VERGESSEN - Nur du kennst das Geheimnis - Claire Douglas - E-Book
SONDERANGEBOT

VERGESSEN - Nur du kennst das Geheimnis E-Book

Claire Douglas

0,0
10,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Bestsellerautorin Claire Douglas hält ihre Leserinnen bis zur letzten Minute in Atem. Toxische Freundschaften und ein atmosphärisches Setting garantieren spannende Unterhaltung.

Sie hat dein Leben schon einmal zerstört ...


Kirsty und Selena waren einst beste Freundinnen. Bis zu jenem Tag, der alles veränderte. Jahre später eröffnet Kirsty eine Pension in ihrer Heimatstadt in Wales. Und ausgerechnet ihr erster Gast ist der Mensch, den sie nie wieder sehen wollte: Selena. Was will sie von Kirsty? Und warum werden plötzlich verwelkte Blumen vor der Pension niedergelegt? Noch bevor sie Selena zur Rede stellen kann, wird diese ermordet. Und Kirsty weiß, dass die Wahrheit von damals nun endlich ans Licht kommen muss ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 500

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Claire Douglas

Vergessen

Nur du kennst das Geheimnis

Aus dem Englischen von Ivana Marinovic

Die Englische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Do Not Disturbbei Michael Joseph, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten,

so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung,

da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich

auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen

von Penguin Books Limited und werden

hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 2019 by Claire Douglas

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by Penguin Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Cover: buerosued

Covermotiv: Mauritius Images / Alamy RF / RooM the Agency;

Mauritius Images / Carolyn Jenkins / Alamy; Arcangel /

Miguel Sobreira; Getty Images / Peter Lourenco;

Redaktion: Christine Neumann

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad-Aibling

ISBN 978-3-641-25032-4V005

www.penguin-verlag.de

»Oh! Welch wirres Netz wir weben, wenn nach List und Trug wir streben.«

Sir Walter Scott

Mittwoch, 25. Oktober 2017

Ich werde von einem gellenden Schrei geweckt. Den Mädchen ist etwas zugestoßen! Mit rasendem Herzen fahre ich hoch. Nichts regt sich. Stille. Habe ich das nur geträumt? Mein Blick huscht zu Adrians Seite des Betts. Sie ist leer, das Laken zerknittert und klamm, die Decke zurückgeworfen, als ob er es überstürzt verlassen hätte. Wo ist er? Mein Wecker zeigt 5.37 Uhr, und durch einen Vorhangspalt kann ich den Himmel sehen, der allmählich ein mattes Grau annimmt, während die Bergspitzen im frühmorgendlichen Dunst verschwinden.

Ich taste nach meinem Bademantel, der über dem Fußende des Betts liegt. Während ich auf den Flur eile, schlüpfe ich hinein. Die Tür zum gegenüberliegenden Zimmer der Mädchen ist geschlossen. Ich will gerade darauf zugehen, als der Schrei erneut ertönt.

Dieses Mal gibt es keinen Zweifel. Der Schrei kommt von meiner Mutter.

Ich haste den ersten Treppenlauf hinab, wobei ich versuche, die aufsteigende Panik in mir zu unterdrücken. Meine Mutter ist keine Frau, die grundlos schreit. Ich denke unwillkürlich an die Gäste, die behaglich in ihren Zimmern liegen. Mir ist klar, dass Mum sie ebenfalls geweckt haben muss, und mich beschleicht sofort die Sorge, dass sie sich gestört fühlen, während mir gleichzeitig bewusst wird, wie lächerlich meine Bedenken sind.

Als ich das obere Ende der zweiten Treppe erreiche, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Ich blinzle in der Hoffnung, dass meine Augen mir einen Streich spielen, doch das Bild bleibt unverändert. Der Flur ist in Dunkelheit getaucht, aber es sieht aus, als würde Mum über einer Leiche kauern – die leblosen Gliedmaßen auf den restaurierten viktorianischen Fliesen von sich gestreckt. Ich kann den hellen Schimmer einer bleichen Wade, eines schmalen Handgelenks ausmachen. Ich höre Mum stöhnen.

Das sieht nicht aus wie ein Kind. Die Beine sind zu lang. Keines der Mädchen. Gott sei Dank.

»Mum?«

Beim Klang meiner Stimme schnellt ihr Kopf empor, die Augen weit aufgerissen vor Entsetzen und noch etwas anderem … Furcht. Sie hebt die Hände wie zum Gebet. Sie sind mit Blut bedeckt.

ERSTER TEIL Davor

1 August 2017 – zwei Monate zuvor

Die Mädchen hinten im Auto sind ungewöhnlich ruhig. Im Rückspiegel kann ich sehen, wie sie durch die Windschutzscheibe schauen, während sich draußen die Landschaft allmählich vor ihnen entfaltet – die zugebauten Vorstädte mit ihren graffitibeschmierten Hochhäusern und dem Wirrwarr aus Straßen in sanfte Hügel übergehen und sich in Täler und Berge verwandeln. Amelia blickt finster drein, als hege sie Mordgelüste mir und ihrem Vater gegenüber, dafür, dass wir es gewagt haben, sie von ihren Freunden zu trennen. Evie dagegen wirkt heiter, geradezu aufgeräumt, aufmerksam registriert sie die englisch-walisischen Straßenschilder. Meine Sechsjährige hatte schon immer eine lebhafte Fantasie. Sie wird das Ganze hier als Abenteuer betrachten, versuchen, das Magische darin aufzuspüren. Sie glaubt an Feen, den Weihnachtsmann und den Osterhasen. Sie sieht Tiergestalten in den Wolken, vierblättrige Kleeblätter dort, wo keine sind, ein Gesicht im Mond.

Amelia, fünf Jahre älter, ist da schon skeptischer. Ihre Sensibilität äußert sich auf andere Weise. Sobald man einen Raum betreten hat, spürt sie, in welcher Stimmung man sich befindet, und sie wird sich dementsprechend verhalten. Zumindest war es früher so. Jetzt, da die Hormonschübe eingesetzt haben, ist das seltener der Fall. Sie ist nicht mehr so erpicht darauf, es allen recht zu machen. Adrian und ich haben zwar versucht zu verbergen, wie sehr uns die letzten achtzehn Monate zugesetzt haben, doch sie hat einen schärferen Blick als Evie. Der Stress, unter dem wir standen, wird ihr nicht entgangen sein. Trotzdem kann sie nicht wirklich verstehen, warum wir beschlossen haben, London den Rücken zu kehren. Und in den vergangenen Wochen gab es durchaus Momente, in denen es mir genauso ging.

Wir hatten nicht vor, nach Wales zurückzuziehen. Jedenfalls nicht jetzt. Ein Gästehaus in den Brecon Beacons zu kaufen, war ein lang gehegtes, fernes Ziel von mir gewesen. Ein Tagtraum, dem ich nachhängen konnte, während ich mich in meinem perspektivlosen Job im Marketingbereich abrackerte oder im Mutterschaftsurlaub befand, umgeben von Windelbergen und Feuchttüchern. Mit den Brecons verband ich nur die besten Erinnerungen: an Picknicks im Vorgebirge und Familienausflüge, bei denen sich mein Bruder Nathan und ich im Auto kabbelten, während mein Vater uns gutmütig zurechtwies. An selbst gemachte Eiersandwiches und Schwarztee mit Milch aus dem Flachmann. An Frisbees. An diese herrlichen Hügel und Berge, die sich endlos dahinzuziehen schienen. Als Kind erinnerten sie mich immer an die Zeichnungen in den Wimmelbüchern – sie waren so perfekt. Es schienen Welten zwischen dieser Landschaft und Cardiff zu liegen, wo wir damals lebten.

Nach Wales zu ziehen und ein Gästehaus zu eröffnen, war ein Plan für die ferne Zukunft gewesen. Wenn beide Mädchen an der Uni und wir Ende vierzig oder Anfang fünfzig wären und genug hätten von unserem beengten Reihenhäuschen und dem hektischen Großstadtleben. Doch dann, plötzlich, wurde die Vorstellung von frischer Luft und Frieden verlockender, ja, dringlicher. Ein gemächlicherer Lebensrhythmus, ein ruhiges Fleckchen für Adrian zum Schreiben – was er schon immer hatte tun wollen – und ein sicheres Zuhause für die Mädchen, weitab der Zerstreuungen und Versuchungen Londons.

In der Ferne sehe ich unter der Wolkendecke den glitzernden Sonnenschein, der uns willkommen heißt. Ich greife nach Adrians Hand und drücke sie. Er erwidert die Geste, und ich werfe kurz einen Blick in seine Richtung. Er sieht glücklich und entspannt aus. Er hat sich einen Bart stehen lassen, auch sein Haar ist jetzt länger und streift den Kragen seines blauen Poloshirts. Von seiner geschäftigen Großstadtpersönlichkeit ist nichts mehr übrig. In dem Moment, als er seinen Job an den Nagel hängte, entledigte er sich auch seiner schicken Anzüge und seines glatt rasierten Äußeren. Aber das sind bei Weitem nicht alle Veränderungen. Der alte Adrian würde jetzt versuchen, Amelia Begeisterung zu entlocken. Er würde am Radio herumfummeln, bei Absolute 90s mitsingen oder mit Evie »Ich sehe was, was du nicht siehst« spielen und die Augen verdrehen, wenn sie so tat, als würde sie ein Einhorn oder eine Elfe sehen. Stattdessen blickt er starr auf die Straße vor uns, und das Radio bleibt aus. Er ist auf seine ganz eigene Weise ruhig und zufrieden. Nur eben … anders.

Doch wenigstens ist er da.

Ich möchte, dass er mir versichert, dass wir mit dem Umzug die richtige Entscheidung getroffen haben. Dass Amelia mich nicht bis in alle Ewigkeit hassen wird. Dass alles sich zum Besten fügen wird.

Ein flaues Gefühl macht sich in meiner Magengrube breit. In all meinen Fantasien darüber, ein eigenes Geschäft an meinem Lieblingsort aufzubauen, hätte ich mir nie im Leben vorstellen können, dass ich es gemeinsam mit meiner Mutter würde tun müssen.

»Kirsty?« Adrians Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. »Wann soll eigentlich Carol eintreffen?« Es ist, als habe er in meinen Kopf hineingeschaut. Früher – vor der Sache – haben wir oft darüber gescherzt. Darüber, dass wir immer zu wissen schienen, was den anderen gerade beschäftigte.

»Ähm, nächsten Monat, glaube ich.« Ich schalte einen Gang runter, als wir in den Nationalpark einbiegen, und der SUV rumpelt über das im Boden eingelassene Viehgitter. Ich bemerke, wie Evie sich gleich aufrechter hinsetzt, und ich weiß, dass sie hofft, Grüppchen von Ponys am Straßenrand zu sehen, so wie bei unserem letzten Besuch.

»Nächsten Monat?«, wiederholt er ungläubig.

»Sie meinte irgend so was, dass sie abwarten wolle, bis das Haus wohnlicher ist.«

»Also bis die Renovierungsarbeiten abgeschlossen sind.« Er lacht, um seinen Worten die Schärfe zu nehmen.

»Sie hat mit meinem Vater zig Häuser renoviert, bevor er starb.«

»Ja. Vor über zwanzig Jahren.«

»Ihr handwerkliches Können ist um einiges besser als meines.« Es wurmt mich, dass er sie einfach so schlechtmacht. Ich darf über sie sagen, was ich will – er nicht. Trotz all ihrer Fehler gehört meine Mutter zu den fähigsten, praktischsten Menschen, die ich kenne.

»Super. Worauf wartet sie dann?« Er lacht wieder. »Sag ihr, dass sie herkommen soll, und zwar fix! Wir werden alle Hilfe brauchen, die wir kriegen können.«

Hat sie nicht schon genug getan?, möchte ich fragen, aber ich verkneife es mir. Ich gebe mir Mühe, keinen Groll zu hegen, weil wir gezwungen waren, unsere Ersparnisse anzugreifen, nachdem Adrian seinen Job aufgegeben hatte. Es war nicht seine Schuld. Außerdem war es ein netter Zug von Mum, sich uns anzuschließen. Nur mit ihrem Geld konnten wir das Haus kaufen und den Kredit für die Sanierungsarbeiten stemmen. Eine Geschäftsbeziehung mit ihr einzugehen, wäre zwar nicht meine erste Wahl gewesen, aber nun, da wir es getan haben, müssen wir auch dafür sorgen, dass es läuft.

Das Alte Pfarrhaus haben wir zum ersten Mal vor sechs Monaten gesehen.

Wir hatten einen Familienurlaub in Brecon verbracht und waren durch diese Berge gefahren, die ich schon als Kind so bewundert hatte. Adrian saß zusammengesunken auf dem Beifahrersitz, immer noch traumatisiert von all dem, was passiert war, als wäre er ein Kriegsveteran oder Überlebender einer Katastrophe. Wir waren im Umgang miteinander äußerst behutsam, wie Liebende, die viele Jahre voneinander getrennt gewesen waren und sich erst wieder kennenlernen mussten. Der Nebel war dicht wie Trockeneis, er schmiegte sich sanft an die Hügel und legte sich um die Berge in der Ferne. Das Land, durch das sich die Straße im Zickzackkurs zog, breitete sich in einer Fülle unterschiedlicher Grüntöne vor uns aus. Weit und breit gab es keine Menschenseele.

Und dann, als wir den Rand eines kleinen Dorfes namens Hywelphilly erreichten, sahen wir es: ein frei stehendes, viktorianisches Haus mit symmetrischer Fassade, beinahe gotisch anmutend mit seinen spitzen Giebeln und den üppig verzierten Bogenfenstern. Ein Stück von der Straße zurückversetzt, gleich neben einer schönen alten Kirche gelegen und eingerahmt von den Bergen in der Ferne, hatte es ein Zu verkaufen-Schild in der Einfahrt stehen. Die Ziegel fielen bereits vom Dach, die Farbe blätterte ab, und einige der Fenster waren mit Brettern vernagelt, doch selbst da schon konnte ich seine Schönheit erkennen. Mit ein bisschen liebevoller Zuwendung, so dachte ich, ließe sich etwas Herrliches daraus machen.

Um besser sehen zu können, parkte ich auf dem Bürgersteig, wobei ich das rostige Eisentor versperrte. Durch die Risse im Asphalt spross Unkraut, und eines der Fenster wurde beinahe vollständig von einer gewaltigen Eiche verdeckt. Adrian musste in eine ähnliche Richtung gedacht haben, denn als er sich zu mir umdrehte, strahlten seine Augen. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wirkte er begeistert.

Wir vereinbarten einen Besichtigungstermin für den nächsten Tag, und als wir dem Immobilienmakler zu viert durch das bröckelnde Gemäuer des vernachlässigten Hauses folgten, knisterte die Luft zwischen uns vor Spannung.

»Es ist ein bisschen gruselig«, befand Evie, als wir auf dem verschlissenen Teppich im Flur stehen blieben. Sie starrte zur Decke empor, als erwarte sie jeden Moment, dass ein Geist vom Dachboden herabsteigen könnte.

»Außerdem riecht es komisch«, fügte Amelia hinzu.

Doch ich war überzeugt, dass es genau das war, was wir brauchten. Ein Projekt. Ein Richtungswechsel für Adrian. Eine Ablenkung. Für uns alle.

Jetzt stehen wir in der Einfahrt und blicken zum Haus empor, während mir eine entsetzliche Erkenntnis dämmert: Es wird wesentlich mehr Arbeit benötigen, als ich in Erinnerung hatte. Nicht zum ersten Mal droht die Last dessen, was wir uns vorgenommen haben, mich zu erdrücken.

»Und wir sollen ernsthaft da drin wohnen?«, fragt Amelia naserümpfend, während sie die Löcher im Dach, die zugenagelten Fenster und den Efeu beäugt, der die Mauern hochwuchert wie ein struppiger Bart. Die Arbeiten auf dem Dach sind bereits im Gange, und ein Gerüst wurde errichtet, auch wenn weit und breit kein Handwerker zu sehen ist.

»Noch nicht«, beruhige ich sie. »Wir werden vorläufig in dem Apartment unterkommen, das wir am anderen Ende des Dorfes gemietet haben. Schon vergessen?«

»Na toll«, brummt sie und verschränkt die Arme vor der mageren Brust. »Den ganzen Sommer eingepfercht in so einer bescheuerten Wohnung.«

»Das wird lustig«, meldet sich Evie. »Wir dürfen uns ein Zimmer teilen.«

»Ja, ich krieg mich gar nicht mehr ein vor Freude«, erwidert Amelia spitz.

Ich beschließe, zumindest heute Nachsicht walten zu lassen und ihre patzigen Sprüche zu ignorieren. Stattdessen schwärme ich von dem großen Garten und erinnere Amelia daran, dass ich dem Kauf eines Trampolins zugestimmt habe – sie lagen mir das ganze letzte Jahr damit in den Ohren, aber auf unserem alten Grundstück hatten wir nicht genug Platz dafür. »Außerdem können wir uns die Kaninchen zulegen, die du dir immer gewünscht hast, Evie«, verspreche ich. Vor Freude springt sie auf und ab.

Adrian schlingt einem Arm um meine Schultern. Obwohl wir August haben, liegt eine kühle Frische in der Luft. Beglückt über die Umarmung, rücke ich näher an ihn heran. Vor der ganzen Misere war Adrian immer sehr zärtlich gewesen. Zu zärtlich sogar, dachte ich insgeheim – wenn auch etwas schuldbewusst. Ständig wollte er meine Hand halten, meinen Hinterkopf berühren oder beim Autofahren mein Knie drücken. Damals war es mir peinlich, wenn er in Anwesenheit unserer Töchter oder Freunde sein Gesicht an meine Halsbeuge schmiegte, während ich kochte. Ich stammte aus einer Familie, in der man Zuneigung nicht offen zeigte – das Äußerste, was ich von meiner Mutter bekam, war ein flüchtiger Kuss auf die Wange. Doch dann hörten die Berührungen auf, und ich begann, sie zu vermissen. Jetzt lege ich meinen Arm um seine Taille und ziehe ihn an mich heran, lehne den Kopf an seine Schulter.

»Ich werde mich nie an den Namen dieses Ortes gewöhnen.« Adrian lacht.

»Welchen? ›Olles Pfarrhaus‹?«, spottet Amelia.

»Sei nicht so. Du weißt ganz genau, was dein Vater meint«, rüffle ich.

»Dämliche walisische Wörter«, murrt Amelia und bohrt die Spitze ihres violetten Superga-Schuhs in den Kies.

»Es ist ganz einfach – Hywelphilly. Ausgesprochen: Hauell-filly«, erkläre ich, wobei ich die Ls rolle und das Gefühl der Sprache in meinem Mund genieße. Als wir uns kennenlernten, war Adrian geradezu verzückt von meinem Akzent. Er bat mich immer wieder, möglichst lange walisische Wörter auszusprechen, und guckte mich ganz ehrfürchtig an, während ich sie mühelos aufsagte. Er versuchte zwar, es nachzumachen, aber aus seinem Mund klangen sie wie kuriose Zungenbrecher.

»Kannst du wirklich Walisisch sprechen, Mummy?« Evie schaut mich aus ihren großen blauen Augen an.

»Aber natürlich.«

»Und werden wir auch Walisisch sprechen lernen?«, fragt sie weiter. »Ich möchte so reden wie du.«

Amelia macht ein Gesicht, als könne sie sich nichts Grauenhafteres vorstellen.

Ich löse mich von Adrian, um Evie zu knuddeln, und drücke einen Kuss auf ihr weiches blondes Haar. In ihrem schrägen Farbenmix gibt sie einen verrückten Anblick ab: eine rote Tunika mit gelben Punkten zu knallrosa Leggings und grünen Froschgummistiefeln. Über ihren Kopf hinweg bemerke ich, wie Amelia zurückweicht, bevor ich sie in eine Gruppenumarmung schließen kann.

»Dann mal los«, verkündet Adrian und kehrt zum Wagen zurück. »Wir sollten die Schlüssel für das Apartment holen.«

Wir folgen ihm, wobei mein Blick auf Amelia gerichtet bleibt, die den Kopf hängen lässt und die Arme um ihren Oberkörper geschlungen hat. Sie zittert leicht in ihrem dünnen Kapuzenpulli. Ich möchte sie packen und ganz fest an mich drücken, ihr versichern, dass alles gut werden wird und dass ich sie liebe. Doch sie steigt ins Auto, bevor ich sie einholen kann. Wenn sie sich erst an ihr Leben hier gewöhnt hat, wird sich auch ihre Laune bessern.

Schweigend fahren wir durch das Dorf, lassen die kunstvoll verzierten Brückenbogen auf uns wirken, die Hügel und Berge der Brecons in der Ferne, die grünen Parks und Schafweiden, die kopfsteingepflasterte Hauptstraße mit ihren Lädchen und dem einzigen Pub im Ort, dem Seven Stars, mit seinem Blick über den Fluss Usk.

Und obwohl ich noch nie hier gelebt habe, fühle ich mich, als wäre ich nach Hause gekommen.

2 Einen Monat zuvor

Meine Mutter taucht an einem Samstag Ende September auf – keine vier Wochen vor der geplanten Eröffnung. Ich erblicke sie durch das Wohnzimmerfenster, als sie gerade aus einem Taxi steigt, elegant wie eh und je in schwarzer Stoffhose und hochhackigen Stiefeln. Sie kleidet sich immer noch so, als wäre sie auf dem Weg ins Büro, obwohl sie schon vor acht Jahren in Rente gegangen ist. Sie hat noch eine gute Figur – stramm und straff, wie mein Dad gesagt hätte –, dazu kastanienbraunes Haar und strahlend blaue Augen, die hin und wieder schelmisch zwinkern, regelmäßig missbilligend schauen und nur zu oft ihre unverhohlene Ablehnung kundtun. Unwillkürlich blicke ich an meiner schlabbrigen Strickjacke und meinem ausgeleierten T-Shirt hinab und klopfe den Staub von meiner ausgebleichten Jeans, der in Wolken vor mir aufsteigt und mir einen Hustenanfall beschert. Wie Mum einmal abschätzig feststellte, kleide ich mich gerne »zu rein bequemlichen Zwecken«.

Ich greife nach meinem Inhalator und nehme ein paar Züge, dann stecke ich ihn wieder in meine Tasche. Ich habe immer einen bei mir, da ich sonst Panik bekomme: Als Jugendliche hatte ein schwerer Asthmaanfall dafür gesorgt, dass ich mehrere Tage im Krankenhaus verbringen musste. Daher bin ich erleichtert, dass ich bei meinen Töchtern bisher noch keinerlei Symptome festgestellt habe.

Ich spüre Adrians tadelnden Blick auf mir, obwohl ich ihn nicht sehen kann. Er ist hinter mir damit beschäftigt, die Wohnzimmertür in einem seidenmatten Weiß zu lackieren. Er hat schon oft genug gesagt, dass ich zu abhängig sei von dem Asthmaspray, dass der übermäßige Gebrauch aufgrund der darin enthaltenen Steroide nicht gut für mich sei.

»Mum ist da«, verkünde ich lautstark, um ihn abzulenken. Ich entferne mich vom Fenster und widerstehe dem Drang, noch schnell mit einem Staubtuch durch das Zimmer zu wischen.

Angesichts Adrians erschrockener Miene möchte ich am liebsten laut lachen. Ich weiß, dass er sich ebenfalls Sorgen macht, dass sie von unseren Fortschritten enttäuscht sein wird. Wir sind nun schon seit über einem Monat in Hywelphilly, aber erst gestern in das Alte Pfarrhaus eingezogen. Dabei haben wir so viel gemacht – Wände eingerissen, um die Zimmer zu vergrößern, Bäder darin eingebaut, das Dach repariert, die geometrischen schwarz-weißen viktorianischen Fliesen restauriert; außerdem haben wir den Dachboden in drei Schlafzimmer und ein Bad für uns aufgeteilt, damit wir von den Gästen getrennt sind. Trotzdem ist noch so viel zu tun, bevor wir die Öffentlichkeit empfangen können: malern, schleifen, wachsen und Möbel besorgen. Allein bei dem Gedanken daran spüre ich meinen Stresspegel steigen.

Die Türklingel schrillt, und mir wird bewusst, dass Adrian und ich uns leicht panisch angestarrt haben. Auf seinen Klamotten, seinem Bart und seiner Wange prangen Farbkleckse. Ich kichere nervös. »Wappne dich schon mal innerlich, Ade.«

»Die böse Hexe des Westens«, greift Adrian scherzhaft den Spitznamen auf, den Nathan und ich, als wir klein waren, Mum gegeben haben, nachdem wir Der Zauberer von Oz gesehen hatten. Er steigt von der Leiter und folgt mir mit dem Pinsel in der Hand in den Flur.

»So haben wir sie doch nur genannt, wenn sie eine ihrer Phasen hatte«, erwidere ich, wobei ich mich sogleich wie eine Verräterin fühle. Schwungvoll reiße ich die Tür auf und sehe sie auf der Treppe stehen, einen Koffer zu ihren Füßen.

»Kirsty. Adrian.« Sie nickt uns nacheinander zu. »Diese Tür muss dringend geschliffen und lackiert werden. So wirkt sie ja nicht gerade einladend, oder? Ich glaube, wir müssen eine neue kaufen.«

Ich schlucke meinen Ärger hinunter. Die Tür ist wunderschön – viktorianisch, mit eingelassenen Buntglasscheiben in Form von rosa Rosen. Ich habe bereits entschieden, dass ich sie in dem satten, dunklen Hick’s-Blau von Little Greene streichen werde. Und es ist völlig ausgeschlossen, dass ich mich davon abbringen lasse. »Dir auch ein herzliches Hallo«, sage ich.

Sie bedenkt mich mit einem ihrer typischen Blicke und tritt wortlos über die Schwelle.

»Wir sind noch nicht dazu gekommen, sie zu streichen. Aber das werden wir bald«, schiebe ich hinterher. »Ich habe auch schon genau die richtige Farbe im Blick.«

»Dann hoffe ich mal, dass sie grün ist«, erwidert sie, sehr zu meinem Missfallen. »Das muss erledigt sein, bevor wir eröffnen. Der erste Eindruck, Kirsty, der erste Eindruck ist entscheidend.« Als ob ich das nicht wüsste! Sie rauscht an mir vorbei und überlässt es Adrian, ihren Koffer zu tragen. Wir wechseln einen Blick über ihren perfekt frisierten Bob hinweg.

»Schön, dich zu sehen, Carol.« Adrian beugt sich vor, um sie auf die Wange zu küssen.

Sie zuckt zusammen. »Also dieses Gestrüpp in deinem Gesicht …« Sie streckt eine Hand empor, um seinen Bart zu berühren. Er ist gut anderthalb Köpfe größer als sie. »Wann verschwindet das wieder?«

Er dreht sich sichtlich amüsiert zu mir und hebt eine Augenbraue. Ich unterdrücke ein Kichern.

Sie betritt den Flur und mustert eingehend die restaurierten Fliesen und die frisch gestrichenen Wände. »Was für eine Farbe ist das?« Sie deutet zur Wand. Auf den Schultern ihres schicken Wollmantels liegt bereits eine feine Staubschicht. Was hat sie sich nur dabei gedacht, den anzuziehen, wo sie doch weiß, dass die Renovierungsarbeiten am Haus voll im Gang sind?

»Französisches Grau. Von Farrow & Ball.«

»Es ist matt.«

»So war es gedacht.«

Sie nickt. Ich glaube, das heißt, dass sie es gut findet.

»Wer hat die Fliesen gemacht?«

»Wir mussten jemanden kommen lassen.«

»War es teuer?«

Ich räuspere mich. »Ähm … nicht allzu sehr«, lüge ich und muss dabei an das kleine Vermögen denken, das wir dem Typen zahlen mussten.

»Und? Bekomme ich jetzt eine Besichtigungstour?«, fragt sie, wobei ich mich gleich wieder unwohl fühle, da dies das erste Mal überhaupt ist, dass sie das Haus betritt, dessen Miteigentümerin sie immerhin ist. Wir hatten ihr damals natürlich angeboten, mit uns zu kommen, aber sie hat sich nur die Infos der Immobilienagentur angesehen und gemeint, das würde ihr reichen. Was zugegebenermaßen ein kleiner Schock war – normalerweise möchte sie alles kontrollieren. Sie sieht so deplatziert aus, wie sie da in unserem Flur steht, als wäre sie unvermutet in einen Nachtklub spaziert. Und nicht zum ersten Mal stelle ich mir vor, wie es wohl gewesen wäre, das hier ohne sie zu tun.

Adrian nimmt seine Malerarbeiten wieder auf, während ich Mum den Flur entlang zu dem einzigen Gästezimmer im Erdgeschoss führe. Wir haben es das Apfelbaum-Zimmer genannt, da man von seinen Fenstern aus einen Blick auf die Apfelbäume im Garten hat. Es ist eines der ersten Schlafzimmer, die wir fertiggestellt haben, und es ist nach wie vor mein Favorit: blassgrüne Wände und französische Fenster, die auf die Terrasse hinausführen. Mum schaut sich um, sagt jedoch nichts. Danach zeige ich ihr das Esszimmer gegenüber. Es geht zum Kirchhof mit seinen jahrhundertealten Grabsteinen hinaus und muss noch gestrichen werden.

»Etwas düster«, bemerkt sie stirnrunzelnd und rückt den Riemen ihrer Handtasche über ihrer Schulter zurecht.

»Es ist ja auch ein dunkler Raum, aber schau.« Ich öffne die inneren Flügeltüren, die wir eingebaut haben, um das Esszimmer von der Küche abzutrennen. »Wenn man die aufzieht, ist es gleich viel heller. Siehst du?«

»Hm, wenn ihr Glasscheiben in die Tür eingelassen hättet, könntet ihr sie geschlossen halten.« Mum spaziert durch die Flügeltüren in die geräumige Küche mit den cremefarbenen Natursteinfliesen, den hellgrauen Schränken im schlichten, puritanischen Landhausstil und den aufklappbaren Terrassentüren, die in den Garten hinausführen.

»Hier darf nur die Familie rein«, erkläre ich, hinter ihr stehend.

»Also kann man die Türen abschließen?«

»Ja. Damit die Küche privat bleibt.«

»Sieht teuer aus«, bemerkt sie. »Diese Arbeitsflächen schauen mir nicht gerade nach Kunststoff aus.«

»Sie sind aus Stein. Das ist strapazierfähiger.«

Sie murmelt etwas vor sich hin, was ich nicht verstehe, und ich spüre einen Anflug von Genervtheit. Sie war ja nicht hier, um uns bei der Entscheidungsfindung zu helfen. Sie war zu der Zeit noch in Cardiff, um ihr Haus zu verkaufen.

Ich führe sie zu einem kleinen Raum, der vom Flur abgeht und direkt neben dem Esszimmer liegt. »Das wird das Spielzimmer für die Mädchen. Ein gutes Stück weg vom Wohnzimmer, damit sie einen Ort nur für sich haben, fernab der Gäste.«

Sie dreht sich zu mir um. »Wo sind die Mädchen überhaupt?«

Ich unterdrücke ein Seufzen. »In der Schule, Mum.« Ich schaue auf meine Uhr. Es ist schon vierzehn Uhr durch, nicht mehr lange und ich muss sie abholen. Einer der größten Vorteile unseres Umzugs hierher ist die kleine Dorfschule, die übersichtliche Klassen hat und bequem zu Fuß zu erreichen ist.

»Und? Gefällt es ihnen da?«, fragt sie, wobei ihr Gesicht erstrahlt wie immer, wenn wir über ihre Enkelinnen reden.

»Ja-haaaa …« Es kommt etwas gepresst heraus, denn die Wahrheit ist: Während Evie es zu genießen scheint, Freundschaften zu schließen und das exotische neue Mädchen aus London zu sein, hasst Amelia es. Sie gehen zwar erst seit dem Beginn des neuen Schuljahrs vor ein paar Wochen hin, doch Amelia jammert in einem fort über die Jungs, die Mädchen, die Lehrer, das Gebäude, den Mistgeruch, die Felder voller »depressiver Schafe« und die miese Einrichtung. Ich versuche, mir nicht jedes Wort zu Herzen zu nehmen, und beschwichtige mich immer wieder, dass es die Eingewöhnungszeit ist.

»Das ist gut«, sagt Mum, auch wenn ihr mein Tonfall durchaus aufgefallen sein wird. Ihr entgeht nichts. Sie zieht den dunkelblauen Wollmantel enger um sich. »Was ist mit der Heizung los? Hier drin ist es ja fürchterlich kalt.«

»In einigen Räumen müssen die Heizkörper noch installiert werden. Aber unsere Schlafzimmer haben schon welche. Und das Wohnzimmer ebenfalls.«

»Schön. Dann zeig mir mal den Rest. Und dann sollten wir uns eine Tasse Tee genehmigen. Ich bin am Verdursten.«

Ich zeige ihr das Wohnzimmer. Wir haben es mit den Ledersofas aus unserem alten Haus eingerichtet und eine alte walisische Holzkommode in einem Antiquitätenladen gefunden, um den Fernseher darauf abzustellen. Außerdem habe ich ein paar flauschige Kissen auf die Sofas verteilt, um etwas Behaglichkeit zu zaubern.

Mum schlendert zum offenen Kamin. »Das gefällt mir.«

»Ja, den wollten wir unbedingt behalten.« Bei der Hausbesichtigung hatte ich mich sofort in den schmiedeeisernen viktorianischen Kamin verliebt.

Ihr Blick fällt auf die gerahmten Fotografien auf dem Kaminsims. Unter ihnen befindet sich auch ein Bild von mir, auf dem ich auf einem braun gemusterten 70er-Jahre-Sofa sitze und die winzige Natasha auf meinem Schoß halte. Ich muss ungefähr drei gewesen sein. Normalerweise bewahre ich es in unserem Schlafzimmer auf, aber bis es vollends eingerichtet ist, habe ich es hier hingestellt. Ich bemerke eine flüchtige Gefühlsregung auf Mums Gesicht.

Ich gehe rüber und berühre beinahe entschuldigend den silbernen Rahmen. »Es wird nicht hierbleiben. In diesem Zimmer wird es keine persönlichen Gegenstände geben.«

Mum rückt ihre Brille auf der Nase zurecht und scheint sich zu sammeln. »Nein. Nein, das wäre nicht klug. Denk immer dran, das hier ist nicht dein Zuhause. Es ist ein Geschäft.«

»Ich weiß.«

Sie dreht sich zu mir, der Blick ihrer blauen Augen bohrend. »Ach ja?«

Ich schlucke. »Natürlich. Trotzdem müssen wir hier auch leben.«

Danach herrscht eine seltsame Spannung zwischen uns. Ich zeige ihr noch die anderen fünf Gästezimmer im ersten Stock und führe sie dann ins Dachgeschoss. Ihr Schlafzimmer ist ein kleiner Raum gleich neben unserem und gegenüber dem der Mädchen.

»Wann kommen deine Möbel?«, frage ich.

»Ich habe nicht viel. Nur mein Schlafzimmer. Alles andere habe ich eingelagert. Du willst doch auch nicht, dass mein Krempel hier im Weg rumsteht, oder?« Unsere Blicke treffen sich, und ich merke, wie sich alles in mir zusammenzieht.

»Das ist es doch gar nicht. Es ist nur … du weißt schon … wir müssen aufpassen. Brandschutzverordnungen und so weiter.«

Sie schnaubt. »Ich zieh dich doch nur auf, Kirsty. Meine Güte, warst du immer schon so ernst?« Sie tritt näher und mustert mich durch ihre dicke Brille. »Es hat dich wirklich verändert, nicht wahr? Die Sache mit Adrian.«

Die Sache mit Adrian. Als ob das, was ihm – was uns – widerfahren ist, so banal wäre, dass man es einfach beiseitewischen könnte.

Natürlich hat es mich verändert, möchte ich sagen. Genau so, wie der Verlust von Natasha dich verändert hat. Werden wir nicht alle von den Ereignissen unseres Lebens geprägt? Als ob unsere Seelen – wenn sie denn existieren – aus Knetmasse bestünden, um immer wieder neu geformt zu werden. Doch wie üblich halte ich auch jetzt meinen Mund, da ich ihr nicht zu nahetreten möchte. Sie war so nett zu uns, rufe ich mir in Erinnerung. All das hier wäre ohne sie nicht möglich. Dabei hat sie selbst so viel Kummer in ihrem Leben gehabt.

Es wird alles gut werden, sage ich mir, während wir nach unten in die Küche gehen, um den Tee aufzusetzen, nach dem sie verlangt hat. Es wird ein bisschen brauchen, bis wir uns daran gewöhnt haben, alle gemeinsam unter einem Dach zu leben und zu arbeiten, aber wir können es schaffen. Ich gebe mir Mühe, jeglichen Zweifel zu verdrängen.

3

Evies kleines Gesicht erstrahlt, als sie aus der Schule kommt und Mum neben mir stehen sieht. Ich trage eine Jacke über meinen schäbigen Heimwerkerklamotten, obwohl Mum darauf beharrt hatte, dass ich mich umziehe. Die Szene rief Erinnerungen an meine Teenager-Tage wach und daran, wie sie, abgestoßen von meinen Band-T-Shirts und Doc-Martens-Stiefeln, ständig versuchte, mich weiblicher zu machen. Evie flitzt auf sie zu, wirft sich an ihren Bauch und schlingt die Arme um ihre Taille. »Oma!«

Mum beugt sich vor und küsst Evie auf ihr verstrubbeltes Haar. Glücklicherweise ist sie im Umgang mit ihren Enkelinnen wesentlich liebevoller, als sie es mit mir jemals war.

»Gefällt dir meine Schule? Sie sieht aus wie ein Schloss, stimmt’s?«

Ich beobachte Mums Gesichtsausdruck, als sie mit ihrem Blick Evies Zeigefinger folgt, und sehe ihr an, dass sie Mühe hat, den Vergleich mit dem steinernen viktorianischen Bau nachzuvollziehen. »Ja … doch. Mit all den spitzen Dächern. Ganz der Ort, an dem eine Prinzessin wohnen würde …«

»Ja! So wie Rapunzel. Und auf der Rückseite hat es einen Turm.«

»Einen Turm? Wirklich?« Mum sieht mich fragend an, und ich schüttle kaum merklich den Kopf.

Mum kichert und richtet sich wieder auf. »Sie hat ja so eine blühende Fantasie«, sagt sie zu mir. »Sie erinnert mich an Selena, als sie klein war.«

Ich versteife mich unwillkürlich, und Mums Wangen laufen rot an. Sie erwähnt meine Cousine höchst selten. Es ist eine Art stillschweigende Übereinkunft zwischen uns. »Sie ist kein bisschen wie Selena«, erwidere ich harscher als beabsichtigt.

»Nein«, lenkt Mum ein. »Natürlich nicht.«

All die Jahre habe ich versucht, nicht über Selena nachzudenken, doch die Rückkehr nach Wales hat auch die Erinnerungen wieder zurückgebracht. Sie war damals praktisch wie eine Schwester für mich. Unsere Väter waren Brüder, und wir gingen ständig im Haus der anderen ein und aus, da wir in Cardiff nur wenige Straßen voneinander entfernt wohnten. Trotzdem haben wir seit unserem achtzehnten Lebensjahr nicht mehr miteinander gesprochen. Ich erkundige mich nie nach ihr – und Mum wagt es nicht, mir mit irgendwelchen Informationen zu kommen. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch Kontakt haben, obwohl ich stark davon ausgehe. Mum hat sie immer gerngehabt.

Nachdem Evie uns ein paar Minuten lang plappernd von ihrem Tag berichtet hat und darüber, mit wem sie alles gespielt hat, kommt Amelia herausgeschlurft; sie sieht so klein und mager aus unter dem Gewicht ihres Rucksacks. Trotz des Nieselwetters weigert sie sich, einen Mantel zu tragen, dabei wirkt sie durchgefroren in dem farngrünen Pullover und dem grauen Rock, das lange dunkle Haar windgepeitscht. Wenigstens trägt sie eine Wollstrumpfhose unter ihrer Schuluniform. Jeden Tag hoffe ich aufs Neue, dass sie so aus der Schule gehüpft kommt, wie sie es in Twickenham getan hat – für gewöhnlich in Begleitung von ein paar anderen Mädchen. Doch sie ist immer allein, ihr Gesicht traurig. Ich habe schon versucht, Blickkontakt mit einigen der Mütter am Schultor aufzunehmen, in der Hoffnung, wenn ich Freundschaften schließe, wird es Amelia ebenfalls tun. Doch obgleich sie sich mir gegenüber höflich verhalten, glucken sie plaudernd in ihren hermetisch abgeschlossenen Grüppchen zusammen, während ich betreten danebenstehe. Die einzige Mutter, mit der ich ins Gespräch gekommen bin, heißt Sian und hat eine Tochter namens Orla, die in Amelias Klasse geht. Vor ein paar Tagen haben wir Nummern getauscht, doch Sian holt ihre Tochter nicht regelmäßig ab. Meistens läuft Orla allein nach Hause – was ich Amelia noch nicht erlauben will.

»Hi, Moo«, begrüße ich sie, als sie uns erreicht. Es ist der Spitzname, den Evie ihr gegeben hat, als sie noch ganz klein war. »Na, guten Tag gehabt?«

»Ja, ganz toll«, antwortet sie in einem Tonfall, der deutlich machen soll, dass er alles andere war. Ihre Miene hellt sich etwas auf, als sie Mum erblickt. »Hi, Oma.«

»Hallo, mein Schatz.« Mum schließt Amelia in ihre Arme und drückt sie fest an sich. »Ooh, du bist ja ganz durchgefroren. Hast du denn keinen Mantel?«

Sie lässt ein verhaltenes Kichern hören, das mich Hoffnung schöpfen lässt. »Mäntel sind nicht cool.«

»Nicht cool, aber warm.« Mum grinst und hakt sich mit einem Arm bei Amelia, mit dem anderen bei Evie unter. Und zum ersten Mal seit ihrer Ankunft bin ich froh, dass sie da ist.

Wir schlendern die Hauptstraße entlang, die Mädchen und Mum vorneweg. Es ist mit die geschäftigste Zeit des Tages – überall Eltern mit ihren Kindern auf dem Heimweg von der Schule –, und im Dorf herrscht eine nette, belebte Stimmung, durchdrungen von Gelächter, Geplauder und dem gelegentlichen Bellen eines Hundes. Ich frage mich, ob Mum ihre neue Umgebung überhaupt wahrnimmt. Die Hügel und Berge, die das Dorf umgeben, sind so herrlich, dass ich gar nicht anders kann, als jedes Mal aufs Neue von ihrem Anblick entzückt zu sein. Ich atme tief ein, genieße die klare, frische Luft in meinen Lungen und denke einmal mehr, wie glücklich wir uns schätzen können, weit weg vom Schmutz und Lärm Londons zu sein. Natürlich hat es auch ein paar Kehrseiten: das Fehlen von Annehmlichkeiten wie späten Ladenöffnungszeiten oder an jeder Ecke einen Starbucks oder Costa Coffee zu haben. Doch bisher genieße ich das gemächlichere Tempo hier.

Manchmal schauen wir auf dem Nachhauseweg von der Schule im einzigen Café des Orts vorbei, um uns eine heiße Schokolade zu gönnen (Evie war zutiefst entsetzt, als wir das erste Mal dort ankamen und feststellen mussten, dass sie keinen »Babyccino« machen), oder in der kleinen Drogerie, um der mürrischen Mrs. Gummage einen Besuch abzustatten (Amelia liebt die Haarspangen dort), doch heute kehren wir ohne Umwege zum Gästehaus zurück.

»Wie sind die Leute hier so?«, erkundigt sich Mum, als wir wieder daheim sind.

Die Mädchen haben ihre Taschen und Schuhe im Flur liegen lassen und sind direkt hoch auf ihr Zimmer gegangen.

»Ich habe noch nicht viele getroffen. Da ist der alte Mr. Collins von nebenan. Er ist Witwer, um die achtzig und geht am Stock.« Ich streife meine Jacke ab und werfe sie in das kleine Kabuff neben dem Flur, das später mal das Büro sein soll. Es ist der einzige Raum, den wir nicht neu verputzt haben, und er sieht extrem 80er-Jahre-mäßig aus mit der gelb gestreiften Tapete und den kornblumenblauen Bordüren. »Außerdem habe ich noch ein junges Pärchen kennengelernt, das in einem der Cottages gegenüber wohnt. Kath und Derek vom Seven Stars waren genial, sie haben ein paar Buchungsanfragen weitergeleitet, da sie bereits voll waren, und uns Ratschläge gegeben.« Ich mochte Kath auf Anhieb: groß, blond und geradeheraus, mit einem herzhaften Lachen. Sie taute ebenfalls auf, als sie erfuhr, dass ich ursprünglich aus Wales stammte, und wir tauschten uns über die Stätten unserer Cardiffer Jugend aus. Ich erzähle Mum nicht von den Dorfbewohnern, die alles andere als freundlich waren – so wie Mrs. Gummage von der Drogerie oder Lydia mit dem grauvioletten Haar, die zwei Häuser weiter wohnt und immer finster dreinschaut, wenn sie uns sieht.

»Hmm«, macht Mum, als würde sie gar nicht zuhören. Sie nimmt den Flur in Augenschein. »Du solltest einen Schrank oder Garderobenständer besorgen. Man hat hier nichts, um Mäntel und Schuhe unterzubringen.«

»Ja, das stimmt …«

»Und sollten wir uns nicht auch ein paar Touristenbroschüren holen? Ich habe das bei anderen Gästehäusern und Pensionen gesehen. Es könnte doch hilfreich für die Gäste sein zu wissen, was geboten wird: Infos zu Sehenswürdigkeiten in der Gegend, Wanderwege … Die Leute kommen schließlich zum Wandern her.«

Daran hatte ich nicht gedacht. »Das ist eine super Idee.«

Sie belohnt mich mit einem Lächeln. Dann streift sie versehentlich die Wohnzimmertür und schnaubt, als sie merkt, dass der Lack am Ellbogen ihres Mantels abgefärbt hat. »Ich dachte, ihr wärt schon weiter«, fährt sie mich an, während sie ihren Mantel auszieht und den Farbfleck begutachtet. »Wir eröffnen in wenigen Wochen.«

Ich verkneife mir eine bissige Erwiderung. »Dann ist es ja gut, dass du jetzt da bist. Wir können jede Hilfe gebrauchen. Und mach keinen Druck bei Adrian.« Sie öffnet schon den Mund, doch ich fahre fort: »Ich meine es ernst, Mum. Das hier soll ein Neuanfang für uns sein.«

Sie blickt mich finster an, sagt aber nichts mehr. Ich lasse sie stehen und renne die Treppen hoch, um nach Adrian zu sehen.

Die Schlafzimmertür ist geschlossen. Ich hole tief Luft, bevor ich den Knauf drehe. Ich hasse es, wenn Türen geschlossen sind. Die Erinnerungen sind noch zu frisch. Ich weiß nie, was mich dahinter erwartet.

Adrian liegt auf dem Bett, einen Arm quer über dem Gesicht. Einen Augenblick lang – nur den Bruchteil einer Sekunde – habe ich diesen verrückten Gedanken, dass er tot ist. Ich eile zu ihm, doch da bewegt sich sein Arm auch schon, und seine Augenlider öffnen sich, als er meine Gegenwart über seinem ausgestreckten Körper spürt.

Er erhebt sich und stützt sich dabei auf seinen Ellbogen ab. »Entschuldige. Ich bin fix und fertig. Ich muss eingenickt sein.« Er reibt sich die Augen. Sie sind rot, und eines ist blutunterlaufen. Er hat immer noch weiße Farbe in Bart und Haaren. Ein Gefühl von Liebe durchströmt mich. Er hat so hart an diesem Haus gearbeitet … zu hart in Anbetracht der Dinge.

Ich hocke mich neben ihm aufs Bett. »Mum und ich können das Streichen übernehmen, Ade.«

»Ich werd schon wieder. Trotzdem ist es gut, dass sie mithelfen kann.«

Eine Weile sitzen wir nur schweigend da, dann sage ich: »Fühlt sich seltsam an, oder, dieses ganze große Haus für uns allein zu haben?«

»Wenn die Gäste erst eintreffen, wird es sich nicht mehr so groß anfühlen.«

»Ich hoffe nur, dass Evie heute Nacht durchschläft.« Heute Morgen ist sie schreiend um zwei Uhr aufgewacht, weil sie einen Albtraum hatte.

»Sie wird sich schon noch daran gewöhnen, hier zu sein.«

»Sie meint, das Zimmer wäre ›gruselig‹. Es gefällt ihr nicht, dass gleich nebenan ein Friedhof ist. Sie hat Angst, dass es im Haus spukt.«

»Wir werden ihr Zimmer bald hübsch hergerichtet haben, dann wird sie sich gleich mehr wie daheim fühlen. Es war ja nur eine Nacht.«

Ich knabbere am Nagel meines kleinen Fingers und reiße ein Stückchen ab.

Adrian greift nach meinem Handgelenk. »Alles in Ordnung? Du wirkst angespannt.«

Ich seufze und erhebe mich. »Es ist nichts. Ich sollte nach den Mädchen sehen.«

Adrian steht ebenfalls auf. »Den Mädchen geht es gut.« Er zieht mich an sich. »Hör zu, Kirsty, ich weiß, dass alles ein bisschen viel ist. Ich verstehe dich. Mir geht es nicht anders.« Er küsst mich sanft. Sein Bart kitzelt an meinem Kinn. »Aber wir werden das durchstehen. Wir haben schon Schlimmeres durchgestanden.«

Als wir Evie schreien hören, springen wir erschrocken auseinander. Amelia kommt hereingestürzt. »Evie blutet!«, ruft sie heulend.

Ich schieße an ihr vorbei und sehe Evie in der Mitte ihres Zimmers stehen. Sie umklammert ihre Hand. Zu ihren Füßen liegt eine Puppe, die ich nicht kenne; der Porzellankopf steht in einem seltsamen Winkel ab, und eines der gläsernen Augen starrt leer zu mir empor. Das lange schwarze Haar ist zu zwei unordentlichen Zöpfen geflochten, und sie hat ein schmuddeliges viktorianisches Kleid an. Ein Bein fehlt, vom Knie abwärts amputiert. Da, wo die Wade aus Porzellan sein sollte, prangt eine gezackte Kante.

»Lass mich mal sehen.« Behutsam nehme ich Evies Hand. Blut sickert aus einem langen Schnitt in ihrer Handfläche. Evie weint leise, und ihr kleiner Körper bebt bei jedem Schluchzer. »Ist schon gut«, sage ich beschwichtigend, während ich versuche, nicht in Panik zu geraten. Ich führe sie in das Badezimmer auf der anderen Seite des Flurs. Amelia und Adrian folgen uns, und wir versammeln uns um das Waschbecken. Ich spüle den Schnitt unter dem Wasserhahn aus und umwickle die Wunde mit einem Handtuch. Wenn sie weiter so blutet, werden wir sie in die Notaufnahme bringen müssen.

»Ich … brauch … ein … Pflaster«, stammelt sie zwischen Schluchzern.

Adrian geht los, um eins zu holen. Ich muss schmunzeln, weil Evie so fest daran glaubt, ein Pflaster könne jedes Wehwehchen wieder in Ordnung bringen. Amelia war früher genauso.

Ich setze mich mit Evie auf dem Schoß auf den Klodeckel. »Schau, es hört schon auf zu bluten«, sage ich nach einer Weile. Adrian kehrt mit einem Kinderpflaster zurück, und ich klebe die Wunde damit ab. Evie begutachtet den Marienkäfer auf ihrem Pflaster und hört prompt auf zu weinen.

»Was ist passiert?«, frage ich Amelia, als wir Evie ins Zimmer zurückbringen.

»Sie hat das da«, Amelia deutet auf die Porzellanpuppe, »unter den Bodenbrettern gefunden.«

»Unter den Bodenbrettern?«

»Ja. Wir haben gesehen, dass eins davon ein bisschen locker ist, also haben wir druntergeschaut, und Evie hat die Puppe entdeckt, aber als sie sie rausgezogen hat, hat sie sich geschnitten.« Amelia schüttelt sich. Sie hasst Puppen. Vor allem solche aus Porzellan. Sie fand sie schon immer unheimlich.

»Geht’s jetzt wieder?«, fragt Adrian und drückt Evie einen Kuss auf die Stirn.

Sie nickt, wobei sie an ihrer Lippe nagt und ihre Hand behutsam in ihren Schoß legt.

»Dann können wir dieses Ding ja wegschaffen.« Ich bücke mich, um die Puppe an ihrem Arm hochzuheben.

»Nein!«, schreit sie. »Wir dürfen sie nicht wegwerfen! Sie ist etwas Besonderes.«

»Sie ist grässlich«, wirft Amelia ein.

Evie setzt sich auf und streckt die Hände aus, ihre Verletzung ist im Nu vergessen. »Nein, ich will sie behalten. Sie ist eine Zauberpuppe.«

»Sie ist gefährlich«, entgegne ich, während ich die scharfe Kante inspiziere. »Schau, das Bein ist abgebrochen, du könntest dich noch mal daran schneiden.«

»Lass mich mal einen Blick drauf werfen.« Adrian nimmt mir die Puppe ab. »Ich werde versuchen, das Beinchen zu flicken.« Er schenkt seiner jüngeren Tochter ein breites Lächeln, und sie strahlt zurück. »Komm mit.« Er nimmt sie an ihrer unverletzten Hand. »Lass uns nachschauen, was wir unten finden können.«

Lächelnd sehe ich ihnen nach, glücklich darüber, dass sie wieder zueinanderfinden.

Amelia seufzt schwer, und ich drehe mich zu ihr um. »Was ist los, Moo?«

»Dieses Haus ist verhext.«

»Red keinen Unsinn. Und sag ja nicht solche Sachen in Gegenwart deiner Schwester. Du wirst ihr nur Angst machen.«

»Sie hat doch schon Angst«, entgegnet Amelia, die Arme trotzig vor der Brust verschränkt. »Dir gefällt es hier ja vielleicht, aber niemandem sonst.« Sie stapft davon, bevor ich sie für ihre patzige Antwort zurechtweisen kann.

In der Nacht werde ich von Schritten vor unserer Tür geweckt. Ich setze mich auf und blinzle in die Dunkelheit, während meine Augen sich langsam daran gewöhnen. Ich erwarte, Evie in unser Zimmer tapsen zu sehen, so wie letzte Nacht. Ich warte, doch nichts geschieht. Ich drehe mich zu Adrian, der tief und fest schläft, ruhig atmend und mit offenem Mund. Gerade als ich schon glaube, dass ich es mir nur eingebildet habe, höre ich es erneut. Diesmal begleitet von einer gedämpften, flehenden Stimme und dem Knarzen von Dielen. Ich greife nach meinem Handy. Es ist drei Uhr morgens.

»Was ist los?«, brummt Adrian schläfrig, als ich aus dem Bett steige.

»Ich weiß nicht genau, aber ich glaube, es ist Evie.« Ich schnappe mir meinen Morgenmantel und trete auf den Flur. Die Tür zum Zimmer der Mädchen gegenüber steht sperrangelweit offen. Sie liegen nicht in ihren Betten.

Da vernehme ich eine Stimme vom Treppenabsatz. »Evie, wach auf!« Es klingt wie Amelia.

Ich eile die Stufen hinab. Die Mädchen werden vom Mondschein erleuchtet, der durch das Panoramafenster hereinflutet, und sie sehen winzig aus in ihren Pyjamas.

»Was geht hier vor sich?«, zische ich leise, als ich sie erreiche. »Warum seid ihr zwei nicht im Bett?«

Amelia dreht sich mit bestürzter Miene zu mir um. »Es ist Evie … Sie ist einfach aus dem Zimmer raus und die Treppe runtergelaufen.«

Evie steht mit einem merkwürdigen Ausdruck auf ihrem Gesicht vor einem der Gästezimmer. Ihre Augen sind geöffnet, aber der Blick ist glasig, leer. Ich nähere mich ihr ganz vorsichtig, als sei sie ein Pony, das durchgehen könnte. Sanft nehme ich ihre Hand. »Ich glaube, sie schlafwandelt«, flüstere ich Amelia zu. »Ich bringe sie zurück ins Bett.«

Amelia scheint den Tränen nahe, doch sie nickt. Evie ist wie in Trance, und es hat etwas Verstörendes, mein sonst so lebhaftes kleines Mädchen in diesem Zustand zu sehen.

Ich führe Evie in unser Bett, in der Hoffnung, dass das Schlafwandeln ein Ende hat, wenn sie bei uns liegt. Sie schlüpft unter die Daunendecke, dreht sich auf die Seite und schließt seufzend die Augen. Adrian kriegt nichts davon mit. Er brummt etwas Unverständliches und schnarcht dann seelenruhig weiter.

Ich begleite Amelia zurück ins Kinderzimmer und decke sie ordentlich zu. »Was ist passiert, Moo?«

Sie schüttelt den Kopf. Sie ist offensichtlich verängstigt, und in dem Halbdunkel sieht sie blass aus. »Es war total seltsam. Ich bin aufgewacht und hab gesehen, wie Evie die Tür aufmacht. Zuerst dachte ich, sie will zu euch gehen … du weißt schon, so wie sie es manchmal tut. Aber dann hab ich es knarren gehört, und da wusste ich, dass sie nach unten geht. Also bin ich hinter ihr her. Sie stand einfach nur da, unten im Flur, und sah total schräg aus, und dann ist mir die bescheuerte Puppe eingefallen, die sie gefunden hat, und …« Ein Schluchzer entfährt ihr.

»Schhh. Alles ist gut, meine Süße. Sie hat nur geschlafwandelt, das ist alles.«

»Ich hab versucht, sie aufzuwecken.«

»Falls das noch mal passieren sollte, darfst du sie auf keinen Fall wecken, okay? Bring sie einfach ins Bett zurück. Und dann kommst du und sagst mir Bescheid.«

Amelia schnieft. »Das hat sie früher aber nie getan.«

»Ich weiß.« Ich lege mich neben sie und erwarte schon, dass sie mich aus ihrem Bett wirft, doch stattdessen kuschelt sie sich an mich. Ich halte ihren zitternden Körper fest an mich gedrückt und bleibe bei ihr, bis sie eingeschlafen ist.

4 Sechs Tage zuvor

Mum ist den ganzen Morgen zerstreut, als ginge ihr irgendwas im Kopf herum. Schon drei Mal musste ich sie fragen, ob die Teppichleger angerufen haben, und als ich versuchte, mit ihr über die Mädchen zu sprechen – normalerweise eines ihrer Lieblingsthemen –, merkte ich ihr an, dass sie nicht zuhörte. Zuerst überlegte ich, ob es der Stress war, weil wir dieses Wochenende eröffnen. Beide sind wir nervös und fragen uns, wie es wird, mit den Gästen zu plaudern, und ob sie wohl schwierig oder sehr anspruchsvoll sein werden. Als ich jedoch ihre Brille im Kühlschrank fand, mutmaßte ich, dass mehr dahintersteckte – womöglich der Beginn einer Altersdemenz?

Dann überrasche ich sie auch noch dabei, wie sie das Laub auf der vorderen Veranda mit einem Handstaubsauger beseitigen will.

»Mum? Dafür haben wir doch einen Laubbläser.«

Sie blickt erst zu mir auf und dann zu dem Handstaubsauger, als ob sie ihn zum ersten Mal sehen würde. Zu ihren Füßen liegt ein Haufen orangeroter Blätter.

Sie fährt sich mit der Hand durchs Haar. »Ach ja … natürlich. Ich versuche einfach nur, alles in Ordnung zu bringen.«

»Es ist schon alles in bester Ordnung, Mum. Das weißt du doch.« In unserer Verzweiflung hatten wir sogar einen Maler und Tapezierer engagiert, um die Arbeiten zu beenden, da uns die Zeit davonlief, was zwar den Druck nahm, dafür aber Geld kostete, das wir eigentlich nicht hatten. Wenigstens halten wir so den Terminplan. Mum wohnt nun schon seit drei Wochen bei uns, und es ist nicht leicht gewesen – vor allem seit Adrian sich mehr und mehr in unser Schlafzimmer zurückzieht. Er hat damit begonnen, einen Roman zu schreiben, was er schon seit frühester Jugend hatte tun wollen.

Ich helfe Mum über die Schwelle. »Was ist los?«

Sie tritt in den Flur und drückt die Haustür gegen den Wind zu, der aufgefrischt hat und Herbstlaub in der Einfahrt verteilt.

Sie schluckt. Normalerweise hat sie kein Problem damit, rundheraus ihre Meinung zu sagen.

Plötzlich kommt mir ein schrecklicher Gedanke. »Bist du krank?«

Sie blickt mich empört an. »Krank? Sehe ich etwa krank aus?«

»Was ist dann los? Du benimmst dich schon den ganzen Tag komisch.«

Sie seufzt. »Ich wollte nur den richtigen Moment abpassen, um etwas mit dir zu besprechen.«

»O-kaaay.« Solche Ankündigungen gefallen mir ganz und gar nicht.

»Es geht um Selena. Und bevor du gleich wieder dieses Gesicht ziehst, solltest du anhören, was ich zu sagen habe.«

Ich ziehe diesesGesicht trotzdem. Ich ziehe es nämlich immer, wenn Mum Selena erwähnt – was glücklicherweise kaum der Fall ist. Am Anfang kam es mir vor, als würde sie es jedes Mal machen, wenn ich zu Besuch kam. Aber schließlich fand sie sich wohl damit ab, dass Selena und ich keinen Kontakt mehr hatten, und sie hörte auf, mich zu nerven. Ich habe oft gehofft, dass auch sie den Kontakt zu ihr verloren hätte.

»Was ist mit Selena?« Ein Gefühl von Furcht macht sich in meinem Magen breit.

»Sie hat mich ziemlich aufgelöst angerufen. Sie ist gerade dabei, sich von ihrem Mann zu trennen. Er scheint ein richtig mieser Kerl zu sein. Sie wollte wissen, ob sie ein paar Tage hier unterkommen könnte.«

»Was … was hast du ihr gesagt?«

»Dass ich mit dir sprechen würde.«

Ich spüre eine Woge der Wut in mir aufsteigen. Wie kann Selena es nur wagen und versuchen, sich nach all den Jahren in mein Leben zurückzuschleichen? Und das ausgerechnet jetzt, da Adrian und ich gerade dabei sind, uns eine neue Zukunft aufzubauen.

»Wir haben uns seit siebzehn Jahren nicht mehr gesehen«, erwidere ich mit verkrampftem Kiefer. »Ich glaube nicht, dass sie wirklich herkommen will.«

»Sie kann sonst nirgends hin. Wir sind die einzige Familie, die sie hat.« Sie blickt mich flehend an. Hinter der dick gerahmten Brille sehen ihre Augen riesig aus.

Das ist ja so typisch für die Selena, an die ich mich erinnere – sich bei allem auf Mum zu verlassen, sich ständig in Schwierigkeiten zu bringen. Mum ist noch nie in der Lage gewesen, ihr etwas abzuschlagen. Und ich weiß auch, warum. Kurz nachdem Natasha gestorben war und Mum und Dad Nathan adoptiert hatten, zerbrach Selenas Familie, weshalb sie die meiste Zeit bei uns verbrachte. Sie füllte die klaffende Lücke, die Natasha hinterlassen hatte, und – das streite ich nicht ab – wir standen uns sehr nahe. Damals. Doch das war vor langer, langer Zeit. Bevor Selenas Lügen unsere Beziehung zerstörten.

»Was ist mit Tante Bess? Oder Onkel Owen?«

Mum lässt ein Pfeifen durch ihre Zähne entweichen. »Bess ist zu nichts nutze.« Selenas Mutter ist Alkoholikerin, und ich habe mich schon oft gefragt, ob sie denselben Weg eingeschlagen hat. »Und der Kontakt zu ihrem Vater ist abgebrochen, nachdem er die Familie verlassen hat. Ich glaube nicht, dass sie ihm je verziehen hat.«

Oder vielleicht hat er ihr nie verziehen.

Ich räuspere mich. Ich kann Selena hier nicht brauchen. Es geht einfach nicht. »Es tut mir leid, Mum, aber ich will sie hier nicht haben. Es ist zu lange her. Es wäre unangenehm. Außerdem ist das hier ein Gäste- und kein Frauenhaus.« Ich bin zu weit gegangen. Ich habe es zwar nicht so gemeint, aber wie ich Selena kenne, hat sie die ganze Geschichte wahrscheinlich sehr zu ihren Gunsten ausgeschmückt. Ich wette, sie will einfach nur ihre Nase in das Alte Pfarrhaus stecken und rumschnüffeln.

»Wie kannst du so etwas nur sagen?« Mum blickt empört drein. »Sie käme als zahlender Gast. Wie es aussieht, hat sie Geld. Sie ist keine Schnorrerin.«

Schuldbewusst senke ich den Blick auf meine Hände. Wie kann ich Mum nur begreiflich machen, dass ich Selena unmöglich wieder in meinem Leben haben kann? Dass sie gefährlich ist.

Vor den Geheimnissen, den Lügen und der Wut waren wir unzertrennlich gewesen. Ich schiebe es gern auf den Umstand, dass lediglich neun Monate zwischen uns liegen, aber in Wahrheit verstanden wir uns einfach prima. Wir hatten denselben Humor, und obwohl ich die Ältere war, schaute ich zu ihr empor. Sie hatte Mut – etwas, das mir damals abging. Sie stürzte sich kopfüber in alles. Sie hatte keine Hemmungen, keine Ängste, wohingegen ich schüchterner und vorsichtiger war. Sie half mir dabei, über meinen eigenen Schatten zu springen. Sie brachte mich dazu, Dinge zu tun, die ich sonst nie getan hätte – wie zum Beispiel meine erste Zigarette zu rauchen, minderjährig im Park Cider zu trinken oder aus einem Laden rausgeworfen zu werden, weil ich mir einen Schlüpfer über den Kopf gezogen hatte. Im Grunde meines Herzens jedoch war ich ein braves Mädchen. Es gefiel mir nicht, Regeln zu brechen. Sie hingegen genoss es.

Ich spüre Mums Blick, während sie auf meine Antwort wartet. »Weißt du«, sagt sie langsam, »sie hat eine kleine Tochter, nicht viel älter als Evie.«

Mein Kopf schnellt empor. »Wirklich?«

»Aber der Kleinen geht es nicht gut. Sie sitzt im Rollstuhl, das arme Kind.«

Ich starre sie grimmig an. Ich weiß, was sie da gerade tut.

Mum lächelt triumphierend und stolziert ins Büro. Sie beugt sich über den Schreibtisch und öffnet einen DIN-A4-Terminkalender mit Goldschnitt. Den Kalender, den ich erst vor wenigen Wochen voller Vorfreude in einem kleinen Laden im Nachbarort gekauft habe, wobei ich an all die potenziellen Gästenamen dachte, die ihn schon bald füllen würden.

Doch nun blättert Mum ihn mit einem angespannten Lächeln durch. »Also gut«, sagt sie, als sie das richtige Datum findet. Sie nimmt einen kratzigen blauen Kugelschreiber zur Hand und klopft damit gegen ihre Zähne. Mir wird schwer ums Herz. Ich hatte einen Füllfederhalter gekauft, um die Namen der angekündigten Gäste in Schönschrift zu notieren, damit wir in vielen Jahren zurückblicken und uns an unsere ersten Kunden, aber auch an all die Vorfreude und Nervosität erinnern könnten. Adrian hat versucht, mich von der Nutzung eines Online-Buchungssystems zu überzeugen, aber ich möchte jetzt lieber etwas Greifbareres. Etwas, das wir aufbewahren können. Außerdem sagte ich ihm, dass eine Computer-Software derzeit unerschwinglich für uns wäre. Adrian nennt mich gerne eine Perfektionistin, eine Streberin. Und es ist nur gut, dass ich so bin, denn er selbst ist unorganisiert und chaotisch. Er hat jahrelang als Rechtsanwalt gearbeitet und war großartig in dem, was er tat – allerdings hatte er damals eine Sekretärin, die alles für ihn in Ordnung hielt. »Dann werde ich mal Selena und Ruby hier eintragen, ja? Das ist der Tag, bevor die ersten Gäste eintreffen, so habt ihr die Möglichkeit, euch mal in Ruhe zu unterhalten. Das Apfelbaum-Zimmer wird wegen des Rollstuhls wohl am besten sein.« Sie wartet meine Antwort nicht ab, als sie schon die Seite vollkritzelt.

»Ich will Selena nicht hierhaben!«, schreie ich. Ich bin selbst geschockt von der Wucht meiner Wut und meines Grolls, und das nach all diesen Jahren. Ich höre mich an wie eine quengelige Göre und verachte mich selbst dafür. Doch ich bin verzweifelt. Meine Mutter schafft es immer noch, das Kind in mir zum Vorschein zu bringen.

Mum zieht scharf die Luft ein und greift sich in einer theatralischen Geste an die Brust. »Kirsty! Das muss jetzt nun wirklich nicht sein. Das hier ist auch mein Zuhause, und ich finde, dass wir sie hier wohnen lassen sollten.«

Sie übernimmt also jetzt schon das Kommando, ganz so, wie ich es vorhergesehen hatte. Ich hebe kapitulierend die Hände und verlasse den Raum, bevor ich noch etwas sagen kann, das ich später bereuen werde.

Um mich auf andere Gedanken zu bringen, beschließe ich, nach den Mädchen zu sehen. Sie sind im Garten, wo sie mit den schlappohrigen Kaninchen spielen, und mir wird gleich leichter ums Herz. Ich bleibe in der Terrassentür stehen und sehe ihnen dabei zu, wie sie unbekümmert im feuchten Gras sitzen und miteinander plappern. Evie hat die Krone einer ihrer Barbies an das Ohr ihres Kaninchens gehängt, das sie standesgemäß »Prinzessin« getauft hat. So viel Platz, denke ich bei mir, während ich den Blick über den riesigen Garten mit dem Trampolin und der Schaukel schweifen lasse. Selbst Amelia hat die letzten Tage glücklicher gewirkt. Sie hat sich mit Orla zum Spielen getroffen, und obwohl sie immer behauptet, dass sie es hier hasst, hat ihre neue Freundin sie aufgeheitert. Außerdem stehen die Herbstferien vor der Tür.

Ich lasse die beiden weiterspielen, um mich zu Adrian zu gesellen. Er tippt an dem Tisch in der Ecke unseres Schlafzimmers auf seinem Laptop. Er ist so konzentriert, dass er mich nicht kommen hört. Ich beobachte ihn eine ganze Weile, folge mit meinem Blick der Kontur seines langen Halses, den Knubbelchen seiner Rückenwirbel, den scharfen Spitzen seiner Schulterblätter. Ich muss an sein Herz denken, das unermüdlich unter dem grauen T-Shirt vor sich hin pumpt. Und mir fällt wieder ein, in was für einem Zustand er noch vor achtzehn Monaten gewesen war, innerlich zerfressen von selbstzerstörerischen Gedanken.

Als er an jenem Tag von der Arbeit nach Hause kam – unrasiert, die Krawatte verrutscht, das Gesicht aschfahl – und mir eröffnete, dass er seinen Job, von dem ich geglaubt hatte, dass er ihn liebte, hingeschmissen hatte, war ich geschockt. Als er immer mehr Gefallen an seinem Bett fand und gar nicht mehr aufstehen wollte, als er mich und die Mädchen grundlos anblaffte, als der Adrian, den ich kannte und liebte, sich immer mehr aus ihm zurückzog und von einem Fremden ersetzt wurde, rief ich in einem Anfall von Panik die Frau meines Bruders, eine Allgemeinärztin, an.

Ich werde niemals Julias Worte vergessen: »Bring ihn zum Neurologen«, sagte sie mit dringlicher Stimme. »Das klingt mir ganz nach einer Depression.«

Ich hatte in meinem Leben bis dahin noch nie mit Depressionen zu tun gehabt. Selbst als Natasha starb, war Mum in keine Depression verfallen. Sie befand sich in einem Zustand tiefer Trauer, das ja, und wurde mir gegenüber überbehütend, aber da waren keine Anzeichen jenes Nebels, in dem Adrian verloren war.

Ich hatte Julias Rat befolgt und meinen Mann zum nächstmöglichen freien Termin geschleift. Es ist seither ein langer, steiniger Weg gewesen, aber er hat uns hierhergeführt.

Doch jetzt wird Selena in mein Leben zurückkehren. Dabei sollte das hier unsere Zuflucht vor dem stressigen Großstadtleben werden, unser Neuanfang. Ich kann nicht zulassen, dass Selena mit ihren Lügen hereinspaziert und uns das alles kaputt macht. Meine Familie hat schon zu viel durchmachen müssen, und ich bin entschlossen, alles zu tun, um sie zu beschützen.

5 Vier Tage zuvor

An dem Tag, an dem Selena eintrifft, kommen auch die toten Blumen.

Es ist ein Freitag, der Tag vor der offiziellen Eröffnung. Im Haus herrscht Ruhe, die Mädchen sind noch im Bett, und Mum hat sich auch noch nicht blicken lassen. Ich habe letzte Nacht kaum ein Auge zugetan, nachdem Evie um ein Uhr morgens in unser Zimmer getapst kam und sagte, dass sie Angst habe. Ich hatte solche Sorge, dass sie erneut schlafwandeln könnte (seit dem ersten Mal ist es nicht mehr vorgekommen), dass ich sie bei uns im Bett behielt, wo sie allerdings bald dazu überging, sich herumzuwälzen. Sie nahm die komplette Mitte für sich ein, alle viere von sich gestreckt wie ein Seestern, sodass Adrian und ich gezwungen waren, an den Rändern der Matratze zu schlafen. Ich erwachte mit einem Gefühl von Unwohlsein. Zuerst konnte ich es nicht so recht an irgendwas Bestimmtem festmachen, bis mir schlagartig einfiel, dass heute der Tag war, an dem ich Selena würde gegenübertreten müssen.