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Arthur Schopenhauer (1788 - 1860) ist eines der eindrucksvollsten Beispiele dafür, dass sich Philosophie nicht auf Universitätsphilosophie beschränken lässt. Im Anschluss an Kant, für dessen einzig legitimen Thronerben er sich hält, legt er als Dreißigjähriger sein Hauptwerk vor: "Die Welt als Wille und Vorstellung", um den Rest seines Lebens an dessen Erweiterung, Vertiefung und Kommentierung zu arbeiten. Erkenntnistheorie, Metaphysik, Ethik und Ästhetik sind die thematischen Schwerpunkte dieses systematischen Entwurfes, der als ein organisches Ganzes aus der Explikation des einen Grundgedankens hervorgeht: die Welt ist die Selbsterkenntnis des Willens.
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Seitenzahl: 997
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Kuno Fischer (1824 – 1907) Der große Heidelberger Philosophiehistoriker legt in seinem Schopenhauer-Buch, das hier um eine Einführung und aktuelle Literaturhinweise erweitert, erneut vorgelegt wird, die Geschichte des jüngsten und letzten Philosophen der großen, unmittelbar von Kant ausgehenden Periode des Denkens vor. Wer Schopenhauer als Denker begegnen will, steht vor der Herausforderung einer kritischen Aneignung seiner Philosophie und wird in Fischers Darstellung, in der detailreichen, gelehrten und anschaulichen Nachzeichnung des Lebens, der Werke und der Lehren des Philosophen, den Schlüssel und roten Faden zu seinem Gesamtwerk finden.
Dr. Werner Woschnak, Lehrbeauftragter an der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien, Forschungsschwerpunkte: Praktische Philosophie, Ethik, pädagogische Anthropologie, philosophische Probleme der Biologie, Förderungspreis für Wissenschaft des Landes Kärnten 1990.
Dr. Maria Woschnak, Lehrbeauftragte an der Veterinärmedizischen Universität Wien, Forschungsschwerpunkte: Tierethik, praktische Philosophie, Naturphilosophie, Wissenschaftstheorie.
Von der Universitätsphilosophie zeitlebens ignoriert wird Schopenhauer nur zögernd, zunächst in Literatur und Kunst zur Kenntnis genommen, um im letzten Lebensjahrzehnt als Misanthrop und Pessimist allgemein bekannt zu werden. Eine breitere Leserschaft und endlich Popularität gewinnt ihm aber nicht sein Hauptwerk, sondern Schriften, die ihm, gemessen an diesem nur Parerga (Beiwerke, Nebenwerke) und Paralipomena (Randbemerkungen, Nachträge) waren, so etwa seine „Aphorismen zur Lebensweisheit“, von denen das lesebereite Publikum schon dem Titel nach nicht akademische Subtilitäten, sondern Antworten auf die Frage: Was ist der Mensch? im Sinne des Kantischen Weltbegriffs der Philosophie erwarten durfte.
Kuno Fischers Schopenhauer-Monographie, die, nach dem Urteil Wilhelm Windelbands »großartigste[…] Charakteristik einer philosophischen Persönlichkeit, die ihm gelungen ist«1, wird hier auf der Grundlage der dritten Auflage, um eine Einführung und aktuelle Literaturhinweise ergänzt, wiederum vorgelegt.2 Die erneute Herausgabe eines Werkes, das zuletzt vor etwas mehr als hundert Jahren, kurz nach dem Tode Kuno Fischers, erschienen ist, bedarf »einer besondern Schutzrede«3, eines Wortes der Rechtfertigung, die nicht bloß im Hinweis darauf bestehen kann, dass es sich dabei um das einst berühmte Buch eines einst berühmten Autors handelt. Da die geschichtliche Begründung sich notwendig im Widerspruch zur eigenen Absicht realisiert4, wollen die folgenden Ausführungen den Autor des Buches, der heute nur noch einem engeren Kreis philosophisch Interessierter bekannt ist, und das Buch selbst vorstellen, um zu zeigen, dass seine Neuausgabe nicht die Freude am Nostalgischen und Historischen, sondern der Blick auf seine Qualität und Originalität, seinen zeitlosen Gehalt und sein bleibendes Verdienst motiviert.
Was die philosophiegeschichtliche Einordnung betrifft, steht Kuno Fischer in der Heidelberger Tradition des Philosophierens, deren herausragendster Repräsentant er ist. In ihrem Sinn lehrten in Heidelberg in »fast ununterbrochener Folge […] ein Jahrhundert lang Philosophen, welche ihre eigene Bemühung um die Probleme grundsätzlich mit einer umfassenden Kenntnisnahme und kritischen Vergegenwärtigung der geschichtlichen Überlieferung verbanden. Hegel hatte damit begonnen; Eduard Zeller, Kuno Fischer, Wilhelm Windelband, Paul Hensel, Ernst Hoffmann folgten ihm, obwohl sie seine dialektisch-konstruierende Methode nicht übernahmen«5. Der als Nachfolger Eduard Zellers nach Heidelberg berufene und von Wilhelm Windelband auf dem Lehrstuhl der Ruperto-Carola beerbte, beiden als Denker und Forscher ebenbürtige Kuno Fischer, hat »sowohl seinen Vorgänger wie seinen Nachfolger in der Kunst der literarischen Darstellung und des Kathedervortrags«6 übertroffen. In seiner 1924 vorgelegten, Kuno Fischer gewidmeten Habilitationsschrift7 hat sich Hermann Glockner zu dieser Heidelberger Tradition bekannt, die mit der n.s.-diktatorisch geregelten Nachfolge von Heinrich Rickert zu Ende geht: »Ernst Krieck kam nach Heidelberg. Damit war die philosophische Tradition zerstört. Sie wurde auch 1945 nicht wieder aufgenommen«8.
Ernst Berthold Kuno Fischer wird am 23. Juli 1824 in Groß-Sandewalde in Schlesien geboren. Der Vater, der Sandewalder Pastor Karl Theodor Fischer, widmet sich nach dem frühen Tod der Mutter mit großer Sorgfalt seiner und seines älteren Bruders Erziehung, was zu einer innigen Beziehung zwischen Vater und Sohn führt.10 Fischer besucht zunächst das humanistische Gymnasium in Posen, dem er die Beherrschung seines Gefühlsüberschwanges, seine klassische Bildung, sowie sein literarisches und ästhetisches Interesse, das von besonderem Einfluss auf seine weitere Entwicklung ist, verdankt. Nach dem Abitur 1844 beginnt er in Leipzig ein Studium der Philologie bei Gottfried Hermann und Moritz Haupt, doch dauert es kein Semester, bis den jungen Studenten die Philosophie an sich reißt11 und er im Herbst 1844 an die Universität Halle wechselt, wo er bis zum Frühjahr 1847 studiert. Julius Schaller, vor allem aber Johann Eduard Erdmann, der ihn in die Philosophie Hegels einführt, sind dort seine Lehrer. 1847 promoviert er in Halle mit der in lateinischer Sprache abgefassten Dissertation »De Parmenide Platonico«.12 Um sich auf die akademische Laufbahn vorzubereiten, nimmt der junge Doktor 1848 eine Hauslehrerstelle bei dem Papierfabrikanten Bohnenberger in Pforzheim an. In dieser Zeit entstehen die ersten philosophischen Arbeiten (Aufsätze und Buchbesprechungen). Der Aufenthalt ist angenehm durch gemeinsame Reisen und Ausflüge, anlässlich eines Winteraufenthaltes in Karlsruhe lernt er den Schauspieler Ludwig Dessoir kennen, der ihn in Sprech- und Vortragskunst unterrichtet, mit deren selbstverständlicher Beherrschung er sich die technischen Voraussetzungen seiner künftigen Erfolge als Vortragender schafft. Mehr Freude als der Unterricht des zurückgebliebenen Sohnes bereiten Fischer die Vorträge, die er den Damen des Hauses (der Mutter und der ältesten Tochter) über ästhetische Themen hält, die gesammelten Vorträge bilden die Grundlage von Fischers erster Buchveröffentlichung.13
1850 übersiedelt Fischer nach Heidelberg, wo er sich in Philosophie habilitiert. Fischers erstes Buch bringt ihn in Kontakt mit der Familie des emigrierten und in Heidelberg ansässig gewordenen französischen Offiziers Desiré Le Mire. Seiner literarisch interessierten Gattin Mary gefällt das Buch so gut, dass sie mit dessen Autor zum Zwecke eines intensiven Gedankenaustausches brieflich in Kontakt tritt. Später gern gesehener Gast im Hause Le Mire heiratet er im September 1852 die ältere Tochter Marie, dem Ehepaar werden ein Sohn und zwei Töchter geboren. Als Lehrer der Philosophie ist Fischer von allem Anfang an überaus erfolgreich. Mitten in der trüben Zeit der Reaktion, einer Zeit geistiger Depression, in der die hochfliegende Spekulation des Deutschen Idealismus, die »Philosophie des Geistes«, längst dem Materialismus, der »Metaphysik der Geistlosigkeit«14, gewichen war, gewinnt der junge Dozent die Gunst und Aufmerksamkeit des Publikums durch eine Wiederanknüpfung an die unterbrochene Tradition idealistischen Philosophierens, deren Losung »Rückkehr zu Kant«15 heißt. In einer Zeit, in der man ihren höchsten Leistungen verständnislos und gleichgültig gegenüberstand, bringt er es dahin, »daß es in allen Fakultäten für selbstverständlich galt, neben den Fachstudien seine Vorlesungen zu hören«16, und erobert so der Philosophie den ihr gebührenden Rang im Rahmen der Universitas litterarum zurück. Zur Lehr- und Vortragstätigkeit tritt in engster Verbindung mit dieser eine Phase intensiver schriftstellerischer Produktion. Im Jahre 1852 erscheint nicht nur Fischers logisches Hauptwerk,17 im selben Jahr beginnt auch die groß angelegte »Geschichte der neuern Philosophie«18 mit dem Descartes-Band zu erscheinen. Doch die so hoffnungsvolle akademische Laufbahn wird nach nur einem Jahr jäh unterbrochen. Fischer gerät, von theologischer Seite denunziert, in Pantheismus-Verdacht. Er wehrt sich in einer Reihe brillanter Streitschriften19 erfolglos gegen die ungerechtfertigten Vorwürfe: obwohl er in der Sache recht behält, wird ihm im September 1853 wegen »pantheistischer Gesinnung« die Lehrbefugnis entzogen. Im selben Jahr verlässt er Heidelberg. Zwar kann sich Fischer auf Vermittlung von Alexander von Humboldt 1855 an der Universität Berlin zum zweiten Male habilitieren, doch auch hier legt man dem Versuch einer Rückkehr aufs Katheder Schwierigkeiten in den Weg. Noch bevor diese ausgeräumt sind, erhält Fischer eine Berufung an die Universität Jena, der er folgt.
Die Jahre in Jena, 1856 bis 1872, hat Fischer selbst stets als die schönsten seines Lebens bezeichnet. Sie fallen in die Zeit der »Neubelebung der Erinnerung an die Weimarer Klassik […,] jener zweiten Kulturblüte Sachsen-Weimars«20, die dem Großherzog Karl Alexander und seiner Gemahlin, der Großherzogin Sophie zu verdanken war. Fischers ästhetische und literarische Interessen ließen ihn geradezu prädestiniert erscheinen, einer der geistigen Mittelpunkte dieser Bewegung zu werden. Fischer lebt sein Credo: »Philosophie lehren zu dürfen ist der herrlichste Beruf, den es auf der Welt gibt«.21 Der begnadete Lehrer der Philosophie begeistert sein Publikum in und außerhalb der Universität, Vorlesungen und Vorträge sind meisterlich zum Kunstwerk gestaltet, was Form, Aufbau und Ausdruck betrifft.22 Neben Fischers rhetorischem Talent ist es aber vor allem »die souveräne Stoffbeherrschung«23, die als das eigentliche Geheimnis seines phänomenalen Lehrerfolges angesehen werden muss. Forschung und Lehre, Vorlesung und Publikation sind bei Fischer aufs engste miteinander verbunden, was gedruckt werden soll, muss zuvor »die Probe des Katheders« mehrfach bestanden haben: »die Herrschaft über den Stoff, die Deutlichkeit der Darstellung [ist Fischer überzeugt, kann] durch nichts besser gewonnen und auf die Probe gestellt werden als durch den lehrenden Vortrag.«24 Nur dort, wo die Darstellung in unmittelbarem Kontakt mit dem Publikum gezeigt hat, dass sie das Verständnis ihres Gegenstandes zu erschließen vermag, hat sie sich bewährt und ist reif, auch im Druck zu erscheinen. Dementsprechend sind die Erstausgaben seiner Bücher, wo sie nicht ohnehin auf die Vorlesung, ihr einen didaktischen Grundriss zu verschaffen, bezogen sind, auch ganz durch diese Herkunft aus der Vorlesung bestimmt und bilden erst in den Folgeauflagen ihre eigentlich literarische Form aus. Der 1860 erschienene Kant-Band seiner Geschichte wird zur Grundlage des Neukantianismus. In einer Reihe literarisch-ästhetischer Schriften tritt Fischer zudem als Interpret klassischer Dichtung (Goethe, Schiller, Lessing, Shakespeare) auf.25
1872 erfolgen Ruf und Rückkehr nach Heidelberg. Als Nachfolger Eduard Zellers steht Fischer in Heidelberg nunmehr auf der Höhe seines Ruhmes. In den dreißig Jahren seines Wirkens wird der »Kathederfürst« zum Symbol26 der Ruperto-Carola, ja zum Wahrzeichen27 von Heidelberg, weit über Heidelberg hinaus bekannt und berühmt. Orden und Ehrenzeichen bleiben nicht aus, so etwa der Zähringer Hausorden, den ihm 1893 der Großherzog von Baden verleiht oder die Ehrenbürgerwürde, mit der ihn anlässlich des fünfzigjährigen Doktordiploms die Stadt Heidelberg auszeichnet. An Fischers achtzigstem Geburtstag 1904 erfolgt die Ehrenpromotion durch die Universität Königsberg, die Fischer den Titel »Wiedererwecker Kants« verleiht.28 Auch sein ehemaliger Lehrer Johann Eduard Erdmann ist stolz auf den großen Schüler, zwischen den beiden Philosophen entwickelt sich eine Freundschaft, deren Verlauf Hermann Glockner in seiner Erdmann-Monographie an Hand der Dokumente – siebenunddreißig, in den Jahren 1854 bis 1890 an Fischer gerichtete Briefe – verfolgt hat.29
Fischer, der nach dem Tod seiner ersten Frau 1884 die Dänin Christine Stilling ehelichte, beendet 1903 seine Vorlesungstätigkeit, auf seinen Wunsch hin wird Wilhelm Windelband, sein ehemaliger Schüler in Jena, sein Nachfolger. Kuno Fischer ist am 5. Juli 1907 in Heidelberg gestorben.
Fischers groß angelegte, im Jahre 1852 begonnene »Geschichte der neuern Philosophie«, findet erst mit dem 1901 vorgelegten Hegel-Band ihren Abschluss, Thema seines Hauptwerkes sind die großen Systeme der Philosophie der Neuzeit. Die Auseinandersetzung mit Descartes, Spinoza, Leibniz, Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Bacon und Schopenhauer hat Fischer zeit seines Lebens beschäftigt. In der zuletzt zehnbändigen »Geschichte der neuern Philosophie« (Heidelberg 1887–1904) haben wir Fischers Vermächtnis vor uns, jedes der Bücher findet sich angesichts neuer Auflagen ergänzt und erweitert, mitunter auch grundlegend umgearbeitet, ganz wie es Fischers, in fortgesetztem Studium vertiefte Auseinandersetzung mit den Denkern seiner Wahl, ermöglicht und verlangt hat. Bei aller Konzentration auf die Systeme der neuzeitlichen Philosophie hat Fischer dabei den Gesamtzusammenhang der europäischen Philosophietradition im Auge, als dessen fundierten Kenner ihn die 1891 erstmals als eigenständige Publikation erschienene »Einleitung in die Geschichte der Philosophie«30 ausweist. Hier wird die Entwicklung des philosophischen Denkens von Parmenides bis Descartes zusammenfassend expliziert und der für die Anlage des Werkes entscheidende Gesichtspunkt formuliert: dass die Systeme der neuern Philosophie »von zwei Brennpunkten [aus …] beherrscht werden«: von Spinoza als dem Vollender des Dogmatismus und von Kant als dem Begründer des Kritizismus31. Das dem Lebenswerk gesetzte Ziel hat der Autor in der Vorrede zum ersten Band umrissen: »Ich will die Hauptsysteme, von denen das Licht kommt und die Geschichte der Philosophie in Wahrheit lebt, in ihrem eigenen Geist methodisch entwickeln und so wiedererzeugen, dass man deutlich einsieht, aus welchen Problemen sie hervorgehen, wie sie diese Probleme auflösen und welche ungelösten und zu lösenden Fragen sie der Welt zurücklassen«32.
Eine solche Aufgabe ist methodisch nicht durch »Quellenauszüge […,] die zu einem Referat aneinandergereiht werden«33, zu bewältigen, als Wissenschaft ist die Geschichte der Philosophie nicht aus Philosophiegeschichten zusammengelesenes Kompilat, sondern aus den Quellen gearbeitetes Original. Fischers Philosophiegeschichte strebt nicht nach historischer Vollständigkeit, sondern »nach der klaren und zusammenhängenden Einsicht, in die innere Verfassung der Philosophie, wie sie die Geschichte ausgebildet und entwickelt hat.«34 Solcherart macht uns Fischer die dargestellten Systeme als problemgeschichtliche Etappen auf dem Weg der Entwicklung des Geistes (der Wahrheit) begreifbar. Ganz so, wie Bruno Liebrucks und vor ihm Hegel jenen empfehlen, die gewillt sind, von der Philosophie etwas zu lernen, sucht Fischer »die Philosophen im Umhof ihrer Größe«35 auf, er stellt sich in der Darstellung der einzelnen Systeme ganz auf ihren Standpunkt. Mit unvergleichlicher Gestaltungskraft gelingt es ihm, die schwierigsten Gedankengänge herauszuarbeiten, indem er das philosophische Werk zunächst dekonstruiert, um es von seinem Mittelpunkt aus neu aufzubauen. Seine Darstellungen sind nicht Nacherzählungen, sondern systematische Nachschöpfungen, die Fischer als kongenialen Denker ausweisen, er macht die Systeme einsichtig, ohne sie im eigentlichen Sinn zu popularisieren, Klarheit und Durchsichtigkeit der Gedanken sind nie durch didaktische Konzessionen auf Kosten der dargestellten Position erkauft. Dass er auch die jeweilige Persönlichkeit in ihrer unverkennbaren Weise zu porträtieren und sie aus ihrer Zeit heraus zu begreifen lehrt, macht den unverkennbaren Reiz seiner als Monographien-Reihe konzipierten Philosophiegeschichte aus und zeigt uns Fischer als »den hervorragendsten unter den drei Lehr-Meistern der Philosophie, denen die Universität Heidelberg in der Geisteswissenschaft der Vorweltkriegszeit ihre führende Rolle verdankte.«36 Die Charakteristika, durch die sich Fischers Monographien insgesamt auszeichnen: die »Klarheit seiner Darstellung«, den »Reichtum seiner Diktion«, die »Feinheit der Antithesen«, die »erleuchtende Kraft seiner Bilder«, die »durchsichtige[…] Anordnung des Stoffs«37 – wird der Leser in der vorliegenden Schopenhauer-Monographie in meisterlicher Vollkommenheit verwirklicht finden und genießen dürfen. Fischers Werk lädt ein, die philosophischen Gipfel der neuern Philosophie zu besteigen, es gleicht darin einer Karte, die uns die Wahl des Zieles überlässt und den Weg dorthin zeigt, ohne ihn uns abzunehmen38. Seine Bücher sind keine leichte, dafür aber eine umso solidere Kost: ihr »Mißbrauch enttäuscht«39 – wer sie nicht ernsthaft studieren, sondern in der Manier manch gegenwärtiger Einführungen die dargestellte Position bloß überblicken, d. h. über sie hinwegsehen will, wird durch Büchlein, die philosophische Themata für Eilige, Angeber und Dummies40 aufbereiten, besser bedient sein.
Fischers philosophisches Schaffen steht ganz im Schatten seines philosophiegeschichtlichen Monumentalwerkes – schon Johann Eduard Erdmann hat darauf hingewiesen, dass der gefeierte Philosophiehistoriker als Philosoph unterschätzt wird41. Bei aller Bedeutung, welche die Philosophiegeschichte als Schule des Philosophierens für Fischer hat, ist er doch weit davon entfernt, Philosophie in Philosophiegeschichte aufzulösen. Es ist Hans-Georg Gadamer zu danken, dass er Fischers systematisches Hauptwerk: »Logik und Metaphysik«42 wieder zugänglich gemacht hat. Da es ihm um Fischer als Repräsentanten der Gegenwart Hegels im philosophischen Denken um die Mitte des 19. Jahrhunderts ging43, hat er der Neuherausgabe die erste Auflage von 1852 zugrunde gelegt. Bereits in der Vorrede zu dieser Erstauflage zeigt sich uns Fischer als eigenständiger Denker, indem er Wert auf die Feststellung legt, dass ihm die hegelsche Philosophie, an deren Form er sich anschließt, nicht als Kanon gilt. Wohl wissend, wie leicht dieses System dogmatisch missverstanden werden kann, macht er mit seinen Prinzipien nur deshalb »gemeinschaftliche Sache«, weil ihm »das Problem von Logik und Erkenntnistheorie« alleine vom Standpunkt der »Identitätsphilosophie« aus begreifbar und lösbar erscheint. War Fischer schon in dieser ersten Auflage des Werkes, angesichts der »unter den kritischen Gesichtspunkt« oder unter die Kontrolle Kants gestellten Identitätsphilosophie, die er vertritt, nur in sehr eingeschränktem Sinn als Hegelianer in Anspruch zu nehmen, so dokumentieren die Umgestaltungen der zweiten Auflage die Distanz zu Hegel mit aller Deutlichkeit.44 Wie wenig andererseits die Philosophie der Philosophiegeschichte gegenübergestellt werden kann, zeigt sich an Fischers Monumentalwerk selbst, am Kant-Band,45 der dem Neukantianismus Grundlage und Ausgangspunkt geworden ist, wie am Hegel-Band46, der in eben dem Sinn auf die Wiederbelebung der hegelschen Philosophie (Hegelianismus) bezogen werden kann, sehen wir die genuin philosophiegeschichtliche Leistung in den Entwicklungszusammenhang der Philosophie eingreifen und damit in ihr selbst unmittelbar zur Geltung kommen.
Fischers Lebenswerk gehört in die Reihe jener großartigen wissenschaftlichen Errungenschaften, die das 19. Jahrhundert auf dem Gebiet der Geschichte der Philosophie hervorgebracht hat. Voraussetzung für diese in Art und Ausmaß einmaligen Leistungen war eine Neubewertung der Philosophiegeschichte durch Hegel. In seinen »Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie« hat Hegel Philosophiegeschichte nicht länger als eine »Galerie der Meinungen«48, sondern als sinnvollen Entwicklungszusammenhang des Denkens vorgetragen und damit erstmals die Geschichte der Philosophie als integrierenden Bestandteil des philosophischen Systems begriffen. Hegels Nachfolger haben fortgeführt, was bei ihm systematisch grundgelegt war, im Geiste seiner Ausführungen waren sie um die Vertiefung seines Grundgedankens ebenso wie um Korrekturen inhaltlicher und formaler Art bemüht, wobei sie das Unzureichende der hegelschen Methode vor allem in ihrem konstruktiven Charakter gesehen haben.49 Ganz anders die Position Schopenhauers: Für ihn ist die Geschichte der Philosophie bloß Wissen, keine Wissenschaft. So war ihm auch stets der Hinweis auf die eigene Originalität wichtiger als die Einbindung in die Überlieferung oder der Anschluss an die Tradition. Er hat auch erst sehr spät eingeräumt, dass einzelne seiner philosophischen Ideen und Gedanken Vorgänger haben, und dort, wo er zu solchen Zugeständnissen bereit war, stets auf die Bemerkung Wert gelegt, in welch unzulänglicher Weise diese Vorgänger ihre Ideen gefasst hätten50. Sowenig das Genie als solches aus irgendwelchen Lebensumständen oder Familiengenealogien abzuleiten ist, sowenig ist das, was es denkt aus dem, was vor ihm gedacht wurde, zu erklären. Das Genie ist ein Original oder es ist gar nicht. Eigenes und fremdes Denken stehen sich bei Schopenhauer in größtmöglicher Distanz gegenüber – die Frühlingsblume (Leben) ist ihm das adäquate Bild des einen, das Fossil (Tod) das adäquate Bild des anderen.51 Von einer Verlebendigung der Tradition, dem sich zu eigen Machen fremder Gedanken durch denkende Aneignung, weiß Schopenhauer nichts. Wer die Gedanken anderer kennt, sieht entweder die eigene Meinung bekräftigt oder beglückwünscht sich dazu, die sichtbar werdenden Irr-, Ab- und Umwege des Denkens vermieden zu haben – das philosophiegeschichtliche Wissen dient einzig der Selbstbestätigung, dazu, sich zu überheben. Schopenhauer ist in seinen Stellungnahmen zu anderen Philosophen dieser Theorie gemäß verfahren, vor der Folie des eigenen Denkens lobt er das jeweils Übereinstimmende und tadelt das jeweils Abweichende.52 Auch das Lesen ist ein bloßes Surrogat des eigenen Denkens53, das, von einem anderen am Gängelbande geführt, Zeit und Energie vergeudet – was auch sollte uns interessieren an den Überresten eines fremden Mahls54, als welches die gelesenen Gedanken erscheinen, wenn deren Wahrheit und Leben dem Verständnis transzendent bleiben? Schopenhauer übersieht dabei, dass die Kennzeichnungen »fremd« und »eigen« gerade auf das Allgemeine des Gedankens nur in einem sehr eingeschränkten Sinn, gewissermaßen bloß alltagssprachlich, angewendet werden können.
Kuno Fischer legt in seinem Schopenhauer-Buch »die Geschichte des jüngsten und letzten Philosophen«55 der großen, unmittelbar von Kant ausgehenden Periode systematischen Denkens vor. Seine philosophische Bedeutung und sein unaufhaltsam sich ausbreitender Ruhm sind dabei gleichermaßen Motiv, Schopenhauer in die Reihe der Denker aufzunehmen, von denen Fischers philosophiegeschichtliches Monumentalwerk handelt. Die Aufgabe, vor die wir angesichts der im Rahmen der europäischen Geistesgeschichte singulären Erscheinung dieses philosophischen Originalgenies gestellt sind, hat Fischer in der Vorrede zur zweiten Auflage (1897) formuliert, sie hat bis heute nichts an Aktualität verloren: »Die Schopenhauer-Literatur floriert. Wenn man den Philosophen richtig zu verstehen und zu beurteilen vermag, was freilich etwas schwieriger ist, als seine Schriften lesen und loben, so wird die Beschäftigung mit ihm nicht bloß blühen, sondern auch Frucht tragen. Von Schopenhauer ist mehr zu lernen als von ›Zarathustra‹«.56
Die Kennzeichnung Schopenhauers als eines philosophischen Außenseiters trifft nicht erst auf seine Philosophie, sondern bereits auf seine Biographie zu. Die von Kuno Fischer aus Selbstdarstellungen und Briefen sorgfältig recherchierte Vita zeigt uns Schopenhauers Werdegang in keinem Punkt mit dem eines deutschen Gelehrten des 18. Jahrhunderts vergleichbar. Dieser kommt typischerweise aus kleinen Verhältnissen, sein Bildungsweg beginnt mit dem Studium der Theologie oder Philologie und auf seine akademische Laufbahn bereitet er sich als Hauslehrer vor. Weder die »Atmosphäre des Pfarrhauses« noch die Hochschätzung der »Gelehrsamkeit«, sondern Wohlstand, Unabhängigkeit und »freie Menschenbildung«57 kennzeichnen die urbane Atmosphäre des von Danzig, dem Geburtsort Schopenhauers, nach Hamburg übersiedelten Handelshauses, aus dem Schopenhauer stammt und das weiterzuführen er von seinem Vater bestimmt ist. Seine Erziehung erhält er in vornehmen privaten Instituten im In- und Ausland, ausgedehnte Reisen (Holland, Belgien, England, Frankreich, Schweiz, Österreich) geben ihm die Möglichkeit, im »Buch der Welt« zu lesen und sich mehrere Fremdsprachen mit einer Vollkommenheit anzueignen, die ihm in späteren Jahren die Übersetzung schwierigster philosophischer Texte ermöglicht. Nach dem tragischen Tod des Vaters (1805), der Auflösung des väterlichen Geschäftes und der Übersiedelung von Mutter und Schwester nach Weimar ergibt sich endlich auch für Schopenhauer die Möglichkeit, das verhasste »Comptoir«, in das einzutreten er sich im Anschluss an die Europareise verpflichtet hatte, hinter sich zu lassen und seinen auf Poesie, Kunst und Wissenschaft gerichteten Neigungen zu folgen. Da ihm die Voraussetzungen für ein Studium fehlen, beginnt die Auseinandersetzung mit der Welt der Bücher nunmehr, wiederum in Umkehrung des natürlichen Lebenslaufes – »erst die Wanderjahre, dann die Lehrjahre«58 – mit dem Besuch des humanistischen Gymnasiums (1807), dessen Lernstoff der Hochbegabte sich in so kurzer Zeit aneignet, dass er schon 1809 sein Studium an der Universität Göttingen beginnen kann. Schopenhauer setzt das Studium 1811 an der Universität Berlin fort und wird schließlich 1813 in Jena mit der Dissertation »Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde« zum Doktor der Philosophie promoviert.
Fischers Darstellung ist dadurch charakterisiert, dass sie den Fortgang des Lebens (Biographie), das Werden des Werkes (den Entwicklungsgang seines Denkens) und Schopenhauers Persönlichkeit in unmittelbarer Aufeinanderbezogenheit herausarbeitet. In diesem Sinn qualifiziert er den Rat seines Göttinger Lehrers Gottlob Ernst Schulze, zuallererst und vor allem Platon und Kant zu studieren, als die »folgenreichste Begebenheit seiner geistigen Bildungsgeschichte«59, die Lektüre Kants greift wegweisend in Schopenhauers Entwicklung ein, ihr verdankt er die grundsätzliche Entscheidung für die philosophische Laufbahn, der Auseinandersetzung mit Kants Idealismus darüber hinaus die erkenntnistheoretische Grundlage seines Systems. Mit dem Hinweis auf Platon und Kant sind bereits zwei Säulen dieses Systems markiert, zu ihnen treten als dritte wesentliche Voraussetzung seiner Philosophie die Upanischaden – in die indische Philosophie wird er durch den Orientalisten Friedrich Majer eingeführt.
In Weimar wird die Mutter Johanna Schopenhauer, die später als Reise- und Romanschriftstellerin Berühmtheit erlangt, zum Mittelpunkt eines schöngeistigen Salons, zu dessen bedeutendsten Besuchern Goethe gehört. Im Salon der Mutter, mit der er sich allzu rasch endgültig überwirft, lernt auch Schopenhauer Goethe kennen, den er zeit seines Lebens schätzt und verehrt. Von ihm persönlich in seine Farbenlehre eingeführt, nimmt der gelehrige Schüler die Gedanken des Meister mit solcher Selbständigkeit auf, dass Goethe sehr bald Grund zu Klagen hat: er sieht das Verhältnis Schüler – Meister für seinen Geschmack zu schnell sich ins Gegenteil verkehren. Ebenso beurteilt Goethe später auch Schopenhauers Schrift: »Über das Sehn und die Farben« (1815), die dieser als philosophische Begründung und Fortbildung der Goetheschen Farbenlehre versteht. In Dresden entsteht Schopenhauers philosophisches Hauptwerk: »Die Welt als Wille und Vorstellung«, das 1819 vom Verlag F. A. Brockhaus veröffentlicht wird und, die Erwartungen von Autor und Verleger enttäuschend, zum geschäftlichen Misserfolg gerät. Eine Italienreise endet im Juni 1819 jäh durch die Nachricht vom Zusammenbruch des sein und seiner Familie Vermögen verwaltenden Handelshauses. Schopenhauer gelingt es, den drohenden Vermögensverlust durch kluges Taktieren abzuwenden; er fasst den Entschluss, die akademische Laufbahn einzuschlagen, habilitiert sich in Berlin und beginnt dort im Frühjahr 1820 seine Lehrtätigkeit als Privatdozent. Doch auch als Universitätslehrer ist Schopenhauer erfolglos, die wenigen Hörer bleiben nach einigen Semestern ganz aus und der Dozent ist auf Jahre nur noch in den Vorlesungsverzeichnissen zu finden. Er verlässt Berlin auf der Flucht vor der herannahenden Cholera, um sich ab 1833 in Frankfurt am Main dauerhaft niederzulassen. Die Arbeiten aus seiner zweiten literarischen Schaffensperiode, unter anderem die Schrift »Über den Willen in der Natur« (1836) und seine beiden ethischen Schriften, die von der norwegischen Sozietät 1839 preisgekrönte Schrift »Über die Freiheit des menschlichen Willens« und die von der dänischen Sozietät 1840 nicht preisgekrönte Schrift »Über das Fundament der Moral« teilen das Schicksal seines Hauptwerkes. Der schriftstellerische Erfolg und die Anerkennung durch die akademische Welt bleiben aus.
Fischer zeichnet Schopenhauers Persönlichkeit als gleichermaßen hochbegabt und schwer belastet. Spottsucht und Rechthaberei bringen ihn immer wieder in Schwierigkeiten und zeigen uns schon den jungen Schopenhauer als einen eigenbrötlerisch-ungeselligen Menschen. Insbesondere eine Disposition zu Wahnideen und Angstgefühlen, unwiderstehliche Menschenscheu, Furcht, Argwohn und Misstrauen bleiben sein unbezwingbares väterliches Erbe und sind verantwortlich für eine Gemütsbeschaffenheit, auf deren Grund sich schon früh ein pessimistisches Lebensgefühl bemerkbar macht. Dagegen zeigt sich sein »intellektuelles Naturell […] mit dem ganzen Schwergewicht seines starken und heftigen Wollens angetan und ausgerüstet; er war berufen ein genialer Künstler zu werden, nicht ein solcher, der die Erscheinungen in Gestalten und Farben, sondern der das Wesen und die Beschaffenheit der Dinge in Begriffen darstellt und abbildet: ein Künstler, dessen Stoff in Erkenntnissen, Einsichten und Ideen besteht, die auf dem Weg der gelehrten, wissenschaftlichen, philosophischen Bildung und Arbeit erworben werden mussten.«60 Er hat tatsächlich, was ihm später zur Lehre wurde, den Charakter vom Vater und die Intelligenz von der Mutter geerbt.
Bei aller Detailtreue kommt Fischer in der Nachzeichnung von Schopenhauers Biographie ganz ohne die sonst so beliebte Anekdote aus, dass er dabei auch auf Weichzeichnung und Schönfärberei verzichtet und die Schattenseiten und Widersprüchlichkeiten, die seinen Charakter prägen, nicht verschweigt, hat ihm Kritik unter jenen Anhängern Schopenhauers eingetragen, denen der verehrte Meister über allem steht – die sich auch heute noch als »Apostel« und »Evangelisten«61 in den Dienst seiner Sache stellen. Fischers Darstellung der Persönlichkeit Schopenhauers bleibt unvoreingenommen und fair auch dort, wo er uns den Philosophen als Menschen zeigt, der in mehr als einer Hinsicht imponiert, aber in kaum einer sympathisch erscheint. Von der Gehässigkeit, mit der etwa das erste Kapitel des Schopenhauer-Artikels in Fritz Mauthners »Wörterbuch der Philosophie«62 zu einer Abrechnung mit Fischers Schopenhauer-Darstellung gerät, ist Fischer selbst weit entfernt.63 Die eigene vornehme Gesinnung zeigt er am deutlichsten dort, wo er guten Grund gehabt hätte, Schopenhauer bloßzustellen, Schopenhauer hatte Fischers unrechtmäßige Aberkennung der Lehrbefugnis an der Heidelberger Universität mit den Worten kommentiert: »Es geschieht ihm sehr recht«64. Fischer weist auf diesen Kommentar ohne bittere Häme hin, wie sie einem kleinlich nachtragenden Gemüt wohl gerechtfertigt erschienen wäre – der mit den näheren Umständen nicht vertraute Leser erfährt nicht einmal, dass es sich bei dem denunzierten und vertriebenen Dozenten um Fischer selbst handelt.65
Arthur Schopenhauer ist eines der eindrucksvollsten Beispiele dafür, dass sich Philosophie nicht auf Universitätsphilosophie beschränken lässt. Im Anschluss an Kant, für dessen einzig wahren und echten Thronerben er sich hält, und gleichzeitig völlig unbeeindruckt durch die Fortschritte, welche die Philosophie in Auseinandersetzung mit Kant, seit Kant erfahren hat, legt das Originalgenie als Dreißigjähriger sein Hauptwerk: »Die Welt als Wille und Vorstellung« vor, um den Rest seines Lebens an dessen Erweiterung, Vertiefung und Kommentierung zu arbeiten. Die thematischen Schwerpunkte dieses, aus der Explikation des einen Grundgedankens: die Welt ist die Selbsterkenntnis des Willens, hervorgehenden organischen Ganzen, sind: Erkenntnistheorie, Metaphysik, Ethik und Ästhetik. Dass er den Sinn der Weltgeschichte für Täuschung erklärt, vollends aber dass sein systematischer Entwurf zu Selbstverleugnung und Weltüberwindung führt, bringt Schopenhauer in schärfsten Gegensatz zur abendländischen Philosophie und jenem ihr immanenten Optimismus, der in Leibnizens Lehre von der besten aller möglichen Welten beredten Ausdruck gefunden hat.66
Von der Universitätsphilosophie zeitlebens ignoriert, wird Schopenhauer nur zögernd, zunächst in Literatur und Kunst zur Kenntnis genommen, um im letzten Lebensjahrzehnt endlich als Misanthrop und Pessimist allgemein bekannt zu werden. Eine breitere Leserschaft und schließlich Popularität gewinnt ihm dabei freilich nicht sein Hauptwerk, sondern Schriften, die ihm, gemessen an diesem nur Parerga (Beiwerke, Nebenwerke) und Paralipomena (Randbemerkungen, Nachträge) waren, wie etwa seine »Aphorismen zur Lebensweisheit«, von denen das lesebereite Publikum schon dem Titel nach nicht akademische Subtilitäten, sondern Antworten auf die Frage: Was ist der Mensch? im Sinne des kantischen Weltbegriffs der Philosophie erwarten durfte. Was die Universitätsphilosophie betrifft, bleibt er ein Außenseiter, der ihr in der Folge eben deshalb ihr zunächst ferne liegende Themenkreise (z.B. Buddhismus) zu erschließen vermag.
Fischer lässt keinen Zweifel daran, dass die Rezeption von Schopenhauers Philosophie, oder besser deren Ausbleiben, einzigartig und dem Rang und der Qualität seiner Werke völlig unangemessen ist: »Man weiß ja, dass Bücher ihre Schicksale haben; schwerlich haben philosophische je ein ähnliches gehabt. Es handelte sich um Werke, die keineswegs von innen dunkel waren, vielmehr durch ihren Reichtum an erleuchtenden und neuen Ideen, durch ihre stilistische und künstlerische Vollkommenheit die volle Beachtung aller Literaturkenner und Literaturfreunde sogleich verdient hätten.«67 Wie erklärt sich die Ignoration eines so bedeutenden Werkes? – War hier tatsächlich eine Verschwörung von Philosophieprofessoren am Werk, deren Kopf Hegel und deren Triebkraft die Todesangst des Mittelmaßes vor dem Genie gewesen ist, wie Schopenhauer mit unbelehrbarer Hartnäckigkeit behauptet hat68, oder ist es einfach so, dass Philosophen, die gut schreiben können, vom Fach nicht ganz ernst genommen werden?69 Fischer gibt zu bedenken, dass die Philosophieprofessoren nicht der Zeitgeist sind und verweist in diesem Zusammenhang auf Schopenhauers unzeitgemäße Themenwahl. Für ihn steht die Nichtbeachtung Schopenhauers damit im Zusammenhang, dass die, die Zeit bestimmenden Probleme und Fragen allesamt von historischem Charakter waren, ihr Thema war die Weltgeschichte, der sich Schopenhauer »von Grund auf abgewendet zeigt«70. Erst als das »Grunddogma« der hegelschen Philosophie, die Lehre vom »Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit«, seine beherrschende Stellung verliert, ist die »Zeit […] gekommen, wo man seinen Worten lauscht«, mit welchen er »die Lehre von dem Thema und Endzweck der Weltgeschichte für eine Täuschung [erklärt] und dieselbe gründlicher als je ein Sterblicher vor ihm der Welt auszureden« versucht.71
Schopenhauer, der seine Außenseiterrolle mitunter genossen, unter seiner Erfolglosigkeit aber schwer gelitten hat, hat sich mehrfach »Über die Universitätsphilosophie« geäußert, zusammenfassend unter diesem Titel im ersten Band seiner Parerga.72 Den entsprechenden Ausführungen fehlt es nicht an plakativen Gegenüberstellungen: Einsicht steht gegen Absicht, Sein gegen Schein, Philosoph gegen Sophist, Genie gegen Gelehrter, Selbstdenker gegen Bücherphilosoph, die »alma mater« ist Schopenhauer nicht primär im geistigen, sondern im handgreiflichen Sinn eine nährende Mutter, das Genie braucht die Universität nicht, es lebt für die Philosophie, die Philosophieprofessoren dagegen leben von der Philosophie; an die Stelle der Liebe zur Weisheit tritt die Lohndienerei, der Hinblick auf den Gewinn, den die Wissenschaft abwirft, der Missbrauch von Universität und Philosophie als bloßes Mittel. Die Lektüre dieser Schimpfreden wird den unterhalten, der eine solche Art der Polemik zu schätzen weiß und nicht den Anspruch hat, von ihr belehrt zu werden, schon Fischer hat auf die Folgenlosigkeit dieser Art der Schmähungen (Sophist, Lump, Galimathias etc.) hingewiesen: »Was hat die Welt davon, dass er seine Galle los wird?«73 Wer weiß, dass die Personalunion von Universitätsprofessor und Philosoph in der Tat nicht die Regel, sondern die Ausnahme ist,74 nimmt mit Erstaunen zur Kenntnis, dass Schopenhauers Abrechnung mit der Universitätsphilosophie vorrangig solche Ausnahmen (Fichte, Schelling, Hegel) zur Zielscheibe seiner polemischen Attacken macht. Den Vorwürfen ist mit Bruno Liebrucks entgegenzuhalten, dass der »sophistische Charakter der Philosophie nicht eliminierbar [ist,] [s]olange wir in der Bemühung um Philosophie auch ›unser täglich Brot‹ verdienen«.75 Aus Schopenhauers Mund erscheinen sie umso verwunderlicher, als vermutet werden darf, dass er selbst, nach dem drohenden und zuletzt glücklich abgewendeten Vermögensverlust, eine akademische Laufbahn vor allem im Hinblick auf eine materielle Sicherstellung ins Auge gefasst hat. Ist also nach der Fabel Schopenhauer der Fuchs und die Philosophieprofessoren die Trauben? – redet er schlecht, was er vergeblich zu erreichen versucht hat? Obgleich man seinen Ausführungen das Ressentiment nur allzu deutlich ansieht, sollte man es sich damit nicht zu einfach machen. Schopenhauer und die Universitätsphilosophie seiner Zeit sind sich gegenseitig einiges schuldig geblieben – die Universitätsphilosophie die Auseinandersetzung mit Schopenhauer und die Anerkennung seiner Leistungen, wenn wir von vereinzelten Versuchen, Schopenhauers Philosophie zum Gegenstand akademischen Forschens (Preisfrage) und universitären Unterrichtens (Vorlesungen) zu machen absehen, hat diese Schuld wohl erst Kuno Fischer in der vorliegenden Monographie eingelöst – und Schopenhauer die Kritik der Universitätsphilosophie. Diese ist im Hinweis auf die je eigene Originalität und Genialität auch nicht zu leisten. Trotz der Vielzahl thematisch einschlägiger Passagen finden wir daher bei Schopenhauer auch dort, wo das Gesagte über Beschimpfungen und Verunglimpfungen hinausgeht, nur sehr wenig, woran anzuknüpfen wäre, um diese unter den nicht bloß geänderten, sondern verschärften Bedingungen der Gegenwart ebenso schwerer wie ungleich dringlicher gewordene Aufgabe zu lösen. Ist nicht auch heute an den Universitäten mancherorts, um es mit den Worten des Übertreibungskünstlers zu sagen, »die Wirklichkeit […] so schlimm / daß sie nicht beschrieben werden kann«76 und sehen wir nicht auch gegenwärtig die Universitätsphilosophie »mit hundert Absichten und tausend Rücksichten behaftet […] ihres Weges« gehen?77 Bei leicht veränderter Schwerpunktsetzung und Aktualisierung, was das Inhaltliche betrifft, sind Vorsichten und Rücksichten, die den »Willen des Ministeriums«, »die Wünsche der Verleger«, »die gute Freundschaft der Kollegen«, »den Zuspruch der Studierenden«, »den Gang der Tagespolitik«, »die Richtung des Publikums« u.a.m. im Auge haben, nach wie vor Ausdruck akademischer Untugenden. Während man sie an einer am humboldtschen Bildungsbegriff ausgerichteten Universität als persönliche Verfehlungen eines Ideals ansehen kann, das selbstverständliche Geltung hat, stehen für die Philosophie an einer Universität, die ihr gegenwärtiges Erscheinungsbild einer Reihe von primär ökonomisch motivierten und nach den Gesetzen des Marktes maßstäblich ausgerichteten Reformen verdankt, Möglichkeit und Berechtigung ihrer universitären Existenz in Frage. Angesichts der Drohung, dass sich die wenig vorteilhafte Position der Philosophie im Verteilungskampf um knapper werdende finanzielle Mittel weiter verschlechtern könnte, die stets noch jene Vandalen auf den Plan gerufen hat, die unter dem Titel ihrer Selbsterhaltung ihre Selbstauflösung betreiben, scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis der Philosophie das »Asylrecht«78, das sie an Universitäten noch genießt, gekündigt wird.
Eine Kritik der Universitätsphilosophie setzt einen Begriff von Philosophie voraus, der es ihr ermöglicht, in Abhebung zu einem am Paradigma neuzeitlicher Naturwissenschaft orientierten Wissenschaftsverständnis, als Wissenschaft auftreten zu können. Soll dieser Versuch einer Standortbestimmung der Philosophie im Verhältnis zu den Einzelwissenschaften nicht zur Anpassung an das Vorgehen derselben werden, kann sich Philosophie nur im Widerstand gegen die auf Effektivität, Effizienz, Erfolg, Nutzen etc. gerichteten Tendenzen behaupten. Der durch die institutionellen Rahmenbedingungen verschärfte Anpassungsdruck ist groß, wie viel sie ihm jeweils entgegenzusetzen hat entscheidet darüber, wie weit sie bleiben kann, was sie ist und offenbart darin das Ausmaß, in dem sie sich selber versteht resp. missversteht. Wo die Aufgabe scheitert, wird das, was geistige Arbeit verhindert, zu ihrem Ausweis. Die Selbstkritik gegenwärtiger Universitätsphilosophie hat nicht die Qualität, dass sie auf Unterstützung durch Argumente von philosophischen Außenseitern, wie Schopenhauer einer ist, verzichten könnte. In diesem Sinn ist das Werk Schopenhauers auf mannigfache Weise geeignet, der »Universitätsphilosophie« – um zur Not bei dieser problematischen Verallgemeinerung zu bleiben – einen Spiegel vorzuhalten. Wer würde nicht akademischen Untugenden, wie etwa der von solchem Anpassungszwang diktierten Vielschreiberei (publish or perish) Schopenhauers Grundsatz entgegenhalten wollen, nur dann zu schreiben, wenn man etwas zu sagen hat, und selbstredend wäre Schopenhauer angehenden philosophischen Schriftstellern zur Pflichtlektüre aufzugeben, wenn man nur den Schreibstil durch Lektüre zu beeinflussen und zu verbessern hoffen dürfte. Kant hat gezeigt, dass im Rahmen der Frage: Was ist der Mensch?, Schulbegriff und Weltbegriff der Philosophie spannungsvoll aufeinander bezogen sind79. Philosophie ist darin unaufhebbar durch den Gegensatz Esoterik – Exoterik bestimmt. Da sie ihrer Aufgabe in der Alternative von gehaltvoller Naivität und leerer Differenziertheit, die mit der Abspannung des Gegensatzes, d. h. in der Beschränkung auf bloß eines der Momente droht, nicht gerecht zu werden vermag, müssen immer wieder Anstrengungen einer Vermittlung beider Momente in dem Sinn unternommen werden, dass die philosophische Spezial- und Fachdiskussion auf die Grundfrage: Was ist der Mensch? zurückbezogen wird. In ihrer Tendenz zu Spezialisierung und Differenzierung steht die Universitätsphilosophie immer in der Gefahr, sich von ihrem Quellpunkt abzuschneiden. Das ungebrochene Interesse an Werken wie Schopenhauers »Aphorismen zur Lebensweisheit« ist so gesehen ein vorwurfsvoller Hinweis darauf, dass die Universitätsphilosophie auf Fragen von einiger Bedeutung keine Antworten hat. Auf dem Weg von der Liebe zur Weisheit zur Wissenschaft esoterisch geworden, hat sie den Anspruch, »Führerin des Lebens«80 zu sein, aufgegeben und überlässt das unbestellte Feld dem philosophischen Dilettantismus, in Form der psychologischen Beratung, der Lebenshilfeliteratur etc.
Den Anweisungen entsprechend, die Schopenhauer mehrfach zum Studium seiner Philosophie und zur Lektüre seiner Werke gegeben hat, beginnt Fischer seine Einführung in Schopenhauers Lehre mit der Darstellung seiner Dissertation. Die 1813 erschienene Abhandlung »Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde« hat den Charakter einer Propädeutik, insoferne sie in der Unterscheidung von Kausalgrund, Erkenntnisgrund, Seinsgrund und Grund des Handelns (Motivation) Anlage und Differenzierungen seines Hauptwerkes enthält. »Die Welt als Wille und Vorstellung« teilt sich in vier Bücher, die Schopenhauers Grundgedanken: »Die Welt ist die Selbsterkenntnis des Willens« explizieren. Das erste Buch enthält Schopenhauers Erkenntnistheorie und lässt bereits mit dem ersten Satz den Anschluss an Kants transzendentalen Idealismus erkennen: »Die Welt ist meine Vorstellung«. Das zweite Buch enthält Schopenhauers Metaphysik: die Lehre vom Willen, der sich in der gesamten Natur objektiviert, mit dem dritten Buch wird das Problemgebiet der Ästhetik betreten, das vierte Buch enthält Schopenhauers Ethik und Religionsphilosophie.
Schon im Kant-Band seiner Geschichte hat Fischer Schopenhauers Verdienst um die kantische Philosophie hervorgehoben, das darin besteht, »auf die erste Ausgabe der Vernunftkritik, als die wahre Grundlage der Lehre Kant´s, hingewiesen [zu] haben«82. Nur im Ausgang von der transzendentalen Ästhetik, der Lehre von Raum und Zeit, ist ein angemessenes Verständnis der kritischen Philosophie möglich: »Hier ist die Entdeckung, worauf das ganze kritische Lehrgebäude ruht, der Schwerpunkt, wonach die übrigen Begriffe sich richten.«83 Ein Verfehlen dieser Interpretationsrichtung bringt die kritische Philosophie »in Widerstreit mit sich selbst«84, wie das in der zweiten Auflage der Vernunftkritik der Fall ist. Diese Art des Rückgriffs auf Kant ist nicht unproblematisch, eine Interpretation Kants, welche die transzendentale Ästhetik ins Zentrum stellt, schließt an die »Kritik der reinen Vernunft« an einer Stelle an, an der dieses revolutionäre Werk vorkritische Züge trägt und begreift damit Transzendentalphilosophie von einem Lehrstück aus, das Kant in der zweiten Auflage zu korrigieren bemüht gewesen ist. Schopenhauers Anschluss an Kant ist zudem durch die Zurücknahme einer Reihe kantischer Differenzierungen gekennzeichnet.85 Dazu kommt, dass noch in einem weiteren wesentlichen Punkt Schopenhauer kein Schüler Kants gewesen ist.86 Kant hat Philosophie als Wissenschaft konzipiert und ist demgemäß bestrebt gewesen, der Metaphysik ein methodisches Fundament zu geben, das es ihr ermöglicht, als Wissenschaft aufzutreten87. Auch für die an Kant anschließenden Vertreter des Deutschen Idealismus sind Logik und Metaphysik – so auch für Fischer – stets Wissenschaftslehre. Im Gegensatz dazu ist für Schopenhauer Philosophie nicht primär Wissenschaft, sondern Kunst – eine Sache des Genies: das Genie, der vom Genius geleitete Selbstdenker, »der hat die Boussole, den rechten Weg zu finden«88 – methodische Überlegungen spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle. Wird man im Rahmen der Erkenntnistheorie Schopenhauer den exklusiven Anspruch, der einzig echte Thronerbe Kants zu sein, bestreiten müssen, die Einsicht in die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit Kant, ja eines Ausgangs von Kant als unverzichtbare Grundlage allen Philosophierens, wird man ihm nicht absprechen können. Der Fortschritt der Philosophie seit Kant war weder gestern noch ist er heute ein Einwand gegen eine solche »Rückkehr zu Kant«, soferne all die Schritte, welche die Philosophie über Kant hinaus getan hat, es nicht rechtfertigen, dass wir auch nur einen einzigen hinter ihn zurück tun, – und heißt nicht schon Kant verstehen, über ihn hinausgehen?89
Schopenhauer überschreitet die Erkenntnisgrenzen, die bei Kant durch die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich der Metaphysik gesetzt sind, indem er das Ding an sich als Wille bestimmt. Damit ist nicht nur eines der zentralen Probleme der Kantinterpretation, in der Art des gordischen Knotens gelöst, indem Schopenhauer die Leiblichkeit des Menschen zum Ausgangspunkt seiner Willensmetaphysik macht, umgeht er auch »die gefährlichste Klippe des Kantianismus«90 im Sinne einer »reflexionslogischen« Verfehlung der Leibproblematik. Der Leib, das »unmittelbare Objekt«, ist uns auf eine doppelte Weise gegeben: in einer Außenperspektive als Objekt der Vorstellung, d. h. als sinnliche Erscheinung in Raum und Zeit, und in einer Innenperspektive als Wille zum Leben. In Analogie zu dieser Leiberfahrung wird der Wille zum einheitlichen Erklärungsprinzip alles Wirklichen, die Erscheinungswelt insgesamt muss ihrem Wesen nach als Wille begriffen werden, als Wille zum Leben, der sich in der Natur unmittelbar manifestiert und im Menschen Bewusstsein und Einsicht gewinnt.
Schopenhauers Willensmetaphysik weist auf mehreren Traditionslinien ins 20. Jahrhundert. Indem er den Willen vom Gedanken einer die Natur insgesamt bestimmenden natürlichen Selbstbehauptung her fasst, nimmt Schopenhauer nicht nur unabhängig von Darwin wesentliche Bestimmungen des Darwinismus vorweg, sondern auch Gedanken, die sich zum Teil in der neuzeitlichen Anthropologie wiederfinden – der »exstatische Gefühlsdrang« bei Max Scheler91, oder der Begriff Kultur als ins Zweckdienliche umgearbeitete Natur bei Arnold Gehlen92. Seine Erkenntnis der Rolle des Unbewussten weist über Nietzsche und Eduard von Hartmann93 auf die Freudsche Psychoanalyse. Freud erwähnt Schopenhauer nicht nur an mehreren Stellen seiner Traumdeutung – das Verhältnis von Traum und Wahnsinn94, das Verhältnis von Traum und Charakter95, oder die Frage der Entstehung des Traumes96 betreffend –, er hebt auch mehrfach die »weitgehenden Übereinstimmungen der Psychoanalyse mit der Philosophie Schopenhauers« hervor und gesteht ihm zu, »nicht nur den Primat der Affektivität und die überragende Bedeutung der Sexualität vertreten, sondern selbst den Mechanismus der Verdrängung gekannt«97 zu haben. Auch im Zusammenhang mit der dritten (psychologischen) Kränkung der Eigenliebe, die sich mit der Einsicht verbindet, dass angesichts letztlich nicht zu bändigender sexueller Triebregungen »das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus«, ist es »der große Denker Schopenhauer, dessen unbewußter ›Wille‹ den seelischen Trieben der Psychoanalyse gleichzusetzen ist,«98 auf den Freud hinweist. Vor allem aber ist es die Abwehr von Missverständnissen und nicht gerechtfertigten Vorwürfen, die in Schlagworten wie »Pansexualismus« der Psychoanalyse vorwerfen, alles aus der Sexualität zu erklären, die Freud in Schopenhauer den Verbündeten suchen lässt, der »bereits vor geraumer Zeit den Menschen vorgehalten [hat,] in welchem Maß ihr Tun und Trachten durch sexuelle Strebungen – im gewohnten Sinne des Wortes – bestimmt wird«99. Solcherart beruft sich Freud mehrfach auf Schopenhauer, ohne freilich in ihm einen Vorläufer der eigenen Position sehen zu wollen.100
Aus Schopenhauers metaphysischer Weltkonzeption sind auch die Prinzipien seiner Ethik abgeleitet. Sittliche Gestalten101 gelten ihm bloß als begriffliche Abstraktionen, an ihre Stelle treten das Mitleid als die eine Tugend und der Egoismus als das eine Laster. In dieser »grandiosen Vereinfachung« der sittlichen Probleme zeigt sich Schopenhauer auch im Rahmen der praktischen Philosophie als Widerpart der Philosophie des Deutschen Idealismus.102 Die Konzeption einer Ethik, die sich über den Menschen hinaus auf das Lebendige, d. h. auch auf das Tier bezieht, weist ebenfalls weit ins 20. Jahrhundert. So finden wir Schopenhauer im Rahmen jener Positionen, denen das Mitleid als Grundlage der Ausweitung des Humanitätsgedankens auf das Tier resp. der Einbeziehung des Tieres in die sittliche Gemeinschaft das fundamentale ethische Prinzip ist, als vielzitierten Klassiker der Tierethik, wobei die näheren Differenzierungen seines Mitleidsbegriffs und die metaphysischen Voraussetzungen desselben nicht selten außer Acht bleiben. Schon Albert Schweitzer, dessen Auseinandersetzung mit Schopenhauers Ethik tiefgreifend und nicht zuletzt ihrer kritischen Einwände wegen beachtenswert ist, nimmt einen genuin schopenhauerschen Gedanken zum Ausgangspunkt seiner »Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben«: »Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.«103 Im Ausgeliefertsein an den blinden und unaufhaltsamen Drang des Willens, den, im Kampf gegen Hemmungen und im Konflikt mit anderen, von Ziel zu Ziel vorwärtsgetrieben, jede Befriedigung rastlos und enttäuscht zurücklässt, erweist sich alles Leben als Leiden. Durch die kontemplative Versenkung in die Idee der Dinge beim Schaffen und Betrachten von Kunstwerken kann sich der Mensch diesem Bestimmtsein durch den Willen wohl punktuell, nicht aber dauerhaft entziehen: die Kunst kann trösten, aber nicht erlösen.104 Die Selbsterkenntnis des Willens vollendet sich erst in Selbstverleugnung und Weltüberwindung, wie sie Resignation und Askese ermöglichen. Diese Heilslehre, in der Schopenhauer mit dem Buddhismus übereinstimmt, ist der Schlussstein seines Systems.105
Schopenhauer, der sich selbst als Künstler verstand und als Religionsstifter aufgetreten ist, hat seit je polarisiert, sein Werk und seine Persönlichkeit, sein Charakter, der schreiende Widerspruch zwischen Leben und Lehre, der pessimistische Grundzug seiner Weltsicht und nicht zuletzt der Gegensatz, in dem sie zur abendländischen Philosophietradition steht, haben ebenso unbedingte Gegnerschaft wie bedingungslose Anhängerschaft provoziert. Wer Schopenhauer als Philosophen begegnen will, sieht sich zu einer denkenden Aneignung seines Werkes herausgefordert und wird in Fischers Gesamtdarstellung, in der detailreichen, gelehrten und anschaulichen Nachzeichnung des Lebens, der Werke und der Lehren des Philosophen den Schlüssel und roten Faden zur Bewältigung eben dieser Aufgabe finden. Das Buch lädt nicht nur zu denkender Aneignung ein, es unterstützt dieselbe auch auf das wirkungsvollste, darin, dass es die differenzierte Argumentation in anschaulicher Klarheit vor uns ausbreitet und uns hilft, in den verwickelten Gedankenmassen den Überblick zu behalten, ist es dem Kompass vergleichbar, an dem wir uns orientieren, um nicht vom Wege abzukommen. Das Studium von Fischers Monographien unterscheidet sich wohltuend von einer Lektüre, nach der man mit den dargestellten Denkern fertig ist, indem man sie in einer Schublade abzulegen weiß. Fischer geht es sowenig um »lesen und loben«, wie um »lesen und tadeln«, sondern um eine Auseinandersetzung, die Frucht trägt. Wir dürfen seinem Urteil vertrauen, dass eine solche Begegnung mit Schopenhauer niemanden unbeeindruckt lassen und ihr geringster Ertrag ein uneingeschränktes Lesevergnügen sein wird: »Wenn man ihn zu Ende [gelesen] hat, so ist es sehr fraglich, ob man ihm Recht gibt, aber sicher ist, dass man ihn nie wieder vergisst.«106 Eine problemgeschichtlich angelegte Einführung in das System eines Philosophen ist immer auch eine Einführung in die Philosophie selbst, Fischers Schopenhauer-Monographie wird darüber hinaus der weit anspruchsvolleren Aufgabe gerecht, im Sinne der kantischen Unterscheidung, auch eine Einführung in das Philosophieren zu sein.
Am 186. Geburtstag von Kuno Fischer
und 114. Geburtstag von Hermann Glockner
Die Herausgeber
Biographische Nachrichten. Das Zeitalter Schopenhauers. Der erste Abschnitt seiner Jugendgeschichte (1788 1805)
Es ist zu verwundern und zu bedauern, dass der Philosoph, von dem wir handeln wollen, keine Bekenntnisse autobiographischer Art hinterlassen hat, da er mehr als irgend ein anderer seiner Geistesgenossen, Rousseau ausgenommen, zu grüblerischen Selbstbetrachtungen über die eigene Person, ihre Bedeutung und Schicksale geneigt und viel damit beschäftigt war. Nach dem Abschluss seiner Jugendperiode hatte er ein Werk solcher Aufzeichnungen angelegt und nach dem erhabenen Beispiel des Marc Aurel »Εἰς ἑαυτόν« genannt, er hat dieselben noch in späteren handschriftlichen Büchern angeführt und auch mündlich auf ihre Wichtigkeit hingewiesen; aber die Schrift, deren Umfang nur dreißig Blätter betragen haben soll, ist auf seinen Wunsch von seinem Testamentsvollstrecker vernichtet worden. (S. unten 9. Kap.)
1. Vier Lebensskizzen rühren von ihm selbst her: das zum Behuf der Promotion im September 1813 und das zum Behuf der Habilitation am letzten Dezember 1819 verfasste »«, dann die beiden kurzen Lebensabrisse aus dem April und Mai 1851, von denen der erste für Joh. Eduard Erdmann zur Aufnahme in dessen Geschichtswerk der neuern Philosophie, der andere für Meyers Konversationslexikon geschrieben wurde. Das »« von 1819 ist für die Kenntnis der ersten dreißig Lebensjahre des Philosophen die umfänglichste und nächste Quelle.
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