäpfchen treten möchte. Trotzdem kann ich nicht anders, als im Garten nach Lewis Ausschau zu halten. Doch von ihm ist weit und breit nichts zu sehen, obwohl neben der Seitenpforte eine Schubkarre voller Farnkraut steht.