Missing  - Niemand sagt die ganze Wahrheit - Claire Douglas - E-Book
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Missing - Niemand sagt die ganze Wahrheit E-Book

Claire Douglas

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Beschreibung

Eine raue Küstenlandschaft und ein fast vergessener Mordfall sorgen für Spannung bis zur letzten Seite. Mit ihrem ersten Thriller schaffte es Claire Douglas auch in Deutschland sofort auf der Bestsellerliste.

Ein Ort voller Erinnerungen. Ein Ort voller Lügen.


Francesca und Sophie wachsen in einer verschlafenen Kleinstadt am Meer auf. Die beiden sind unzertrennlich, verbringen gemeinsame Abende mit ihrer Clique auf dem alten Pier, trinken Dosenbier und tanzen zu Madonna. Und sie erzählen einander alles. Doch dann verschwindet Sophie eines Nachts spurlos. Zurück bleiben nur ihr Turnschuh am Pier und die Frage nach dem Warum. Achtzehn Jahre später wird dort eine Leiche angespült, und Francesca weiß, dass sie nach Hause zurückkehren und endlich Antworten finden muss. Darauf, was in dieser Nacht wirklich geschah. Denn niemand verschwindet einfach so. Ohne eine Spur. Und vor allem nicht ohne Grund ...

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Seitenzahl: 484

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Claire Douglas arbeitete 15 Jahre lang als Journalistin bevor sich ihr Kindheitstraum, Schriftstellerin zu werden, erfüllte. Ihr Thriller »Missing« wurde in England zum Bestseller. Claire Douglas lebt mit ihrem Ehemann und ihren beiden Kindern in Bath, England.

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Claire Douglas

Missing

Niemand sagt die ganze Wahrheit

Aus dem Englischen von Ivana Marinovic

Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Local Girl Missing« bei Michael Joseph, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen

von Penguin Books Limited und werden

hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 2016 by Claire Douglas

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: © Elisabeth Ansley / Trevillion Images und Bürosüd

Redaktion: Sabine Thiele

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-21333-6V004

www.penguin-verlag.de

Für meinen Mann, Ty

DONNERSTAG

1

Frankie

Februar 2016

An einem tristen Nachmittag, kurz nach dem Mittagessen, erfahre ich endlich, dass du tot bist.

Mein Handy vibriert und zeigt eine unbekannte Nummer an. Abgelenkt von dem Berg Papierkram, in den ich vertieft bin, nehme ich den Anruf an.

»Ist dort Francesca Howe?« Eine männliche Stimme brennt ein Loch in meine Erinnerung. Ihr warmer, ländlicher Tonfall gehört nicht in mein Büro im obersten Geschoss des Hotels meiner Eltern mit seiner minimalistischen Einrichtung und der Aussicht auf den Gherkin-Wolkenkratzer mit seiner charakteristischen gurkenartigen Form, die ihm seinen Namen verliehen hat. Sie gehört in die Vergangenheit – zu unserer Heimatstadt in Somerset, wo Möwen in der Morgendämmerung kreischen, Wellen gegen den Pier branden und die Luft durchdrungen ist vom Geruch nach frittiertem Fisch und Pommes frites.

»Daniel?«, bringe ich krächzend hervor und klammere mich mit der freien Hand an den Rand des Schreibtischs, wie um mich in diesem Raum zu verankern, in der Gegenwart, damit ich nicht kopfüber in die Vergangenheit zurückgeschleudert werde.

Es kann nur einen Grund geben, warum er mich jetzt, nach all diesen Jahren, anruft.

Es bedeutet, dass es Neuigkeiten gibt. Über dich.

»Es ist lange her«, sagt er unbeholfen.

Wie hat er meine Nummer herausgefunden? Meine Beine sind schwach wie die eines neugeborenen Fohlens, als ich aufstehe und zu dem regenbespritzten Fenster schwanke, das den Blick über die Londoner City eröffnet.

Ich kann spüren, wie die Luft in meine Lungen dringt, ich höre meinen abgehackten Atem.

»Geht es um Sophie?«

»Ja. Man hat sie gefunden.«

Mein Mund füllt sich mit Speichel. »Ist … ist sie am Leben?«

Kurz herrscht Stille. »Nein. Sie haben etwas gefunden …«

Seine Stimme bricht, und ich versuche, mir vorzustellen, wie er jetzt aussieht, dein älterer Bruder. Damals war er groß und dünn, immer schwarz gekleidet, mit ebenso schwarzem Haar und einem länglichen, bleichen Gesicht. Ein ungesunder Anblick, wie ein Vampir in einem Teenagerfilm. Ich kann hören, wie er darum ringt, die Fassung zu bewahren. Ich denke nicht, dass ich ihn jemals habe weinen sehen – nicht ganz zu Anfang, als du vermisst gemeldet wurdest; nicht einmal, als die Polizei entschied, die Suche aufzugeben, nachdem sie mehrere Tage das Unterholz durchforstet und mit Booten das Meer abgesucht hatten; und auch nicht, als die Öffentlichkeit das Interesse verlor, nachdem einer deiner dunkelblauen Adidas-Turnschuhe am Rand des verlassenen Piers gefunden wurde und man zu dem Schluss kam, dass du in den Bristolkanal gefallen und von den Gezeiten fortgezogen worden sein musstest. Als alle außer uns anfingen, dich allmählich zu vergessen. Dich, Sophie Rose Collier, das manchmal etwas schüchterne, meistens lustige einundzwanzigjährige Mädchen aus Oldcliffe-on-Sea, das eines Nachts aus einem Klub verschwand. Das Mädchen, das bei den alten Werbespots der British Telecommunication im Fernsehen weinen musste, das auf Jarvis Cocker stand, das keine Kekspackung öffnen konnte, ohne sie alle auf einmal zu verschlingen.

Daniel räuspert sich. »Man hat sterbliche Überreste gefunden. Sie wurden in Brean an Land gespült. Ein Teil davon …« Er hält inne. »Nun, es scheint zu passen. Sie ist es, Frankie, ich weiß einfach, dass sie es ist.« Es fühlt sich seltsam an, ihn mich Frankie nennen zu hören. Du hast mich auch immer so genannt. Ich bin seit Jahren nicht mehr »Frankie«, für niemanden.

Ich gebe mir Mühe, mir nicht vorzustellen, welchen Teil von dir sie unter den Überresten am Strand von Brean Sands gefunden haben. Ich möchte nicht auf diese Weise an dich denken.

Du bist tot. Es ist eine Tatsache. Du bist nicht mehr länger nur verschollen. Ich kann mir nicht länger etwas vormachen und mich dem Glauben hingeben, dass du dein Gedächtnis verloren hast und es dir irgendwo anders gut gehen lässt, vielleicht in Australien oder, eher noch, in Thailand. Wir wollten immer die Welt sehen. Erinnerst du dich an unsere Pläne, mit dem Rucksack durch Südostasien zu reisen? Du hast die kalten Wintermonate immer gehasst. Wir konnten stundenlang davon träumen, diesem beißenden Wind zu entkommen, der ständig durch die Straßen der Stadt pfiff, an den kahlen Ästen der Bäume rüttelte und Sand auf unsere Wege schleuderte, sodass er zwischen unseren Zähnen knirschte. Außerhalb der Saison – ohne die Touristen, die das dringend ersehnte Leben in die Stadt brachten – war Oldcliffe grau und deprimierend.

Ich lockere den Kragen meiner Bluse. Ich bekomme keine Luft. Durch den Spalt meiner halb geöffneten Bürotür kann ich Nell sehen, die auf die Tastatur ihres Computers einhackt, das rote Haar zu einem komplizierten Knoten aufgetürmt. Ich gehe zu meinem Schreibtisch zurück und lasse mich auf den Drehstuhl fallen, das Telefon an meinem Ohr fühlt sich heiß an. »Es tut mir so leid«, sage ich, fast wie zu mir selbst.

»Schon okay, Frankie.« Ich kann das Pfeifen des Windes im Hintergrund hören, das Geräusch von Reifen, die durch Pfützen rauschen, das undeutliche Geplapper von Passanten. »Im Grunde haben wir es doch alle erwartet. Uns innerlich darauf vorbereitet.« Aus welcher Stadt oder aus welchem Ort ruft er mich an? Wohin hat es deinen großen Bruder verschlagen? »Ihre sterblichen Überreste müssen offiziell identifiziert werden. Die Sache gestaltet sich schwierig, weil es so lange …«, er atmet hörbar ein, »… weil sie so lange im Wasser war. Aber sie hoffen, dass sie bis Mitte nächster Woche so weit sind.«

»Weiß die Polizei …?« Ich schlucke den bitteren Geschmack in meinem Hals hinunter. »Können sie schon sagen, wie sie gestorben ist?«

»Frankie, zum jetzigen Zeitpunkt ist es noch nicht möglich, irgendwas zu sagen, und da es bisher keine Leiche gab, gab es auch keine Untersuchung. Alle gingen einfach davon aus, dass sie betrunken war und ins Meer gefallen ist, dass sie nichts auf diesem Pier zu suchen hatte. Du kennst ja den Stand der Dinge.« Ärger schwingt in seiner Stimme mit. »Aber ich glaube das nicht. Ich glaube, dass irgendjemand mehr über jene Nacht weiß, Frankie. Ich glaube, es gibt jemanden, der weiß, was meiner Schwester zugestoßen ist.«

Ich verspüre den nervösen Drang, an meinen Haaren zu ziehen. Doch stattdessen schiebe ich einen Briefbeschwerer auf meinem Schreibtisch hin und her, rücke ein gerahmtes Foto zurecht – ich auf einem Pony, neben mir mein stolzer Vater mit einem breiten, einnehmenden Grinsen im Gesicht. Für ihn war ich immer nur Francesca. »Wie kommst du darauf?«

»In der Nacht, als sie verschwand, hatte sie Angst. Sie sagte, jemand habe es auf sie abgesehen.«

Das Blut rauscht in meinen Ohren. Meine Finger krallen sich um das Handy. »Was? Das hast du nie zuvor erwähnt.«

»Ich habe es der Polizei damals erzählt, aber sie haben es nicht weiter beachtet. Sie wirkte nervös, paranoid. Ich nahm an, dass sie einen schlechten Trip erwischt hatte. Du weißt ja, wie viele Drogen zu der Zeit im Umlauf waren. Aber Sophie hätte niemals Drogen genommen. Ich weiß das. Tief in mir drin wusste ich das schon immer. Sie war ein braves, gutes Mädchen. Sie war die Beste.« Seine Stimme versagt.

Er weiß nichts von dem einen Mal, als wir auf dem Ashton Court Festival beide Speed genommen haben, stimmt’s, Soph? Du hast mir das Versprechen abgenommen, es ihm nicht zu erzählen, als wir dasaßen, uns das Konzert von Dodgy anhörten, wie ein Wasserfall vor uns hin quasselten und mit jeder Minute paranoider wurden.

Ich schließe die Augen und rufe mir jene letzte Nacht in Erinnerung. Du standest in der Ecke vom Basement und sahst zu, wie alle anderen zu »Born Slippy« auf und ab hüpften. Das Datum hat sich für immer in mein Gedächtnis eingeprägt: Samstag, 6. September 1997. Ich befand mich auf der anderen Seite der Tanzfläche und unterhielt mich mit dem DJ, aber als ich mich wieder umdrehte und durch die Rauchwolke blickte, die beständig in der Luft hing, warst du nicht mehr da, spurlos in der Menschenmenge verschwunden. Du hattest nicht verängstigt gewirkt, auch nicht sonderlich besorgt. Wenn es ein Problem gegeben hätte, hättest du dich mir anvertraut. Das hättest du doch, oder nicht?

Ich war deine beste Freundin. Wir haben einander alles erzählt.

»Wirst du mir helfen, Frankie?«, fragt Daniel und klingt plötzlich drängend. »Ich muss herausfinden, was ihr zugestoßen ist. Jemand weiß mehr, als er vorgibt. Der Pier …«

»Der Pier war marode, gefährlich, für die Öffentlichkeit gesperrt …«

»Ich weiß, aber das hat keinen von uns davon abgehalten, ihn zu betreten, oder? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie alleine hingegangen ist. Es muss in der Nacht jemand mit ihr unterwegs gewesen sein …«

Ich kann die Verzweiflung in seiner Stimme hören, und es tut mir so leid für ihn. Es war schwierig für mich, im Lauf der Jahre nicht immer wieder diese Nacht zu durchleben. Aber für deinen Bruder muss es bisweilen unerträglich gewesen sein. All diese unbeantworteten Fragen, die in seinem Kopf herumschwirrten, ihn nachts wach hielten und es ihm nicht erlaubten, darüber hinwegzukommen, sein Leben zu leben.

»Die Leute wollen nicht mit mir darüber reden. Aber du, Franks … du könntest sie zum Reden bringen.«

Natürlich wird er das für dich tun. Ganz der beschützende große Bruder. Ich würde es nicht anders von ihm erwarten.

»Ich weiß nicht. Ich war nicht mehr dort, seit wir damals nach London gezogen sind …« Allein der Gedanke erfüllt mich mit Grauen. Meine ganze Jugend sehnte ich mich danach, der klaustrophobischen Enge der kleinen Küstenstadt zu entfliehen, in der wir aufgewachsen sind und in der allzu oft bereits die dritte Generation ein und derselben Familie wohnte und man als Sonderling betrachtet wurde, wenn man den Wunsch äußerte fortzugehen.

Der Stadt, in der ein dunkles, lang vergangenes Geheimnis niemals in Vergessenheit gerät.

Oder Vergebung findet.

»Bitte, Frankie, um der alten Zeiten willen. Sie war doch deine beste Freundin? Ihr habt dieselben Leute gekannt, hingt mit derselben Clique herum. Willst du denn nicht auch wissen, was ihr zugestoßen ist?«

»Natürlich will ich das«, erwidere ich. Kann ich nach über achtzehn Jahren wirklich noch einmal zurückkehren? Ich hatte mir geschworen, nie wieder einen Fuß in diese Stadt zu setzen. Aber welche Wahl habe ich? Ich unterdrücke ein resigniertes Seufzen. »Wann soll ich kommen?«

Ich werfe mir meinen roten Wollmantel über und informiere Nell knapp und möglichst bestimmt, dass ich mich nicht wohlfühle und nach Hause muss. Sie starrt mich verblüfft und mit weit aufgerissenen Augen an, da ich für gewöhnlich niemals krank bin, doch ich ignoriere ihre besorgte Miene, verlasse das Büro und haste, so schnell es mir meine viel zu hohen Absätze und mein enger Bleistiftrock erlauben, durch den Regen, um ein Taxi anzuhalten. Als ich mich auf den Rücksitz sinken lasse, dreht sich mir der Kopf immer noch, das Leder schmiegt sich kühl an meine Waden, während wir Richtung Islington fahren.

Unvermittelt trifft mich die Endgültigkeit deines Todes.

Es ist vorbei.

Doch dann rufe ich mir das Telefonat mit Daniel in Erinnerung – sein ruhiges Beharren darauf, dass ich nach Oldcliffe zurückkehre, um ihm dabei zu helfen, die Vergangenheit wieder auszugraben – und unterdrücke ein Schaudern.

Es wird niemals vorbei sein.

Ich erinnere mich daran, wie ich dich das erste Mal sah, Soph. Es war im September 1983, wir waren sieben. Es war dein erster Tag an unserer Grundschule, du standest mit unserer Lehrerin Mrs. Draper vor der Klasse und sahst so schrecklich verloren aus mit deinem schlaffen, dünnen Haar und dem blauen Kassengestell auf der Nase. Deine nicht ganz so weißen Strümpfe rutschten an deinen dürren Beinchen hinab, sodass sie sich in Falten um deine Knöchel legten. Auf einem deiner Knubbelknie klebte ein schmuddeliges Pflaster, und der Saum deines grünen Schuluniformrocks löste sich. Als Mrs. Draper fragte, wer sich um die neue Klassenkameradin kümmern wolle, schoss mein Arm in die Höhe. Du sahst aus wie jemand, der eine Freundin gebrauchen konnte.

Als ich durch die Tür trete, kommt mir das Haus ungewöhnlich riesig und aufgeräumt vor, als würde ich es mit anderen Augen sehen, mit deinen Augen. Was würdest du jetzt wohl denken? Würdest du dir mein dreistöckiges Townhouse anschauen und sagen, dass ich alles richtig gemacht habe? Oder würdest du mich auf die Art und Weise aufziehen, wie du es immer getan hast, mit diesem spöttischen Grinsen, das dem von Daniel so sehr ähnelte, und mir sagen, dass ich immer noch Papas kleine Prinzessin bin?

Ich bleibe vor dem Flurspiegel stehen, aus dem mir eine elegante neununddreißigjährige Geschäftsfrau entgegenblickt. Mein Haar ist immer noch dunkel und glänzend und dank meines Friseurs ohne eine Spur von Grau darin. Ich habe einige wenige, kaum sichtbare Falten um meine grünen Augen. Würdest du finden, dass ich alt aussehe? Wahrscheinlich schon. Älter werden ist etwas, um das du dir niemals wirst Sorgen machen müssen. Du wirst, unberührt von der Zeit, für immer jung und rosig bleiben. Für immer einundzwanzig.

Ich wende mich von meinem Spiegelbild ab, ich muss meine Sachen packen. Ich eile nach oben in mein Schlafzimmer. Daniel hat bereits eine Unterkunft für mich organisiert. Ein Freund von ihm besitzt ein Ferienapartment, und da es Februar und keine Saison ist, bekomme ich es zu einem vergünstigten Preis. Morgen früh werde ich mich auf den Weg machen.

Bis dahin muss ich etwas Produktives tun. Ich ziehe meine Louis-Vuitton-Reisetasche aus dem obersten Fach meines Kleiderschranks, öffne sie und stelle sie aufs Bett. Fragen rasen durch meinen Kopf wie galoppierende Rennpferde. Für wie viele Tage soll ich packen? Wie lange wird die ganze Angelegenheit dauern? Dann trifft mich ein anderer Gedanke: Wie soll ich das alles Mike erklären?

Ich stehe in der Souterrainküche und schäle und hacke gerade hektisch Gemüse, als ich Mike ein Hallo rufen höre. Er hat mir letztes Jahr aus einer Gefälligkeit heraus diese Küche eingebaut, das war, bevor wir zusammenkamen. Ich hatte ihn bei den Renovierungsarbeiten für das neue Hotel kennengelernt – solide und kräftig, mit rotblondem Haar und markantem Kinn. Ich fühlte mich sofort zu ihm hingezogen, obwohl wir keinerlei Gemeinsamkeiten hatten. Heute erinnert mich der Anblick der weiß glänzenden Einbaugeräte und der massiven Corian-Arbeitsflächen an unsere Beziehung: von außen so sauber und neu, doch innen sind die Scharniere locker, und in einem der Schränke befindet sich ein Riss.

Das Radio ist laut aufgedreht, und ich lasse mich von Rachmaninow berieseln, um meine angegriffenen Nerven zu beruhigen. Ein großes Glas Merlot hilft ebenfalls dabei. Ich habe schon zwei Ladungen Wäsche gewaschen, für morgen gepackt und mit dem Eintopf für das Abendessen begonnen. Mike wirkt verblüfft, nicht nur weil er mich um diese Uhrzeit zu Hause antrifft – ich bin für gewöhnlich bis spät abends im Büro –, sondern auch weil ich koche.

»Ist alles in Ordnung, Fran?«

Fran. So viel erwachsener als »Frankie« oder »Franks«. Es beschwört das Bild einer eleganten, kultivierten Frau herauf, eines reifen Menschen, von jemandem, der weit entfernt ist von der Frankie meiner Vergangenheit.

»Weinst du?«

»Das sind nur die Zwiebeln«, lüge ich, während ich mir die Hände an der Schürze abwische und zu ihm gehe. Ich lege die Arme um seine Schultern, küsse ihn auf seine immer noch gebräunte Wange und genieße dabei das raue Kratzen der Bartstoppeln an seinem Kinn. Er riecht staubig, nach Ziegelstein und Beton.

Er schiebt mich sanft von sich. »Ich bin schmutzig, ich brauche erst eine Dusche.« Er geht an mir vorbei und verlässt den Raum. Wenige Minuten später höre ich das Wasser im Stockwerk über mir rauschen.

Beim Abendessen erzähle ich ihm von dir.

»Du hast sie nie zuvor erwähnt«, sagt er, den Mund voller Rindfleisch-Karotten-Eintopf. Es ist wahr, dass ich niemals jemandem von dir erzählt habe, Soph. Weder Mike noch meinen Arbeitskollegen noch den wenigen Freunden, die ich mir zugestehe, nicht einmal meinem Exmann. Wir waren – wir sind – so wesenhaft miteinander verbunden, dass von dir zu erzählen, bedeuten würde, mich zu meinem alten Ich zu bekennen. Ich musste ganz neu anfangen, reinen Tisch machen. Es war für mich die einzige Möglichkeit, mit dem Geschehenen klarzukommen.

Ich nehme einen großen Schluck Wein. »Sie war meine beste Jugendfreundin«, sage ich und stelle das Glas mit unsicherer Hand auf den Tisch zurück. Ich nehme meine Gabel und stochere in einer Kartoffel herum, sodass sie weiter in der Soße versinkt. »Wir waren unzertrennlich, siamesische Zwillinge, wie meine Mutter zu sagen pflegte. Aber dann, vor beinahe neunzehn Jahren, verschwand Sophie von einem Tag auf den anderen. Und heute habe ich erfahren, dass ihre Leiche – oder besser gesagt, ihre Überreste – gefunden worden sind.« Ich lege meine Gabel nieder. Ich habe keinen Appetit.

»Nach all der Zeit? Was für eine Riesenscheiße.« Er schüttelt den Kopf, als würde er ernsthaft darüber nachdenken, wie riesig diese »Scheiße« ist, und mir ist nicht ganz klar, was sich hinter diesen blassen Augen abspielt. Ich glaube, nein, ich hoffe, dass er mich nach dir fragen wird – wie wir uns getroffen haben, wie lange wir uns kannten, wie du so warst –, aber er tut es nicht. Er wird niemals erfahren, dass wir uns, als wir neun waren, eine Tanznummer zu Madonnas »True Blue« ausgedacht haben; dass du als Erste erfahren hast, dass ich mit dreizehn Simon Parker hinter dem Fahrradschuppen geküsst hatte; dass du mir dein Herz ausgeschüttet hast, weil du deinen Vater, an den du dich kaum noch erinnern konntest, vermisst hast; dass ich dich einmal so zum Lachen gebracht habe, als du auf meinen Schultern saßt, dass du mir in den Nacken gepinkelt hast. Stattdessen schlucke ich all diese kleinen Wahrheiten unserer Freundschaft mit meinem Rotwein herunter, während Mike weiterisst, systematisch auf seinem Rind herumkaut, es von einer Backe in die andere schiebt wie ein Zementmischer.

Ich verspüre den überwältigenden Drang, ihm mein Glas ins Gesicht zu schütten, nur um eine Reaktion zu provozieren. Meine Freundin Polly sagt immer, Mike sei so locker und lässig, dass er kaum noch aufrecht gehen könne. Womöglich nur ein alberner Spruch, aber er ist wahr. Ich glaube nicht, dass Mike gefühllos ist, aber es mangelt ihm offenbar an emotionalen Kapazitäten, um mit mir zurechtzukommen – oder vielmehr mit meinen Problemen.

Ich frage mich, ob auch ihm der Gedanke gekommen ist, dass unsere Beziehung nicht funktioniert. Ich bereue es, ihm angeboten zu haben, bei mir einzuziehen, aber er hat mich in einem schwachen Moment erwischt. Er tat mir wohl leid, weil er in diesem heruntergekommenen Haus in Holloway leben musste, mit Studenten, die nur halb so alt waren wie er. Doch dann, vor drei Wochen, gerade als ich mit ihm darüber reden wollte, erhielt ich den Anruf von Mum, dass Dad einen Schlaganfall erlitten hatte. Ich hätte mich an Dads Ratschlag halten sollen. Er hat mich immer davor gewarnt, zu früh mit einem Kerl zusammenzuziehen: Es sei schwierig, die Typen wieder loszuwerden, wenn man sie erst einmal dazu eingeladen hatte, Heim und Leben miteinander zu teilen, man würde sich unweigerlich miteinander verstricken, sowohl finanziell als auch emotional, wie zwei Fäden in einem Knoten. Ich habe im Moment nicht die Kraft, mich aus dieser Beziehung zu lösen, den Knoten zu entwirren. Ich erhebe mich vom Tisch und schabe die Essensreste von meinem Teller in den Abfalleimer.

Als wir uns bettfertig machen, erzähle ich Mike von meinen Plänen.

»Sophies Bruder, Daniel, hat mir eine Unterkunft organisiert. Eine Ferienwohnung«, sage ich, während ich mich aus meinem Rock schäle und ihn über die Stuhllehne werfe.

Mike sitzt aufrecht im Bett, seine muskulöse, beinahe unbehaarte Brust ist nackt. Ich stehe immer noch auf ihn, und ich mag ihn nach wie vor. Mir ist nur einfach klar, dass diese Beziehung zu nichts führt.

»So kurzfristig?« Er hebt seine buschige Augenbraue und sieht mir zu, als ich meine Bluse aufknöpfe.

Ich zucke die Achseln. »Es ist außerhalb der Saison, und du weißt ja, wie ich zu Hotels stehe.« Nachdem ich den Großteil meiner Zeit damit verbringe, in einem zu arbeiten, sind Hotels oder Pensionen die letzten Orte, an denen ich nächtigen möchte. Für mich muss es eine abgeschlossene Unterkunft mit Selbstverpflegung sein, abseits von anderen Menschen.

»Warum jetzt? Du hast selbst gesagt, dass sie achtzehn Jahre lang vermisst wurde. Warum habt ihr bis jetzt gewartet, um herauszufinden, was passiert ist?«

Ein zorniges Kribbeln kriecht mein Rückgrat empor. Warum begreift er nicht, dass sich durch den Fund deiner sterblichen Überreste das Blatt gewendet hat? »Weil wir jetzt definitiv wissen, dass sie tot ist!«, blaffe ich ihn an.

Er wirkt verdutzt. »Ich war noch nie in Oldcliffe-on-Sea«, sinniert er und pult an einem nicht existenten Pickel an seinem Oberarm. Falls er darauf anspielt, dass er mich begleiten könnte, so ignoriere ich es.

»Da hast du nicht viel verpasst.« Ich ziehe mir ein Seidentop über den Kopf. Es ist ausgeschlossen, dass er mit mir kommt. Ich brauche Raum zum Atmen.

»Es muss toll gewesen sein, am Meer aufzuwachsen.«

Ich lächle steif und gebe mir Mühe, nicht zu schaudern bei der Erinnerung an meine Jugend in diesem schweinchenrosa Monstrum mit Meerblick. Gott sei Dank hatte Dad den richtigen Riecher und das nötige Kleingeld, um alles zu verkaufen und vor dem Immobilienboom etwas Neues in London zu erwerben. Ich schlage die Decke zurück und lasse mich neben Mike ins Bett gleiten.

»Wie lange wirst du fort sein?« Er zieht mich an sich und schmiegt seine Nase in meinen Nacken.

»Nicht lange«, sage ich und schalte die Nachttischlampe aus. »Ich hoffe, nur ein paar Tage. Ich kann die Hotels nicht allzu lang allein lassen. Nicht jetzt, da Dad …« Ich schlucke. Ich bringe es immer noch nicht über mich, die Worte auszusprechen. Mein Vater, der immer so stark, so fähig, so kompetent war … und jetzt zu einem Schatten seiner selbst verkümmert ist, in seinem Krankenhausbett liegt, Tag um Tag, unfähig zu sprechen, kaum in der Lage, sich zu bewegen. Das alles fühlt sich noch zu frisch an, zu roh. Ich rücke ein Stück ab, schütze Müdigkeit vor und kehre ihm den Rücken zu.

Ich liege still, warte, bis ich sein rhythmisches Schnarchen höre, seine Gliedmaßen schwer gegen meine gedrückt, erst dann steige ich aus dem Bett, schnappe mir den Bademantel, der an der Tür hängt, und schleiche auf Zehenspitzen die Treppe hinunter, um mich im Dunkeln an den Küchentisch zu setzen. Ich gieße mir ein weiteres Glas Rotwein ein. Der Geruch nach Rindereintopf hängt noch in der Luft. Das kleine rote Licht der Geschirrspülmaschine blinkt auf und piept, um mich wissen zu lassen, dass sie ihren Arbeitsgang beendet hat. Das Geräusch klingt seltsam fremd in dem dunklen, leeren Raum.

Ich habe mich die letzten Jahre so sehr darum bemüht, mein Leben in Ordnung zu halten, erfolgreich zu sein, vorwärtszukommen, nicht jeden Tag an dich zu denken. Es ist, als wäre ich in ein Wollknäuel eingesponnen gewesen, aber jetzt haben die Fäden angefangen, sich zu entwirren, und wenn sie sich erst aufgelöst haben, werde ich nackt und entblößt vor den Augen der Welt daliegen.

Jason. Sein Name kommt mir ungebeten in den Sinn.

Ich nehme einen großen Schluck Wein, doch es reicht nicht, um das heftige Klopfen meines Herzens zu beruhigen. Denn die Wahrheit droht herauszukommen, Soph, und mit ihr das dunkle Geheimnis, das wir damals gehütet haben – die eine Sache, die wir nie jemandem erzählen durften. Niemals.

2

Sophie

Donnerstag, 26. Juni 1997

Es ist spät, als ich das hier schreibe. Ich bezweifle, dass es viel Sinn ergeben wird, weil ich nämlich ein kleines bisschen betrunken bin. Aber ich muss es noch schnell loswerden, damit ich es morgen nicht vergesse.

Frankie ist zurück!

Ich habe sie heute Abend gesehen. Sie stand an der Theke im Mojo’s, flankiert von zwei Typen, die ich nicht kannte (der eine von ihnen war übrigens echt heiß!). Sie hatte mir den Rücken zugewandt, doch ich wusste sofort, dass sie es war. Dieses Haar würde ich immer und überall erkennen. Es fiel ihr noch immer in dieser perfekten dunkel glänzenden Bahn über die Schultern. Puppenhaar, daran musste ich immer denken. Das dichte, volle Haar einer Porzellanpuppe. Sie trug einen kamelhaarfarbenen Kunstpelzmantel (zumindest hoffe ich, dass er künstlich war) und hohe schwarze Stiefel bis zum Knie, und als ich sie so durch das Gedränge hindurch betrachtete, verspürte ich tief in mir drin diesen altbekannten Stachel der Eifersucht, weil sie, verdammt nochmal, noch viel schöner war, als ich sie in Erinnerung hatte. Sofort fühlte ich mich schäbig und schlampig gekleidet in meiner Jeans und den Adidas-Turnschuhen (obwohl sie neu sind, die dunkelblauen Gazelles, die ich mir schon seit Ewigkeiten gewünscht habe!).

Dann drehte sie sich um, ihr Blick begegnete meinem, und ihr Mund verzog sich zu einem megabreiten Grinsen. Sie entschuldigte sich bei den zwei süßen Typen, mit denen sie unterwegs war, und teilte die Menschenmenge auf dem Weg zu mir wie ein glamouröser 60er-Jahre-Filmstar. Francesca Howe. Frankie. Meine beste Freundin. Sofort schienen alle anderen Leute in einen schwarz-weißen Hintergrund zu rücken, während sie als Einzige in Farbe erstrahlte.

»Sophie! O mein Gott, ich kann’s nicht glauben! Wie geht es dir?«, kreischte sie, wobei sie wie wild auf und ab hüpfte und aufgeregt mit den Armen wedelte. Ich glaube, sie hatte schon gut einen sitzen, obwohl es gerade erst halb neun war. Sie hat noch nie viel vertragen. Sie zog mich fest in ihre Arme und hüllte mich in eine berauschende Wolke aus YSL Paris, ihrem unverkennbaren Duft, schon zu Schulzeiten. Meine Nase hing im Pelz ihres Vintage-Mantels. Er roch muffig, nach Mottenkugeln und Secondhandläden.

Sie schob mich auf Armeslänge von sich weg, sodass sie mich mustern konnte. »Wow, du siehst so anders aus. Echt hammermäßig«, sagte sie, und ich wusste, sie registrierte jede Einzelheit: meine Strähnchen, meine mit Wachsstift nachgezogenen Augenbrauen, meine Kontaktlinsen. »Und schau, wie groß du bist! Ich fühle mich wie ein Zwerg!« Sie lachte. Ich wollte ihr gegenüber nicht zugeben, dass ich mich plump fühlte neben ihrer grazilen Gestalt. Sie ist winzig, wie Kylie Minogue, aber mit großen Brüsten. Schon in der Schule war ich neidisch auf ihren Busen. Ich bin immer noch flach wie ein Bügelbrett.

»Wie lange ist es her?« Sie hob eine perfekt gezupfte Augenbraue, während sie darüber nachdachte, wie viele Jahre vergangen sein mussten, seit sie von unserer Schule abgegangen war. Ich erinnere mich genau. Es war 1993, vor vier Jahren. »So lange?«, erwiderte sie, als ich es ihr sagte.

Sie ging am Ende des vorletzten Schuljahrs. Ihre Eltern nahmen sie aus unserer leistungsschwachen Oberstufe und schickten sie in ein nobles Internat nach Bristol, damit sie dort ihren Abschluss machen konnte. Wir hatten einander versprochen, in Kontakt zu bleiben, und eine Weile klappte es auch, aber dann wurden ihre Besuche zu Hause immer weniger. Gegen Ende befürchtete ich, dass meine Briefe langweilig, provinziell und nichtig rüberkamen, verglichen mit dem aufregenden Leben, das sie mit den Millicents und Jemimas dieser Welt in einer fernen großen Stadt wie Bristol lebte. Wie konnte die schäbige Siedlung, in der ich mit Mum und Daniel wohnen blieb (und wieder wohne, jetzt, wo ich von der Uni zurück bin), da mithalten? Irgendwann verebbte unser Briefverkehr schließlich ganz, und ich sah sie nicht mehr, bis wir mit der Schule fertig waren. Wir trafen uns den Sommer über ein paarmal und hingen miteinander ab, aber die Stimmung zwischen uns war etwas angespannt, als ich an der University of Warwick angenommen wurde und Frankie ins Nachrückverfahren kam. Sie sagte es natürlich nicht, aber ich wusste, dass sie dachte, aufgrund ihrer Privatschulausbildung müsse es eigentlich andersherum sein. Wohingegen ich in unserer Familie die Erste überhaupt war, die eine Hochschule besuchen würde.

Ich erwartete, Frankie in den Semesterferien zu treffen, aber sie kam nur selten nach Hause. Ich begegnete einmal zufällig ihrer Mum im Safeway-Supermarkt, und sie erzählte mir, dass Frankie und einige ihrer »wohlhabenden Kommilitonen« zusammen ein Haus gemietet hatten, wo sie das ganze Jahr über wohnen konnten, nicht nur während des Semesters. Maria schien etwas verärgert darüber und ließ durchblicken, dass es die Idee von Frankies Vater gewesen war, weil er sie wie immer zu sehr verwöhnte. Ich habe es Frankie nie wirklich übel genommen, dass sie nicht vorbeikam. Wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, in den Ferien woanders hinzufahren, wäre ich ebenfalls nicht hergekommen.

Manchmal fragte ich mich auch, ob sie wegblieb, weil die Rückkehr nach Oldcliffe zu schmerzhaft war. Der Ort erinnerte sie – ich erinnerte sie – daran, was mit Jason passiert war, als wir sechzehn waren. Nach jenem Sommer war unsere Freundschaft nie wieder dieselbe. Wir hatten immer über alles reden können, doch auf einmal waren wir nicht mehr in der Lage, über ihn zu sprechen, denn allein die Erwähnung seines Namens ließ die schreckliche Sache aufleben, die wir getan hatten.

»Und? Wie war es auf der Warwick?«, fragte sie weiter. »Du warst doch immer die Kluge von uns beiden. Du hast Englische Literatur studiert, nicht wahr? So wie du es immer wolltest.«

Ich nickte. Allmählich machte mich ihre Aufmerksamkeit ganz verlegen. Das war das Besondere an Frankie. Sie hatte immer schon dieses angeborene Talent, einem das Gefühl zu geben, man sei der wichtigste Mensch auf der Welt. »Was ist mit dir?«

Sie winkte ab. Ihre Nägel waren in einem blassblauen Farbton lackiert wie bei einer Leiche. »Am Ende habe ich einen Platz an der Cardiff bekommen und Betriebswirtschaft studiert.« Sie zuckte die Achseln. »Mein Dad wollte es so.«

»Das ist doch super«, sagte ich, dachte mir aber: wie langweilig. »Bleibst du den Sommer über hier?«

Sie hakte sich bei mir unter. »Ja. Mein Vater will, dass ich Karriere im Hotelmanagement mache.« Sie warf ihren Kopf in den Nacken und lachte. »Na klar doch. Was hast du vor?« Ihre Stimme klang vornehmer als früher, abgehackter und glatter, als ob sie ihr im Internat all die rauen südwestenglischen »R«s abgefeilt hätten.

»Ich weiß noch nicht. Ich bin gerade dabei, mich zu bewerben. Ich würde gerne ins Verlagswesen gehen.« Ich wollte ihr nichts von den Zweifeln erzählen, die spätnachts an mir nagten: dass ich niemals einen anständigen Job finden, dass ich wie meine Mutter und mein Bruder für den Rest meines Lebens in Oldcliffe festsitzen würde und mit dem perversen Stan in dessen schmieriger Imbissbude am Strand arbeiten müsste, ungeachtet meines »klugen Köpfchens«.

Das würde Frankie nicht passieren. Ja, ich hätte besser in meinen Prüfungen abschneiden, hätte es auf eine noch angesehenere Universität schaffen können, aber das bedeutete gar nichts. Nicht wenn man reiche Eltern hatte, die einem das Geld hinterherwarfen, so wie es Frankies Eltern getan hatten. Diese drei Jahre in Warwickshire waren womöglich meine einzige Chance, um aus diesem Kaff herauszukommen.

»Ach, ich habe dich vermisst, Soph«, sagte sie plötzlich ernst, während sie mich liebevoll musterte. »Es war einfach nicht dasselbe … Schule ohne dich.«

Ich stimmte ihr zu. Ihre lange Abwesenheit lastete schwerer auf mir, als ich zugeben wollte. Sie war schließlich meine erste beste Freundin. Meine einzige beste Freundin.

Sie bugsierte mich zur Bar, zauberte ein Bündel Geldscheine hervor und bestellte zwei Diamond-White-Cider. Dann verbrachten wir die nächste Stunde damit, uns auf den neuesten Stand zu bringen und die fehlenden Jahre nachzuholen; wir redeten über die Musik, die wir mochten, die Bands, auf die wir standen. Normalerweise haben wir denselben Geschmack. Die letzten drei Jahre schmolzen dahin, und es fühlte sich an, als ob ich sie erst gestern gesehen hätte. Sie erzählte mir von diesem neuen Klub namens The Basement, der in der Hauptstraße eröffnet hatte und in dem Indie und Alternative liefen, und versprach mir, dass wir zusammen dort hingehen würden, und bevor ich michs versah, wurde die letzte Runde ausgerufen. Ich schaute mich nach Helen um, die Freundin, mit der ich gekommen war, aber sie war schon längst gegangen. Frankie bestellte noch zwei Diamond-White-Cider, und als wir klirrend die Flaschen aneinanderstießen, sagte sie: »Prost, Soph! Auf einen letzten Sommer voller Spaß. Ein letzter Sommer, bevor wir in die echte Welt rausmüssen, bevor wir Erwachsene sein müssen, mit Jobs und Verantwortung und dem ganzen Kram.«

Wir gingen nicht sofort nach Hause. Wir schlenderten im Zickzack zum Strand hinunter, die Arme untergehakt, kichernd, beschwipst und überströmend von Diamond Whites. Wir hockten uns auf die Ufermauer und sahen zu, wie das Wasser über unsere Füße schwappte. Die Luft war noch immer feucht nach einem heißen Tag. Wir konnten gar nicht aufhören zu reden.

Ich kam erst nach Mitternacht nach Hause, und jetzt kann ich nicht schlafen, weil ich viel zu aufgeregt bin.

Sie ist zurück. Meine beste Freundin ist zurück. Ich habe sie so sehr vermisst. Ja, ich hatte Spaß an der Uni und habe einige tolle Freunde gefunden. Aber niemand kam je gegen Frankie an.

Sie hat ihren festen Platz in einigen meiner liebsten, wertvollsten Kindheitserinnerungen: wie sie mir das Rollschuhlaufen beibringt; unsere Pyjamapartys in ihrem gemütlichen Dachzimmer des Hotels ihrer Eltern; Brunch in ihrem offiziellen Esszimmer mit Meerblick (ganz im Gegensatz zu mir, Mum und Daniel, die wir unser Abendessen auf dem Sofa vor dem Fernseher zu uns nahmen); wie wir Dosenbier auf dem Pier trinken; uns Tänze zu Madonna und Five Star in meinem (viel kleineren) Zimmer ausdenken; uns in der letzten Reihe kichernd über Mr. Marrows Toupet lustig machen.

Aber auch in einigen meiner schlimmsten. Das ist die Schattenseite daran, wenn man jemanden so lange kennt wie ich Frankie. Aber davon lasse ich mir die Laune nicht verderben, ich bin immer noch ganz hibbelig.

Das wird der beste Sommer aller Zeiten!

FREITAG

3

Frankie

Der Himmel ist grau und bedrückend, als ich durch das Zentrum von Oldcliffe-on-Sea fahre, die Wolken hängen so tief, als könnte ich die Hände nach ihnen ausstrecken und sie berühren. Der Sand zu meiner Linken ist schlammig braun, das Meer hat die Farbe von schmutzigem Spülwasser und ist so weit entfernt, dass ich die Augen zukneifen muss, um zu erkennen, wo die Küste endet und die Wellen beginnen. Ein paar vereinzelte Spaziergänger in Gummistiefeln verteilen sich auf dem Strand. Die Jacken vom Wind fest gegen ihre Rücken gepresst, werfen sie Stöckchen für ihre hageren, nassen Hunde.

Ich komme an dem Abschnitt vorbei, wo einst das Strandbad war und wo wir als Kinder den Großteil des Sommers verbrachten. Es ist der Ort, an dem mein Vater uns das Schwimmen beigebracht hat. Jetzt ist es mit Brettern vernagelt und verlassen – ein jämmerlicher Anblick wie ein sitzen gelassener Liebhaber. Der Grand Pier, etwas weiter die Küste entlang, hat sich kaum verändert mit seiner opulenten Art-déco-Fassade und den knallroten Buchstaben über dem Eingang.

Auf der anderen Straßenseite, dem Meer zugewandt, erheben sich die Terrassen der viktorianischen Hotels und Gästehäuser. Ich komme an dem Gebäude vorbei, das einstmals unser Hotel beherbergte – das, in dem ich aufgewachsen bin – und dessen bonbonrosa Mauern nun in einem etwas niveauvolleren Taubenblau gehalten sind.

Das Zentrum wurde ein wenig durchgentrifiziert – ein paar gehobenere Cafés und elegante Restaurants sind zwischen den Discountern und schmierigen Imbissläden aus dem Boden geschossen –, doch der Großteil der Innenstadt ist unverändert, als wäre die Zeit irgendwann Mitte der 50er-Jahre stehen geblieben. Unglücklicherweise sind auch die Spielhallen noch immer da, mit ihrer lauten, nervenden Musik und den grellen, blinkenden Lichtern. Als Kinder haben wir sie geliebt. Wir gaben all unser Taschengeld an den Zehnpenceautomaten aus.

Ich kann mir vorstellen, dass die Stadt im Sommer nur so vor Leben und Touristen wimmelt, genauso wie früher: Pärchen, die am Ufer entlangschlendern, Kinder, die Sandburgen bauen, Rentner, die, auf die Holzbänke gequetscht und mit Thermoskannen und selbst gemachten Sandwiches bepackt, den Seeblick genießen, verliebte Teenager, die im Riesenrad ihre Hände umklammern. Heute wirkt sie wie eine Geisterstadt. Heute bringt sie jede unerwünschte Erinnerung an die Vergangenheit zurück, die ich jemals hatte.

Ich verlasse das Zentrum und folge der Küstenstraße, die in einem großen Bogen nach links verläuft. Und da sehe ich es. Das viktorianische Relikt erhebt sich aus dem trüben Meer wie ein verfaulendes Monstrum mit stählernen Beinen, die aussehen, als würden sie jeden Moment unter seinem Gewicht zusammenbrechen. Der alte Pier. Der Ort, an dem du verschwunden bist. Du mochtest diesen Pier, doch ich hasste ihn. Und heute hasse ich ihn noch mehr. Als ich näher komme, ist es offensichtlich, dass er seit meinem Wegzug noch baufälliger, noch heruntergekommener geworden ist. Würde ich noch ein Stück weiterfahren, würde ich die ausgedehnte Wohnsiedlung erreichen, in der du und Daniel aufgewachsen seid. Es ist mir alles immer noch so vertraut, als wäre eine Landkarte dieses Ortes in mein Gehirn tätowiert.

Ich lenke meinen Range Rover in eine Parkbucht und schalte den Motor aus. Dann sitze ich da und starre auf den Pier, lasse die Erinnerungen über mich hinwegspülen, an all die Male, die wir hier waren – als Teenager mit Jason, aber auch später mit Daniel und seinen Freunden. Der Pier wurde 1989 für die Öffentlichkeit gesperrt, aber das hielt uns nie davon ab. Es war ein toller Ort, um abseits der Innenstadt herumzuhängen, ein Ort, wo wir in Ruhe herumsitzen, unser Red-Stripe-Bier trinken und auf meinem tragbaren CD-Player Blur und Oasis hören konnten. Wir achteten darauf, uns nie zu weit auf den langen Landungssteg hinauszuwagen, und erst recht nicht bis zu dem verlassenen Pavillon am anderen Ende. Wir hatten genug Geistergeschichten gehört, die man sich in den Pubs erzählte: der Erbauer, der vom Pavillon fiel und jetzt des Nachts darin herumirrte; die Frau in dem viktorianischen Nachthemd, die sich und ihr neugeborenes Kind in die Fluten stürzte, nachdem ihr Ehemann sie verlassen hatte. Wir bezweifelten, dass irgendetwas an diesen Geschichten stimmte, trotzdem liebten wir es, uns damit gegenseitig Angst einzujagen.

Jetzt ist der Pier abgesperrt und menschenleer. Am Eingang hängt ein großes rotes Schild: ACHTUNG! BETRETEN VERBOTEN, auch wenn es immer noch ein Leichtes wäre, durch die behelfsmäßige Abzäunung zu klettern. Hätte es sie zu unserer Zeit gegeben, ich bin mir sicher, wir hätten es getan.

Ich bleibe noch eine Weile sitzen und lausche dem Regen, der auf das Dach und die Windschutzscheibe trommelt, schaue den Wellen zu, die sich in Rage peitschen wie tollwütige Hunde mit schäumenden Lefzen. Auf dem Weg hierher habe ich an der Tankstelle am Stadtrand gehalten. Es ist keine Elf-Station mehr wie zu unserer Zeit, Soph – jetzt ist es eine Shell-Tankstelle. Vor dem Eingang reihten sich die Zeitungen. MENSCHLICHE ÜBERRESTE AN STRAND GESPÜLT, prangte auf dem lokalen Käseblatt. Irgendwie erschien es mir so unpersönlich, so falsch, auf diese Art und Weise über dich zu sprechen.

Ich werde niemals diese erste Zeit nach deinem Verschwinden vergessen. Am nächsten Tag, nachdem sie gemerkt hatte, dass du nicht nach Hause gekommen warst, schlug deine Mutter Alarm. Anfangs dachte sie, du hättest bei mir oder Helen übernachtet, also wartete sie und wartete, doch nachdem sie alle deine Freunde vergeblich angerufen hatte, wandte sie sich an die Polizei. Bis zu diesem Zeitpunkt waren beinahe 24 Stunden verstrichen, seit dich jemand zum letzten Mal gesehen hatte. Die Polizei verhörte uns alle, die Küstenwache suchte einige Tage lang alles nach dir ab, aber du warst wie vom Erdboden verschwunden. Niemand konnte es verstehen. Sie fanden nur deinen Turnschuh am Rand des alten Piers. Danach flauten die Ermittlungen ab. Die Polizei glaubte offenbar, dass du vom alten Pier gefallen und ertrunken warst. Es gab keinen offiziellen Abschluss. Deine Familie beantragte keine gerichtliche Untersuchung, also galtest du weiterhin als vermisst.

Und jetzt … die Zeitungsschlagzeile blitzt vor meinem inneren Auge auf, und ich blinzle angestrengt, um sie zu vertreiben.

Ich muss los. Es ist beinahe fünfzehn Uhr, und ich kann das Treffen mit Daniel nicht länger hinausschieben. Widerstrebend lasse ich den Motor an und will gerade losfahren, als mir etwas auf dem Pier ins Auge fällt. Eine Gestalt lehnt sich so weit über die Brüstung, dass es aussieht, als ob sie jeden Moment in die raue See stürzen könnte. Es ist nur eine dunkle Silhouette, aber mit dem langen Haar, das wild um das herzförmige Gesicht peitscht, sieht sie aus wie ein Mädchen. Sie sieht aus wie du. Mir wird flau im Magen. Du kannst es nicht sein. Der Pier ist abgesperrt, die Planken sind morsch und voller Löcher. Niemand könnte jetzt noch über diesen Steg gehen, ohne durch die Bretter zu brechen.

Plötzlich reißt die tief stehende Sonne die Wolken auseinander, ergießt sich über den Pier und blendet mich beinahe. Sie zwingt mich, die Augen zu schließen, und schwarze kleine Pünktchen tanzen hinter meinen Lidern. Als ich sie wieder öffne, hat sich der Himmel erneut in sein trostloses Grau gehüllt, und der Steg ist wieder leer. Das Licht hat mir einen Streich gespielt.

Das Ferienapartment liegt weit oben auf den Klippen mit Blick auf den alten Pier. Als ich nach rechts abbiege, ist mein Mund trocken. Ich bin nicht länger auf der Küstenstraße, sondern fahre die steile Hill Street hinauf, wobei mein Wagen die Schlaglöcher mit Leichtigkeit nimmt. Schließlich wird die Straße flacher, und ich rolle langsam am Bürgersteig entlang, bis ich Beaufort Villas erblicke, ein zitronengelb und weiß gestrichenes viktorianisches Wohnhaus mit großen Erkerfenstern und kunstvoll verzierten spitzen Dachgiebeln. Es steht in einer Reihe weiterer, beinahe identischer eiscremefarbener Gebäude, allesamt der Bucht von Oldcliffe zugewandt und auf den alten Pier hinabblickend wie ein Haufen missbilligender alter Tanten in ihrem Sonntagsstaat. Dieser Teil des Ortes war schon immer etwas angesehener, mit seinen herrschaftlichen Häusern und den privaten Parkanlagen, ungeachtet des heruntergekommenen Piers.

Ich biege in die Einfahrt, die Reifen rollen knirschend über den Kies, und parke neben einem goldenen Vauxhall. Ein Mann sitzt auf einer niedrigen Mauer neben der Eingangstür, ein Bein über das andere Knie gelegt, und kritzelt etwas in ein Notizbuch. Ich weiß, dass es Daniel ist, selbst nach all diesen Jahren: der Schwung seines Kinns, die Linie seiner langen Nase und der Wirbel auf seinem Kopf, weswegen sein dunkles Haar niemals ordentlich saß, sondern ihm immer über die Stirn fiel, sodass er es sich ständig aus den Augen streichen musste. Beim Geräusch meiner Reifen blickt er erwartungsvoll auf und steckt den Stift hinter sein Ohr. Meine Hand zittert leicht, als ich die Handbremse anziehe. Warum macht es mich so nervös, hierher zurückzukommen? Meetings abhalten, schwierige Kunden beschwichtigen, mich um desillusionierte Mitarbeiter kümmern … das ist alles ein Kinderspiel verglichen mit dem, wie ich mich in diesem Moment fühle. Ich steige in meiner Skinny-Jeans und den Stiefeln mit den spitzen Absätzen aus dem Wagen und gebe mir Mühe, dabei elegant auszusehen. Die kalte Luft, die mir entgegenweht, ist wie ein Schlag ins Gesicht.

»Frankie?« Er springt von der Mauer auf und kommt lässig auf mich zu, immer noch rank und schlank und extrem groß. Er trägt eine schwarze Jeans, einen langen dunklen Mantel und einen gestreiften Schal, den er bis zum Kinn hochgezogen hat. Er lässt das Notizbuch in die Brusttasche seines Mantels gleiten. Aus einiger Entfernung sieht er immer noch aus wie der dreiundzwanzigjährige Junge, der er war, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, aber als er näher kommt, kann ich sehen, dass das Alter seinen einstmals kantigen Gesichtszügen etwas Weiches, Volleres verliehen hat und sein beinahe schwarzes Haar mit vereinzelten silbrig-blitzenden Strähnen durchzogen ist. Seine Haut wirkt rauer, weniger durchscheinend. Meine früheste Erinnerung an Daniel ist, wie er auf seinem BMX-Rad durch die Straßen der Wohnsiedlung flitzt, in dem Versuch, uns mit seinen Kunststücken zu imponieren. Er war neun. Jetzt ist er einundvierzig und ein richtiger Mann. Bei dem Gedanken werde ich rot.

Wir umarmen uns unbeholfen. Dann mustert er mich mit einem schiefen Lächeln, und ich frage mich unwillkürlich, ob er enttäuscht ist, dass ich nicht so bin wie in seiner Erinnerung. »Du hast dich kein bisschen verändert, Frankie Howe«, sagt er charmant wie eh und je. »Du siehst immer noch aus wie eine echte Lady.« Und da bin ich wieder, in deinem Jugendzimmer, mit Daniel, der auf deinem Bett herumlümmelt und uns mit spöttisch gehobener Braue und einem Funkeln in den grauen Augen neckt und ärgert.

Ich muss lachen. »Ich hatte ganz vergessen, dass du mich immer Lady Frankie genannt hast.«

»Na ja, du warst eben eine feine Dame.« Er streicht sich das Haar aus den Augen, und die Geste ist mir so vertraut, so liebenswert, dass mir beinahe die Tränen kommen. Verärgert über mich selbst, blinzle ich sie zurück. Ich war nie eine Heulsuse, das war mehr dein Ding. Ich habe dich früher immer damit aufgezogen, dass du zu nahe am Wasser gebaut hättest.

»Ich war keine feine Dame«, entgegne ich, und meine Verlegenheit lässt mich harscher klingen als beabsichtigt, aber ich weiß, dass mein Einwand auf taube Ohren stoßen wird. So wie schon immer. Ich war das Mädchen aus dem großen, tollen Hotel, wohingegen du und Daniel die Kinder aus der Arbeitersiedlung wart, mit den 60er-Jahre-Reihenhäusern und den schäbigen Garagen.

Er holt einen Schlüssel aus seiner Hosentasche. »Na, dann herein mit dir, Lady Frankie«, neckt er mich. »Lass mich dir dein Schloss zeigen.«

Ich folge ihm durch den langen Hausflur. Die Decken sind hoch und aufwendig mit Stuck verziert, die Treppenstufen mit einem blassbraunen Wollteppich ausgelegt. Zu beiden Seiten der Treppe befindet sich jeweils eine Tür mit einer Nummer darauf. »Deins ist im Obergeschoss«, sagt er, als er bemerkt, dass ich vor dem linken Apartment stehen bleibe. Ich folge ihm die Stufen hinauf zu einem weitläufigen quadratischen Flur. Hier befinden sich zwei weitere gegenüberliegende Türen mit einem kleinen bogenförmigen Fenster dazwischen.

Ich gehe zu dem Fenster und blicke über die Bucht hinaus. »Wow, eine sagenhafte Aussicht«, sage ich, obwohl mir schwer ums Herz wird. Ich will nicht jeden Tag auf den Pier schauen müssen und an den Ort erinnert werden, an dem du verschwunden bist. Den Ort, an dem du gestorben bist, korrigiere ich mich.

Ich spüre ihn, wie er näher kommt und sich hinter mich stellt. Er legt eine Hand auf meine Schulter. »Es tut mir leid, dass man den Pier von hier aus sehen kann«, sagt er, als könne er meine Gedanken lesen. »Aber ich habe mir gedacht, dass du kein Hotelzimmer im Zentrum willst, und diese Apartments sind fantastisch, wie geschaffen für Lady Frankie«, witzelt er, um die Stimmung aufzuhellen. Ich drehe mich zu ihm um, unsere Nasenspitzen sind nur wenige Fingerbreit voneinander entfernt.

»Ist schon okay«, lüge ich. »Du hast das Richtige getan, und ich bin ja nicht allzu lange hier …« Meine Stimme verklingt, als unsere Blicke sich begegnen. Die Luft zwischen uns verändert sich, dicht und schwer von all den Dingen, die in den letzten achtzehn Jahren ungesagt geblieben sind.

Er bricht als Erster den Blickkontakt und dreht sich zur Tür zu seiner Linken. Eine chromglänzende Vier prangt auf dem weiß lackierten Holz. Leise schiebt er den Schlüssel in das Schloss und öffnet sie. Die Luft ist abgestanden, als sei sie zu lange eingesperrt gewesen.

Ich bleibe hinter ihm, während er mich in der Wohnung herumführt. Sie ist hübsch und freundlich, mit großen, luftigen Räumen und dezent gestrichenen Wänden. Das Schlafzimmer verfügt über ein Doppelbett und geht auf den Hinterhof hinaus, mit Blick auf die Mülltonnen. Nebenan befindet sich eine moderne kleine Einbauküche. Die großen Erkerfenster des Wohnzimmers eröffnen den Blick auf die raue graue See. Die Böden sind aus Mahagoni und knarren unter meinen Stiefeln. Das Apartment ist stylish und dem blassgrauen Samtsofa und dem gläsernen Beistelltisch nach zu urteilen offensichtlich eher für Pärchen als für Familien mit kleinen Kindern gedacht. In einer Ecke steht ein Flachbildfernseher, und gegenüber vom Sofa befindet sich ein gusseiserner Kaminofen mit einem Stapel Holz daneben. Es ist eine luxuriöse Unterkunft, aber sie hat eine unbelebte Aura an sich, einen muffigen Geruch, der nach wochenlangem Leerstand riecht. »Es ist nur eine Zweizimmerwohnung, aber mein Kumpel sagt, du kannst bis nächsten Freitag bleiben. Danach ist sie leider schon reserviert, irgendwer, der für ein verlängertes Wochenende herkommt. Ansonsten hättest du auch länger bleiben können.«

Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen, aber allein der Gedanke, hier ein paar Tage bleiben zu müssen, erfüllt mich mit Grauen, ganz zu schweigen von einer ganzen Woche. »Ich bin mir nicht sicher, wie lange ich bleiben kann, Daniel. Ich muss mich um das Hotel kümmern, jetzt, da mein Dad …«

Ich spüre, wie Daniel sich neben mir versteift. »Ich habe das mit deinem Vater gelesen«, erwidert er und dreht sich um, um mich anzusehen. »Das muss ein großer Schock gewesen sein, für euch alle.«

Ich blicke ihn überrascht an. Es war nur ein kleiner Artikel in der überregionalen Presse, irgendwo zwischen die Wirtschaftsseiten gequetscht. Ich hatte gehofft, dass niemand ihn entdecken würde, und am allerwenigsten die Bewohner von Oldcliffe, die sich an uns erinnern. Dad hatte immer schon seinen Stolz, selbst jetzt noch.

»Ja, das war es. Es war ein ziemlich ernster Schlaganfall …« Ich schlucke den Kloß in meiner Kehle hinunter.

Seine Finger streifen meinen Arm, dann zieht er seine Hand weg und schiebt sie in die Tasche, als würde er sich selbst nicht trauen.

Ich sage ihm nicht, dass ich denke, dass mein Vater sterben wird. Dass die Verantwortung, die Leitung zweier Hotels zu übernehmen und ein drittes zu eröffnen, schwer auf meinen Schultern lastet. Dass ich eigentlich nicht die Zeit habe, um für ein sinnloses Unterfangen herzukommen, und dass ich es nur für ihn tue, um der alten Zeiten willen. Und für dich. Für uns.

»Wie viele Apartments befinden sich in dem Gebäude?«, frage ich und gehe zum Fenster. Draußen ist es beinahe dunkel. Daniel folgt mir.

»Zwei im Obergeschoss und zwei unten. Es ist außerhalb der Saison, und ich glaube, dass nur eine der Wohnungen unten belegt ist.« Er zieht eine Grimasse. »Du kommst doch klar, oder? So ganz allein in diesem großen, gruseligen Haus?« Er lacht, und es fühlt sich an wie ein Schlag in den Magen. Sein Lachen ist mir so vertraut. Es ist deinem so ähnlich.

»Ich glaube nicht an Geister«, erwidere ich mit einem abschätzigen Schnauben.

»Nicht einmal an Greta, die laut ihr Neugeborenes beklagt, um ihren untreuen Ehemann zu bestrafen?«

»Ach, hör doch auf!«, antworte ich lachend und boxe ihn spielerisch in den Oberarm. »Du hast dich überhaupt nicht verändert, was? Du benimmst dich immer noch ganz wie der nervige große Bruder, der versucht, mich zu verarschen.«

Er zuckt die Achseln, aber ich kann sehen, dass er sich freut. Und dann wird es mir klar. Er muss diese Rolle vermisst haben, seitdem du verschwunden bist. Vielleicht erinnert ihn meine Anwesenheit hier an dich, an unsere Kindheit. Braucht er wirklich meine Hilfe, um nach all dieser Zeit die Wahrheit über dein Verschwinden aufzudecken? Oder will er mich hier haben, weil ich ihn an all das erinnere, was wir hatten?

Und was wir verloren haben.

Während Daniel meine Tasche aus dem Wagen holt, mache ich mich daran, die Vorhänge im Wohnzimmer zuzuziehen. Der Pier zeichnet sich als schwarze Silhouette vor dem dämmrigen Himmel ab, die beiden altmodischen Laternenpfosten nahe des Eingangs beleuchten einen Teil der zerbrochenen Planken und verfaulenden Streben wie das Rampenlicht auf einer Bühne. Die Kuppel des Pavillons ragt undeutlich in der Ferne auf, ein Tintenfleck am Horizont. Ein Schauder läuft mir über den Rücken, und ich ziehe die Vorhänge zu.

Ich gehe in die Küche, um uns Tee zu machen, und registriere gerührt, dass entweder Daniel oder der Besitzer einige Dinge wie frisches Brot, Milch und Teebeutel für mich besorgt hat.

»Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob du Zucker nimmst«, sage ich, als ich mit zwei Bechern in der Hand ins Wohnzimmer zurückkehre. Er sitzt gemütlich auf dem Sofa, mit meiner Reisetasche zu seinen Füßen. Das Feuer im Kaminofen brennt.

»Nein, ich bin so schon süß genug«, erwidert er grinsend und nimmt mir einen Becher ab. »Danke«.

»Hast du die Milch und die Teebeutel gekauft?«

Er zuckt die Achseln. »Ich dachte, es kann nicht schaden. Aber was hast du in dieser Reisetasche? Die wiegt ja eine Tonne.«

»Das würdest du gerne wissen, was?«, gebe ich neckisch zurück und setze mich neben ihn. »Danke, für die Milch und die Teebeutel …« Ich berühre seinen Arm, doch er versteift sich, also nehme ich meine Hand wieder weg, der Rest meiner Worte erstirbt auf meinen Lippen.

Seine langen Finger umschließen den Becher, und er bläst hinein, bevor er daran nippt.

»Was hast du all die Jahre getrieben?«, frage ich und versuche, meine Stimme heiter klingen zu lassen.

Sein Blick verfinstert sich, und er umfasst den Becher fester. Ich bemerke einen schlichten Silberring an seiner rechten Hand und frage mich, von wem er ihn hat. Zunächst antwortet er nicht, und ich befürchte, dass ich ihn irgendwie gekränkt haben könnte. Eigentlich verfüge ich über eine gute Intuition, wenn es um die Stimmungen und Gefühle meiner Mitmenschen geht, ich weiß, wann ich die richtige Frage stellen muss oder wann ein Kompliment nötig ist, um das Eis zu brechen. Tatsächlich bin ich stolz darauf; in meiner Branche ist es eine Fähigkeit von unschätzbarem Wert. Aber ich bin mir nicht sicher, was die richtige Umgangsform für eine Situation wie diese ist. Was sagst du zum Bruder deiner besten Freundin am Tag, nachdem ihr erfahren habt, dass ihre sterblichen Überreste gefunden wurden? Was ist die angemessene Konversation in so einem Moment?

Er blickt über den Rand seiner Tasse hinweg zu mir. »Na ja, ich bin eine Weile ziemlich von der Bahn abgekommen.« Er zuckt die Achseln, sieht aber beschämt drein. »Du weißt ja, wie es manchmal ist.«

Ich nicke und erinnere mich daran, wie du dir Sorgen um ihn gemacht hast. Seine missglückte Mittlere Reife und seine halbherzigen Versuche, einen Job zu finden. Deine Bedenken, er könne für immer in Oldcliffe-on-Sea hängen bleiben.

»Und dann beschloss ich, dass ich meinem alten Traum folgen sollte – der Musik.«

Ich verspüre einen Anflug von Enttäuschung. »Spielst du immer noch in der Band?« Ich erinnere mich an die Band – vor allem weil sie so unglaublich schlecht war. Das hielt die Jungs jedoch nicht davon ab, fast jedes Wochenende nach Bristol zu pilgern, um in irgendwelchen Spelunken aufzutreten. Daniel war eigentlich gar kein schlechter Gitarrist; das Problem war eher, dass der Sänger Sid keinen Ton traf, aber niemand brachte es übers Herz, ihm das zu sagen.

Er kichert. »Ganz sicher nicht. Ich merkte, dass ich besser darin war, über Musik zu schreiben, als selbst welche zu machen. Also bin ich ans College gegangen, habe Journalismus studiert und bin Musikjournalist geworden.«

»Wow! Du hast es hier raus geschafft?«

Er stößt ein ironisches Lachen aus. »Jetzt kling nicht so überrascht. Was hast du denn gedacht, was aus mir geworden ist? Dass ich bei McDonald’s gelandet bin? Oder mich aufs Heroinspritzen verlegt habe?«

»Nein«, erwidere ich wenig überzeugend.

»Wie auch immer, ich war einige Jahre als Musikjournalist tätig, habe für den Melody Maker gearbeitet, dann für Q. Ich habe in London gelebt und hatte dort eine tolle Zeit.« Er lächelt, als würde er sich an einige persönliche Dinge erinnern. »Tja, und jetzt bin ich Redakteur der hiesigen Zeitung.«

»Du bist hierher zurückgezogen?« Ich kann den Spott in meiner Stimme nicht unterdrücken.

Er funkelt mich wütend an, und ich bemerke die Feindseligkeit in seinem Blick. »Ja, natürlich, erst kürzlich. Oldcliffe ist meine Heimat, außerdem fühle ich mich hier Sophie näher. Ich kann nicht für immer wegrennen. Genauso wenig du.«

Beschämt lasse ich den Kopf sinken. »Ich konnte nicht bleiben«, sage ich, den Blick auf meinen Schoß geheftet. »Als meine Eltern das Hotel in London kauften, schien es mir das Beste, mit ihnen zu gehen. Ein Neuanfang. Denk bitte nicht schlecht von mir, Dan.«

»Ich denke nicht schlecht von dir«, erwidert er barsch. »Du bist jetzt hier, oder nicht? Wenn es darauf ankommt.«

Ich hebe den Blick, und Daniel sieht mich an, so wie er es immer getan hat. Als könne er geradewegs in mich hineinsehen. Du hast immer gewitzelt, dass er in mich verliebt sei, und es gab Zeiten, da dachte ich das ebenfalls. Ich habe nie auch nur in Erwägung gezogen, dass zwischen uns etwas laufen könnte. Oh ja, ich habe mit ihm geflirtet, natürlich. Und es gab eine Zeit, eine sehr kurze Zeit, in der ich mit dem Gedanken spielte, mich von ihm küssen zu lassen. Doch das war der Sommer, in dem wir Jason kennenlernten.

Ich nehme einen Schluck von meinem Tee. Meine Wangen glühen.

Schließlich bricht Daniel das Schweigen. »Und was war mit dir? Welch behütetes Dasein hast du geführt?« Er grinst mich an, aber es fällt mir schwer, sein Lächeln zu erwidern. Behütetes Dasein. Ich nehme an, das ist es, was jeder denken würde, der einen Blick auf mein Leben wirft. Ich habe Geld, ein hübsches Heim, einen guten Job als Direktorin einer Hotelkette. Und dennoch, ein Teil von mir starb in der Nacht deines Verschwindens.

Daniel sieht mich erwartungsvoll an, also erzähle ich die übliche Geschichte: von meiner Heirat mit einem Hedgefonds-Manager, den ich vergötterte, von unserem Kinderwunsch, von meiner Unfähigkeit, ein Kind auszutragen, von seiner mehr als klischeehaften Affäre mit seiner Kollegin und von unserer anschließenden Scheidung. Ich vergesse zu erwähnen, dass die Unterhaltszahlungen, die ich erhielt, dabei halfen, das neue Hotel zu kaufen, und ich lasse ebenfalls weg, dass es mir heute schwerfällt, Männern zu vertrauen – selbst so soliden, zuverlässigen Männern wie Mike.