Schopenhauer. Eine Einführung - Dieter Birnbacher - E-Book

Schopenhauer. Eine Einführung E-Book

Dieter Birnbacher

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Beschreibung

Nietzsche erklärte ihn zu seinem Lehrer: Arthur Schopenhauer (1788–1860) ist ein Denker des Übergangs, denn kein anderer Philosoph hat mit vergleichbarer Radikalität den optimistischen Grundzug der großen metaphysischen Systeme des Westens durchschaut und als realitätsfremd kritisiert. Vorstellungen wie die, dass "hinter" der Erfahrungswelt eine Welt vollkommener Ideen, ein gütiger Gott oder die "reine" Vernunft oder dass in der Geschichte ein Heils- oder Fortschrittsprinzip vorherrscht, tut er als Wunschdenken ab und ersetzt solches durch das ernüchternde Bild des Kreislaufs eines nicht heilbaren Unheils. Die Einführung des Schopenhauer-Spezialisten Dieter Birnbacher wurde für diese Neuauflage komplett durchgesehen und bibliographisch ergänzt. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Seitenzahl: 199

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Dieter Birnbacher

Schopenhauer

Eine Einführung

Reclam

2., erweiterte und bibliografisch ergänzte Ausgabe

 

2009, 2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2020

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961684-1

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019696-0

www.reclam.de

Inhalt

Schopenhauer – ein Denker des ÜbergangsSchopenhauer – ein Denker der GegensätzeAnthropologie des Willens: die sekundäre Rolle der Vernunft»Wille« als allgemeine DynamikSchopenhauer als Analytiker I: der Satz vom GrundSchopenhauer als Analytiker II: FreiheitstheorieSchopenhauer als Analytiker III: SprachkritikLeiden und Erlösung vom LeidenMitleidsethikKommentierte BibliografieSchlüsselbegriffeZeittafel

[7]Schopenhauer – ein Denker des Übergangs

Arthur Schopenhauer (1788–1860) ist ein Denker des Übergangs, bei ihm vermischt sich Altes mit radikal Neuem. Auf der einen Seite steht sein Denken in der Tradition der neuzeitlichen Metaphysik und insbesondere der Transzendentalmetaphysik Kants. Auf der anderen Seite macht sich in seiner Philosophie ein gänzlich neuer Typ philosophischen Denkens geltend, für den sich die Bezeichnung »existenz-philosophisch« eingebürgert hat. Der Beginn dieser Existenzphilosophie wird in den Darstellungen zur Geschichte der Philosophie auf einen Philosophen zurückgeführt, der zu der auf Schopenhauer folgenden Generation gehört: auf Sören Kierkegaard.

Schopenhauer sah sich selbst zeitlebens als der Nachfolger Kants, der dessen philosophisches Vermächtnis am reinsten fortführte, unverfälschter jedenfalls als die deutschen Idealisten Fichte, Schelling und Hegel, die für sich dasselbe beanspruchten. Schopenhauer war in vielerlei Hinsicht ein außerordentlich loyaler Kantianer. Er wahrte seinem Vorbild nicht nur dadurch die Treue, dass er das Ideal des Selbstdenkens für sich für ebenso verbindlich hielt, wie es Kant getan hatte, sondern auch dadurch, dass er – aus heutiger Sicht gelegentlich bemerkenswert unkritisch – zentrale Lehrstücke der kantischen Philosophie übernahm. So übernimmt er in der Metaphysik Kants These, dass die in Raum und Zeit ausgedehnte Welt bloße Erscheinung, »Vorstellung« ist und als Objekt der Wahrnehmung ihrer Existenz und Beschaffenheit nach unauflöslich von der Existenz und dem Erkenntnisapparat des Subjekts abhängt. Die raumzeitliche Erscheinungswelt hat nur [8]insoweit Bestand, als sie von einem Subjekt wahrgenommen wird: kein Objekt ohne Subjekt. Von Kant übernimmt er zugleich die dazu komplementäre These, dass sich das Subjekt als solches nur denken kann, wenn diesem eine als unabhängig gedachte Erscheinungswelt gegenübersteht. Das Subjekt weiß von sich nur, indem es sich von der Welt der Erscheinungen absetzt: kein Subjekt ohne Objekt. Und wie für Kant ist auch für Schopenhauer das Subjekt – paradoxerweise, da ja die Existenz der Erscheinungswelt von ihm abhängen soll – insubstanziell. Das Subjekt, von dessen Erkenntnisvermögen Existenz und Struktur der Erscheinungswelt abhängen sollen, ist keine substanzielle Seele oder ein wie immer gearteter individueller Geist, der das Ende der Erscheinungswelt im Tod überdauern könnte, sondern ein ontologisches Nichts, ein Konstrukt unseres Denkens, dazu bestimmt, uns unsere jeweils persönliche Perspektive auf die Welt verständlich zu machen.

In der Erkenntnistheorie übernimmt Schopenhauer Kants Auffassung, dass die Zustände der Erscheinungswelt notwendig kausal miteinander verknüpft sind. Das Kausalprinzip, nach dem sich für jede Veränderung in der Welt eine zeitlich vorhergehende Ursache finden lässt, die sie unausweichlich macht, gilt für Schopenhauer ebenso lückenlos wie für Kant, und beide stimmen darin überein, dass die Geltung dieses Prinzips strikt auf die raumzeitliche Erscheinungswelt beschränkt ist. Es gilt für die Phänomene der Natur sowie für die Phänomene des Seelenlebens, aber nicht für das, was sich möglicherweise als durch die Erfahrung unerreichbares »Ding an sich« hinter beiden verbirgt.

In der Ethik übernimmt Schopenhauer die kantische Auffassung, dass für den moralischen Wert einer [9]Handlung ausschließlich die der Handlung zugrunde liegenden Motive entscheidend sind, nicht der von einer Handlung exemplifizierte Handlungstyp oder die Handlungsfolgen. In der Ästhetik variiert er Kants Lehre vom »interesselosen Wohlgefallen«, das weder auf Besitz noch auf Triebbefriedigung zielt.

Seinem Vorbild Kant folgt Schopenhauer vor allem aber auch in der Art und Weise, in der er seine Philosophie insgesamt anlegt, nämlich als ein umfassendes philosophisches System, das aus einem einzigen zentralen Gedanken heraus entwickelt ist und diesen in alle Unterdisziplinen der Philosophie hinein entfaltet und ausdifferenziert. Schopenhauer möchte – nicht anders als seine erklärten Gegner, die deutschen Idealisten – das Ganze der Erfahrung in einen übergreifenden Sinnzusammenhang einordnen und die Vielfalt der Weltstrukturen mit wenigen grundlegenden Kategorien erfassen. Der Maßstab, an dem sich dieses Denken ausrichtet, ist derselbe, den auch andere Systemdenker für sich reklamiert haben: größtmögliche Einheit, Geschlossenheit und Vollständigkeit. Dazu passt, dass sich Schopenhauer in seinen gelegentlichen Reflexionen über den historischen Standort seiner Philosophie ganz selbstverständlich in die Traditionslinie der großen Systematiker Platon, Aristoteles, Descartes, Spinoza und Kant einordnet.

Aber auf der anderen Seite meldet sich in Schopenhauers Philosophie etwas gänzlich Neues zu Wort: eine Form von Philosophie, die in nahezu allem mit dem Systemdenken Kants und seiner unmittelbaren Nachfolger scharf kontrastiert. Diese Form der Philosophie ist hochgradig subjektiv, individuell, existenziell. In ihr versucht sich ein [10]Individuum in philosophischen Begriffen über seine höchstpersönliche Existenz klarzuwerden, sich mit seiner individuellen Erfahrung der Welt auseinanderzusetzen und seiner ureigensten Betroffenheit von den Zumutungen der Welt (vor allem seiner unausweichlichen Endlichkeit) Ausdruck zu geben. Schopenhauer philosophiert nicht nur als Systematiker, sondern auch existenziell. Das zeigt sich unter anderem darin, dass sein Denken – ähnlich wie das von Kierkegaard und Nietzsche, die in dieser Hinsicht seine unmittelbarsten Nachfolger sind – in unübersehbarer Weise von seiner Persönlichkeit und seiner persönlichen Lebenserfahrung geprägt ist. Schopenhauers Philosophie gibt nicht nur seinen Gedanken Ausdruck, sondern auch seinen innersten Gefühlen, teils bewusst und absichtlich, teils unfreiwillig. Kaum ein anderer Philosoph begegnet dem Leser so unmittelbar als Mensch, und nicht nur als Lehrer oder Gelehrter, wie Schopenhauer. Nicht ohne Grund wählte Nietzsche für die dritte seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen den Titel »Schopenhauer als Erzieher« und nicht etwa »Schopenhauer als Lehrer«. Schopenhauer spricht den Leser direkt an, unverstellt und ohne sich hinter einer Maske zu verstecken. Er behält »nichts auf dem Herzen«. Der Leser wird, ob er will oder nicht, hineingezogen in eine ungewöhnlich freie, aber auch ungewöhnlich von Nöten, Ängsten, Einsamkeit und Depressionen belastete Existenz. Das ließe sich mit vielen Textstellen illustrieren. Aufschlussreich ist etwa die folgende, in der Schopenhauer zu erklären versucht, warum er sich stets um einen leichten und eingängigen Schreibstil bemüht, wobei er die Einsamkeit, in die er sich durch seine stolze Distanzierung von den Mitmenschen begeben hat, nicht verleugnen kann:

[11]»Der schöne und gedankenreiche Geist [wird] sich immer auf die natürlichste, unumwundenste, einfachste Weise ausdrücken, bestrebt, wenn es irgend möglich ist, seine Gedanken Andern mitzutheilen, um dadurch die Einsamkeit, die er in einer Welt wie dieser empfinden muß, sich zu erleichtern.« (I, 291)

Fern davon, sich in die dünne Luft der Abstraktion oder in die olympische Gelassenheit einer kontemplativen Gesamtsicht der Welt zu begeben, ist dieses Denken expressiv und durchaus auch aggressiv. Es springt den Leser an, ähnlich wie Schopenhauer auf einigen der von ihm überlieferten Fotografien den Betrachter anspringen zu wollen scheint. Dieses Denken richtet sich nicht nur an den Kopf, sondern auch an das Herz, an das fremde wie das eigene. Es sucht für sich selbst wie für den Leser nach der intellektuell und emotional befriedigenden Lösung der aufgeworfenen Probleme. Es will nicht nur belehren, es will vielmehr, wie Schopenhauer ausdrücklich festgehalten hat (IX, 15), auch erschüttern, und es greift dazu auf Ausdrucksmittel zurück, wie sie sich ansonsten nur in der Literatur finden: auf suggestive Bilder, lapidare Sentenzen, paradoxe Zuspitzungen und auch auf beißenden Spott. An vielen Stellen bedient sich Schopenhauer ganz bewusst der Mittel der karikaturhaften Übertreibung, nicht zuletzt, um seine Leser durch die Konfrontation mit seinem Leiden aus ihrer intellektuellen und emotionalen Lethargie wachzurütteln (ähnlich wie später Nietzsche seine Leser durch die Konfrontation mit seinen körperlichen Schmerzzuständen wachrüttelt). So kommt es gelegentlich zu scheinbar verstiegenen und absurden Zuspitzungen wie der gegen den [12]»Optimisten« Leibniz gerichteten Behauptung, die Welt sei nicht nur schlecht, sie sei die schlechteste aller möglichen, eine schlechtere könne nicht einmal gedacht werden. (IV, 684)

Zwei verschiedenen und sogar gegensätzlichen Modellen des Philosophierens zu folgen, ist eine riskante Angelegenheit; und wie riskant sie ist, zeigt sich in den zahlreichen und zu Recht gerügten Spannungen, Widersprüchen und Unstimmigkeiten dieses Denkens. Schopenhauers methodische Ambivalenz zeigt sich auch in seiner Metaphilosophie, also in seinem philosophischen Nachdenken über das Philosophieren selbst. In seinen Reflexionen über sein eigenes Vorgehen hat er seine Methodenideale mehrfach ausdrücklich benannt, ohne sie allerdings so, wie es der Sache nach erforderlich gewesen wäre, voneinander zu unterscheiden. Als Systemdenker versucht Schopenhauer im Gefolge Kants dem Modell einer sich als Wissenschaft verstehenden Philosophie zu folgen und die Metaphysik fern aller bloßen Spekulation auf dieselbe feste Grundlage zu stellen, auf der die theoretischen Wissenschaften stehen: einerseits auf unbezweifelbare und mit der bloßen Vernunft einsehbare Prinzipien a priori, andererseits auf die Methode der Induktion. Die Prinzipien a priori sollen sich entweder aus der Logik oder – als transzendentale Bedingungen – aus der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt ergeben. Die Induktion hingegen soll sich auf dieselben Erfahrungstatsachen stützen, auf die sich auch die Wissenschaften berufen. Der Philosophie wird die Aufgabe zugewiesen, die Welt in ähnlicher Weise zu erklären, wie es die theoretischen Naturwissenschaften tun. Obwohl die in den jeweiligen Erklärungen herangezogenen Theorien und Hypothesen ihrem Gehalt nach ein gutes Stück über die [13]Erfahrungswelt hinausreichen und Entitäten und Gesetzmäßigkeiten postulieren, die der Erfahrung unzugänglich sind, sollen diese doch in der Erfahrung verankert und anhand der Erfahrung indirekt überprüfbar sein. Schopenhauer nimmt mit dieser Funktionsbestimmung der Philosophie im Kern das Modell der »Vermutungsmetaphysik« vorweg, das erst im späteren 19. Jahrhundert zur Entfaltung kommen sollte und seit Oswald Külpe als »induktive Metaphysik« bekannt ist. Wie bei den Philosophen, die auf diese Weise zu Nachfolgern Schopenhauers wurden (unter ihnen Gustav Theodor Fechner, Eduard von Hartmann, Alfred North Whitehead und Karl Popper), ist das induktive Modell bereits bei Schopenhauer von der Idee geleitet, damit in der Philosophie ähnliche Fortschritte zu machen wie bei den Naturwissenschaften und die Metaphysik von der Beliebigkeit zu befreien, die sie in Schopenhauers Augen bei den spekulativen Konstruktionen der Metaphysiker unter seinen Zeitgenossen angenommen hat. Außerdem versprach sich Schopenhauer von diesem Modell eine radikalere Loslösung der Philosophie von Religion und Theologie, als sie Kant und die Nachkantianer gewagt hatten.

Wie sieht das von Schopenhauer entwickelte Modell einer induktiven Metaphysik im Einzelnen aus? Zunächst soll die Philosophie dadurch, dass sie eine induktive Grundlage erhält, keineswegs auf bloße Beschreibung verpflichtet werden. Sie soll weiterhin Theorien und Hypothesen entwickeln, die über den Bereich des Erfahrbaren hinausgehen und ins Transzendente vorstoßen. Aber diese Grenzüberschreitung soll stets nur so weit gehen, dass die Theorien und Hypothesen durch die Gegebenheiten der Erfahrungswelt, auch wenn diese nicht unmittelbar als Prüfinstanzen [14]in Frage kommen, doch zumindest bestätigt oder geschwächt werden können. Insofern unterscheidet sich die so verstandene Metaphysik ihrer Methodik nach nicht von den hochgradig theoretischen Wissenschaften, etwa der newtonschen Mechanik. Das gilt auch für die entsprechenden Wahrheitskriterien. Das Kriterium für die Wahrheit (beziehungsweise das Maß an Wahrheit) einer metaphysischen Hypothese besteht darin, wieweit sie die zu erklärenden Phänomene verständlich macht und wieweit die empirisch nicht zu klärenden Fragen durch sie eine Antwort erhalten: »Das gefundene Wort eines Räthsels erweist sich als das rechte dadurch, daß alle Aussagen desselben zu Ihm passen.« (III, 216) Was diese Metaphysik von den Erfahrungswissenschaften unterscheidet, sind zwei Merkmale: einmal, dass sie die Erfahrungsgegebenheiten als Ganzes und nicht nur bestimmte begrenzte Bereiche oder Aspekte erklären soll. Die Metaphysik wird als diejenige Wissenschaft bestimmt, die sich auf das »Ganze und Allgemeine aller Erfahrungen« bezieht. (III, 214) Zweitens unterscheiden sich die Erklärungshypothesen der Metaphysik durch eine weiter gehende Erklärungstiefe. Die Metaphysik hat es nicht nur mit allgemeineren, sondern auch mit »tieferen« Erklärungen zu tun als die Wissenschaften. Sie soll die Rätsel, mit denen uns die Erfahrungswelt konfrontiert (wie das des Zusammenhangs zwischen Körper und Seele, Physischem und Psychischem), lösen, die die Bereichswissenschaften (etwa die Neurophysiologie und die Psychologie) angesichts ihrer Beschränkung auf bestimmte Ausschnitte der Wirklichkeit oder bestimmte begrenzte Perspektiven und Erkenntniszugänge offenlassen. Um diese Rätsel erfolgreich anzugehen, ist allerdings [15]neben einer genauen Kenntnis der Sachzusammenhänge auch die der Grundlinien der einschlägigen Wissenschaften gefordert. Deshalb verlangt Schopenhauer, der selbst Naturwissenschaften und Medizin studiert hat, dass sich niemand an die Metaphysik wagen solle, »ohne zuvor eine, wenn auch nur allgemeine, doch gründliche, klare und zusammenhängende Kenntniß aller Zweige der Naturwissenschaft sich erworben zu haben« (III, 209).

Wenngleich sich Schopenhauer mit der Konzeption einer erfahrungsbasierten Metaphysik im Rahmen der kantischen Vorstellungen von einer wissenschaftlichen Metaphysik bewegt, muss seine Ausarbeitung dieses Programms als eine »epochemachende Leistung« (Morgenstern 1987, 606) gelten. Ungeachtet der zahlreichen Rückgriffe auf Kants Methodenideal sollte das Neue in dieser Konzeption nicht übersehen werden. Es besteht vor allem darin, dass Schopenhauer die kantische Beschränkung der Metaphysik auf die Formen der Erfahrung und des Erkenntnisgewinns überwindet. Kant versuchte, den Zugang zu dem, was jenseits der Erfahrung liegt, in den notwendigen – und deshalb mittels der bloßen Vernunft erkennbaren – Formen der Erscheinungswelt und der Erkenntnis aufzufinden. Schopenhauer geht darüber hinaus, indem er diesen Zugang auf den Inhalt der Erfahrung erweitert. Nicht die Formen der Erscheinungswelt, sondern ihre Inhalte sollen Aufschluss darüber geben, »was hinter der Natur steckt und sie möglich macht« (III, 191). Die Inhalte der Erfahrung umfassen dabei für Schopenhauer sowohl das, was wir in der äußeren Natur wahrnehmen, als auch die Selbsterfahrung – die Erfahrung unserer eigenen Bewusstseinsakte und -zustände – und die bei Schopenhauer zentrale [16]Leiberfahrung, die Erfahrung, die wir von unserem jeweils eigenen Körper haben.

Nun hat die Forderung, die Metaphysik primär durch die Erfahrung und nicht mehr durch die Vernunft zu beglaubigen, gravierende Folgen für den Geltungsanspruch, der für metaphysische Erklärungen legitimerweise erhoben werden kann. Während die überwiegende Mehrzahl der bis dato vertretenen metaphysischen Systeme mit dem Anspruch verbunden war, sicherer begründet zu sein als die auf die Erscheinungswelt bezogenen Wissenschaften, ist eine dem induktiven Modell folgende Metaphysik unsicherer und weniger verlässlich als die Wissenschaft und zudem im Zeitverlauf instabiler. Ihr Wahrheitsgehalt lässt sich niemals endgültig, sondern immer nur vorläufig bestimmen.

Eine weitere Folge einer induktiven Auffassung von Metaphysik liegt darin, dass metaphysische Erklärungen systematisch unvollständig sind. Sie erklären zwar die Struktur und die Inhalte der Erscheinungswelt durch etwas, was erfahrungsunzugänglich »hinter« den Erscheinungen liegt. Aber ihre Reichweite ist dadurch, dass sie sich an der Erfahrung bewähren müssen, eingeschränkt. Sie erhellen stets nur den erfahrungsnahen Rand des Dunkels, das die Erscheinungswelt umgibt, und dringen grundsätzlich niemals zu Letzterklärungen vor. Schopenhauer drückt das so aus: »Welche Fackel wir auch anzünden und welchen Raum sie auch erleuchten mag; stets wird unser Horizont von tiefer Nacht umgränzt bleiben.« (III, 216) Vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, wenn Schopenhauer den Anspruch, Kenntnis von einem über alle Relativität zur Erfahrungswelt erhabenen Absoluten gewinnen zu können, wie [17]ihn seine Gegenspieler Schelling und Hegel erheben, als Anmaßung zurückweist.

Das induktive Modell ist allerdings nur die eine Seite der Ambivalenz. Parallel zum Verständnis von Metaphysik als einer hypothetischen Welterklärung auf empirischer Grundlage gibt es bei Schopenhauer ein gänzlich anderes Verständnis von Metaphysik: das der Metaphysik als einer Form expressiver Beschreibung. Dieses Modell bedeutet eine noch sehr viel radikalere Abkehr vom kantischen Modell. Kennzeichen dieses Modells ist es, dass es nicht darauf zielt, die Phänomene durch die Setzung erfahrungstranszendenter Entitäten, Kräfte oder Gesetze zu erklären, sondern darauf, die Phänomene lediglich zu beschreiben, und zwar so, dass sie sich zu einem Sinnzusammenhang fügen. Diese Konzeption kann man hermeneutisch nennen, insofern sie sich darauf richtet, keinen hinter den Phänomenen verborgenen Sinn, sondern den in den Phänomenen selbst enthaltenen Sinn zu ergründen. Sie ist anders als die Metaphysik nach dem induktiven Modell immanent, nicht transzendent. Sie tut keinen Schritt ins Hypothetische hinein, vielmehr beschränkt sie sich darauf, das Erfahrene – einschließlich der inneren und leiblichen Erfahrung – in seinem Gehalt zu erfassen.

Bei allen Ähnlichkeiten ist der Unterschied zwischen beiden Auffassungen beträchtlich. Vorausgesetzt, wir verstehen – Schopenhauer folgend (IX, 26) – die Erfahrungswelt als einen zu entziffernden Text, so richten sich die Interpretationsansätze jedes Mal auf sehr unterschiedliche Dinge. Nach der Auffassung von Metaphysik als einem induktiven Verfahren, das sich der Methode des »Schlusses auf die beste Erklärung« bedient, zielt die Interpretation [18]auf das, was hinter dem Text als seine Ursache liegt, auf die Gedanken und Absichten des Autors. Nach der Auffassung von Metaphysik als Hermeneutik zielt die Interpretation auf das, was der Text für sich selbst besagt, unabhängig davon, ob dies den Absichten des Autors entspricht oder ob es überhaupt einen Autor gibt. Auch bei einer immanenten, die Phänomene nicht übersteigenden Beschreibung geht es um Wahrheit und intersubjektive Plausibilität. Aber in der Regel wird sie es schwerer haben, ihren Anspruch auf intersubjektive Anerkennung einzulösen. Sie ist in weit höherem Maße Ausdruck einer bestimmten persönlichen Sichtweise der Welt und spiegelt mehr als eine induktiv gewonnene Erklärung die Reaktionsweisen und Sensibilitäten ihres Autors. Ihre Wahrheit ist eher die Wahrheit der Kunst als die Wahrheit der Wissenschaft. Tatsächlich war Schopenhauer – besonders in der Frühphase seines Denkens – der Meinung, dass die Methode der Philosophie der der Kunst näherstehe als der der Wissenschaft:

»Nicht dem Warum gehe der Philosoph nach, wie der Physiker, Historiker und Mathematiker, sondern er betrachte bloß das Was, lege es in Begriffen nieder (die ihm sind wie der Marmor dem Bildner), indem er es sondert und ordnet, jedes nach seiner Art, treu die Welt wiederholend, in Begriffen, wie der Maler auf der Leinwand.« (Schopenhauer 1985a, I, 154 Anm.)

Dieses hermeneutische Verständnis von Philosophie erweist sich, wie noch zu sehen sein wird, für den Zugang zu Schopenhauers Denken insgesamt als sehr viel fruchtbarer. [19]Aber auch ohne hier bereits auf die inhaltlichen Gründe für die Bevorzugung der hermeneutischen Lesart von Schopenhauers Philosophie einzugehen, lassen sich vorab zwei formale Gründe für diese Präferenz angeben. Der eine ist, dass diese Lesart besser als die induktivistische den expressiven Anteilen der schopenhauerschen Philosophie entspricht. Diese Expressivität ist ja eines der auffälligsten Merkmale von Schopenhauers Philosophie – und zumindest eine Teilerklärung für seine Popularität in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Kaum ein anderer Philosoph, außer vielleicht der Schopenhauer wahlverwandte Nietzsche, hat jemals so unverhohlen seine Emotionalität in seine Philosophie eingehen lassen. Schopenhauers Philosophie ist durchzogen vom Erschrecken über die Grausamkeit der Welt, und es ist ihm ein Anliegen, den Schock darüber im Leser nachwirken zu lassen, unter anderem mit Hilfe von ihrerseits schockierenden, die Grausamkeit in ihren grauenhaftesten Formen heraufbeschwörenden Formulierungen. Auch wenn sich die Philosophie bei Schopenhauer weiterhin im Medium der herkömmlichen philosophischen Begriffe bewegt, werden diese Begriffe doch nicht nur als Elemente von Gedanken und Mitteilungen, sondern wesentlich auch als Ausdrucksmittel eingesetzt. Die Sätze, in denen sich diese Philosophie mitteilt, lassen erkennen, dass ihnen jeweils eine konkret-anschauliche Erfahrung zugrunde liegt und in ihnen ein gefühlsmäßiges Erleben nachwirkt. Der zweite Grund, Schopenhauers Philosophie primär als expressive Beschreibung zu verstehen, ist, dass er sie selbst an verbindlicher Stelle so gesehen hat, und zwar in der als letztes Stück der zweiten Auflage von Welt als Wille und Vorstellung beigegebenen [20]Epiphilosophie. Hier, wo Schopenhauer die Methode seiner Philosophie rückblickend erläutert, findet sich der eindeutigste Verzicht auf den traditionellen Erklärungsanspruch der Metaphysik: Seine Philosophie mache »keine Schlüsse auf das jenseits aller möglichen Erfahrung Vorhandene«. Sie begnüge sich vielmehr damit, »das Wesen der Welt, seinem innern Zusammenhange mit sich selbst nach, zu begreifen« (IV, 750).

[21]Schopenhauer – ein Denker der Gegensätze

Von Ambivalenzen ist Schopenhauers Philosophie nicht nur in ihrem allgemeinen Charakter, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht geprägt. Die auffälligste Ambivalenz ist die zwischen einer idealistischen Tendenz in der Nachfolge Kants und einer realistischen Tendenz in der Nachfolge der französischen Materialisten, etwa d’Holbachs und La Mettries. Nach dem idealistischen Schopenhauer soll die Welt in Raum und Zeit bloße Vorstellung sein, die mit dem Tod des individuellen Subjekts in sich zusammenfällt. Individuen sollen nur so lange unterscheidbar sein, als sie räumlich und zeitlich bestimmt sind. Deshalb gibt es außerhalb der Welt der Vorstellung – und damit des principium individuationis – keine Vielheit. Dennoch aber soll der Mensch seinen physischen Tod in einer bestimmten Weise überleben können, allerdings nicht als Person oder individuelle Seele, sondern als Teil einer hinter der Erscheinungswelt waltenden übergreifenden Einheit. Deshalb der sprachliche Wechsel zum kollektiven »Wir« in dem Satz, der diese Lehre knapp zusammenfasst: »Zu ewiger Fortdauer ist kein Individuum geeignet: es geht im Tode unter. Wir jedoch […] verlieren dabei nichts.« (IX, 292) Dem steht auf der anderen Seite eine robust-realistische, wenn nicht sogar materialistische Sicht der Dinge gegenüber. Insbesondere in seiner späteren Schaffenszeit zeigt sich Schopenhauer – in den Worten Ludwig Feuerbachs – »von der ›Epidemie‹ des Materialismus angesteckt« (Feuerbach 1911, 219 f.). Am deutlichsten wird das in seiner Auffassung der Welt als Produkt der Verarbeitung innerer und äußerer Reize im Gehirn. Unter dem Einfluss der französischen Pioniere der [22]Gehirnphysiologie, insbesondere Pierre-Jean-Georges Cabanis’, fasst Schopenhauer das Gehirn als »Denkorgan« auf und identifiziert es mit dem, was Kant »Verstand« genannt hatte, nämlich dem Vermögen, gegebene Empfindungen zu Anschauungen zu integrieren und durch Kausalbeziehungen in eine gesetzmäßige Ordnung zu bringen. Im Gegensatz zu Kant erklärt Schopenhauer die Operationsweise des Verstands jedoch naturalistisch, nicht transzendental. Die Synthese der Sinnesreize zu Anschauungen von Gegenständen vollzieht sich im Gehirn, während sie bei Kant in einem geheimnisvollen Organ jenseits der Erfahrungswelt erfolgt: »Verstand« ist ein physiologisches Vermögen. Nicht das Bewusstsein verarbeitet die gegebenen Sinnesdaten zu einer artikulierten Anschauung von Gegenständen, sondern das Gehirn. Der Verstand »erschafft« die Welt der materiellen Gegenstände, indem er die empfangenen Sinnesreize kausal interpretiert und aus den Wirkungen die Ursachen erschließt.

Gleichzeitig begibt sich Schopenhauer mit dieser Sichtweise allerdings in ein – unter dem Titel »Gehirnparadox« bereits von Zeitgenossen wie Eduard Zeller (vgl. Spierling 1984, 185) konstatiertes – Dilemma. Die naturalistische Deutung des Verstands verträgt sich nur schwer mit der von Schopenhauer ansonsten hochgehaltenen idealistischen Sichtweise der Natur als einer bloßen Erscheinung. Ein Teil der physischen Welt, das Gehirn, kann unmöglich Erscheinung und zugleich die Quelle aller Erscheinungen sein. Als Quelle aller Erscheinungen kann das Gehirn nicht selbst zur Erscheinungswelt gehören. Als Teil der Erscheinungswelt kann es nicht die Quelle seiner selbst sein. Die Frage nach dem Status des Gehirns wird insofern für [23]Schopenhauer zur metaphysischen Gretchenfrage: »Wie hältst du es mit dem Idealismus?« Aber Schopenhauer gibt auf diese Frage an keiner Stelle eine eindeutige und ausdrückliche Antwort. Seine Philosophie vollzieht sich als ein fortwährender Drahtseilakt zwischen Idealismus und Realismus als sich gegenüberstehenden Polaritäten. Sie lebt mit der Gefahr, immer wieder das Gleichgewicht zu verlieren und nolens volens ins eine oder ins andere Extrem zu verfallen.

Die Ambivalenz zwischen Idealismus und Realismus lässt sich als Symptom einer tiefer liegenden Spannung zwischen zwei für Schopenhauer charakteristischen Tendenzen sehen, die letztlich in seiner Persönlichkeit wurzeln und paradoxerweise – ähnlich wie bei Spinoza und Wittgenstein – einen Gutteil des besonderen Reizes dieser Philosophie ausmachen: der Spannung zwischen Rationalismus auf der einen und Mystik auf der anderen Seite. Schopenhauer vereinigt in seiner Person das Paradox, zugleich Aufklärer und Stifter einer eigentümlichen, zwischen Christentum und Buddhismus angesiedelten Art von Spiritualität zu sein. So geht er in der Kritik an metaphysisch-theologischen Konstruktionen wie denen eines persönlichen Gottes, einer substanziellen Seele oder einer individuellen Unsterblichkeit noch ein gutes Stück weiter als seine diesbezüglichen Vorbilder Hume und Voltaire. Die Schärfe seiner Kritik an den Kirchenfürsten, die diese Konstruktionen aufrechterhalten zu müssen glauben, um als gute Hirten die ihnen anvertrauten Schäfchen nicht zu verlieren, steht der der französischen Materialisten an Bissigkeit nicht nach. Zugleich jedoch macht Schopenhauer keinen Hehl daraus, dass er sich mit ebenso großer [24]Selbstverständlichkeit den Mystikern Meister Eckhart und Angelus Silesius verbunden fühlt und die Alleinheitslehre der Upanishaden, der »Geheimlehre« der indischen Veden, als eine kongeniale Vorwegnahme seiner eigenen Metaphysik sieht.

Dramatisch wirkt sich diese Ambivalenz insbesondere in Schopenhauers Religionsphilosophie