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Beste Freundinnen auf dem Weg zu einer unvergesslichen Party. Doch nur eine kehrt zurück.
Zwanzig Jahre ist es her, dass Olivia auf einer verlassenen Landstraße einen tragischen Verkehrsunfall verursacht hat. Zwanzig Jahre seitdem ihre drei besten Freundinnen, die mit im Auto saßen, mitten in der Nacht spurlos vom Unfallort verschwanden. Noch immer muss sie sich den vorwurfsvollen Blicken der Angehörigen und den Gerüchten der Kleinstadt stellen. Dabei kann sie sich selbst an nichts erinnern. Journalistin Jenna Halliday scheint Olivias letzte Hoffnung auf die Wahrheit, denn sie soll über den Fall, der ganz Großbritannien in Atem gehalten hat, in ihrem True-Crime-Podcast berichten. Bei ihren Recherchen trägt Jenna immer neue Geheimnisse ans Licht. Ist es möglich, dass die verschwunden Mädchen Opfer eines grausamen Verbrechens wurden? Und was, wenn die Gefahr noch lange nicht gebannt ist?
Nach dem SPIEGEL-Nr.-1-Bestseller »Liebste Tochter« kommt jetzt der neue atmosphärische Thriller von Claire Douglas. Unvergleichlich spannend! Überraschend bis zur letzten Seite.
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Seitenzahl: 479
Claire Douglas arbeitete 15 Jahre lang als Journalistin, bevor sich ihr Kindheitstraum, Schriftstellerin zu werden, erfüllte. Ihre packenden Thriller Missing, Still Alive, Vergessen, Beste Freundin und Schönes Mädchen waren in England und Deutschland ein riesiger Erfolg und machten sie zur gefeierten Bestsellerautorin. Ihr sechster Thriller Liebste Tochter schaffte es innerhalb kurzer Zeit auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Claire Douglas lebt mit ihrem Ehemann und ihren beiden Kindern in Bath, England.
Außerdem von Claire Douglas lieferbar:
Missing. Niemand sagt die ganze Wahrheit. Thriller.
Still Alive. Sie weiß, wo sie dich findet. Thriller.
Vergessen. Nur du kennst das Geheimnis. Thriller.
Beste Freundin. Niemand lügt so gut wie du. Thriller.
Liebste Tochter. Du lügst so gut wie ich. Thriller.
Claire Douglas
Nur eine kennt die ganze Wahrheit
Thriller
Aus dem Englischen von Ivana Marinović
Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel The girls who disappeared bei Penguin, London.
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Copyright © 2022 der Originalausgabe by Claire Douglas
Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Claudia Alt
Umschlaggestaltung: Favoritbüro, München
Covermotiv: © Nicole Matthew / Arcangel; © Jelena Simic Petrovic / Arcangel; © Ensuper / Shutterstock; © Evannovostro / Shutterstock; © Light-Studio / Shutterstock; © deniboy / Shutterstock; © MNStudio / Shutterstock; © Artiste2d3d / Shutterstock
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-30586-4V003
www.penguin-verlag.de
Für meine Leserinnen und Leser
Sie sangen. Sie waren betrunken. Sie waren glücklich.
Das war es, woran sich Olivia hinterher am meisten erinnerte. Wie glücklich ihre Freundinnen gewesen waren.
Sally saß vorne. Das tat sie immer. Sie meinte, auf dem Rücksitz würde ihr schlecht. Und als Olivias bester Freundin stand ihr der Platz ganz selbstverständlich zu. Sally quasselte von Mal, einem Jungen, auf den sie stand und der sie endlich gefragt hatte, ob sie mit ihm ausgehen wolle; nicht dass es Olivia überrascht hätte. Die Männer zog es immer zu Sally mit ihren großen dunklen Augen und der quirligen Art – einschließlich Olivias eigenem Freund, Wesley. Das war nach wie vor ein Stein des Anstoßes zwischen den beiden, ein Thema, das mittlerweile tabu war, um ihre Freundschaft nicht zu gefährden.
Sally ließ leicht lallend und mit hoher, aufgeregter Stimme Revue passieren, wie Mal ihr einen Diamond-White-Cider ausgegeben hatte. Olivia hatte aufgrund des plärrenden Radios und des Regens, der von Minute zu Minute heftiger runterprasselte, Mühe, ihr zu folgen.
Tamzin und Katie saßen hinten – die Wimperntusche um die Augen verschmiert, die bauchfreien Glitzer-Tops unter den viel zu dünnen Jacken hervorblitzend, nach Alk und Parfüm riechend. Sie lagen einander in den Armen und führten sich auf, als wären sie immer noch im Ritzy’s, während sie lautstark schmachtend Two Become One von den Spice Girls mitsangen.
Olivia wurde mulmig zumute. Eigentlich hatten sie ausgemacht, dass sie heute Abend nicht so viel trinken würden. Es war Tamzin gewesen, die die anderen überredet hatte. Olivia hatte sie an der Bar gesehen, als sie gerade Shots bestellte und ihr langes wasserstoffblondes Haar über die schlanken Schultern schwang, offensichtlich darauf hoffend, dass einer ihrer vielen Verehrer bezahlen würde. Und für gewöhnlich taten sie das auch. Sie war ein anderer Typ Schönheit als Sally: frecher und provokanter, mit ihren knalligen Wonderbras und Miniröcken, die ihr kaum über den Hintern reichten. Als Olivia an jenem Abend losgefahren war, um ihre Freundinnen abzuholen, hatte es noch nicht geregnet. Und als sie vor zehn Minuten den Club verließen, hatte es gerade mal genieselt. Aber mittlerweile schüttete es wie aus Eimern, sodass Olivia kaum noch die Fahrbahn sehen konnte. Der Regen sammelte sich in Bächen zu beiden Seiten ihrer Windschutzscheibe und raubte ihr fast vollkommen die Sicht, obwohl die Scheibenwischer auf Hochtouren liefen. Die Straße erstreckte sich dunkel und alles verschlingend vor ihnen, als würden sie durch den Weltraum reisen. Der aufziehende Nebel schwebte wie Trockeneis dicht über dem Boden. Da Olivia mit Fahren an der Reihe war, hatte sie den ganzen Abend nur an einem Glas Wein genippt. Trotzdem spürte sie ihn jetzt säuerlich in der Kehle brennen, während ihr kleiner Peugeot 205 von den heftigen Böen durchgerüttelt wurde. Normalerweise war sie beim Fahren nicht nervös, aber sie hatte ihre Führerscheinprüfung erst vor ein paar Monaten bestanden. Und heute Nacht war alles anders. Dabei hasste sie diese Straße ohnehin schon. Der sogenannte Devil’s Corridor führte in einer schnurgeraden Linie durch den Wald, und die hohen Buchen und Tannen, die zu beiden Seiten emporragten, verliehen der Straße etwas Beklemmendes. Ein Stück vor ihnen lagen die berühmten Megalithe, dahinter ihre kleine Stadt, welche den Steinkreis umgab – eine Touristenfalle voller mystischer Eso-Lädchen und Teestuben.
Der Regen übertönte die Musik und prasselte auf den Asphalt, als würde jemand vom Himmel Pfeile abfeuern. Olivia umklammerte das Lenkrad so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Das Getrommel draußen nahm so zu, dass die anderen abrupt aufhörten zu singen und Sally das Radio lauter stellte.
»Mach das aus!«, fauchte Olivia, und Sally gehorchte wortlos. Es war zu dunkel, um ihr Gesicht zu sehen, aber Olivia wusste, dass sie ihre Freundin gekränkt hatte. Kurz überkam sie das schlechte Gewissen – sie hasste es, Sally zu verärgern.
»Was für eine Nacht!«, rief Katie, beugte sich vor und umklammerte dabei Olivias Kopfstütze. »Schaut euch diesen Regen an.«
»Kannst du dich bitte wieder zurücklehnen?« Olivias Stimme war ungewöhnlich schroff. Katie war die Älteste und Anführerin der Clique und ließ sich nicht gern Vorschriften machen. Auch ihr Gesicht konnte Olivia nicht sehen, sich aber gut vorstellen, wie sie, an Tamzin gewandt, die Augen verdrehte. Wie auch immer, sie sah im Rückspiegel, wie Katie sich wieder nach hinten plumpsen ließ. Sie waren nicht angeschnallt.
»Ich hoffe, Mal meldet sich morgen bei mir«, sagte Sally in dem Versuch, das angespannte Schweigen zu brechen, allerdings klang sie jetzt wesentlich gedämpfter. »Er meinte, er würde anrufen und … Scheiße! PASS AUF!«
Mitten auf der Straße stand ein Mensch.
Alles passierte so schnell … Olivia trat auf die Bremse, riss das Steuer herum. Sie gerieten ins Schleudern und drehten sich, die Räder schnitten die Böschung, sodass der Wagen die Bodenhaftung verlor; Metall schrammte über Asphalt, als sie auf dem Dach landeten. Olivia konnte gerade noch das Kreischen ihrer Freundinnen hören, als ein Schmerz durch ihre Beine riss. Dann wurde alles schwarz.
Als sie wieder zu Bewusstsein kam, lag das Auto nicht mehr auf dem Dach. Ihre Uhr blinkte bernsteingelb in der Dunkelheit: 01:10. Wie lange war sie ohnmächtig gewesen? Es herrschte Totenstille. Von ihren Freundinnen war nichts zu hören. Ihr Herz hämmerte los, als die Erinnerung zurückkehrte. O Gott, o Gott … Geht es ihnen gut? Sind sie verletzt? Habe ich den Menschen auf der Straße überfahren?
Olivia versuchte sich zu bewegen, schrie aber vor Schmerz auf. Eines ihrer Beine war unter der Lenksäule eingeklemmt, die sich nach unten verschoben hatte. »Sally?« Sie drehte sich zum Beifahrersitz um. Er war leer. Wo war Sally? Sie verrenkte den Hals, um einen Blick nach hinten zu werfen, in der Erwartung, Katie und Tamzin zu sehen – voller Furcht, dass sie tot sein könnten –, aber auch sie waren nicht da. Panik erfasste sie, als ihr schlagartig klar wurde, dass sie allein im Auto war.
Waren die anderen losgezogen, um Hilfe zu holen? Aber sie befanden sich mitten im Nirgendwo, und außerdem hatte Katie ein Handy, ein rosafarbenes Nokia, auf das sie superstolz war. Immerhin hatte sie von ihnen vier den besten Job: Apothekergehilfin. Eine von ihnen hätte doch damit die Polizei alarmiert oder einen Krankenwagen gerufen. Ihre Taschen waren ebenfalls weg. Nichts im Auto wies darauf hin, dass sie jemals dringesessen hatten. Aber sie hätten sie doch nie im Leben einfach so zurückgelassen. Zumindest eine von ihnen wäre bei ihr geblieben. Sally ganz sicher. Sie war ihre beste Freundin.
Von Furcht und Schmerz gepackt, begann Olivia, unkontrolliert zu zittern; alles in ihr erstarrte zu Eis, als ihr wieder einfiel, wie es zu dem Unfall gekommen war … Die Gestalt auf der Straße, die jetzt menschenleer dalag und sich in eine endlose dunkle Leere zu erstrecken schien.
Wer war das gewesen?
Und wohin waren ihre Freundinnen verschwunden?
Sprachmemo: Montag, 26. November 2018
The Devil’s Corridor ist wohl der passende Name für diese lange, schnurgerade Landstraße, die zur Marktgemeinde Stafferbury in der Grafschaft Wiltshire führt. Im Lauf der Jahre gab es immer wieder Berichte über seltsame Ereignisse: ungeklärte Unfälle, angebliche Selbstmorde, mehrere Sichtungen vermummter Gestalten sowie Aussagen über das Weinen von Kindern in der Nacht. Doch kein Fall bleibt mysteriöser als der von Olivia Rutherford, der sich in dieser Woche vor genau zwanzig Jahren ereignete. Drei junge Frauen, die spurlos aus einem verunglückten Auto verschwanden und seither nicht gesehen wurden …
Ich pausiere die Aufnahme auf meinem Handy, während ich die Umgebung auf mich wirken lasse. Diese Straße hat definitiv etwas Unheimliches an sich. Sie sieht aus, als wäre eine Schneise quer durch den Wald geschnitten worden, und alles, was ich links und rechts von mir sehen kann, ist ein Dickicht hoher immergrüner Bäume, die sich zu dem blau-violetten Himmel und den schwarz aufgequollenen Wolken emporrecken. Bisher konnte ich keinerlei Häuser oder Gebäude ausmachen. Ich könnte mich beinahe irgendwo in der skandinavischen Wildnis befinden, nicht tief im beschaulichen Wiltshire. In den letzten zehn Minuten, die ich am Straßenrand geparkt habe, sind nur zwei Autos vorbeigefahren.
Etwas am Rande meines Sichtfelds lässt mich aufschrecken. Ein Mann späht durch das Beifahrerfenster zu mir rein, und mein Herz beginnt zu rasen. Er muss aus dem Wald gekommen sein. Er sieht aus wie Anfang fünfzig, vielleicht etwas älter. Er hat ein wettergegerbtes Gesicht, einen buschigen Bart und ebenso buschige graue Augenbrauen, die unter einem Fischerhut hervorlugen. Die Schultern unter dem wadenlangen Wachsmantel sind gebeugt. An einer Leine hält er einen weißen Windhund, eine Art Whippet, mit nur drei Beinen und einem braunen Fleck über dem linken Auge. Er blickt mich schwermütig an. Ich greife nach dem Pfefferspray in meiner Handtasche und lege es, versteckt durch meinen Oberschenkel, neben mir auf den Sitz.
Der Mann vollführt mit einer Hand eine Kurbelbewegung. Ich lasse das Fenster nur einen Spaltbreit herunter, ohne den Finger vom Schalter zu nehmen. Der Geruch von Kiefern und ungewaschener Kleidung schlägt mir entgegen.
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Das wollt ich eigentlich Sie fragen«, erwidert er lautstark mit einem ausgeprägten West-Country-Akzent. »Haben Sie ’ne Panne? Sie sollten hier nicht halten. Ist nicht sicher, so ganz allein auf dieser Straße.« Ich bemerke einen fehlenden Schneidezahn.
Ein Donnergrollen rollt über uns hinweg, ein tiefes, tierhaftes Röhren, das mein Unbehagen nur noch verstärkt.
»Eigentlich wollte ich …« Ich zögere. Vielleicht ist es besser, ihm nicht gleich unter die Nase zu reiben, dass ich Journalistin bin. »Ich bin auf dem Weg nach Stafferbury.«
»Haben Sie sich verfahren?«
»Nein. Ich habe nur gehalten, weil ich … etwas erledigen musste.« Mir ist bewusst, dass ich mich recht vage ausdrücke.
»Ah ja.« Er runzelt die Stirn und lässt seinen misstrauischen Blick über meinen neuen Audi Q5 schweifen, bevor er wieder auf mir landet. Seine Augen sind dunkel, beinahe schwarz. »Nun, nach Stafferbury sind es nur noch zwei Meilen direkt die Straße runter. Sie können’s gar nicht verfehlen.«
»Das ist super, danke.«
Schnell lasse ich das Fenster wieder hoch, um weiteren Fragen zuvorzukommen, und meine Hände zittern, während ich den Gang einlege. Ich fahre so schnell vom Grünstreifen runter, dass die Reifen quietschen.
In meinem Rückspiegel sehe ich den Mann mit dem Hund zu seinen Füßen reglos dastehen und meinem Wagen hinterherstarren.
Als ich in Stafferbury ankomme, habe ich mich weitestgehend wieder beruhigt.
Das Städtchen ist genau so, wie ich es mir vorgestellt habe, und entspricht eins zu eins den Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die ich mir angesehen hatte, bevor ich die mehr als zweihundert Meilen zurücklegte, um von Manchester herzufahren. Der Ortskern hat sich seit den späten 1890er-Jahren kaum verändert, und natürlich sind die Megalithe noch mal älter. Sie fallen mir als Erstes ins Auge. Sie befinden sich auf dem angrenzenden morastig aussehenden Feld zu meiner Rechten – fünf Meter voneinander entfernt, in einer Art Halbkreis angeordnet, groß und hässlich, wie ein Gebiss schiefer Zähne. Die groben Steinblöcke scheinen etwas planlos aufgerichtet worden zu sein, nicht wie in Stonehenge, und schon von hier aus kann ich erkennen, dass sich ein Algenfilm auf ihnen gebildet hat wie Plaque.
Eine Familie in bunten Regenmänteln, die Kinder in flippigen Gummistiefeln und mit einem kleinen Hund im Schlepptau, klettert über den Zaunübertritt auf das Feld mit den Megalithen. Ich frage mich, was Finn hiervon halten würde. Als mir das Bild meines zehnjährigen strubbelköpfigen Sohnes in den Sinn kommt, packt mich eine schmerzhafte Sehnsucht. Seit der Trennung von seinem Vater musste ich mich daran gewöhnen, nicht immer bei ihm zu sein – jetzt, wo wir das Sorgerecht teilen, bleibt mir nichts anderes übrig. Aber ich hasse es. Es fühlt sich an, als würde ein Teil von mir fehlen.
Die High Street im Zentrum ist in einer Hufeisenform angelegt, in deren Mitte sich ein Kriegerdenkmal befindet, welches die beiden Ortsstraßen trennt; zusätzlich zu derjenigen, über die ich gerade gekommen bin, gibt es noch eine, die aus dem Städtchen hinausführt und sich dabei zwischen zwei mittelalterlich anmutenden Gebäuden samt einem Pub an der Ecke mit dem ominösen Namen The Raven hindurchschlängelt. Allein das Schild – ein großer schwarzer Vogel mit finsteren Knopfaugen vor einem grauen Himmel – ist gruselig. Laut meinem Navi verzweigt diese Straße sich in den Seitengassen und führt von dort aus in die dahinterliegende Pampa.
Meine Unterkunft liegt im Wald, eine Hütte, die auf der Webseite einen richtig schönen, modernen Eindruck machte. Doch bevor ich dort hinfahre, wollte ich noch die High Street sehen, weshalb ich absichtlich die Abzweigung vom Devil’s Corridor verpasst habe und mir jetzt auf eigene Faust den Weg zurück suche. Ich fahre gemächlich durch den weihnachtlich herausgeputzten Ort und betrachte dabei die kleinen Boutiquen, welche esoterische Deko-Objekte, Schmuck und Räucherstäbchen verkaufen, ein Café namens Bea’s Tearoom in einem historischen Tudor-Gebäude, ein paar Klamottenläden, die Batik-T-Shirts und Fransenröcke führen, sowie einen Laden namens Madame Tovey’s, deren Inhaberin (laut einem viel zu großen Schild vor der Tür samt Tarotkarten-Zeichnung) behauptet, die Zukunft vorhersagen zu können. Es ist ein süßes Städtchen, klein und idyllisch mit seinen Fachwerkhäusern aus der Tudor-Zeit, den kopfsteingepflasterten Gassen, den Weihnachtslichtern, die an den Bleiglasfenstern funkeln. Ich kann verstehen, was die Touristen daran finden, aber es hat auch etwas Heruntergekommenes an sich – ein bisschen wie die arme Cousine von Avebury mit seinem berühmten Steinkreis. Vielleicht ist ja im Sommer mehr los, überlege ich nachsichtig. Es ist schließlich ein nasskalter Montag im November, an dem nur wenige Menschen unterwegs sind.
Wie aufs Stichwort setzt der Regen ein, schnell und heftig trommelt er aufs Autodach. Ich bemerke, wie ein junges Pärchen sich kichernd und händchenhaltend in den nächstbesten Laden flüchtet, und verspüre einen Stich der Eifersucht. Auch Gavin und ich waren mal so gewesen.
Ich umrunde das Kriegerdenkmal, sodass sich die historische Steinformation nun zu meiner Linken befindet, bevor ich die High Street verlasse und erneut auf den düster klingenden Devil’s Corridor fahre. Keine halbe Meile von den Megalithen entfernt zweigt ein Feldweg ab, der mich tiefer in den Wald führt. Während ich ihm folge, frage ich mich, ob es nicht doch ein bisschen zu abgelegen ist. Vielleicht hätte ich mir ein Bed & Breakfast im Zentrum nehmen sollen.
Nach ein paar Hundert Metern erreiche ich eine von Buchen, Kiefern und Tannen umgebene zweckmäßige Ferienhütte, wie man sie praktisch überall in Touristengebieten finden kann. Ich verlangsame, um den Namen an der Eingangstür besser lesen zu können: Fern. Ich logiere aber in Bluebell, auch wenn ich keine Ahnung habe, wo die sein soll. In einiger Entfernung meine ich noch zwei, drei weitere Hütten ausmachen zu können, aber mit dem schüttenden Regen und den dicht an dicht stehenden Bäumen lässt sich kaum was erkennen. Als ich mit Jay Knapton, dem Besitzer, telefonierte, um die Buchung vorzunehmen, hat er erklärt, dass die Anlage noch nicht ganz fertiggestellt sei und es im Moment nur ein halbes Dutzend im Wald verstreuter Hütten gebe. Er klang beeindruckt, als ich ihm den Grund meines Besuches nannte.
Ich fahre weiter, wobei meine Reifen durch den nassen Schlamm pflügen. Ich hoffe, dass die erste Hütte, Fern, belegt ist, obwohl sie eher verlassen wirkt. Die Vorstellung, allein im Wald zu sein, behagt mir nicht. Als ich mich der zweiten Hütte nähere, verlangsame ich erneut das Tempo, um den Namen an der grauen Eingangstür zu lesen. Bluebell. Erleichtert biege ich in die Einfahrt. Der Boden besteht lediglich aus Gummimatten und Rollrasen, und als ich aus dem Auto steige, versinken meine Absätze darin. Was habe ich mir bloß dabei gedacht, mit hohen Stiefeln in den Wald aufzubrechen? Gott sei Dank habe ich noch meine Gummistiefel im Auto. Einen Moment lang blicke ich an der Hütte hoch und ignoriere den Regen, der in meinen Wollmantel sickert und mein Haar durchnässt. Mich überkommen die Erinnerungen an unseren letzten Familienurlaub vergangenes Weihnachten. Finn hatte sich so gefreut – das »Haus unter den Bäumen« nannte er die Ferienhütte. Es zieht mir das Herz zusammen, als mir klar wird, dass es vielleicht nie wieder einen Familienurlaub zu dritt oder ein gemeinsames Weihnachten geben wird. Von jetzt an wird Finn entweder bei mir oder bei seinem Vater – und früher oder später auch Gavins neuer Partnerin – sein. Denn natürlich wird es eine neue Freundin geben, wenn es nicht bereits eine gibt. Aus welchem anderen Grund hätte Gavin vor vier Monaten verkünden sollen, dass er eine »Auszeit« von unserer fünfzehnjährigen Ehe benötige? Und damit auch von unserer neunzehnjährigen Beziehung? Warum sonst sollte er in eine Einzimmerwohnung in der Nähe seines Büros ziehen?
Das ist nicht das Leben, das ich mir ausgemalt habe. Es ist nicht die Zukunft, die ich will.
Weswegen ich noch immer verbittert bin. Ich bin wütend, dass mir das Leben, das ich hatte, das Leben, das ich liebte, entrissen wurde. Dass unsere kleine Familie zerbrochen ist. Dies ist nicht, was ich mir für unseren Sohn gewünscht habe. Für mich. Manchmal möchte ich Gavin so sehr wehtun – ihn bestrafen, ihn davon abhalten, dass er unseren Sohn sieht –, dass es mich innerlich auffrisst. Aber mir ist klar, dass das Finn gegenüber egoistisch und unfair wäre. Das weiß ich. Ja, wirklich. Und ich würde es auch niemals tun. Doch diese Wut … Ich hole tief Luft. Reiß dich zusammen, Jenna, ermahne ich mich. Über all das werde ich jetzt nicht nachdenken. Ich werde nicht Trübsal blasen. Ich bin hier, weil ich einen Job zu erledigen habe. Das hier ist die Chance für mich, meine Karriere zu pushen, und ich kann nicht zulassen, dass das emotionale Chaos mit Gavin mir alles vermasselt.
Ich drehe mich wieder zum Auto und öffne den Kofferraum, um meine große Reisetasche herauszunehmen. Sie wiegt gefühlt eine Tonne, und ich verfluche mich jetzt schon, so viel Zeug eingepackt zu haben. Gavin hat das früher immer wahnsinnig gemacht, da er immer nur das Nötigste mitnahm. Ich packe gerne für alle Eventualitäten, und ohne mein Glätteisen gehe ich nirgendwohin. Die Hütte verfügt über eine kleine Veranda, unter der ich Schutz suche, während ich, den Mietanweisungen entsprechend, den Schlüssel aus dem codierten Safe an der Wand hole. Der Flur ist warm und einladend, ausgestattet mit einer Garderobe, einer gepolsterten Sitzbank und ausziehbaren Weidekisten für die Schuhe. Ich hänge meinen nassen Mantel auf und setze mich auf die Bank, um meine Stiefel auszuziehen.
Der offene Wohnraum ist noch schöner, als die Fotos vermuten ließen: weiße Wände, warmer Holzdielenboden, unter dem eine Fußbodenheizung verlaufen muss, ein modernes orangefarbenes Ecksofa, Schaffellteppiche, gemütliche Decken und Kissen. An der Wand hängt ein Hirschkopf aus Stoff, um dessen Geweih sich bunte Lichterketten winden, was Finn gefallen würde. Der Sitzbereich verfügt über einen offenen Kamin samt einem Stapel Holzscheite in einem Korb daneben, und hinter dem Sofa befindet sich ein kleiner Esstisch.
Eine weiße Hochglanzküche mit Blick auf die Einfahrt schließt an den Wohnbereich an. Die Arbeitsplatten sind aus grauem Granit, und es gibt eine Kücheninsel mit Chrom-Barhockern drum herum. Ich betrachte die technischen Annehmlichkeiten: die schicke Sound-Anlage, die ich nie im Leben zum Laufen bringen werde, wohingegen Gavin, wenn er hier wäre, sie innerhalb von Minuten in Betrieb genommen hätte; dann den Heißwasserhahn, den einschüchternden Hightech-Backofen mit dem dazu passenden Kochfeld. Ich bin eher altmodisches Equipment gewohnt. Ich schlendere durch das Wohnzimmer zurück in den Flur und zu den Schlafzimmern. Es gibt ein großes Schlafzimmer mit eigenem Bad und daneben ein Zweibettzimmer. Ich versuche, nicht an Finn zu denken und daran, wie toll er es hier fände, während ich meine Reisetasche auf das Kingsize-Bett werfe.
Zurück im Wohnbereich, hole ich mein Handy aus der Umhängetasche und mache einen Schnappschuss vom Hirschkopf, um ihn Finn zu schicken, bevor ich die Haustür öffne und – froh über die Veranda – ein Foto von den Bäumen mache. Das Ergebnis ist eine atmosphärische Aufnahme des Waldes im Regen, der die Konturen der Bäume verwischt, während das violette Licht der Bodenfluter von unten durch die Zweige bricht und dem Bild ein wenig Farbe verleiht. Ich werde es später auf meiner Instagram-Seite posten. Das wird helfen, die Neugier auf das Erscheinen des Podcasts anzufachen.
Dieser Podcast war meine Idee. Kaum dass die Pressemitteilung vor ein paar Monaten auf meinem Schreibtisch landete, war ich ganz versessen darauf, alles über diesen Fall in Erfahrung zu bringen. Und es überraschte mich doch, festzustellen, dass er, abgesehen von ein paar Berichten aus den späten Neunzigern und frühen Nullerjahren, anscheinend weitestgehend in Vergessenheit geraten war. Ich selbst erinnerte mich noch gut daran, da Olivia Rutherfords Freundinnen damals, als es passierte, in ihren späten Teenagerjahren gewesen waren, so wie ich; und als ich die zerknitterte Pressemitteilung anstarrte, da wusste ich plötzlich, dass ich eine Story dazu bringen musste – und zwar nicht nur einen oberflächlichen Artikel mit drei Absätzen auf der BBC-Webseite anlässlich des zwanzigjährigen Jahrestages, sondern eine gründliche Recherche. Zum Glück war meine Herausgeberin Layla in der Redaktion in Salford ebenfalls der Meinung, dass die Geschichte perfekt zum neuen Streaming-Angebot passen würde, und so wurde ich hergeschickt, um tiefer gehende Informationen zu sammeln und so viele Interviews wie möglich aufzunehmen. Wenn ich nach Manchester zurückkehre, will Layla mir dabei helfen, daraus eine sechsteilige Serie zu machen. Ich freue mich auf die neue Herausforderung, denn obwohl ich bereits seit siebzehn Jahren Journalistin bin, habe ich bisher noch nie einen Podcast erstellt oder gehostet.
Ich kehre dem Regen den Rücken zu, schließe die Tür hinter mir und gehe in die Küche, wo ich mein Handy auf die Arbeitsplatte lege. An der Spüle stehend, sehe ich zum Fenster hinaus auf den Wald und versuche, nicht daran zu denken, wie schön und gleichzeitig bedrückend der Anblick ist. Von hier aus habe ich eine Seitenansicht auf die Hütte gegenüber, die tiefer zwischen den Bäumen gelegen ist und, bis auf ein Eck mit einem schmalen Fenster, von ihnen verdeckt wird. Im Inneren brennt Licht, und das bernsteinfarbene Leuchten hat etwas Beruhigendes. Ich bin erleichtert, dass ich doch nicht ganz allein im Wald sein werde. Dabei ist es noch nicht einmal sechzehn Uhr.
Ich brühe mir an dem schicken Heißwasserhahn einen Tee auf und bin froh, dass der Besitzer Milch, Brot, Butter und Teebeutel bereitgestellt hat; dann nehme ich an dem Esstisch Platz, krame meine Unterlagen aus der Umhängetasche und breite sie vor mir aus. Ich habe mir die alten Zeitungsberichte vom November 1998 ausgedruckt, als die drei Mädchen verschwanden, sowie ein Foto von Olivias demoliertem weißem Peugeot 205. Ein Wunder, dass überhaupt jemand da lebend herausgekommen ist. Das Bellen eines Hundes reißt mich aus meinen Überlegungen, und ich stehe auf, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Ich sehe, wie jemand mit einem großen Deutschen Schäferhund an der Leine die Hütte gegenüber verlässt. Schwer zu sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, da die Gestalt einen Regenparka trägt, die spitze Kapuze tief über den Kopf gezogen und unter dem Kinn zusammengebunden; aber wer auch immer, die Person ist recht groß. Ich trete näher ans Fenster und lehne mich über das Spülbecken, um besser sehen zu können. Die Gestalt bleibt einen Augenblick lang im Regen stehen und schaut zu meiner Hütte; dann, als der Hund an der Leine zerrt, biegt sie nach rechts ab und folgt einem Pfad, der tiefer in den Wald hineinführt.
Ich schließe die Vorhänge, um mich wieder meinen Unterlagen zuzuwenden, und ignoriere dabei die Schatten, die über die Wände huschen, fest entschlossen, nicht allzu lang über die Tatsache zu grübeln, dass ich mich hier ganz allein an einem Ort befinde, an dem regelmäßig unheimliche Dinge geschehen und Menschen einfach so verschwinden.
Der Regen prasselt schwer auf die Rückseite von Olivias Wachsjacke, während sie sich vorbeugt, um den Huf ihres Ponys zu reinigen. Ihr Knie und ihre Wade schmerzen. So wie immer bei diesem Wetter. Sie weiß, wenn sie sich nicht beeilt, wird ihr Bein unter dem Gewicht von Sabrina einknicken. Die einzige Lichtquelle im Stall ist die flackernde Glühbirne, die jedoch so schwach ist, dass sie kaum sehen kann, was sie da tut. Nicht, dass sie das müsste. Hufe reinigen kann sie im Schlaf.
Seit dem Unfall umgibt sich Olivia lieber mit Pferden als mit Menschen. Treu, zuverlässig und trostspendend. Sie lassen einen nicht im Stich, verurteilen einen nicht und werden auch nicht wütend auf einen oder bösartig und manipulativ. Sie antworten nicht bissig, überschütten einen nicht mit Schimpfwörtern und verleiten einen nicht dazu, etwas zu tun, was einem unangenehm ist. Man weiß, woran man ist. Seit sie von dem Unfall genesen war, hat Olivia ihre Gesellschaft gesucht, was kein Problem war, da ihre Mutter die einzige Reitschule der Stadt samt den dazugehörigen Mietställen besitzt. Seit jener schicksalhaften Nacht ist sie nicht mehr Auto gefahren, doch reiten kann sie noch. Es ist ihre einzige Freiheit.
Sie bemerkt ihre Mutter erst, als sie schon neben ihr steht, ein Stirnrunzeln im Gesicht und ein Wirrwarr aus Halftern über die Schulter geworfen. Olivia hebt den Blick, wobei sie Sabrinas Bein absenkt.
»Alles in Ordnung, Liebes? Du siehst müde aus. Vielleicht solltest du Feierabend machen.«
»Bin so gut wie fertig.«
»Okay, ich packe das hier noch weg und schiebe dann die Ofenkartoffeln rein. Triffst du dich später noch mit Wes?« Der mittlerweile graue Bob ihrer Mutter klebt an ihrem Kopf, sodass sie wie eine Lego-Figur aussieht, und ein Regentropfen rinnt ihr die Stirn hinab, bis er an ihrer Nasenspitze hängen bleibt.
»Nein, heute Abend nicht.«
»Großartig. Dann können wir uns ja zusammen This is Us anschauen.«
Genau das ist es, was Olivia heute Abend braucht. Mit Seelenfutter vor ihrer Lieblingsserie auf dem Sofa einkuscheln. Eskapismus pur. Ihre Mutter geht in Richtung Sattelkammer davon.
Sabrina wiehert und schnaubt kräftig, sodass der Atem, der durch ihre großen Nüstern dringt, in Wolken vor ihr aufsteigt. Olivia vergräbt den Kopf am Hals des Tieres. Sie liebt den Geruch von Pferden, ihren warmen, feuchten dunstigen Duft. Sie führt das Pony in den Stall, löst das Halfter, fährt rasch und gründlich mit der Bürste über Sabrinas kastanienbraunes Fell und wirft ihr zum Schluss eine Decke über den Rücken. Sie fragt sich, ob ihre Mutter daran gedacht hat, dass am Mittwoch Jahrestag ist.
Zwanzig Jahre. Sie kann es kaum glauben. Manchmal fühlt es sich an, als wäre es gestern gewesen. Und dann wieder, als würde ein ganzes Leben dazwischenliegen.
Nun, da alle nach Hause gegangen sind, wirkt der Hof dunkel und bedrohlich. Eigentlich sollte sie sich daran gewöhnt haben, hat sie aber nicht. Und wird sie auch nie. Die Wahrheit ist, dass ihr die Dunkelheit Angst macht. Das war schon immer so. Wenn sie damals, 1998, weniger ängstlich und dafür mutiger gewesen wäre, wenn sie die Wahrheit gesagt hätte, wären ihre Freundinnen womöglich noch hier.
Als sie aus dem Stall hinaustritt, fällt der Strahl ihrer Taschenlampe auf den regennassen Boden. »Gute Nacht, mein Goldschatz«, flüstert sie und schiebt den Riegel an der Tür vor, wobei der Wind am Saum ihrer Jacke zerrt. Sie dreht sich in Richtung der Sattelkammer, die dunkel und still daliegt. Ihre Mutter muss bereits ins Haus zurückgekehrt sein. Olivia beäugt verzagt das hölzerne Gattertor, das die Reitschule vom Haus trennt. Die Sicherheitsbeleuchtung ist erloschen, und nur in einem der Fenster in der Ferne brennt noch Licht. Zwischen dem Haus und ihr liegt eine weite, in Dunkelheit getauchte Fläche, die sie schaudern lässt. Der Regen hat zugenommen und trommelt in einem melodischen Rhythmus auf die Blechdächer der Stallungen herab. Sie zieht ihren Hut fester über ihr blondes Haar. Das hier mache ich jeden Abend, ruft sie sich in Erinnerung (obwohl meistens ihre Mutter auf sie wartet), und heute ist ein Abend wie jeder andere auch. Es spielt keine Rolle, dass am Mittwoch Jahrestag ist, und auch nicht, dass sie seit Wochen meint, dieses untergründige Etwas in der Stadt zu spüren, das sie nicht ganz benennen kann. Dies sind die Worte, die sie sich immer wieder sagt, während sie, so gut wie es mit ihrem hinkenden linken Bein geht, auf das Gatter zueilt; der Strahl ihrer Taschenlampe zuckt über den Weg vor ihr und erhellt die Regentropfen in der Luft.
Als sie das Tor erreicht, zieht sie den Riegel zurück, wobei sie ihre Taschenlampe senken muss. Nachdem sie hindurchgeschlüpft ist, fällt das Tor knallend zu, und plötzlich steht da jemand vor ihr. Ein weißes Gesicht, das aus der Finsternis hervorspäht. Olivia schreit auf und springt erschrocken zurück.
»Liv, Dummerchen, ich bin’s«, meldet sich eine vertraute Stimme. Wesley. Es ist bloß Wesley. Natürlich, wer auch sonst. Er hält einen Golfschirm hoch und tritt nach vorne, sodass sie ebenfalls daruntersteht. »Du bist ja pudelnass«, sagt er, schlingt schützend einen Arm um sie und drückt sie so fest an sich, dass sie kaum noch Luft bekommt. »Ich hab bei euch geklopft, und deine Mum meinte, dass du noch dabei wärst, hier draußen alles fertig zu machen.«
»Was machst du hier?«, ruft sie gegen den Regen an. »Ich dachte, heute verbringen wir einen getrennten Abend.«
Gegen die Regenböen ankämpfend, führt er sie Richtung Haus. »Ich wollte dich sehen. Ist das ein Verbrechen?« Seine Stimme übertönt den Wind. »Was für ein abartig beschissenes Wetter.«
Sie nickt, obwohl er sie im Dunkeln nicht sehen kann, und lehnt sich an ihn. Ihr Kopf reicht nur bis zu seiner Schulter, und ungeachtet dessen, wie fest sein Arm um ihre Taille geschlungen ist, empfindet sie seine Größe und sein Gewicht als tröstlich. Erschrocken realisiert sie, dass er ihr nun schon seit zwanzig Jahren Halt gibt. Es überrascht sie, dass er noch bei ihr ist. Aber vielleicht kommt ihre Beziehung – die selbst nie über das Dating-Stadium hinausgegangen ist, obwohl sie beide bereits Ende dreißig sind – seinem Naturell schlicht entgegen. So muss es wohl sein. Sie hat viel darüber nachgedacht, wenn sie allein im Schlafzimmer des Hauses lag, in dem sie aufgewachsen ist. Aber sie hat das Gefühl, ein statisches Leben zu leben – dieses Leben, das sie seit dem Unfall führt –, so als würde sie feststecken, unfähig, darüber hinwegzukommen, es hinter sich zu lassen, zu wachsen. Daher war es nur natürlich, wenn ihre Beziehung zu Wesley ebenfalls in der Entwicklung verhindert blieb. Sie weiß, dass andere es seltsam finden, dass sie nie geheiratet haben oder wenigstens zusammengezogen sind. Aber das ist wohl das Leben, das sie verdient hat, angesichts der Tatsache, dass sie noch hier ist, ihre Freundinnen aber nicht.
Sie wechseln kein Wort, bis sie das seltsam zusammengewürfelte Haus ihrer Mutter mit dem Buntsteinputz erreicht haben. Sie platzen in den gläsernen Windfang, der immer leicht nach Füßen und Gummi riecht; über ihren Köpfen baumelt eine nackte Glühbirne. Als Wesley den tosenden Wind und Regen aussperrt, klingeln Olivias Ohren in der plötzlich eintretenden Stille.
»Wie geht’s deinem Bein?«, erkundigt er sich, während er den riesigen Regenschirm schließt und in der Ecke abstellt. Eine Speiche hat sich aus dem Stoff gelöst.
Olivia reibt sich das Knie. Es schmerzt so sehr, dass sie am liebsten heulen würde.
»Ich glaub, ich brauche mein Schmerzmittel«, antwortet sie. Sie setzt sich auf die Holzbank, und er hilft ihr, die Stiefel auszuziehen. Zwar kann sie das auch allein, aber sie weiß, dass er sich gerne nützlich fühlt. Nach dem Unfall saß sie sechs Monate im Rollstuhl, und Wesley war ihr Retter gewesen, indem er sie durch die engen Gassen von Stafferbury schob und dabei unerwünschte Kommentare und Zudringlichkeiten abschmetterte wie ein Schutzschild.
Und das tut er heute noch.
Er sieht mit ernsten blauen Augen auf und neigt, mit angespanntem Kiefer, ganz leicht das Kinn. Dann beugt er sich runter und nimmt ihre Hände in die seinen. »Ich habe mit Ralph gesprochen«, sagt er mit düsterer Stimme. »Und ich bin gekommen, um dich zu warnen.«
»Mich warnen?« Sie verspürt einen Anflug von Panik.
»Da schnüffelt eine Journalistin herum. Denk einfach dran, was wir von Anfang an vereinbart haben, okay? Keine Interviews.« Als sie nichts sagt, wiederholt er abermals, diesmal schroffer: »Ich sagte, okay?« Er drückt ihre Hände noch fester, sodass sie sich wie ein Tier in der Falle vorkommt.
Sie nickt, wobei sie das Gemisch aus Angst und Zweifel runterschlucken muss, das in ihr aufsteigt. »Okay.«
Es ist nach Mitternacht, ich sitze schon seit Stunden am Küchentisch und brüte über alten Artikeln und Fotos, trinke dazu Tee und dazwischen das eine oder andere Glas warmen Wein, den ich aus Manchester mitgebracht habe. Gavin mochte es nie, wenn ich zu viel trank, da er selbst Abstinenzler ist. Ich beäuge mein leeres Weinglas. Tja, das spielt jetzt keine Rolle mehr, oder? Er ist nicht hier. Ich kann so viel trinken, wie ich will. Aber das Triumphgefühl bei dem Gedanken bleibt aus. Ich seufze und schiebe die Unterlagen, die ich durchgeblättert habe, von mir weg. Eine Schlagzeile fällt mir dennoch ins Auge: DIE VERSCHWUNDENEN MÄDCHEN: WAS WURDE AUS DEN DREI VERMISSTEN? Es handelt sich um eine reißerisch aufgebauschte Story von vor fünf Jahren, getarnt als investigative Reportage, obwohl die meisten Fakten aus anderen damals erschienenen Artikeln zusammengestückelt wirken. Ich bezweifle, dass der Journalist, der ihn verfasst hat, überhaupt je in Stafferbury war.
Ich schiebe die Lesebrille hoch und reibe mir die müden Augen. Vorhin, nach mehreren gescheiterten Versuchen und einer verbrannten Fingerkuppe, ist es mir gelungen, ein Feuer im Kamin zu entfachen, und das Knistern der Flammen zusammen mit der Wärme hatten dafür gesorgt, dass ich mich weniger allein fühlte. Aber jetzt ist es erloschen, und im Zimmer ist es kalt und still, bis auf den Regen, der sich prasselnd gegen die Fensterscheiben wirft. Ich ziehe meine Strickjacke enger um mich und stehe auf. Ich werde mir einen Tee mit ins Bett nehmen, beschließe ich, und drehe den Wasserhahn auf, um einen weiteren Becher mit kochendem Wasser zu füllen. Als wir vor zwei Jahren unsere Küche renovierten, hatte Gavin sich einen Quooker gewünscht. Ich war dagegen und erklärte ihm, dass ich das Blubbern eines Wasserkochers irgendwie gemütlich finde. Ich gehe das Gespräch mit schöner Regelmäßigkeit in meinem Kopf durch und frage mich, ob die Dinge anders gelaufen wären, wenn ich Ja zu dem verdammten Quooker gesagt hätte. Wenn ich nachgiebiger und weniger rechthaberisch gewesen wäre. Wenn ich die Renovierung der Küche nicht an mich gerissen und ihn dazu überredet hätte, sich für mattweiße Schränke im Shaker-Stil und die dunkelgraue Kücheninsel zu entscheiden, obwohl ich tief im Inneren wusste, dass er lieber etwas Moderneres gehabt hätte.
Ich seufze schwer und spähe zwischen den dicken moosgrünen Vorhängen hindurch. Die Hütte gegenüber liegt im Dunkel. Es kommt kein beruhigender Lichtschein mehr von dem schmalen Fenster, nur das schwache, unregelmäßige Aufflackern einer Solarleuchte am Ende meiner Auffahrt und der violette Schimmer der Bodenfluter zwischen den Bäumen vor mir. Die Person, die ich vor ein paar Stunden habe weggehen sehen, ist noch immer nicht zurück, soweit ich das beurteilen kann. Ich fühle mich vollkommen allein in diesem Wald. Die Vorstellung gruselt mich. Ich lasse den Vorhang fallen und entferne mich mit meinem Becher Tee vom Fenster. Ich möchte nach Hause, in die viktorianische Doppelhaushälfte in der grün belaubten Straße in Manchester mit dem Kirschblütenbaum im Vorgarten und der Heißwasserhahn-losen Küche, die ich so sehr liebe. Ich will mein altes Leben mit Gavin und Finn zurück; ich will gemütliche Sonntagmorgen im Bett, Kaffee trinkend, die Zeitungen vor uns auf der Bettdecke ausgebreitet, während Finn sich zwischen uns kuschelt und Minecraft auf seinem iPad spielt. Ich verzehre mich so sehr danach, dass mein Herz vor Sehnsucht schmerzt.
Ich dachte, wir wären glücklich.
Vorhin habe ich Finn über FaceTime angerufen, und obwohl Gavin sich im Hintergrund herumdrückte, hat er mich weder gegrüßt noch sonst irgendwie Notiz von mir genommen. Er ist für die Zeit meiner Abwesenheit wieder bei uns eingezogen, um auf Finn aufzupassen, und sein Anblick in dem Haus, in das er gehört, bescherte mir einen Kloß im Hals.
Ich schnappe mir meinen Tee und tue, wovor ich mich schon den ganzen Abend gefürchtet habe: Ich schalte alle Lichter aus und gehe ins Bett. Die Luft riecht muffig, ganz so, als wäre die Hütte wochenlang verschlossen gewesen, was wahrscheinlich auch so ist. Eher unwahrscheinlich, dass es im November viele Buchungsanfragen gibt. Ich ziehe meine Strickjacke aus und schlüpfe zwischen die blütenweißen Satinlaken, die dicke Daunendecke schwer über meinen Beinen liegend. Ich bin froh, dass ich meinen flauschigen Fleece-Pyjama trage. So ganz allein fühlt sich das Kingsize-Bett riesig an. Das Kopfteil verfügt über integrierte Lampen, und ich lasse die auf meiner Seite an, obwohl ich zu müde zum Lesen bin. Mein Kopf ist voll mit all dem, was ich morgen zu erledigen habe. Bis Freitag habe ich Zeit, so viel Content und Infos wie möglich für den Podcast zusammenzutragen. Nur vier Tage. Obwohl mir das im Moment wie eine halbe Ewigkeit vorkommt. Ich schließe die Augen und denke an Finns kleinen Körper, wenn er sich an mich kuschelt. Ich weiß, dass Finn mich vermissen wird. Glücklicherweise holt Mum ihn von der Schule ab und passt auf ihn auf, bis Gavin von der Arbeit nach Hause kommt, und Freitagabend sehe ich ihn wieder. Diese Aussicht wird mich durch die Woche bringen.
Meine Gedanken schweifen weiter zu Brenda, der örtlichen Kriminalbeamtin, mit der ich mich morgen früh treffe. Danach werde ich versuchen müssen, Olivia einen Besuch abzustatten. Ich möchte sie unvorbereitet erwischen – aber wer weiß, ob sie sich überhaupt mit mir unterhalten wird? Nach dem Unfall damals lag Olivia monatelang im Krankenhaus, um sich von den zahlreichen Bein-OPs zu erholen, die es vor einer Amputation retten sollten und bei denen zig Metallstifte eingesetzt wurden. Sie hat noch nie ein Interview gegeben.
Ich drehe mich um und schmiege mein Gesicht in das Kissen. Ich sollte wirklich schlafen. Gerade als ich dabei bin einzudösen, höre ich einen schrillen Schrei. So laut und durchdringend, dass ich mit hämmerndem Herzen im Bett aufschrecke und mir am ganzen Körper der Schweiß ausbricht.
Was zur Hölle war das?
Dann ein weiterer grauenhafter Schrei, gefolgt von einer Stille, in der ich nur mein Blut in den Ohren rauschen höre. Ich steige aus dem Bett, gehe zum Fenster und ziehe die Vorhänge beiseite. Jemand steht direkt hinter meinem Auto, die Kapuze über den Kopf gezogen, sodass das Gesicht nicht zu erkennen ist. Ich glaube, es ist dieselbe Person, die ich vorhin mit dem Hund gesehen habe. Ob ich die Polizei rufen sollte? Ich drehe mich um und schnappe mir mein Handy vom Nachttisch, doch als ich wieder rausschaue, ist da niemand mehr.
Olivia dreht sich im Bett um, blinzelt in die Dunkelheit, fragt sich, was sie gerade aufgeweckt hat. Im Zimmer ist es kalt, da ihre Mutter nur selten die Heizung aufdreht, und das Fensterglas klappert im Wind. Sie kann das ferne Wiehern und Stampfen von Hufen vernehmen, was bei einem Sturm nicht ungewöhnlich ist. Sie streckt den Arm aus, um sich an Wesley zu kuscheln, doch seine Seite des Bettes ist leer. Er muss auf dem Klo sein, da seine Bettseite noch warm ist. Sie schmiegt ihr Gesicht ins Kissen und versucht weiterzuschlafen. Doch nun, da sie einmal wach ist, weiß sie, dass sie keinen Schlaf finden wird, bis Wesley wieder da ist. Nachdem einige Minuten verstrichen sind und er immer noch nicht zurück ist, wird ihr klar, dass sie nachsehen muss, wohin er gegangen ist.
Langsam stellt sie ihre Füße auf den Boden und zuckt zusammen, als der Schmerz vom Knöchel ihres linken Beins bis ins Knie hochjagt. Sie hinkt zur Tür. Der Flur liegt finster da – schon als Kind hat sie sich vor den dunklen Ecken und knarzenden Dielen gefürchtet. Das Schlafzimmer ihrer Mutter liegt am anderen Ende des Gangs, und dazwischen befinden sich zwei weitere Räume: ein Bad und ein ungenutztes Gästezimmer, das als Rumpelkammer dient. Die Badtür steht einen Spaltbreit offen, und sie kann sehen, dass Wesley sich nicht darin befindet. Ist er nach unten gegangen? Vielleicht konnte er nicht schlafen … Aber selbst wenn, würde er nicht einfach so allein im Haus herumspazieren – schließlich ist es nicht sein Heim. So respektvoll ist Wesley nun mal. Weshalb ihre Mutter ihn auch so liebt. Womöglich – so mutmaßt sie zuweilen – sogar mehr, als Olivia es tut.
Ängstlich mustert sie die Treppe. Die ersten neun Monate nach der Entlassung aus dem Krankenhaus hatte sie im Esszimmer geschlafen. Aber jetzt, nach Jahren der Physiotherapie und zig Operationen, kann sie die meiste Zeit ein normales Leben führen. Zumindest körperlich und mithilfe von Schmerzmitteln. Doch gerade nach so anstrengenden Tagen wie heute können Treppen ihr Knie nach wie vor stark in Mitleidenschaft ziehen. Sie hat sich daran gewöhnt, mit den chronischen Schmerzen zu leben. Und ja, der Unfall hat ihre Muskeln und Nerven geschädigt, aber der emotionale Schmerz war schwerer zu bewältigen.
Das Überlebensschuld-Syndrom, so hatte es ihr Therapeut genannt. Sie hatte nur fünf Sitzungen durchgehalten, als er anfing, zu sehr in die Tiefe zu gehen, und sie die Therapie abbrechen musste.
Sie lauscht in die Dunkelheit hinab. Es klingt nicht, als ob Wesley da wäre. Er muss nach Hause gefahren sein. Aber warum? Warum sollte er sie mitten in der Nacht allein lassen, um in seine deprimierende Ein-Zimmer-Bude über dem Madame Tovey’s zurückzukehren, und das ohne sie zu wecken, um sich zu verabschieden? Das hat er bisher noch nie getan. Sie ruft sich ihr Gespräch von vorhin in Erinnerung. Sie haben sich fast eine Stunde lang leise im Bett unterhalten, um ihre Mutter nicht zu wecken. Hat sie ihn irgendwie gekränkt? Hat er wieder eine seiner Launen? Aus Erfahrung weiß sie, dass diese Phasen bis zu einer Woche dauern können. Allerdings machte er keinen gereizten oder genervten Eindruck, und sie ist in seinen Armen eingeschlafen.
Sie macht kehrt und geht in ihr Zimmer zurück, wo sie sich vorsichtig auf der Bettkante niederlässt. Wesley ist so eine Naturgewalt, hat sich so gut im Griff. Zum Zeitpunkt des Unfalls waren sie gerade mal etwas mehr als einen Monat zusammen gewesen, und danach hat sie sich dankbar in seine Obhut begeben, voller Staunen, dass dieser wundervolle Mann immer noch Interesse an ihr hatte. Ja, sich um sie kümmern wollte. Schon an der Schule hatte sie jahrelang für ihn geschwärmt, diesen Jungen mit seinem dichten dunklen Haarschopf, den unfassbar blauen Augen und dem selbstbewussten Auftreten. Sie hatte ihn damals regelrecht auf ein Podest gestellt, aber er hatte kein Interesse an ihr gezeigt. Erst nach der Schule und nachdem die ganze Geschichte mit Sally endlich vorbei war, richtete sich seine Aufmerksamkeit auf sie. Jetzt, da er älter geworden ist, denkt sie des Öfteren, dass sein Selbstbewusstsein etwas Aufdringliches an sich hat, die Art von Gebaren, das ihr zuweilen unangenehm ist. Aber damals war er der quirlige Typ, witzig und beliebt in der Schule, stets von einer großen Gruppe von Leuten umgeben, von denen etliche immer noch seine Freunde sind. Er war eine Klasse über ihr und wusste nicht mal, dass sie existierte. Es war Sally gewesen, die ihm als Erstes aufgefallen war. Sally mit ihren großen Rehaugen, der makellosen Haut und dem langen, wallenden schokoladenbraunen Haar, das sich bei Regen nie kräuselte, so wie bei ihr. Sally … Olivia kneift die Augen zusammen und versucht, die Erinnerung an ihre beste Freundin zu verdrängen. Sie darf jetzt nicht an Sally denken. Auch nicht an den Wesley aus Teenagertagen oder sonst was aus der Zeit. Selbst nach all den Jahren ist es viel zu schmerzhaft.
Stattdessen richtet sie ihre Gedanken wieder auf ihr Gespräch mit Wesley. Darauf, wie er insistiert hat, dass sie sich nicht mit dieser Journalistin, wer auch immer sie sei, unterhalten dürfe. Nicht, dass er sie hätte überzeugen müssen. Merkwürdig war jedoch, warum er bei der Vorstellung, dass sie es tun könnte, so in Panik zu geraten schien. Er hat immer gesagt, er würde sich allein aus Respekt vor ihr niemals interviewen lassen; doch sein Verhalten heute Abend, die Verzweiflung, die von ihm ausging, haben in ihr die Frage aufgeworfen, ob sie vielleicht nicht die Einzige ist, die etwas zu verbergen hat.
Stace hasste die Hitze. Sie hasste, wie klebrig sich alles anfühlte, wie T-Shirt und Shorts an ihrem Körper pappten, wie flau ihr im Magen wurde, als hätte sie etwas Schlechtes gegessen. Kaum dass sie das Flugzeug verließen, schlug ihr die feuchte Wärme entgegen wie eine Wand, sodass sie das Gefühl hatte, keine Luft in ihre Lunge zu bekommen. Die anderen waren aufgedreht und quasselten die gesamte Fahrt vom Flughafen zur Villa, ihre Gesichter schweißnass. Unter den Achseln von Maggies gelbem T-Shirt zeichneten sich dunkle Flecken ab, und Trevor hatte auf seinen Lockenkopf keck einen Strohhut aufgesetzt, mit dem er sich in England nie im Leben sehen lassen würde. Martins ultrablasse, dünne Beine ragten unter Kaki-Shorts hervor – Beine, die sie seit der Schulzeit nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Sie konnte sich nicht dazu durchringen, sich an dem gutmütigen Geplänkel mit dem Fahrer ihres Minivans zu beteiligen. Ihr war jetzt schon klar, dass sie sich niemals zu dem hier hätte breitschlagen lassen sollen. Aber John-Paul hatte sie überredet.
»Das können wir uns nicht leisten«, hatte sie gesagt und gehofft, dass das Thema damit vom Tisch wäre, als er es zum ersten Mal ansprach. Sie waren schlicht pleite, so sah es aus. Urlaub an exotischen, weit entfernten Orten war etwas für andere Leute, nicht für sie. Und das war auch vollkommen in Ordnung. Sie war zufrieden mit ihrem bescheidenen Leben, ihrem wöchentlichen Ausflug in den örtlichen Pub, der gelegentlichen Lieferpizza vor dem Fernseher und ihrer winzigen Mietwohnung über dem Waschsalon mit dem feuchten Fleck in Form eines Schmetterlings an der Decke über ihrem Bett.
Aber John-Paul war nicht wie sie. John-Paul war anders. Das war ihr bereits klar gewesen, als sie ihn vor achtzehn Monaten das erste Mal traf. Er war ein Zugezogener – ein Fremder, ein Außenseiter –, aber genau das hatte ihn so anziehend gemacht. Er hatte was Exotisches an sich, dank seiner spanischen Mutter, der katholischen Erziehung und seiner Reiselust. Er hatte sich per Zufall in ihr Leben verirrt, war im Grunde »wie ein Steppenläufer durch die Stadt geweht worden«, wie er es bei ihrem Kennenlernen ausdrückte. Und genau das, das Poetische daran, hatte ihr gefallen. Er war so ein Mensch, der immer in Gleichnissen und Analogien sprach, und das mit seiner gefühlvollen Stimme und dem leichten spanischen Akzent. Ein Wanderer, hatte er gesagt, doch dann hatten sie sich ineinander verliebt, und sie hatte ihn überzeugt zu bleiben, und mit der Zeit hatte er aufgehört, sich poetisch auszudrücken oder von seinen schriftstellerischen Ambitionen zu erzählen; stattdessen tauschte er seine Batik-T-Shirts gegen eine Rolle als IT-Angestellter ein. Und doch konnte sie es manchmal noch in ihm sehen, diese Wildheit in seinen Augen, wie ein wunderschönes eingesperrtes Tier, das sich verzweifelt wünscht auszubrechen.
Als er ihr also erzählte, sein Kumpel Derreck sei nach Thailand gezogen und habe dort einen Superjob ergattert und sie eingeladen, sie in seiner Villa mit fünf Schlafzimmern und Blick auf den Fluss zu besuchen, da hatte er so sehnsüchtig und hoffnungsvoll gewirkt, dass es ihr wie ein fairer Kompromiss erschien. »Wir müssen nur das Geld für die Flüge auftreiben, das ist alles«, hatte er im selben flehenden Tonfall gesagt, während seine warmen Hände die ihren hielten. »Ich habe ein bisschen gespart. Stell dir vor, wie romantisch das wird. Du wirst Thailand lieben. Es ist eines der atemberaubendsten Länder überhaupt. Bangkok ist mit nichts zu vergleichen, wo du jemals warst.« Was sie gerne einräumte, da sie praktisch nirgends gewesen war. Und so hatte sie nachgegeben, verführt von seinen Geschichten von Südostasien. Sie würde mit ihm gehen, hatte sie beschlossen. Das könnte sein Fernweh lindern und sie einander näherbringen. Denn während der vergangenen sechs Wochen, seit John-Paul seinen Job verloren hatte, hatte ihre Beziehung stark gelitten.
»Und außerdem hat Derreck noch gefragt, ob wir ein paar Kumpels mitbringen wollen«, hatte er gesagt, wobei seine dunkelbraunen Augen aufleuchteten. Ihr war sofort klar, von welchen Kumpels die Rede war. Ihre Clique, die nach und nach auch zu seiner Clique geworden war. Die Jungs, wie er sie nannte, bestanden aus Griff, Trevor und Martin. Und ihre besseren Hälften waren Leonie, Hannah und Maggie. Sie war mit den Mädels und Martin zur Schule gegangen, kannte sie schon ewig. Sie waren wie eine Familie.
Natürlich waren sie ganz aus dem Häuschen gewesen: Schließlich war es für sie die Chance, ihren öden Jobs, dem grauen englischen Januarhimmel und dem unaufhörlichen Regen zu entkommen. Sie konnten ihre Koffer gar nicht schnell genug packen. Und so waren sie jetzt hier, im »Urlaub ihres Lebens«, wie Leonie und Hannah es immer wieder nannten, wobei sie sich beieinander unterhakten und Stace daran erinnerten, wie sie mit vierzehn an der Schule gewesen waren.
Es gab so viele Eindrücke, die Stace während der Fahrt zur Villa zu verarbeiten hatte, und die Hitze war nur einer davon. Die Gerüche – eine Mischung aus Fisch, Autoabgasen und etwas Süßlichem –, der Lärm der Tuk-Tuks, Motorräder und Autos, die an ihrem Minivan vorbeirasten; die Sehenswürdigkeiten, die Sonne, die durch einen diesigen blauen Himmel hindurchschien, und die mehrspurigen Autobahnen; dann die kleineren von Marktständen gesäumten Straßen und spärlich bekleideten Männer, die Elefanten über die Bürgersteige führten. Es war völlig anders als jeder Ort, an dem sie bisher gewesen war, und sie hatte Angst. Maggie drückte ihre Nase gegen die Scheibe und rief immer wieder verwundert aus: »Da ist ja ein echter Elefant auf der Straße!«, oder: »Sind das buddhistische Mönche?«
Als sie schließlich vor einem umzäunten Komplex hielten, war Stace von der Fahrt übel geworden. John-Paul sah aus, als würde es ihm ähnlich gehen. Seine Begeisterung hatte, noch bevor sie Großbritannien verließen, zu schwinden begonnen. Einmal hatte er sie gefragt, ob sie vielleicht einen Fehler machten. Aber ihre Freunde hatten sich so darauf gefreut, dass Stace sie auf keinen Fall hängen lassen konnte.
»Wow«, staunte Martin, der ehrfürchtig in der gepflasterten Einfahrt stand, den einen Arm um Maggies schmale Schultern geschlungen, während er sich mit der anderen Hand durch das rotblonde stoppelige Haar fuhr. Trevor hatte seinen Hut abgenommen, um seinem hageren Gesicht damit Luft zuzufächeln.
Hannah hüpfte aufgeregt auf und ab und klatschte dabei in die Hände. »Krass! Hier wohnen wir? Das ist der Hammer!!« Sie sprach oft in Ausrufezeichen.
Sogar Stace, der heiß und übel war, konnte nicht anders als beeindruckt sein von dem Anblick, der sich ihnen bot.
Vor ihnen standen drei identische blitzend weiße Villen, die mit ihren prachtvollen Säulen an drei Hochzeitstorten erinnerten. Stace hatte noch nie etwas so Schönes gesehen, weshalb sich in jenem Moment ein freudiges Kribbeln in ihrem Bauch bemerkbar machte. Vielleicht würde es ja doch nicht so schlimm werden.
»Wow«, wiederholte Martin mit offenem Mund. »Nicht zu fassen, dass wir hier unterkommen.«
»Wie kann sich dein Freund so etwas leisten?«, hauchte Maggie, die ihr dunkles Haar zu einem stylishen zerzausten Dutt aufgetürmt hatte. Maggie war schon immer die Glamouröse von ihnen gewesen. Deswegen war es auch für alle ein Schock gewesen, als sie sich in den blassen, schlaksigen Martin verliebte.
»Ich wette, er ist ein Krimineller«, flüsterte Griff hörbar. Er riss ständig Witze, aber als er das sagte, verspürte Stace einen kurzen Anflug von Panik. Sie hatten keine Ahnung, wer dieser Derreck war. John-Paul hatte sich nur vage zu ihm geäußert und gemeint, dass er ihn bei einer seiner Reisen kennengelernt habe, sie in Kontakt geblieben seien und dass er ein bisschen ein »caballerete« sei – was auch immer das bedeuten mochte. Aber bis zu der Einladung hatte John-Paul ihn kaum je erwähnt.
Plötzlich öffnete sich die Tür der mittleren Villa, und sie blieben wie angewurzelt stehen. Ein großer, schlanker Typ mit goldblondem Haar stand auf der Schwelle, einen cremefarbenen Fedora-Hut auf dem Kopf, ganz so, als würde er sich für Robert Redford in Der große Gatsby halten. Hinter ihm erstreckte sich ein riesiger Eingangsbereich aus poliertem Holz. Er trug ein Hemd mit offenem Kragen, bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, sodass man die gebräunten muskulösen Arme sah. Es herrschte kollektives Schweigen, während sie die Adonis-Gestalt auf sich wirken ließen, und Stace entging nicht, wie Martins sommersprossige Hand sich fester um Maggies schloss.
»Willkommen in den Chao Phraya Riverside Villas«, begrüßte er sie mit einer schwungvollen Armbewegung, als wäre er Schauspieler in einem Shakespeare-Stück. Und derart eingerahmt, zwischen den weißen Säulen im römischen Stil, vor dieser Hochzeitstortenvilla, hätte er das auch sein können. »Ich bin Derreck.«
Sprachmemo: Dienstag, 27. November 2018
Nachdem gestern Nacht jemand vor meiner Hütte herumgeschlichen ist, habe ich kaum ein Auge zugemacht. Womöglich habe ich zu viel Zeit damit verbracht, über all die seltsamen Dinge zu lesen, die hier passiert sind, und mir das Ganze nur eingebildet. Dieser Ort ist in jedem Fall unheimlich – das gedämpfte Licht, das durch die Bäume fällt, die abgeschiedene Lage der Hütten, die nervenzehrende Stille, die gestern Nacht nur von einigen markerschütternden Schreien unterbrochen wurde, wobei es sich wohl um Füchse gehandelt haben muss. Die rationale Seite in mir sagt, dass hinter alledem die Natur da draußen steckt, aber ein anderer Teil von mir fragt sich, ob an den Legenden nicht doch etwas Wahres dran sein könnte. Ich habe gelesen, dass im Jahr 2012 zwei Männer den ganzen Tag damit zubrachten, nach einem Baby zu suchen, das sie im Feld mit den Megalithen hatten weinen hören; doch obwohl sie alles durchforsteten, konnten sie nie die Quelle dieses Weinens ausmachen. Abgesehen davon gibt es zahlreiche Berichte über die Sichtung einer vermummten Gestalt entlang des Devil’s Corridor. Es ist schwer zu sagen, was Überlieferung und was Realität ist. Aber steckt nicht in jedem Mythos ein Funken Wahrheit?
Ich wache um sechs Uhr auf, aber meine Erleichterung, die Nacht ohne weitere Unterbrechungen überstanden zu haben, währt nur kurz, als ich bemerke, dass es draußen noch dunkel ist. Ich stehe trotzdem auf und setze mich mit einem Becher Tee an den Küchentisch. Ich habe noch ein paar Stunden bis zu meinem Termin mit Brenda.
Meine Augen waren gestern Abend so müde, dass ich mich kaum noch auf die Informationen konzentrieren konnte, die ich vor meiner Ankunft hier zusammengetragen hatte. Ich krame einen alten Zeitungsausschnitt mit einem Foto der vier Mädchen hervor: Katie, Olivia, Sally und Tamzin sitzen im Biergarten eines Pubs zusammen um einen Tisch; es scheint ein warmer Sommerabend in der Dämmerung, und sie sehen so jung aus in ihren typischen Neunziger-Jahre-Outfits.
Olivia ist hübsch mit dem gesträhnten blonden Rachel-Haarschnitt. Sally neben ihr trägt ein Samthalsband zu einem bauchfreien Top. Es ist nicht zu übersehen, dass es sich bei Sally um eine richtige Schönheit handelt – dunkles Haar, so seidig glänzend, dass es beinahe schwarz wirkt, große Mandelaugen, ebenmäßiger Teint. Tamzin ist auf die typisch blondierte Weise attraktiv, während Katie mit dem hellbraunen Bob und den Sommersprossen eher der niedliche Typ ist. Ich lege das Foto beiseite und greife mir den nächsten Zeitungsausschnitt mit der Überschrift: DORFSPINNER VERHAFTET. Ich schüttle den Kopf angesichts der wenig sensiblen Schlagzeile und bin doch froh, dass sich seit damals einige Dinge geändert haben. Über dem Artikel prangt das körnige Foto eines ungepflegten, bärtigen Mannes, der den Kopf gesenkt hält. Sofort springt mir der Name Ralph Middleton ins Auge. Irgendetwas an ihm kommt mir bekannt vor … und ich realisiere mit einem Schreck, dass er stark dem Typen ähnelt, der mich gestern auf dem Devil’s Corridor angesprochen hat.
Dem Artikel zufolge war er derjenige, der Olivia in der Nacht des Unfalls eingeklemmt in ihrem Auto fand und die Polizei rief. Dem Text ist nicht viel zu entnehmen, nur dass er allein mit einem ganzen Zoo an Tieren lebte und unter den Einheimischen als »Sonderling« galt. Ich werde ihn für den Podcast interviewen müssen, spüre aber bei der Vorstellung, allein mit ihm zu sein, ein großes Unbehagen in mir.
Um halb acht rufe ich Finn über FaceTime an. Mir ist klar, dass Gavin mich vermutlich für einen Kontrollfreak hält, und er hat mir mehr als nur einmal gesagt, dass er ganz gut allein mit Finn zurechtkommt – vielen Dank auch. Seinen »Ich bin durchaus in der Lage, immerhin leite ich ein multinationales Finanzunternehmen«-Vortrag bekomme ich oft zu hören. Aber es geht mir eben nicht nur darum, Finn daran zu erinnern, sein Pausenbrot einzupacken und sich die Zähne zu putzen – ich vermisse ihn und möchte, dass er in die Schule geht in dem Wissen, dass ich an ihn denke.
Finn geht mit einem Gähnen ran. Sein entzückendes sandblondes Haar ist verstrubbelt, der Haarwirbel (den er von Gavin hat) steht wirr ab, und er steckt immer noch in seinem Lieblings-Minecraft-Pyjama. Ich sehne mich danach, ihn in meine Arme zu schließen, meine Nase an seinem Hals zu vergraben und seinen vertrauten Keksduft in mich einzuatmen.
»Guten Morgen, mein Hübscher«, begrüße ich ihn, woraufhin er ächzend eine Grimasse schneidet, wobei ich allerdings das Funkeln in seinen grünen Augen sehen kann.
»Hast du gut geschlafen?«