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Die packende Fortsetzung von "Schreckensgletscher"!Nelli Prenz ist den Fängen des Massenmörders Andi Cernowski entkommen, aber trotzdem will sich ein Gefühl der Erlösung einfach nicht einstellen. Ihre Finanzen stehen schlecht, und daher nimmt sie das Angebot an, ihre Geschichte an eine Klatsch-Illustrierte zu verkaufen. Es dauert nicht lange, bis sie einen Erpresserbrief erhält und darin glaubt, ihren Peiniger zu erkennen. Da sie mit dieser Unsicherheit nicht zu Ruhe kommen kann, entschließt sie sich zu dem Ort ihres Leidens zurückzukehren und die Wahrheit herauszufinden.-
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Seitenzahl: 314
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Manfred Köhler
Saga
Tiefpunkt - ThrillerCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 2008, 2019 Manfred Köhler und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726323276
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
Alle Personen und Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
»Was, wie? Seine Leiche ist nicht mehr da?«
Nelli räusperte sich und wechselte den Telefonhörer von der linken in die rechte Hand.
»Nicht mehr da?«, wiederholte sie. »Das heißt dann wohl, er wurde verbrannt statt beerdigt?«
»Nein, das heißt ganz offen gestanden, dass wir nicht wissen, was mit der Leiche passiert ist.«
Die Stimme des Polizisten klang schuldbewusst. Woran hörte sie das? Sie hörte auch heraus, dass er sich bemühte, die Stimme fest klingen zu lassen, beruhigend und überlegen und keinesfalls bereit, sich auf irgendwelche Vorwürfe einzulassen. Aber nach Vorwürfen stand Nelli auch gar nicht der Sinn. Sie wollte nur Klarheit. Und keinesfalls wollte sie in den Würgegriff der Angst geraten, der sich schleichend und kriechend wieder um ihre Seele zu legen begann.
»Dann ...« Nun musste sie sich bemühen, ihre Stimme fest klingen zu lassen. Sie räusperte sich abermals und fragte so emotionslos wie möglich: »Dann lebt er womöglich noch?«
Die Antwort kam augenblicklich, kam hart, klar und völlig überzeugt:
»Nein, natürlich nicht. Das auf keinen Fall. Sie haben doch, glaube ich, seine Leiche sogar berührt?«
Nelli schüttelte sich bei dem Gedanken daran, wie sie den Finger an Andis harte, kalte Wange gedrückt hatte. Gott sei Dank, hatte sie damals gedacht, Gott sei Dank, der steht nie mehr auf.
»Sollte ich deshalb bei Ihnen anrufen? Weil Sie denken, ich wüßte, was passiert ist?«
»Sie sollten mich anrufen, um uns Ihren Aufenthaltsort mitzuteilen. Auch wenn die Leiche nicht verschwunden wäre, müssten wir wissen ...«
»Wie kann denn eine Leiche überhaupt verschwinden?«, fiel ihm Nelli ins Wort.
»... müssten wir wissen, wie wir Sie erreichen können, wenn noch Fragen auftreten«, redete er gegen ihre Frage an, ohne die Stimme zu heben. »Immerhin handelt es sich um einen der ungewöhnlichsten Serienmordfälle der Polizeigeschichte. Die Ermittlungen werden sich noch Monate hinziehen, und Sie sind das einzig überlebende ..., äh, unsere einzige lebende Zeugin.«
»Ich habe nach wie vor keinen festen Aufenthaltsort«, sagte Nelli leise und ahnte, dass sie bei der Polizei ohnehin längst als Herumtreiberin eingestuft worden war.
»Und wo sind Sie zur Zeit?«
»In Oberfranken, ein paar Kilometer südlich von meiner Heimatstadt Hof. Der Ort heißt Oberkotzau. Aber hier bleibe ich nicht ...«
»Wo wollen Sie denn hin?«
»Ich weiß es nicht, wirklich, keine Ahnung. Würden Sie mir jetzt bitte erklären ...?«
»Ich weiß es auch nicht. Wir haben ihn nach der Bergung im Gletscher bei den anderen Toten abgelegt, und am nächsten Tag, äh ... beziehungsweise am übernächsten Tag ...«
»Warum das denn?«, fragte Nelli entsetzt dazwischen. Sie hatten ihn abgelegt! Ihn unbeobachtet liegen und das Monstrum einfach so entkommen lassen!
»Beruhigen Sie sich. Es war, wie Sie wissen, ein Samstagabend, als die Bergwacht ihn aus der Gletscherspalte zog. Wir hatten weder einen Krankennoch einen Leichenwagen vor Ort.«
»Warum eigentlich nicht?«
»Weil am Montag darauf ohnehin die Bergung der Opfer begonnen hätte, ob wir ihn bis dahin gefunden gehabt hätten oder nicht. Die Ermittlungen am Tatort waren beendet, es hätte sich alles schön in einem Abwasch erledigen lassen.«
»In einem Abwasch, ja? Und Sie haben ihn und die anderen bis dahin unbewacht im Gletscher zurückgelassen?«
»Das Gelände war hinreichend abgesperrt. Und Tote muss man in der Regel nicht bewachen, Nelli.«
»Offensichtlich doch!«
»Ein Zwischenfall wie dieser ...«
»Zwischenfall?!«
»Es ist nun mal passiert.«
»Und wie soll das jetzt weitergehen?«
»Wir ermitteln natürlich in alle Richtungen, aber ...«
»In alle Richtungen, na toll! Tun Sie das sonst etwa nicht?«
»Hören Sie, Nelli!«
»Und mir gefällt auch nicht, dass Sie mich dauernd Nelli nennen. Das ist seine Art zu sprechen.«
»Was? Wessen Art?«
Die direkte Anrede mit ihrem Vornamen hatte eine Welle von Ekel in Nelli ausgelöst. Andis Stimme war wieder in ihren Ohren, seine an ihr festgemachten Selbstgespräche, seine Art, mit ihr umzugehen wie mit etwas, das ihm gehörte und womit er machen konnte, was er wollte.
»Ahnst du schon, worauf es hinausläuft, Nelli? Was soll denn das, warum krümmst du dich so zusammen, Nelli? Genauso hat er mit mir geredet, als ich da lag und ihm ausgeliefert war.«
Der Polizist schnaufte hörbar, und seine Stimme klang deutlich weniger plump vertraulich, als er weiter sprach.
»Es tut mir leid, Frau Prenz, das konnte ich nicht wissen.«
»Das konnten Sie nicht wissen und wir duzen uns nicht. Und ich bin auch keine Minderbemittelte, mit freundlichem Blabla zu Tätschelnde ... – Hallo, sind Sie noch da?«
»Was ist?«
»Mein Geld ist gleich durch.«
»Wie kann ich Sie erreichen?«
»Gar nicht. Ich rufe Sie wieder an.«
»Aber da wäre noch was ganz Wichtiges zu bespre...« – Klick.
»Verdammt!«
Das war ihr letztes Kleingeld gewesen. Und sie hatte auch sonst nicht mehr viel Geld. Nelli ließ den Hörer sinken, bis die Telefonschnur spannte, und stützte sich an den Apparat. Ihr Atem ging stoßweise. Da stand ihr Fahrrad, wie sie selbst an die Telefonstele gelehnt. Sie war frei und unbedroht, konnte tun und lassen, was immer, konnte aufsitzen und fahren, wohin immer sie wollte.
Aber Andi war verschwunden. Leiche oder lebendig, niemand wusste, wo das Scheusal steckte, und was es mit seinem Verschwinden auf sich hatte.
Egal, was – es betraf Nelli unmittelbar. Er konnte hier sein, nur eine Ecke weiter, sie aus einem Geschäft heraus durchs Schaufenster beobachten. Auf sie lauern.
Die Todesangst war mit voller Wucht wieder aufgeflammt.
Sie sehnte sich nach dem Gefühl der Leere zurück, das sie in den vergangenen Tagen und vor allem seit dem letzten Tag, dem Besuch bei ihrer Stieftochter Monika, gelähmt hatte. Leere, Perspektivlosigkeit, Verzweiflung – alles war besser als dieses Grauen.
Sie stand noch fünf, sechs, vielleicht auch 10 Minuten an der Hauptstraße von Hof in Richtung Schwarzenbach/Saale, starrte blicklos auf die vorbeifahrenden Autos und Lastwagen und wusste einfach nicht, was sie machen sollte. Eigentlich wollte sie zur Förmitztalsperre und von da aus zum Waldstein, zum Weißenstädter See, über Gefrees nach Bad Berneck, wieder hoch Richtung Münchberg ... – die Zickzack-Route ihres Aufbruches vor sieben Jahren. Damals hatte sie gewusst, sie musste umkehren, denn daheim wartete das Kind, ihre Stieftochter Monika, und hatte keine Ahnung, wo Nelli war. Sie hatte das Umkehren an der Förmitztalsperre aufgeschoben, hatte es auf dem Waldstein aufgeschoben, in den Fichtelgebirgsorten Weißenstadt und Bad Berneck, war ziellos auf dem alten Herrenfahrrad ihres verstorbenen Mannes, mit Stöckelschuhen und im Sommerkleid, durchs hufeisenförmige Mittelgebirge geradelt, bis sie in Richtung Bayreuth ausgeschert war, sich dort in einem Kaufhaus in der Fußgängerzone eine Radlerausrüstung gekauft und damit allen Gedanken an Rückkehr eine mehr als nur vorläufige Absage erteilt hatte.
Wäre sie damals umgekehrt, gleich hier oder spätestens an der Förmitztalsperre ...
Es ist nie zu spät! Nelli gab sich einen Ruck, wendete ihr Fahrrad, schob es vom Gehsteig, schwang sich auf den Sattel und nahm die Straße zurück Richtung Hof.
Sie mied den Radweg und folgte der Hauptstraße durch den Stadtteil Moschendorf über die Wunsiedler Straße Richtung Alsenberger Durchlass. War das wirklich der kürzeste Weg? Oder wäre es doch auf dem Radweg schneller gegangen? Oder gleich hier rechts über die Ascher Straße? Wozu überhaupt die Eile?
Nelli bremste so abrupt, dass es ihr fast die Räder wegzog. Da sie sich an der Kreuzung zur Mitte hin eingeordnet hatte, musste ein Sattelschlepper hinter ihr mit einem Schlenker ausweichen und drückte auf die Hupe, bis er an ihr vorbei war. Sie hörte es nur mit halbem Ohr. Denn ihr war eingefallen: Wenn Andi wirklich noch lebte, wenn er ihr auf den Fersen war – dann war sie vielleicht jetzt im Begriff, ihm zu zeigen, wo Monika wohnte.
Als ob er das nicht auch im Telefonbuch nachschlagen könnte! Vielleicht war er sogar schon dort oder auf dem direkten Weg zu ihr, und sie konnte das Schlimmste verhindern, wenn sie nicht zögerte.
Wie angeleimt stand Nelli mitten auf der Hauptverkehrsstraße, wurde vom Verkehr umtost und wusste nicht weiter.
Er war tot! Er war so zweifellos mausetot, dass es einfach lächerlich war, überhaupt umgekehrt und nach Hof zurückgefahren zu sein.
Aber wo war dann seine Leiche?
Es half nichts, sie musste Monika zumindest warnen. Und sie musste es persönlich tun, nicht telefonisch. Es führte kein Weg daran vorbei, sie musste noch einmal bei ihrer Stieftochter vorfahren und klingeln, ihr unter die Augen treten. Davor hatte sie doch die eigentliche Angst: Nachdem sie es nach sieben Jahren Davonlaufen endlich hinter sich gebracht hatte, sich zu entschuldigen, nun innerhalb von zwei Tagen ein zweites Mal dort aufzutauchen, diesmal mit der Horrornachricht, dass womöglich Gefahr durch einen irren Serienmörder bestand.
Zögerlich, so langsam, dass sie beim Anfahren schwankte, setzte Nelli das Fahrrad wieder in Bewegung.
Auch das musste sie wohl noch hinter sich bringen. Es ließ sich nicht vermeiden.
Monika öffnete nicht.
Nelli klingelte noch einmal und auch noch ein drittes und viertes Mal. Sie hämmerte mit der Unterseite der Faust gegen die wuchtige, dunkel gebeizte Massivholztür. Womöglich war Andi schon ...
Blödsinn!
Dennoch, sie konnte nicht einfach wieder davonfahren. Vielleicht eine Nachricht in den Briefkasten stecken?
Nein, lieber warten. Es musste persönlich sein.
Nelli ließ sich mit dem Rücken zur Tür auf das Treppchen davor sinken, spürte Splitt und Unebenheiten in ihren Hintern pieksen, wischte den Dreck schnell weg, hockte sich wieder hin, zog die nackten Beine an, umklammerte sie und starrte zum Gartentürchen, hinter dem die Straße und der Gehsteig verliefen.
Millionenhügel nannte der Volksmund diese Gegend über der Stadt am Rande des Bürgerparks Theresienstein. Was war Nelli einst stolz gewesen, hier zu leben. Wie oft hatte sie diese Treppenstufen genommen und war den Weg zum Gartentürchen zur Straße gelaufen? Nicht oft. Meist war sie mit einem der Autos unterwegs gewesen. Ihr Weg hatte sie dann innen an der Haustür vorbei durch eine Seitentür in die Garage geführt: Garagentorfernbedienung gedrückt, die schmale, von hohen Tannen gesäumte Auffahrt zurückgestoßen, nach links eingeschlagen in die meist menschen- und autoleere Straße und ab zum Training auf den nur ein paar 100 Meter entfernten Tennisplätzen oder in Richtung Stadt zu Massageterminen, zur Maniküre, zum Shopping oder einfach nur zum Kaffeeklatsch.
Kaum zu glauben. Kaum zu glauben, dass sie überhaupt mal so gelebt hatte. Wie lange das schon wieder her war! Und wie greifbar ihr diese Zeit doch noch schien.
Ein Auto näherte sich. Eine Seltenheit in dieser ruhigen, in sich geschlossenen Wohngegend. Das Fahrgeräusch wurde lauter, und zugleich ging das Motorengeräusch zurück, je näher es kam. Es wurde abgebremst und dann hielt das Auto direkt am Grundstück auf der anderen Seite des Zauns. Nelli streckte sich, war unschlüssig, ob sie aufstehen sollte. Monika würde doch nicht auf der Straße parken, sondern die Einfahrt zur Garage benutzen. Eine Autotür ging auf, wurde zugeworfen, Schritte kamen näher.
Eine Frau mit halblangen dunklen Haaren und Sonnenbrille erschien auf der anderen Seite des Gartentürchens, stutzte, erschrak, als sie Nelli sah, nahm die Sonnenbrille ab, wollte sich empören, stutzte abermals, schaute kurz auf das Fahrrad, begriff und fragte erstaunt: »Nelli?«
»Ja, ich bins, Stefanie.«
Nelli lächelte unsicher, stand auf und ging der Schwester ihres verstorbenen Mannes entgegen, die sie von Kopf bis Fuß musterte.
»So siehst du jetzt also aus ...«
Stefanies erstaunter, zunächst freudig überraschter Gesichtsausdruck war sofort nach dem Erkennen einer Miene der Ablehnung, Verbitterung und herablassend distanzierter Höflichkeit gewichen. Der Blick brannte Nelli in der Seele, sie las darin Genugtuung, sogar eine ganz offene, diebische Freude: Früher warst du die Attraktivere von uns beiden, aber sieh dich jetzt mal an!
»Hat Moni dir nicht erzählt, dass ...«
»Doch, deshalb bin ich ja hier.«
Stefanie öffnete das Gartentürchen, kam herein, ließ es offen stehen, näherte sich Nelli bis auf einen Meter Abstand und nahm Aufstellung auf dem linken Bein als Standbein, das rechte leicht ausgestreckt ihr entgegen, die Botschaft war eindeutig: Komm mir nicht zu nahe!
»Ich hab geklingelt, aber es macht niemand auf«, sagte Nelli verunsichert. »Wollt ihr euch hier treffen?«
»Nein, ich schau nur nach dem Haus.«
»Dann ist Moni gar nicht da?«
»Warum interessiert dich das? Was machst du überhaupt schon wieder hier?«
»Na, also hör mal!«
»Leidest du an Gedächtnisschwund oder so was?«
Nelli senkte resignierend den Kopf.
»Hör mal, Stefanie, ich hab Moni ...«
»Nenn sie nicht Moni, verdammt noch mal!«
»Ich hab Monika vorgestern alles erklärt, und ich bin gern bereit, es auch dir zu erklären. Lass uns nicht mit Vorwürfen neu anfangen.«
Stefanie zog ihr ausgestrecktes Bein zurück und machte es zum Standbein. Sie stützte die Hände in die Hüfte und produzierte einen Schnaufer der Empörung durch die Nase.
»Neu anfangen? Du bist ..., also das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: gerne bereit oder wie war das? Du willst alles erklären und neu anfangen? Also, das ist doch ... da fehlen mir einfach die Worte!«
»Das war so nicht gemeint. Ich wollte nur ...«
»Weißt du, was ich glaube?«
Nelli biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf.
»Dir ist das Geld ausgegangen.«
»Nein!«
»Du hast das Konto geplündert, und jetzt willst du an das eigentliche Erbe ran.«
»Stefanie ...«
»Du bist wirklich das Letzte.«
Sie trat einen Schritt zur Seite, deutete auf das offene Gartentürchen und starrte Nelli hasserfüllt an.
»Raus hier, auf der Stelle! «
Nelli wurde es zu dumm, und sie verschränkte als Zeichen, nicht weichen zu wollen, die Arme.
»Also, tut mir leid, dass ich das so deutlich sagen muss, Stefanie, aber das ist streng genommen immer noch mein Haus und Grundstück.«
»Wie viel willst du?«
»Was?«
»Sag schon, wie viel? Nenn einen Betrag.«
»Ich hab Monika nicht um Geld gebeten. Hat sie dir das etwa erzählt?«
»Nein, so plump bist du natürlich nicht, davon gleich beim ersten Besuch anzufangen. Erst mal wurde das Drama der reuigen Sünderin aufgeführt.«
»Also, das wird mir jetzt zu blöd, Stefanie. Wenn du nicht bereit bist, vernünftig mit mir zu reden ...«
»Zwischen uns gibts nichts zu reden!«
»Wenn du das so siehst. Aber Monika hab ich was zu sagen. Also, wo ist sie?«
»Nicht hier.«
»Wo?«
Stefanie lächelte böse.
»Das wüsstest du gern. Aber sie will nicht, dass du es weißt.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Monika ...«
»Oh doch. Sie ist gestern gleich nach deinem Besuch abgereist, um dir ja kein zweites Mal begegnen zu müssen.«
Nelli verzog das Gesicht und schüttelte skeptisch den Kopf.
»Wohin denn abgereist?«
»Ich bin nur hier, um ihr ein paar Sachen nachzuschicken, die sie vergessen hat.«
»Also mal langsam, das war ein vollkommen vernünftiges Gespräch. Ich glaube nicht, dass ...«
»Ach, du glaubst nicht, dass sie das erst mal verarbeiten, erst mal begreifen musste, dass du dich tatsächlich erdreistest, hier nach über sieben Jahren wieder aufzukreuzen, und dass die Sache erst so richtig hochkam, als du dich längst wieder aus dem Staub gemacht hattest?«
Nelli schloss die Augen, biss sich auf die Innenseite der Unterlippe und versuchte, Schmerz und Scham nicht zuzulassen. Nicht jetzt.
»Ach, jetzt tu doch nicht so!«, rief Stefanie.
»Ich wollte eigentlich nur ...«
»Was?«
»Wenn ich ihr einen Brief schreibe, schickst du ihr den dann wenigstens mit ihren Sachen zu?«
Stefanie schüttelte langsam den Kopf.
»Und wenn du hier was in den Briefkasten steckst, kannst du es ebenso gut in den nächsten Mülleimer werfen.«
»Kommt sie denn bald wieder?«
»Eher nicht.«
Nelli spürte Wut aufkommen.
»Es ist verdammt wichtig!«
»Dann sags mir.«
Nelli schaute sie an und schüttelte langsam und entschieden den Kopf.
»Wusste ichs doch.«
»Gar nichts weißt du. Es geht dich schlicht nichts an.«
»Ich bin Monikas Vormund.«
»Sie ist erwachsen.«
»Aber ich habe die Hand auf dem Geld.«
»Du bist so was von ...«
»Also?«
»Es geht nicht um Geld, wie oft denn noch!«
»Um so besser.«
»Stefanie ...«
Nelli trat einen Schritt auf sie zu, schaute ihr in die Augen. Ihre Schwägerin verzog den Mund zu einem bösen Lächeln und setzte demonstrativ die Sonnenbrille auf. Nelli resignierte und wandte sich ab.
»Na gut. Irgendwann kommt sie schon wieder«, murmelte sie und wusste dabei selbst, dass ihr Beharren nichts mehr mit dem eigentlichen Grund ihres Hierseins zu tun hatte. Es ging nur noch darum, nicht klein beizugeben, nicht das Gefühl zu haben, verjagt und verbannt worden zu sein. Sie klappte den Fahrradständer hoch, wollte zum Gartentürchen. Stefanie hielt sie am Lenker zurück.
»Seit du verschwunden bist, hab ich oft an dich gedacht, viel öfter, als du dir vorstellen kannst.«
Sie sprach ruhig und sanft, und Nelli, davon ausgehend, dass nun der erste Sturm vorüber war, wollte ebenfalls einlenken.
»Stefanie, es tut mir wirklich so wahnsinnig leid, ich kann mir denken ...«
»Kannst du nicht!«, fiel sie ihr ins Wort. »Hör mir einfach zu.«
Nelli nickte.
»Okay.«
»Ich hab mir ausgemalt, wie es wäre, dich in die Finger zu bekommen.«
»Was!«
»Dir richtig weh zu tun, weißt du. Nicht seelisch, so wie du uns, sondern ganz brutal körperlich.«
Stefanie lächelte starr, es sah aus wie der Grinsemund eines Chitinpanzers, und da ihre Augen unter der Sonnenbrille nicht zu sehen waren, hatte Nelli das Gefühl, ein langhaariges Insekt mit großen, dunklen, blinden Facetten habe sie gepackt.
»Du weißt ja nicht, was du sagst.«
Nelli riss an ihrem Lenker, aber Stefanie hielt ihn eisern umklammert. Sie senkte die Stimme.
»Keine Angst, das würde ich natürlich nie tun. Dich zu quälen, meine ich. Aber ich würde dich umbringen, schnell und schmerzlos, mit einem Messer vielleicht, wenn du Monika noch mal zu nahe kommst. Und dich dann irgendwo verscharren. Niemand würde dich vermissen. Das ist der Vorteil, wenn man es mit einer Landstreicherin zu tun hat. Es ist eine ganz einfache Sache!«
Nelli schüttelte ernst den Kopf.
»Da täusch dich mal nicht. Es ist ganz schwer, einen Menschen zu töten, das kann ich dir aus Erfahrung sagen.«
Sie umklammerte Stefanies Handgelenk, mit dem die ihren Lenker festhielt, und drückte zu. Zunächst gab es keine Reaktion, aber als sie fester und so fest zudrückte, dass ihre eigene Hand sich vor Anspannung verfärbte, begann sich Stefanies Gesicht zu verkrampfen, und schließlich ließ sie mit einem leisen Keuchen los. Nelli schüttelte die Hand ihrer Schwägerin ab, fasste den Lenker an beiden Griffen und schob das Fahrrad auf die Straße. Ohne sich noch einmal umzudrehen, stieg sie auf und fuhr los.
Nicht weit entfernt, auf einer Bank am Waldrand des Theresiensteins unterhalb der Tennisplätze, lehnte sie ihr Fahrrad an, wollte sich setzen, setzte sich aber doch nicht. Sie wartete auf eine Reaktion. Irgendetwas tief in ihr drin musste sich geregt haben bei einem derartigen Frontalangriff von hasserfüllter Mordabsicht. Leere Drohungen waren das nicht gewesen. Stefanie war ihr nur allzu gut in Erinnerung als eine Frau, die nichts sagte, was sie nicht auch tun würde.
Nelli lauschte in sich hinein, und zu ihrer Verblüffung fühlte sie Trotz aufsteigen. Die Schuldgefühle der letzten Jahre, die sie fast in den Tod und schließlich hierher zurückgetrieben hatten, verloren an Bedeutung. Die Wunde war vernarbt. Sie hatte um Verzeihung gebeten, mehr konnte sie nicht tun. Betteln war nicht drin.
Nelli ließ die Räder bergab rollen, am Eisteich vorbei Richtung Stadtzentrum, und hielt die Augen nach einem öffentlichen Telefon offen. An der Michaelisbrücke fiel ihr eine Veränderung auf, die ihr neu war, schon auf dem Herweg hatte sie nicht recht begriffen, was das sollte: Irgendjemand hatte am Saaleufer eine Riesenansammlung kunterbunter Schilder an Holzpfähle geschraubt – der reinste Irrgarten war das. Ein solches Sammelsurium ließ sich nicht in ein paar Wochen zusammentragen. Das Schilder-Durcheinander weckte ein Bild in Nelli, einen ersten Ansatz von Begreifen, wie verstreichende Zeit, sichtbare Veränderungen und sich anreichernde Eindrücke miteinander in Zusammenhang stehen. Sie hätte das aufschreiben müssen, um es greifbar zu machen, hätte ... – was soll das, Nelli? Nicht abschweifen, nicht philosophieren. Suchen.
Aber ein Telefon war hier nirgends zu sehen.
Nelli bog an der nächsten Ampelkreuzung links ab, strampelte die Ludwigstraße hoch Richtung Rathaus und daran vorbei zur Altstadt. Spätestens an der Stadtpost würde sie telefonieren können. Sie hielt Ausschau und duckte sich zugleich vor möglichen Bekannten von früher. Sie erkannte die meisten der Geschäfte ringsum, glaubte sich zurückversetzt in frühere Zeiten und fühlte sich zugleich fremd in der Stadt, in der sie aufgewachsen war und ihr ganzes Leben verbracht hatte – bis auf die zurückliegenden sieben Jahre. Sieben Jahre, das war doch eigentlich gar nicht so lang, oder? Ein 10tel Leben, ein langes Studium, eine durchschnittliche Ehe.
Am Postplatz angekommen, lehnte sie ihr Fahrrad an eine der beiden Telefonstelen und fischte ihren Bauchbeutel unter dem T-Shirt hervor. Ach ja, das Kleingeld war aufgebraucht. Nur noch zwei Scheine: ein 10er und ein 20er. Der 10er musste reichen.
Schräg gegenüber des Hauptpostgebäudes sah sie eine Bäckerei. Der Gedanke an Kuchen und Torten verursachte in Nellis Magen ein schmerzhaftes Ziehen. Aber sie hatte ihre Prioritäten. Prioritäten waren wichtig bei einem Leben, wie sie es führte. Erst der Telefonanruf. Dann ein ruhiges Plätzchen zum Nachdenken. Und dann entscheiden, wie es weitergehen würde. Erst danach, vielleicht, was zu essen. Sie überquerte die Kreuzung und betrat den Laden.
»Können Sie bitte wechseln?«
Die Verkäuferin schaute sie leicht genervt, aber nicht unfreundlich an, wollte eigentlich ablehnen, aber offenbar war Nellis Anblick mitleiderregend genug, um ihr zu helfen. Auf Anstehen am Postschalter hätte sie jetzt keine Lust gehabt, und wer weiß, ob die am Schalter so gerne wechselten, ohne dass jemand Briefmarken kaufte.
»Wenn möglich in 50ern, bitte«, sagte Nelli.
Die Frau gab ihr eine Handvoll Münzen, Nelli hätte zu gerne etwas gekauft, aber im Moment konnte sie auf keinen Cent verzichten. Wenn vom Telefonieren was übrig blieb, würde sie vielleicht die Prioritäten ändern und sich ein Nougathörnchen genehmigen, bevor sie über ihre Zukunft nachdachte.
Zurück an den Stelen, steckte sie vier 50er in den Schlitz des Telefonapparates, zog den Supermarktkassenzettel mit der Nummer des Polizisten der Wiener Spezialeinheit heraus, tippte die Vorwahl von Österreich ein und den ganzen langen Rest. Hoffentlich war er gleich am Apparat.
Besetzt.
Die Münzen klimperten durch den Apparat in den Auffangkasten, Nelli entnahm sie, steckte sie gleich zurück und tippte die Zahlenkolonne noch einmal.
Diesmal ertönte das Freizeichen.
»Platzer«, meldete sich mit deutlichem Akzent der Beamte, den sie damals am Gletscher, bei der Bergung von Andis Leiche, als kompetent und freundlich kennengelernt hatte und der sich am Morgen dieses Tages beim Anruf von Oberkotzau aus als das genaue Gegenteil erwiesen hatte. Gott sei Dank war er gleich dran. Es klimperte, als die ersten zwei 50er durchfielen. Nelli, die rechte Hand voller Kleingeld, warf sofort nach.
»Hier Nelli Prenz, hören Sie, ich hab nicht viel Zeit. Lassen Sie mich erst mal reden, okay.«
»Wenn Sie sich kurz fassen. Ich hab auch nicht viel Zeit.«
»Nach Ihrer Info von heute früh bin ich gleich noch mal umgekehrt, um meine Stieftochter zu warnen. Nur leider ist sie nicht da, und ihre Tante, also ihr bisheriger Vormund, wollte mir nicht sagen, wo sie ist. Ich finde, sie sollte wenigstens informiert werden, dass möglicherweise Gefahr droht, und ich denke auch, das ist das Mindeste, was Sie tun könnten. Sie haben doch ganz andere Möglichkeiten, eine Person ausfindig zu machen. Sie heißt, wie Sie wissen, Monika Prenz, und bei der Tante handelt es sich um Stefanie Holwagen, geborene Prenz. Ich schlage vor, dass Sie ...«
»Also, jetzt mal langsam. Vor was soll denn Ihre Stieftochter überhaupt gewarnt werden?«
»Vor was? Na, vor diesem Andi!«
»Frau Prenz, das ist doch ...«
»Nein, das ist nicht verrückt. Er ...«
»Er lebt nicht mehr. 100prozentig.«
»Dann hat jemand die Leiche gestohlen.«
»So sieht es aus.«
»Und wer Leichen von Massenmördern stiehlt ...«
Das Geld fiel durch. Nelli beeilte sich, Münzen nachzuschieben. Ihre Hand leerte sich.
»... der ist doch wohl genauso irre und zu allem fähig.«
Nelli hörte ein demonstratives Schnaufen.
»Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll, Frau Prenz. Aber sehen Sie nicht selbst ein, wie weit hergeholt das ist?«
»Ist es nicht. Wer immer das war, er hat was mit dem Fall zu tun oder will daran anknüpfen. Ich war Andis letztes Opfer, und hätte er mich umgebracht, hätte er sich als Nächstes Monika geholt. Ich finde, es ist bestimmt nicht übertrieben damit zu rechnen, dass dieser andere Typ nun da weiter machen könnte, wo Andi aufgehört hat.«
»Das ist sogar extrem übertrieben. Es wimmelt nämlich auf der Welt zum Glück nicht gerade von Serienmördern, und was mit Ihnen passiert ist, war zu dem Zeitpunkt ja noch gar nicht in der Öffentlichkeit bekannt.«
»Aber irgendjemand wusste es doch!«
Es ratterte in den Eingeweiden des Telefons. Nelli schob zwei weitere 50er nach. Jetzt hatte sie noch zwei.
»Ja, weil in den Ortschaften natürlich geplaudert wurde. Die Bergwachtmänner dort sind ganz liebe, tüchtige Jungs, aber leider auch bekannt dafür, dass sie ihren Mund nicht halten können.«
»Na und?«
»So makaber das ist, es handelt sich höchstwahrscheinlich um einen Streich oder eine Mutprobe. Halbstarke haben von dem Labyrinth im Gletscher gehört, sich Schneid angetrunken, sind mit ihren Mopeds den Berg hoch und haben die Leiche versteckt. Vielleicht hockt der tote Kerl zwei Gänge weiter ganz in der Nähe, und da hockt er vielleicht in 100 Jahren noch. Wir können nicht den ganzen verdammten Gletscher absuchen, zumal sich die betreffende Nische längst geschlossen haben könnte.«
»Also rufen Sie nun bei Stefanie an?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Dann können Sie aber ...«
Es ratterte. Nelli steckte ihre letzten Münzen in den Schlitz.
»Was?«
»... jegliche weitere Zeugenaussagen von mir vergessen. Ich lege auf und bin für immer verschwunden.«
Wieder ein Schnaufen, diesmal deutlich mehr wütend als genervt.
»Also geben Sie mir schon die Nummer.«
»Hab ich leider nicht, Sie müssten bitte die Auskunft anrufen. 09281 ist jedenfalls die Vorwahl von Hof.«
»Die Auskunft anrufen, ich hab ja sonst nichts zu tun.«
»Tut mir leid.«
»Aber dafür will ich jetzt eine Nummer von Ihnen.«
»Ich hab keine.«
»Dann schaffen Sie sich doch ein Handy an.«
»So weit kommts noch. Übernehmen Sie vielleicht die Kosten?«
Wieder dieses Schnaufen, diesmal eher belustigt.
»Sie werden sich doch wohl ein Handy leisten können.«
»Nein, kann ich nicht. Ich bin schlichtweg pleite. Die Krankenhauskosten haben meine letzten Reserven verbraucht.«
»Warten Sie ...«
»He!«
Nelli hörte es am anderen Ende rascheln.
»So, ich musste nur die Nummer suchen. Haben Sie was zum Schreiben?«
»Wozu?«
»Weil ich Ihnen schon heute früh was durchgeben wollte.«
»Was?«
»Eine Nummer, die Ihnen Geld bringen kann.«
Nelli wurde sofort hellhörig. Der Mangel an Geld war ihr akutes Hauptproblem. Erst wenn sie wusste, wie sie sich die nächsten Tage ernähren konnte, würde sie den Kopf frei haben, um über die eigentliche, zentrale Frage ihres Lebens nachdenken zu können: wie es nun nach Rückkehr, abgebrochenem Neuaufbruch und abermaliger Rückkehr weitergehen sollte. Einfach wieder ins Blaue zu radeln, so wie sie es heute Morgen noch vorgehabt hatte, war keine Lösung. Oder doch? Wie oft war die Lösung eines Problems unterwegs wie von selbst gekommen. Vielleicht war auch das eine solche spontane Lösung.
»Moment ...«
Nelli zerrte am Reißverschluss ihrer rechten Packtasche, griff hinein und ertastete einen ihrer Kugelschreiber.
»Also los.«
Nelli kritzelte eine Reihe von Zahlen auf den Kassenzettel unter die Nummer des Polizisten, dahinter den Namen Herolder, hielt beim Weiterschreiben inne und rief empört:
»Von was, wie heißt das Ding? Von Frau zu Frau? Das klingt mir verdammt nach einem Klatsch- und Tratschblatt!«
»Ist es auch. Eines der schlimmsten. Aber die bieten viel Geld für Ihre Story: 100.000 Euro.«
»100.000? Pfff ...«
»Und ich kann Ihnen sagen, da ist auch mehr drin, vielleicht viel mehr. Sie glauben nicht, was hier schon alles angerufen hat und Kontakt zu Ihnen wollte, Presse aus aller Herren Länder. Die Geschichte sickert jetzt erst so richtig durch, und Sie sind ja nicht irgendein Opfer, sondern haben diese nicht gerade alltägliche Vorgeschichte.«
»Trotzdem, das ... Aahhh – nein. Nein, ich kann doch nicht ... diese ganze scheußliche Geschichte. Wäre das denn ... Hallo?«
Die Verbindung war weg. Nelli hatte das Klicken nicht gehört. Sie nahm überhaupt nichts wahr, nicht den Verkehrslärm am Postplatz hinter sich, nicht die Hitze der prallen Mittagssonne.
100.000 Euro, das wäre mehr als sie bei Beginn ihrer siebenjährigen Fahrradweltreise gehabt hatte. Damit könnte sie für 10 weitere Jahre abhauen, mindestens, und was danach kam, würde sich schon zeigen.
Aber einer Klatschreporterin ihre Geschichte erzählen? Ihr Privatleben vor der Reise, ihre Reiseerlebnisse, die Horrornacht mit Andi in seiner einsamen Passwirtschaft am Gletscher. Die Schmerzen, die Todesangst. Der Zusammenbruch, der Dämmerzustand im Krankenhaus, die medikamentenbedingten Alb- und Wachträume. Die Schuldgefühle ...
Nelli störte nicht mal so sehr, dass ihre äußerst privaten Erlebnisse zur Grusel- und Rührstory verkitscht weltweit für Herzschmerz sorgen würden. Davon würde sie nichts mitbekommen. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, oder?
Aber Monika würde es mitbekommen.
Nein, undenkbar!
Nelli strich die Zahlenkolonnen und den Namen mit entschlossenen Kugelschreiberstrichen durch, knüllte den Zettel zusammen und warf ihn in den nächsten Abfallbehälter.
Entschlossen packte sie ihr Fahrrad und drehte es in Richtung Marienstraße und damit in Richtung Oberkotzau, Förmitztalsperre, Fichtelgebirge.
Einbahnstraße.
Na und?
Aber vielleicht ist das ein Zeichen.
Wohin dann, wenn nicht gen Süden? Richtung Schleizer Straße? Mal in den Norden, durch die neuen Bundesländer, an die Ostsee? Eine Fähre nehmen, vielleicht das Nordkap besuchen?
Der amerikanische Norden war schön gewesen, Alaska einfach ein Traum. Der europäische Norden reizte sie, vielleicht war das die innere Stimme, das Aufbruchssignal, auf das sie gewartet hatte.
Zögernd, gar nicht wie Aufbruch, aber doch sehr entschieden schob Nelli ihr Fahrrad bei Rot über den Zebrastreifen auf die andere Straßenseite, schwang sich auf den Sattel und ließ sich die Lessingstraße hinunter nach Norden rollen.
So lustlos wie noch nie erledigte Nelli ihre allabendlichen Verrichtungen, packte das Zelt aus, stellte es auf, rollte ihren Schlafsack darin aus, gruppierte Feldsteine zu einem kleinen Kreis, baute ihren Campinghocker davor auf, suchte halbwegs trockenes Holz zusammen, entzündete es mit einem Spritzer Spiritus ...
Der Spiritus war reiner Luxus. Sie würde lernen müssen, ihr Lagerfeuer billiger zu entfachen, mit trockenem Gras und Ästchen oder alten Zeitungsresten aus Abfalleimern. Und sie würde von Mineralwasser umsteigen müssen auf Wasser aus dem nächstbesten Bach.
Nelli hockte sich auf ihren Campingstuhl, biss in eine Bifi und ein Brötchen, starrte ins Feuer, zog ihren Bauchbeutel unter dem T-Shirt hervor und zählte ihr Geld. Von ihren letzten 20 Euro waren 8,87 Euro übrig geblieben, seit sie auf dem Weg aus Hof heraus in einem Großkaufhaus Station gemacht und sich ein paar Äpfel, zwei Dosen Gulasch, Brot und Bifis, Klopapier und ein neues Feuerzeug gekauft hatte. Auch da war Sparpotential. Altes Brot statt frisches. Schnittsalami statt Bifi. Blätter statt Klopapier.
Das war doch verrückt! Nicht nur, dass sie am Morgen voller Zuversicht auf zukunftsweisende Ideen und Entscheidungen Richtung Süden aufgebrochen, 10 Kilometer gefahren war, aber jetzt am Abend plötzlich genau in der Gegenrichtung 20 Kilometer nördlich von Hof jenseits der ehemaligen Grenze an einem Feldweg zwischen Fichtenforst und Stoppelacker campierte; nicht nur, dass sie die Aussprache mit Monika erledigt, ihr altes Leben besiegelt und sich frei und offen für einen Neuanfang gewähnt hatte, sich jetzt aber mit der Situation konfrontiert sah, dass ihre Stieftochter ihren Besuch scheinbar überhaupt nicht verkraftet hatte, sondern aufgewühlt und aufgelöst davongelaufen war an einen unbekannten Ort und Nelli in diesem Zusammenhang eine Todesdrohung ihrer Schwägerin zu hören bekommen hatte; nicht nur, dass sie jetzt überhaupt nicht mehr weiter wusste, sich in jeder Hinsicht verrannt hatte – der Tag hatte einfach alles in ihr umgekrempelt. Sie hatte sich so sicher gefühlt vor ihrer Begegnung mit Andi und auch wieder danach. Jetzt aber ... unglaublich, sie hatte Angst vor der Dunkelheit! Den ganzen Tag über hatte sie sich um Monika gesorgt, die mit einem festen Wohnsitz, in Hof oder wo auch immer, von einem Irren wie Andi leicht auszumachen wäre und dann in ihrem Haus in der Falle säße – sie selbst dagegen, irgendwo im Nirgendwo, Adresse unbekannt, wer konnte ihr da schon gefährlich werden?
Von wegen! Wenn dieser Jemand ihr schon auf den Fersen war, dann war sie nirgendwo gefährdeter als hier abseits der Hauptstraße allein und ungeschützt auf sich selbst gestellt. Die Panik des Ausgeliefertseins kam mit einer solchen Wucht, dass Nelli ihr Lagerfeuer mit dem teuren Mineralwasser löschte, die Glut in Grund und Boden stampfte, bis kein Fünkchen mehr glomm, das Zelt hastig in den Wald verlegte, mit Ästen tarnte und sich davor hockte, Wache schob, aufs kleinste Geräusch lauerte und schließlich im Schneidersitz einnickte. Jemand wie ich, dachte sie noch, bevor sie weg war, jemand, der das erlebt hat, was ich durchzumachen hatte, müsste eigentlich psychologische Hilfe in Anspruch nehmen. Aber das geht nicht bei einer - Landstreicherin. Ich bin eine ... Bin ich eine? Es war das erste Mal, dass Nelli sich in der Rolle sah, die mit diesem Begriff verbunden wurde. Pleite, ziellos und ausgestoßen. Noch bettelte sie nicht. Aber davon war sie nicht sehr weit entfernt.
Völlig unterkühlt schreckte sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf. Hatte da nicht ein Ast geknackt, direkt neben ihr?
Es war stockfinster. Sie begann zu zittern. Ihr T-Shirt war über den Schultern feucht vom Tau, ein heftiger Kälteschmerz zog über den Hals bis tief in den Hinterkopf. Sie hatte dieses Leben so satt!
Ganz zwangsläufig, so sehr sie sich auch dagegen sträubte, kehrten ihre Gedanken immer wieder zu dem Haus am Millionenhügel zurück. All die Jahre, die sie dort gelebt hatte in Geborgenheit, Reichtum, Luxus, Sicherheit – und in der Gewissheit, dass die Zukunft nie anders sein würde.
Von wegen! Alles konnte so schnell zerplatzen.
Aber man konnte auch neu anfangen, immer wieder. Daran hatte sie fest geglaubt. Man musste nur die Chancen wahrnehmen, die sich boten – auch wenn sie einem auf den ersten Blick nicht gefielen.
Zitternd und mit zähen Bewegungen drückte sich Nelli aus dem Schneidersitz hoch, tastete nach ihren Satteltaschen, zerrte ihr Sweatshirt hervor und streifte es über. Sie kroch ins Zelt, steckte sich in ihren Schlafsack, zog die Kapuze über den Kopf und fest um sich zusammen. Das Zittern ließ nach, aber es wurde ihr nicht wärmer, die Füße blieben eiskalt. Wirklich, ein Scheißleben war das. Wie hatte ihr das je gefallen können?
Nelli dachte an jene Nacht in Andis Gewalt, als sie damit gerechnet hatte, den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr zu erleben. Ihr karges und armes, einsames aber freies Leben hatte ihr so viel bedeutet, eine solche Sehnsucht nach dem nächsten Sonnenaufgang hatte sie gehabt in ihrer Todesangst, eine Gier nach Leben.
Aber jetzt, da sie das Heißersehnte zurückbekommen hatte, konnte sie nichts mehr damit anfangen. Verrückt war das. Da lag sie, mit offenen Augen ins Leere starrend im Bewusstseinszustand einer Nacktschnecke und verfolgend, wie aus Dunkelheit erste Dämmerung wurde, ein Anflug von Helligkeit, ein Schimmer des ersten Sonnenrandes am Horizont, da lag sie und konnte dem Tag, der da anbrach, keinen Sinn mehr abgewinnen. So viel Zeit, so viele Möglichkeiten und zugleich Einschränkungen, so viel Leben – was nur anstellen damit?
Na, was wohl? Als ob das überhaupt eine Frage wäre! Wie zur Bestätigung begann draußen um das Zelt herum das Geraschel der Frühaufsteher unter den Waldtieren. Die taten zielgerichtet das, was notwendig war, sie warteten nicht auf Fütterung, sondern suchten nach Nahrung, und zwar dort, wo sie waren, und sie nahmen das, was sie kriegen konnten. Wasser fließt nach unten ab. Schwimmen gegen den Strom, die eigenen Ideale hochhalten – diesen idealistischen Mist konnte man sich leisten, wenn der Magen nicht knurrte. Nelli wusste, was sie zu tun hatte. Sie kroch aus dem Schlafsack, zog den Reißverschluss des Zeltausgangs auf und schaute zwinkernd hinaus in den Sonnenaufgang.
Kurz nach halb acht war sie zurück an den beiden Telefonstelen vor der Hofer Stadtpost. Den Berg herauf war sie trotz der morgendlichen Kälte ins Schwitzen gekommen. Neuer Schweiß klebte auf altem Schweiß, sie hatte seit ihrem Krankenhausaufenthalt nicht mehr geduscht. Wenn das hier erledigt war, würde sie sich erst einmal einen Badesee suchen.
Sie stellte ihr Fahrrad auf den Ständer und lüftete wedelnd ihr T-Shirt.
Na denn, bringen wir es hinter uns! Der silbergraue Abfallbehälter hatte einen orangefarbenen, verschrammten Deckel. Der Spalt zwischen Behälterrand und Deckel war so schmal, dass ihr Arm gerade hineinpasste. Sie hoffte, dass der zerknüllte Zettel mit den Telefonnummern obenauf lag. Aber das Erste, was sie mit den Fingerspitzen ertastete, war etwas Glitschiges, Kaltes – eine Bananenschale. Igitt. Also tiefer. Eine zusammengefaltete Zeitung. Verschrumpelte Papiertaschentücher. Feste runde Kaugummiklumpen. Zigarettenkippen. Und ein ... oh Mann, pfui Teufel, auf keinen Fall wollte sie wissen, was das eigentlich war. Inzwischen steckte Nelli bis zum Schultergelenk in dem Abfallbehälter. Sie wühlte tiefer, fuhrwerkte mit der Hand über den krümeligen Boden des Behälters, suchte alle vier Innenkanten und Ecken ab, durchmischte den Inhalt und ließ die absonderlichsten Wohlstandsreste tastend durch die Finger gleiten. Da war was, fühlte sich an wie eine kleine Papierkugel.
Nelli zog den Arm aus dem Müll und betrachtete ihre Beute. Es war ihr Zettel, dem Himmel sei Dank. Sie faltete ihn auseinander. Ihre rechte Hand roch nach kalter Zigarettenasche und fauligem Obst. Egal jetzt. Erleichtert stellte sie fest, dass die Zahlen und der Name trotz ihres wilden Durchstreichens noch zu lesen waren.
Herolder. Eine Klatschreporterin. Klischees drängten sich auf. Nelli stellte sich vor, wie es wohl sein würde, von einer solchen Frau bis ins intimste Detail ausgefragt zu werden und dann das eigene Leben übertrieben, verdreht, ausgeschmückt und verkitscht in einem Klatschartikel zusammengebacken zu bekommen zu einem übersüßen Törtchen mit Zuckerguss und Gelier-Kirsche – aber wusste zugleich, dass es ganz anders sein würde. Es war immer anders, als man es sich vorstellte. Und deshalb war auch Andi ganz sicher nicht mehr am Leben, und ganz sicher ging vom Verschwinden seiner Leiche keine Gefahr aus. Alles war ganz anders. Hoffentlich ...