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Ein fesselnder Thriller im Eis der Alpen!Nelli Prenz hat innerhalb von sieben Jahren die Welt mit dem Fahrrad umrundet, doch ausgerechnet auf dem Weg in ihre Heimatstadt Hof stürzt sie an einem Alpenpass. Jetzt ist sie gezwungen, die Nacht in einer abgelegenen Berghütte zu verbringen, wo ihr nur der Wirt Gesellschaft leistet. Schnell wird dessen Gastfreundschaft jedoch sehr aufdringlich, insbesondere sein Interesse an Nellis Tagebuch. Und dann ist da noch sein "Gletscherprojekt", das sehr ominös wirkt. Nelli beschließt zu fliehen, aber da ist es schon zu spät... -
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Seitenzahl: 226
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Manfred Köhler
Saga
Schreckensgletscher – ThrillerCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 2007, 2019 Manfred Köhler und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726323269
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
Alle Personen und Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Als es ihr den Lenker quer zur Fahrbahn verdrehte und der Schwung der Abfahrt sie aus dem Sattel hob, da wusste Nelli Prenz, dass dieser Unfall nicht glimpflich ausgehen würde. Ihr Fahrrad war schwer, und die prall gepackten Satteltaschen hingen wie Bleigewichte daran. Bloß nicht darunter begraben werden, dachte sie noch, als sie jenseits der Baumgrenze von der von Geröllfeldern gesäumten Passstraße abkam, da flog sie schon steil bergab und sah das Fahrrad samt Gepäck plötzlich über sich.
Dieser Moment grub sich in ihr Gedächtnis: Nach einem Salto über den Lenker schlug sie auf dem Rücken auf und spürte einen reißenden Schmerz in der Schulter. Sie wehrte das Fahrrad mit Händen und Füßen ab, als es auf sie zustürzte, und stieß es nach unten von sich weg. Sie hörte das Scheppern der Metallteile, ein Klirren in den Taschen und wurde selbst weiter nach unten gerissen, über scharfes Geröll den Abhang hinab. Nach zwei Drehungen seitwärts eine Explosion im Kopf und dann Dunkelheit.
Nelli erwachte, weil ihr die Sonne auf die geschlossenen Augen schien. Wieso habe ich im Freien übernachtet?
Der Sturz!
Mit der Erinnerung kamen die Schmerzen. Das Brennen in der Schulter. Das Stechen im rechten Handgelenk, ein harter, dröhnender, feuriger Schmerz am Handballen. Mit der Rechten hatte sie versucht, den Sturz abzufangen. Und dann? War sie mit dem Kopf aufgeschlagen.
Sie betrachtete ihren Handballen. Dreck und Split steckten in der zerschrammten Haut. Gedankenverloren pulte Nelli die Steinchen aus der Wunde. Wo war das Desinfektionsmittel? In der hinteren Seitentasche der rechten Gepäckträger-Packtasche? Wenn das Fläschchen nur nicht zerbrochen war!
Sie schaffte es in die Hocke, spürte Übelkeit, ließ sich auf den Hintern sinken, hockte am Hang und wartete darauf, dass sich ihr rebellierender Magen beruhigte.
Unter ihr die Straße. War sie nicht von der Straße heruntergerutscht? Dann begriff sie: Klar, das ist eine Serpentine.
Ihr Fahrrad sah sie nicht.
Nelli stand mühsam auf und drehte sich um zum Steilhang. Ein großer Felsen versperrte ihr die Sicht.
Sie zwang sich, alle Schmerzen zu missachten, kletterte um den Steinklotz herum und hinauf.
Dort stand sie wie auf einer Aussichtsplattform und übersah den Verlauf der Serpentine. Felsen, Steine, Geröll, als Kulisse ringsum schroffe Gipfel, aber kein Fahrrad, keine abgerissenen Satteltaschen – war sie so lange und tief bewusstlos gewesen?
»Das gibts doch nicht, verflucht noch mal! Da kommt man ungeschoren durch die South Bronx und die Favelas von Rio, aber an einem menschenleeren Alpenpass klaut mir jemand das Fahrrad samt Gepäck!«
Sie war den Tränen nahe. Bargeld und Mastercard hatte sie zwar noch, sie ertastete den Bauchbeutel unter ihrem Jeansbund und war erleichtert darüber, dass der Dieb ihr nicht an die Wäsche gegangen war.
Aber die Packtaschen steckten voll unersetzlicher Erinnerungsstücke. Ihr Tagebuch war auf 1.000 Seiten mit winzigen Buchstaben voll gekritzelt mit Erlebnissen, Gefühlen, Geheimnissen, mit kleinen Beobachtungen, Zeichnungen, Zitaten, vieles längst vergessen und ohne das Tagebuch für immer verloren. Und das Fahrrad selbst war nicht nur Transportmittel, sondern Heimat und Freund und Rettungsanker. Sie hatte verdammt noch mal auf diesem Fahrrad und mit ihren Schätzen im Gepäck am Ortsschild ihrer Heimatstadt Hof vorbeirollen und zurückkehren wollen und nicht zerlumpt, verdreckt und mit leeren Händen in einem Bus oder Eisenbahnabteil oder gar per Anhalter. Sieben Jahre unterwegs, und in den letzten vier Wochen, fast zu Hause, passierte, was sie immer hatte verhindern können, selbst in Bombay, Mexiko City, in Moskau, in ... ach scheiße!
Sie schrie es hinaus.
Kopfschmerzen, Übelkeit, Schürfwunden, Verzweiflung waren jetzt unwichtig. Sie hatte ihre Reise verloren.
Vor sieben Jahren, vor Beginn dieser Tour, hätte sich Nelli bei einem solchen Verlust irgendwo zusammengerollt und geheult. Und sich dann in ihr Schicksal gefügt.
Die Weltreise-Heimkehrerin Nelli Prenz dachte nicht daran, klein beizugeben. Sie musste zur Polizei. Der Dieb würde mit ihren Sachen nichts anfangen können und sie abstoßen.
Sie tastete sich den Geröllhang hinunter und erreichte die Straße über einen Graben hinweg mit einem Sprung. In ihrem Kopf schepperte es, vor ihren Augen leuchtete ein kleines Gewitter auf, aber der Magen meldete sich nicht.
Sie trottete bergab. Was hatte sie sich gestern bei der Schufterei zum Pass hoch auf die Abfahrt gefreut – und nun also Fußmarsch.
Die dritte Serpentine führte sie aus dem Schatten einer Felswand heraus, und es öffnete sich der Blick ins Tal. Es war von hier oben, in zweieinhalbtausend Metern Höhe, nur als grüner Schimmer im Dunst des Morgennebels zu erahnen.
In greifbarer Nähe, nur zwei Serpentinen weiter, stand ein Unterkunftshaus aus rohen Geröllbrocken, und davor parkten drei Autos.
Das Haus lag wie am Rande eines Tabletts auf einem kleinen Hochplateau zwischen den Serpentinen zum Pass und der Abfahrt ins Tal. Direkt an der Terrasse des Gebäudes endete ein Sessellift, und etwas abseits erstreckte sich ein Flachbau, offenbar ein Garagentrakt mit Werkstatt.
Altes Zollhaus stand auf einem verwitterten Schild neben dem Parkplatz an der Straße. Wären die Autos nicht gewesen, sie hätte das Gebäude samt den Anlagen ringsum für verlassen und geschlossen gehalten.
Die rissige Holztür mit ihrem quer verlaufenden, abgenutzten Griff war angelehnt, und als Nelli sie aufstieß, sah sie kein Schloss. Mit schlechten Menschen rechnete man hier oben offenbar nicht.
Im Flur zur Gaststube hing ein Spiegel. Seit Tagen der erste Spiegel, den Nelli zu sehen bekam. Ihre kurz geraspelten Haare standen nach allen Richtungen ab und waren strähnig, im Gesicht hatte sie einen Dreckschmierer. Den konnte sie mit Spucke beseitigen, aber am blutbefleckten, zerrissenen T-Shirt ließ sich nichts richten. Wie sie wohl riechen mochte? Geduscht hatte sie – vorgestern?
Die Tür der Wirtsstube ging auf. Eine Frau mit blaugeblümtem Seidenrock und trägerlosem Top kam heraus, streifte Nelli mit dem flüchtigen Blick zufälliger Begegnung, betrachtete die verschrammten Knie und die zerrissene, ausgefranste Jeans und wandte sich dann etwas zu rasch der Tür zum Damenklo zu.
Weg war sie, und Nelli ärgerte sich. Die hatte ihr nicht mal in die Augen gesehen! Eine solche Tussi war sie früher selbst gewesen; nicht ganz so überdreht, eine Urlaubsfahrt über Alpenpässe mit der halben Schmuckschatulle behängt, lackierten Fußnägeln und goldenen Sandaletten anzutreten, aber reichlich von sich eingenommen. Nelli war froh, nicht mehr so zu sein – und stellte befremdet fest, dass sie sich trotzdem wegen ihrer äußeren Erscheinung schämte. Am liebsten hätte sie das Unterkunftshaus schnurstracks verlassen. Die Wirtsstube würde voll von Leuten sein, die sie auf den ersten Blick als Pennerin einstuften, Nelli hatte den Gesichtsausdruck während ihrer Tour nur allzu oft gesehen.
Ihr Herz klopfte wie vor einem Schulreferat, als sie die Tür aufdrückte. Die Gaststube war karg eingerichtet. Rohe Natursteinwände, Stroh auf dem Fußboden, Stühle und Tische aus derbem altem Holz, kein Wandschmuck.
Der Wirt kam mit einem Tablett mit leeren Gläsern von einem Tisch auf dem Weg zur Theke an Nelli vorbei und starrte sie an. Sie hörte ihn in Gedanken sagen: »Wir geben nichts ...«
»Meine Güte, was ist Ihnen denn passiert?«, war das, was er wirklich sagte. Nelli hatte die Tür noch in der Hand.
»Ich, äh ... hatte einen Unfall.«
Er beeilte sich, die Gläser auf die Theke zu stellen, kam rasch zu ihr zurück und wischte sich die Hände an einem rotkarierten Geschirrtuch ab, das halb aus seiner Jeanstasche heraushing. Durch seine lange Hippie-Matte und den Vollbart wirkte er jugendlich, aber um die Augen herum widersprachen tiefe Falten und dunkle Ringe dem ersten Eindruck. Er nahm ihr die Tür aus der Hand und schloss sie.
»Sind Sie verletzt?«
Sanft ergriff er ihren Oberarm und führte sie zu einem der leeren Tische.
»Nicht der Rede wert, aber ...«
»Warten Sie.«
Er setzte sie auf einen Stuhl und eilte zurück zur Theke. Nelli fiel auf, dass sein Haar hinten schon licht wurde.
Und dass sie von vielen Augen angestarrt wurde. Es waren, übereinstimmend mit den parkenden Autos, drei Tische besetzt. Eine Familie mit zwei Töchtern und einem kleinen Jungen saß ganz hinten auf der Eckbank, ein älteres Ehepaar in der entgegengesetzten Ecke der Wirtsstube und in der Mitte ein junger Kerl mit hochgekrempelten Jackettärmeln und Goldkettchen am Handgelenk. Zu wem der gehörte, konnte sie sich denken.
Der Wirt kam mit einem Verbandskasten zurück. Ihr war das peinlich.
»Ich bin wirklich nicht sehr verletzt. Nur das Handgelenk verstaucht und eine Beule am Hinterkopf.«
»Trotzdem«, sagte er, setzte sich zu ihr, öffnete den Verbandskasten und entnahm ein braunes Fläschchen mit Jod-Tinktur. Er betupfte damit die Wunde am rechten Handballen, was weniger brannte als Nelli vermutet hätte, und schnitt breite Pflaster von einem Leukoplast-Streifen. »Keine Angst, ich hab so was schon öfter gemacht. Ich bin übrigens der Andi.«
»Ich heiße Nelli.«
Hinter ihnen wurde es unruhig, und Andi fuhr herum. Das ältere Ehepaar war aufgestanden und ging an ihnen vorbei zur Tür.
»Können wir irgendwie helfen?«, fragte der Mann und betrachtete Nelli von Kopf bis Fuß. Seine Frau war sichtlich erleichtert, als Nelli nicht sofort bejahte.
»Ich bräuchte erst mal ein Telefon ...«
»Sollen wir Sie vielleicht mitnehmen? Wir sind auf dem Weg über den Pass ...«
Nelli überlegte, wurde aber durch einen heftigen Schmerz an ihrem Knie abgelenkt. Andi hatte mit dem jodgetränkten Wattebausch fest über die Schürfwunde gerubbelt. Nelli fragte sich, ob er wusste, was er da tat.
»Die junge Dame muss erst mal verarztet werden«, meinte die Frau, aber der Mann beharrte:
»Vielleicht ist es besser, wenn wir Sie zu einem richtigen Arzt mitnehmen. Nichts für ungut, Herr Hüttenwirt ...«
Nelli wischte sich eine Träne aus dem Auge und fragte:
»Sie wollen aber doch über den Pass?«
»Ja.«
Sie dachte an die Grenze jenseits des Passes und daran, dass der Diebstahl auf dieser Seite passiert war.
»Nicht meine Richtung. Aber vielen Dank.«
Der Mann nickte, seine Frau hakte sich erleichtert bei ihm unter und zog ihn zur Tür.
»Alles Gute«, rief er über die Schulter zurück.
»Danke.«
»So, das hätten wir.«
Andi packte seinen Sanitätskasten zusammen.
Nelli war in Gedanken noch bei dem älteren Ehepaar. Falsche Richtung, aber trotzdem ... –
Sie sah die beiden durchs Fenster in ihr Auto einsteigen. Noch war es nicht zu spät. Vielleicht waren sie bereit, noch mal umzukehren und sie auf dieser Seite ins Tal zu bringen. Der Frau würde es nicht gefallen, aber der Mann würde wohl einwilligen.
»Jetzt bringe ich dir erst mal ein schönes Frühstück zur Stärkung.«
»Was?«
»Magst lieber was Herzhaftes oder ...«
»Eigentlich, äh ...«
Nelli warf noch einen raschen Blick aus dem Fenster. Der Mercedes des älteren Ehepaares bog gerade vom Parkplatz auf die Straße.
»Käse und Schinken? Oder Müsli und Marmeladenbrot?«
»Eigentlich hab ich schon gefrühstückt. Ich müsste nur mal telefonieren.«
»Ein Telefon gibt es hier oben nicht.«
»Kein Telefon?«
Ein rascher Blick zum Fenster. Der Mercedes war verschwunden. Mist!
Als Nelli den Blick wieder in die Gaststube richtete, fiel ihr auf, dass die Seidenrock-Tussi neben dem Jackettträger mit Goldkettchen saß. Sie hatte sie gar nicht hereinkommen sehen. Die beiden glotzten unverhohlen zu ihr herüber und unterhielten sich flüsternd.
Ist ewig her, dass ich zuletzt einen Rock anhatte, dachte Nelli, es war an jenem Tag ... – Aber hier oben käme ich ja nie auf die Idee, mich so anzuziehen.
Sie dachte an ihre Kleider, ihren Schmuck, ihr Haus, die Möbel und Bilder und Pflanzen darin. Das alles war wohl längst verkauft, in alle Winde zerstreut, Vergangenheit. Wer es wohl in diesem Augenblick besitzen mochte? Diese Sachen waren ein wichtiger Teil von ihr gewesen – so wichtig wie jetzt ihr Fahrrad, ihr Kochgeschirr, ihre Vorräte, die Wasserflaschen, ihr Tagebuch. Vor allem das Tagebuch.
»Ich bringe einfach von allem etwas und vorneweg eine große Schorle.«
Aus ihren Gedanken gerissen, starrte Nelli ihm hinterher. Sie sprang auf.
»Nein, warte bitte!«
Er drehte sich um, den Verbandskasten noch in den Händen.
»Du musst doch ein Telefon haben. Oder ein Funkgerät. Irgendetwas, womit du Kontakt ins Tal hältst.«
Andi schüttelte den Kopf.
»Ich bin hier oben ziemlich autark. Vorratslieferung funktioniert per Dauerauftrag, und dann bin ich auch oft genug selber unten.«
»Also es ist so, ich hatte ja nicht nur einen Unfall, sondern ...«
»Zahlen, bitte!«, rief sehr laut der Familienvater am hinteren Ecktisch.
»Komme sofort!«, antwortete Andi und setzte sich in Bewegung. Zu Nelli sagte er im Davoneilen: »Ich bin gleich wieder bei dir, dann reden wir über alles.«
Sie nickte, trottete zu ihrem Tisch am Fenster zurück. Nach wie vor nichts los draußen. Und nach wie vor starrte das Pärchen herüber.
Nelli ignorierte die beiden und schaute sich etwas gründlicher in der Wirtsstube um. Andi stand am Tisch der Familie. Den schwarzen Geldbeutel hatte er hinten in den Bund seiner Jeans gesteckt, das Geschirrtuch über die Schulter geworfen, und er beugte sich über den Tisch. Der Familienvater hatte eine Straßenkarte ausgebreitet und ließ sich etwas erklären. Er deutete mit dem Daumen hinter sich an die Wand und dann wieder auf die Karte. Erst jetzt fielen Nelli die beiden gerahmten Bilder auf, die dort dicht nebeneinander hingen und Gebirgslandschaften zeigten. Von ihrem Tisch aus war nicht viel zu erkennen, nur, dass die Bilder sich sehr ähnelten.
Andi redete und redete, und wenn er Luft holte, hatte der Familienvater schon wieder eine neue Frage, und Andi redete weiter, während er sich immer mal wieder die langen Strähnen aus dem Gesicht hinters Ohr strich.
In Nelli keimte Ungeduld. Sie begann, darüber nachzudenken, ob sie sich zu Fuß auf den Weg machen oder das Goldketten-Pärchen ansprechen sollte. Vielleicht hatten die sogar ein Handy. Ganz sicher hatten die eines ...
Sie war gerade drauf und dran, einen Versuch zu wagen, da flog die Tür auf und eine Schar Kinder quoll lauthals krakeelend in die Wirtsstube.
»Auch das noch!«
Nelli sagte es laut, doch es ging in dem Lärm unter. Sie drehte sich zum Fenster, um nach dem Bus zu sehen, mit dem die Kinder gekommen sein mussten. Er stand mit der Schnauze Richtung Pass. Nelli hatte eine Idee, und sie stand auf.
Die Kinder tobten mittlerweile auch um ihren Tisch, und während sie anfingen, Plätze einzunehmen, darum zu rangeln, sich wegzustoßen und zu zerren und das Geschrei dabei noch lauter wurde, stand auch das Goldketten-Pärchen auf, demonstrativ kopfschüttelnd und mit verkniffenen Gesichtern. Der Mann klemmte einen Geldschein unter einen Teller und gab Andi ein Zeichen.
Nelli bahnte sich einen Weg durch das Kindergewusel, um die beiden abzufangen.
»Das geht auch leiser, Leute, und bitte ohne Revierkämpfe«, hörte sie eine Stimme schräg gegenüber. Das war wohl der Lehrer, ein bärtiger Typ mit Windjacke, dessen Ermahnungen überhaupt nichts nützten, was ihn nicht zu kümmern schien.
Das Pärchen wollte sich an Nelli vorbei zur Tür verdrücken. Sie schnitt ihnen den Weg ab.
»Ich möchte Sie was fragen, bitte.«
Der Mann deutete zu seinem Ohr und zuckte die Schulter, Nelli zeigte zum Ausgang. Gemeinsam verließen sie die Wirtsstube und schlossen die Tür von außen.
»Fahren Sie in Richtung Tal oder hoch zum Pass?«
»Wir können leider keine Anhalter mitnehmen«, antwortete der Mann knapp.
Nelli presste die Lippen zusammen, verschränkte hastig die Arme und nickte.
»Hab ich mir schon gedacht.«
»Nein, verstehen Sie uns nicht falsch ...«
»Wir haben nämlich nur einen Zweisitzer«, mischte sich die Frau ein und legte Nelli ihre warme Hand auf die verschränkten Unterarme. Sie lächelte, und Nelli stellte verblüfft fest, dass die Geste und das Lächeln anteilnehmend waren.
»Hatten Sie einen Unfall?«, fragte die Frau, legte Nelli jetzt die Hand auf den Rücken und führte sie so aus dem Vorraum hinaus auf den Platz vorm Haus.
»Ich bin oben am Pass mit dem Fahrrad gestürzt und war bewusstlos. Als ich aufgewacht bin, waren meine Sachen verschwunden.«
»Haben Sie die Polizei gerufen?«, fragte der Mann.
»Nein, der Wirt sagt, er hat kein Telefon.«
»Warten Sie mal. Ich glaube zwar nicht, dass ich hier ...«
Der Mann zog ein Handy aus einer Jacketttasche und drückte eine Kurzwahltaste. Er hielt sich das winzige Telefon ans Ohr, lauschte und schüttelte dann den Kopf.
»Hab ich mir schon gedacht. Kein Netz hier oben.«
»Wir können Sie zwar wirklich nicht mitnehmen, sehen Sie ...«
Die Frau deutete zu einem kleinen blauen Sportwagen ohne Rückbank, der hinter dem Reisebus stand.
»... aber wir könnten unten die Polizei rufen, wenn das Handy wieder geht.«
»Vielleicht ist im Bus noch ein Platz«, mischte der Mann sich ein.
»Ich weiß nur nicht, auf welcher Seite der Grenze mein Fahrrad sein könnte.«
»Ich glaube, das spielt keine Rolle.«
»Wieso?«
»Na ja, also ...«, druckste der Mann. Er kratzte sich am Kopf.
»Ich glaube, Ihr Fahrrad und Ihre Sachen können Sie sowieso abschreiben.«
Die Frau nickte.
»Uns ist an der Côte d’Azur mal das Auto gestohlen worden, wissen Sie. Die Polizei fand nur noch die Karosserie, und die war zuschanden gefahren.«
»Aber, wenn Sie Geld brauchen.«
»Nein, nein.«
Nelli schüttelte den Kopf und lächelte.
»Geld ist nicht das Problem. Aber vielen Dank. Sie beide sind sehr nett.«
Sie schüttelten sich die Hände.
»Der Busfahrer hilft Ihnen bestimmt«, sagte die Frau. Nelli sah ihr nach, wie sie mit wehendem Rock zum Auto ging und einstieg. Der Mann ließ den Motor an und gab Gas, sodass die Reifen auf dem Splitt durchdrehten. Die beiden winkten und verschwanden hinter der nächsten Kurve. Nelli hatte das Gefühl, zwei Freunde zu verlieren.
Sie riss sich los und suchte nach dem Busfahrer. Ins Haus war er nicht gegangen. Nelli umrundete den Bus und sah einen Mann übers Lenkrad gebeugt. Er blätterte in einer Zeitschrift und ließ sich ein Wurstbrot schmecken. Die Türen waren geschlossen. Eben wollte sie sich bemerkbar machen, da fiel ihr schräg neben sich an dem Garagen-Flachbau eine Bewegung auf. Zwei Jungs, die offenbar zur Schulklasse gehörten, hantierten an einem der Tore.
Nelli beschloss, den Busfahrer nicht zu stören. Er würde bereitwilliger sein, wenn er seine Pause in Ruhe beenden konnte. Mal sehen, was da drüben bei den Jungs los war.
Die beiden klebten an der Drahtglasscheibe des Garagen-Falttores und starrten nach innen. Nelli schnappte Wortfetzen eines Streits auf:
»Das ist eine Harley!«
»Nein, eine BMW, ganz sicher.«
»Quatsch, dann wäre der Lenker nicht so hoch.«
»Na, was gibts denn da zu sehen?«, fragte Nelli, als sie auf einige Meter heran war. Die Jungs erschraken und zogen sich von der Scheibe zurück.
»Keine Angst, ich bin auch nur neugierig.«
»Wer sind Sie?«
»Ich bin Nelli. Müsstet ihr nicht drin bei den anderen sein?«
»Schon, wir gehen auch gleich.«
»Was habt ihr denn da entdeckt?«
»Och, da steht ein Motorrad. Könnte eine Oldtimer-Rennmaschine sein, so wie die Reifen aussehen ...«
Nelli lächelte und beugte sich zum Fenster.
»Mal gucken.«
In der Werkstatt stand ein Zweirad, aber durch die Drahtglasscheibe war kaum mehr zu erkennen als die grobe Form.
»Und, wissen Sie, was das für eine Marke ist?«
»Tja, keine Ahnung, ich kenne mich da sowieso nicht so aus.«
Nelli starrte unverwandt durch die Scheibe und die Jungs drängten sich jetzt um sie und reckten sich.
»Sehen Sie sonst noch irgendwas Besonderes.«
»Nein. Sieht so aus, als stünde ganz hinten noch ein Laster ...«
»Ob wir da mal rein können und genauer gucken?«
»Ich glaube nicht, weil ...«
Nelli erstarrte.
»Was, weil? Haben Sie was entdeckt?«
»Man kann nicht einfach in fremde Häuser gehen«, sagte Nelli mechanisch. Ihr Herz klopfte hart. Im hinteren Teil der Werkstatt, dort, wo sie einen Lastwagen erkannt zu haben glaubte, sah sie die Hälfte eines Fahrrad-Hinterrades mit schwarzen Packtaschen über dem Gepäckträger. Und diese Taschen – sahen aus wie ihre.
Das war ihr Fahrrad!
Unmöglich, wie sollte das da hineinkommen?
Nelli streckte sich, suchte ein Fenster, fand eines, drückte sich daran die Nase platt, aber von hier aus war das Fahrrad noch schlechter zu erkennen.
»Was haben Sie denn?«
Jetzt wollte sie es aber genau wissen. Sie ging zum Werkstatt-Tor, drückte die Klinke. Zugesperrt.
»Haben Sie nicht gesagt, man darf nicht einfach in fremde Häuser?«
Die Junges hingen wie Kletten an ihr.
»Nicht einfach so«, antwortete Nelli.
»Aber?«
»Ich will bloß was gucken.«
Sie drückte gegen die Fenster. Alles fest verschlossen.
Jede Werkstatt hatte einen Hintereingang, oder? Nelli umrundete das Gebäude, fand tatsächlich eine Eisentür – ebenfalls versperrt.
»Mist!«
»Was ist denn?«
»Kommt, wir gehen mal rein zu eurer Klasse.«
Die Jungs im Schlepptau marschierte Nelli mit großen Schritten zurück zum Haus. Die Familie, die sich den Weg hatte erklären lassen, stieg gerade in ihren Kombi. Das Auto war beladen bis unters Dach und mit den fünf Personen voll besetzt.
Nelli ließ die Jungs an sich vorbei ins Haus und in die Gaststube, folgte ihnen und schloss die Tür. Am Tresen hantierte eine stämmige Frau.
»Entschuldigung.«
»Bittschön?«
Die Frau füllte Apfelschorle in Cola-Gläser, die auf einem runden roten Tablett angeordnet waren.
»Da hat doch vorhin ein Mann bedient, so ein langhaariger ...«
»Der Chef? Der ist in der Küche und macht die Brotzeit für die Klasse.«
»Könnten Sie ihn bitte mal schnell holen?«
»Das ist jetzt grad ganz schlecht. Worum gehts denn?«
»Die Garage nebenan, gehört die zum Wirtshaus?«
»Schon.«
»Und das Motorrad und das Fahrrad darin.«
»Das müsstens den Chef fragen. Nehmens doch so lang Platz.«
Sie hob das Tablett und balancierte damit hinter den Tresen hervor in die Gaststube.
Nelli blieb stehen, wo sie war, und versuchte einen Blick in die Küche zu erhaschen. Die Tür war angelehnt. Die Bedienung stellte Gläser von ihrem Tablett auf die Tische und stand mit dem Rücken zum Tresen.
Kurz entschlossen ging Nelli nach hinten zu der Tür, stieß sie auf und drückte sich in die Küche. Sie sah Tabletts mit Wurst- und Käsebroten, drei Teller mit unbelegten Broten, leere Wurst- und Käseverpackungen – aber keinen Andi.
»Hehehe!«, brüllte die Bedienung unmittelbar hinter ihr. Nelli wurde am Arm gepackt und herumgerissen.
»Also wie hammers denn, sofort raus da!«
Nelli wollte sich aus dem Griff befreien, aber die stämmige Person hielt sie eisern fest und zog sie mit Gewalt durch die Tür zurück in die Wirtsstube.
Auf einmal war es ruhig, alle Kinder und der Lehrer starrten in ihre Richtung, und Nelli stieg Schamesröte ins Gesicht.
»Ich hatte nicht die Absicht«, setzte sie an.
»Sie haben gar nix außer Hausverbot, schauns, dass hier rauskommen, Sie abgerissenes Luder!«
Ihr Arm steckte wie in einem Schraubstock. Nelli stemmte sich mit ganzer Kraft gegen den Griff, aber das führte nur dazu, dass ihr die Bedienung den Arm auf den Rücken drehte und sie brutal zum Ausgang stieß.
»Die wollte vorhin in die Werkstatt einbrechen und die Harley klauen!«, rief einer der Jungs aus der Anonymität der Klasse heraus. Nelli erkannte ihn an der Stimme als den kleineren der beiden Neugierigen.
»Ah, so ist das!«
»Ich will sofort mit Andi sprechen!«
»Sie plaudern höchstens mit der Gendarmerie.«
Die Bedienung schaffte es spielend, mit der einen Hand die Tür zu öffnen, während sie mit der anderen Nelli unvermindert brutal im Polizeigriff hielt. Das wars dann mit der Mitfahrgelegenheit im Bus, dachte Nelli lakonisch, während sie kurz Augenkontakt mit dem Lehrer hatte. Sein Blick verriet, wie die Gesichter der Kinder, gleichermaßen Abscheu und Faszination.
»Sie wollen doch nicht wirklich die Polizei rufen«, spielte Nelli die Entsetzte, während sie auf die Haustür zugestoßen wurde.
»Und ob!«
»Haben Sie also ... Aua, nicht so brutal, verdammt noch mal! Haben Sie etwa ...«
Ein heftiger Stoß, ihr Arm war frei, Nelli taumelte ins Freie und wäre fast gestürzt. Sie drehte sich um und sah gerade noch, wie die Bedienung die Tür hinter ihr schloss.
»Haben Sie etwa doch ein Telefon hier oben?«, schrie sie ihr hinterher.
Aber die Tür war schon zu. An den Fenstern hing die halbe Schulklasse. Nelli sah erstaunte, fassungslose und auch schadenfrohe und belustigte Gesichter. Also wirklich, das war mit Abstand der beschissenste Tag der ganzen siebenjährigen Reise.
Wenn sie nur gekonnt hätte, Nelli wäre auf ihr Fahrrad gestiegen und hätte die Räder laufen lassen. Aber sie saß fest. Sie stand auf der Freifläche zwischen Busparkplatz und Haus und wusste nicht, was sie tun sollte.
Inzwischen musste es auf Mittag zugehen. Ihre Tagesetappe konnte sie endgültig abschreiben. Wut auf den Dieb kam in ihr hoch, eine Scheißwut auf die gemeine Hinterhältigkeit, eine bewusstlose, verletzte Frau zu bestehlen, rasende Wut auf den völlig unnötigen Sturz, diese Verkettung von Zufällen, die sich nun zum größten Hindernis der ganzen Reise auswuchsen.
Löse das Problem, sagte sie sich, um zur Ruhe zu kommen, aber verflucht noch mal, Ruhe war jetzt fehl am Platz! Jetzt kam es darauf an zu handeln.
Wo war Andi wohl, wenn nicht in der Küche?
Der Brotbelag schien ausgegangen zu sein. Und woher kam der Nachschub?
Über den Lift!
Nelli stürmte los und umrundete das Haus. Der Hinterausgang war angelehnt, und an der Liftstation 20 Meter gegenüber tat sich etwas, sie hörte Rumoren, und die Doppelsessel schaukelten leicht. Volltreffer!
Als sie kurz vor der Station angelangt war, kam Andi mit einer Holzkiste in den Händen heraus. Als er Nelli sah, lächelte er, und ihre Wut löste sich in Luft auf.
»Tut mir leid, du wartest auf dein Essen«, rief er ihr entgegen, »aber mir ist diese Schulklasse dazwischengekommen, und dann sind mir auch noch Wurst und Käse ausgegangen.«
»Und da hast du schnell mal im Tal angerufen und nachbestellt.«
Sein Lächeln gefror.
»Nein. Die Lieferung wird immer in der Früh hochgeschickt. Ich bin nur noch nicht dazu gekommen, die Kiste in die Küche rüberzuholen.«
Nebeneinander gingen sie vom Lift zur Hinterseite des Gasthauses.
»Funktioniert der Lift von hier aus?«
»Nein, der Antrieb ist im Tal. Hier oben ist nur eine Umlaufrolle ohne Motor.«
»Aha. Übrigens, deine Schlammcatcherin von Thekenkraft hat mich aus dem Haus geworfen und mir dabei fast den Arm ausgekugelt.«
»Was?«
»Ja, weil ich in der Küche nach dir schauen wollte. Und dabei hat sie gedroht, die Polizei zu rufen.«
»Ich rede gleich mal mit ihr.«
»Darum geht es nicht.«
»Worum dann?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr keinerlei Verbindung ins Tal habt. Und zweitens ...«
Sie erreichten den Hintereingang.
»Würdest du bitte mal ...«
Sie hielt ihm die Tür auf.
»Und zweitens habe ich in der Garage oder Werkstatt oder was das ist ein Fahrrad gesehen. Es sieht aus wie meines.«
»Ich verstehe nicht ganz.«
Durch einen kreuz und quer mit Kartons, Flaschen, Kästen und Dosen voll gestellten Gang erreichten sie die Küche. Nelli hielt wieder die Tür auf.
»Ich dachte«, keuchte er, »du hattest einen Unfall.«
»Ja, einen Fahrradunfall.«
»Da legst dich nieder!«
In der Tür zur Gaststube stand die Bedienung und starrte Nelli und Andi mit einer Mischung aus Empörung und Verständnislosigkeit an.
»Schon gut, Gerda, die ist in Ordnung.«
Die Thekenkraft glotzte weiterhin böse und hielt Nelli mit ihrem Blick in Schach.
»Wir kennen uns von früher, alles klar?«
»Ah, so ist das.«
Nicht gerade weniger finster dreinschauend, aber offenbar beruhigt, trollte sich Gerda nach vorne in die Wirtsstube.
»Wir kennen uns von früher?«, fragte Nelli.
»Sonst hätte sie keine Ruhe gegeben. Du musst ja ganz schön mit ihr aneinander geraten sein ...«