Schrecklich schöne Kindheit - Inge Klatt - E-Book

Schrecklich schöne Kindheit E-Book

Inge Klatt

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Beschreibung

Dieses Buch beinhaltet die autobiographische Schilderung der Protagonistin, die sie mit Erlebnissen ihrer Kindheit in der Vorkriegszeit einleitet. Die schrecklichen Ereignisse des Zweiten Weltkrieges und die massiven Bombenangriffe auf Hamburg prägen ihr Leben. Insbesondere die entbehrungsreiche Nachkriegszeit stellt für ihre Familie eine enorme Belastung dar. Da ist Franz, der Vater, ein eigenwilliger Individualist, die unberechenbare Mutter "Pöppi". Inges Bruder Jonny, der besonders unter den Nazis zu leiden hat und Hauptprotagonistin Inge, Tochter und Schwester, die mit allen Genen ihrer Eltern bestückt ist. Als die Familie auseinanderzubrechen droht, kämpft Inge verbissen um deren Erhalt. Allzu früh lernt sie die Verantwortung für Ihre Familie zu übernehmen und entwickelt daraus ein weit über ihr Alter hinausgehendes Selbstbewusstsein. Sie bürdet sich eine schwere Last auf, um alle durch die Hungersnot der Nachkriegszeit und auch durch den bitterkalten Winter 1946/47 zu bringen. Mit etlichen inneren Narben übersteht die Familie diese schreckliche Zeit. Um sich emotional von den geschilderten Begebenheiten zu distanzieren, verzichtet die Autorin bewusst auf die Verwendung der "Ich-Form".

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Schrecklich schöne Kindheit

von Inge Klatt

Zur Autorin:

Dieses Buch beinhaltet die autobiographische Schilderung der Protagonistin, die sie mit Erlebnissen ihrer Kindheit in der Vorkriegszeit einleitet. Die schrecklichen Ereignisse des Zweiten Weltkrieges und die massiven Bombenangriffe auf Hamburg prägen ihr Leben. Insbesondere die entbehrungsreiche Nachkriegszeit stellt für ihre Familie eine enorme Belastung dar. Da ist Franz, der Vater, ein eigenwilliger Individualist, die unberechenbare Mutter „Pöppi“. Inges Bruder Jonny, der besonders unter den Nazis zu leiden hat und Hauptprotagonistin Inge, Tochter und Schwester, die mit allen Genen ihrer Eltern bestückt ist. Als die Familie auseinanderzubrechen droht, kämpft Inge verbissen um deren Erhalt. Allzu früh lernt sie die Verantwortung für Ihre Familie zu übernehmen und entwickelt daraus ein weit über ihr Alter hinausgehendes Selbstbewusstsein. Sie bürdet sich eine schwere Last auf, um alle durch die Hungersnot der Nachkriegszeit und auch durch den bitterkalten Winter 1946/47 zu bringen. Mit etlichen inneren Narben übersteht die Familie diese schreckliche Zeit. Um sich emotional von den geschilderten Begebenheiten zu distanzieren, verzichtet die Autorin bewusst auf die Verwendung der „Ich-Form“.

Inge Klatt, „Schrecklich schöne Kindheit“© 2015 der vorliegenden Ausgabe: underDogVerlagshaus underDogwww.underdog-verlag.de© 2015 Inge Klatt

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Gregor MiddendorfISBN: 978-3-9814257-3-4

Inhalt

Vorwort

Inges Geburt

Das Feuermal

Hitlers Machtübernahme

Wutanfall (mit Gabel)

Einzug bei einer Witwe

Ein missratener Weihnachtsmann

Der Fall in die Mistkuhle

Jonnys Erkrankung

Jonnys Arztbesuch

Alkoholprobe

Inge lernt sich zu wehren

Inge macht sich Locken

Der Wellensittich

Badeunfall

Inges Einschulung

Katzengeburt

Ein aufregender Ausflug

Weihnachten

Göbbelschnauze

Großvater taucht auf

Kriegsausbruch

Wohnungswechsel

Kriegsverordnungen

Poesie-Album

Ärger mit Jonnys Arbeitgeber

Panik im Luftschutzkeller

Reise nach Dänemark

Pöppis Fall

Ärger wegen Verschickung

Lageraufenthalt

Bildteil

Bombenangriffe auf Hamburg

Abreise aus Bayern

Ernste Schwierigkeiten in der Ehe

Evakuierung in Villa

Auseinandersetzung zwischen Mutter und Tochter

Inges Ankunft in Mecklenburg

Pöppi und Inge ziehen in die Göhrde

Reise nach Dresden

Katastrophe auf dem Acker

Machtkampf mit Jungen

Kartoffelstoppeln

Flugzeugabsturz

Jonnys Hochzeit

Holzlieferung

Sittenstrolch

Pöppis Fehldiagnose

Erste Flüchtlinge treffen ein

Jonnys Verlegung in ein neues Lazarett

Inges Beschuss

Halbes Schwein

Übernahme der Engländer

Broteinkauf

Jonny verabschiedet sich vom Krieg

Pöppis Brückenüberquerung

Omas Einzug

Drei zur Tankstelle

So erging es auch Franz

Heringsräuchern

Pöppi setzt Wohnung in Brand

Hamstern

Kohlenklau

Inges Bluterguss

Schlittschuhe

Annis Affenfett

Inges Kinderreisen

Kinobesuch mit Franz

Ende einer schrecklich schönen Kindheit

Epilog

Vorwort

Das Manuskript beinhaltet die autobiografische Schilderung der Protagonistin ihrer Kindheit von 1932 bis 1947. Beginnend mit ihrem Leben in der Vorkriegszeit, über die Kriegszeit bis hin zu den schrecklichen Ereignissen des Krieges, der schlimmen Bombenangriffe auf Hamburg und endet in der entbehrungsreichen Nachkriegszeit.

Auch in der Familie steht es nicht immer zum Besten. Da ist Franz, der Vater, ein eigenwilliger Individualist, die unberechenbare Mutter „Pöppi“, Inges Bruder Jonny, der besonders unter den Nazis zu leiden hat und unsere Hauptprotagonistin, Inge, Tochter und Schwester, die mit allen Genen ihrer Eltern bestückt ist. Als die Familie auseinander zu brechen droht, kämpft Inge verbissen um deren Erhalt. Allzu früh lernt sie die Verantwortung für ihre Familie mit zu übernehmen und entwickelt daraus ein weit über ihr Alter hinausgehendes Selbstbewusstsein. Sie bürdet sich eine schwere Last auf, um alle durch die Hungersnot der Nachkriegszeit und auch den bitterkalten Winter 1946/47 zu bringen.

Letztlich übersteht die Familie, mit etlichen inneren Narben, diese schreckliche Zeit. Die Autorin hat die Handlung „Schöne, schreckliche Kindheit“ bewusst nicht in der „Ich-Form“ geschrieben. Es wäre sonst nicht so in der Fassung niedergeschrieben worden.

Inges Geburt

Es war eine bitterkalte Nacht am 10. Januar 1932 und Franz war wohl schon das fünfte oder sechste Mal um den Block gewandert. Seine Frau Pöppi, eigentlich hieß sie Wilhelmine, aber aufgrund ihrer kleinen zierlichen Figur wurde sie nur Pöppi genannt, lag schon seit über 25 Stunden in den Wehen. Sie war schon 39 Jahre alt und es war ihre zweite Niederkunft.

Ihren Erstgeborenen hatte sie vor acht Jahren bekommen und es war eine sehr schwierige Geburt gewesen. Sie hatte sich geschworen, keine weiteren Kinder mehr zu gebären, aber dann passierte es nach acht Jahren doch noch einmal. Sie war wieder schwanger geworden. Alle dilettantischen Versuche, es zu unterbinden, waren fehlgeschlagen.

Franz hatte mit der Hebamme vereinbart, sobald das Kind geboren war, sollte sie eine Lampe ins Fenster stellen. Aber kein Lichtschein war in der finsteren Nacht zu sehen. Also ging er ein weiteres Mal in seine Stammkneipe, um einen heißen Grog zu trinken. Der Wirt warf ihm einen fragenden Blick zu, aber Franz schüttelte nur stumm den Kopf.

Pöppi und die Hebamme waren inzwischen total erschöpft. Endlich, nach drei weiteren endlosen Stunden, gebar Pöppi ein strammes, acht Pfund schweres Mädchen. Die Hebamme nahm das kleine Wesen in Empfang und das Neugeborene krallte sich sofort in dem Kittel der Frau fest.

„Gucken Sie sich das an“, sagte die Hebamme.

„Um diese Kleine brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, die packt schon jetzt fest zu.“

Natürlich vergaßen beide, eine Lampe ins Fenster zu stellen und Franz ergab sich weiter seinem Grog und seinen Sorgen.

Das es nur ein Grasmieker (Mädchen) war, nahm Franz dann doch ziemlich gelassen hin. Er hätte aber zu gern noch einen zweiten Stammhalter gehabt.

Am anderen Tag kam Pöppis Zwillingsbruder zu Besuch. Er war ein Bruder Leichtfuß und Luftikus und sang ziemlich frivol: „Wenn ich die blonde Inge, abends nach Hause bringe…“ Darauf meinte er: „Ich finde Inge ist ein prima Name, wollt ihr sie nicht auf diesen Namen taufen lassen?“

Franz war es egal, bei Mädchen war es mehr oder weniger Frauensache. Also wurde die Kleine auf den Namen Inge eingetragen.

Pöppi erholte sich nur langsam von der Geburt und Franz kümmerte sich nicht weiter um diese Frauensachen. Außerdem machte er sich um die politische Entwicklung weit mehr Sorgen. Alles deutete darauf hin, dass Hitler die Macht ergreifen würde und das stimmte mit seinen Überzeugungen überhaupt nicht überein.

Das Feuermal

Etwa ein halbes Jahr nach der Geburt von Inge entwickelte sich bei ihr ein so genanntes Feuermal am Kinn. Der Arzt versuchte, es zunächst elektrisch zu entfernen. Als nichts half, riet er zu einer kleinen ambulanten Operation. Das Mal würde sich sonst über das ganze Gesicht und den Hals ausbreiten. Pöppi verlor total die Nerven und bat ihre Schwester Erna, mit der Kleinen zum Arzt zu gehen. Gesagt, getan.

Franz jedoch zeigte sich nun sehr besorgt. Seine Tochter war doch noch so klein und winzig. Als Erna mit der Kleinen wieder zu Hause war und Franz zum Mittagessen nach Hau se kam, beugte er sich zu Inge hinunter. Diese versuchte ihm zuzulächeln, was ihr Schmerzen bereitete und so kullerten ein paar Tränen aus ihren Augen die Wangen hinunter. Von diesem Augenblick an war Franz rettungslos verloren. Es tat ihm fürchterlich leid und er verstand überhaupt nicht mehr, warum er unbedingt noch einen zweiten Sohn hatte haben wollen. Dieses kleine süße Wesen war so tapfer und er schmolz dahin. Bisher hatte er sich nicht getraut, Inge auf den Arm zu nehmen, weil sie so klein war. Aber von diesem Augenblick an änderte sich sein Verhalten.

Hitlers Machtübernahme

April 1933, Inge war nunmehr fünfzehn Monate alt. Zwischen den Beinen ihres Vaters hatte sie schon mit einem Jahr laufen gelernt. Mit ihren kleinen Fäusten hatte sie sich an den Hosenbeinen von Franz festgekrallt und war mit ihm Schritt für Schritt durch die Wohnung gewackelt. Im Moment war für Franz seine Familie der einzige Lichtblick.

Er ging sonst gern nach der Arbeit für ein, zwei Bierchen in seine Stammkneipe. Aber im Moment hatte er allerdings keine Freude mehr daran. Hitler hatte die Macht übernommen und Franz stand mit seinen Befürchtungen ziemlich allein gegen die anderen da. Allerdings war er nicht arbeitslos, da er mit seinem kleinen Handwerksbetrieb selbständig war. Deutschland hatte über sieben Millionen Arbeitslose und es herrschte bitterste Armut. Familienväter wussten teilweise nicht mehr, wie sie ihre Familien ernähren sollten. Doch jetzt kam auf einmal ein Jemand daher und versprach ihnen Arbeit, ja sogar einen Volkswagen für jeden. Die Menschen waren begeis tert und schöpften wieder Hoffnung. Doch Franz lief nicht mit der Masse mit, er beharrte auf seiner Meinung und so schrie man ihn einfach nieder. Er blieb zu Hause. Pöppi war es nur recht, denn sonst hatte sie nicht viel von ihrem Mann. Tagsüber arbeitete er und anschließend ging er in sein Stammlokal. Dort wurden auch die Geschäfte abgeschlossen. Es gab ja damals noch kein Fernsehen und kaum einer hatte ein Radio. So suchten die Männer ihre Unterhaltung in der Kneipe. Das Leben spielte sich damals zum größten Teil in der Küche ab, die auch als Raum zum Wäsche trocknen genutzt wurde, hinzu kamen noch die Essengerüche. es war also nicht unbedingt ein gemütlicher Aufenthaltsraum.

Samstags war Badetag. Da wurde die große Zinkbadewanne hervorgeholt und nacheinander badete die ganze Familie darin. Der große Kohleherd war mit sämtlichen Töpfen vollgestellt, um genügend warmes Wasser für die Wanne zu haben. Am Sonntag zog man sich frische Wäsche und sein gutes Zeug an. Wenn es Sommer war, zog die ganze Familie nach dem Frühstück los. Entweder besuchte man den Zoo „Hagenbeck“ oder machte am Elbufer Picknick. Pöppi besuchte auch gern ihre Mutter und die Geschwister, die alle am Hafen wohnten. Doch damit hatte Franz nicht viel am Hut. Dieses viele Frauengeplapper lag ihm gar nicht.

Er war gern im Freien, und wäre auch gern angeln gegangen, doch dafür war Pöppi nicht zu haben. Sie war durch und durch ein Stadtmensch. Zur Kirschenblüte fuhren sie mit dem Dampfer ins Alte Land, das ganze Gebiet war zu der Jahreszeit eine einzige weiße Pracht. Am Deich grasten die Schafe und wenn man nicht aufpasste, konnte es passieren, dass ein Schafsbock einem schon mal einen ordentlichen Stoß versetzte. Als Jonny noch klein war hatte er mit so einem Bock Bekanntschaft gemacht und war den Deich dabei herunterge purzelt. Zum Glück war es bei einem riesigen Schreck geblieben. Es gab dort auch ein sehr schönes Ausflugslokal, wo man gut und preiswert essen konnte.

Wutanfall (mit Gabel)

Inzwischen waren über zwei Jahre vergangen. Inge war nun drei Jahre alt und hatte sich zu einer kleinen, sehr selbstbewussten Person entwickelt. Franz war stolz auf seine Kleine. Doch dieser Stolz wurde eines Tages allerdings stark erschüttert.

Vater Franz kam mittags immer pünktlich zum Essen. Seine Mahlzeit war ihm heilig. Pünktlich hatte das Essen auf dem Tisch zu stehen, und auch alles andere D‘rum herum musste stimmen. Die Kinder hatten beim Essen den Mund zu halten. Er wollte es einfach genießen. Eines Tages gab es Leber mit Zwiebeln, Apfelmus und Kartoffeln. Pöppi hatte irgendetwas vergessen und rannte wie der geölte Blitz los, um es noch schnell zu besorgen. Für Inge hatte sie das Essen schon zubereitet, um sie danach gleich schlafen zu legen. Franz wollte probieren, ob die Leber zart war und nahm ein kleines Stückchen von Inges Teller als Kostprobe. Danach setzte er sich ihr gegenüber wieder stillschweigend hin. Aber das passte Inge überhaupt nicht. Voller Wut schleuderte sie Franz die Gabel ins Gesicht. Mit vollendeter Treffsicherheit trafen die Zinken seine Wange unterhalb des einen Auges. Bleich, voller Entsetzen und Empörung, sprang Franz in die Höhe. Inge, die wohl ahnte, was kommen würde, griff nach der Leber, die auch noch in Milch eingelegt war und wollte sie auch noch werfen. Doch diese letzte Verteidigungsstrategie kam allerdings nicht mehr zum Einsatz. Franz hatte sie gepackt und legte sie sich über das Knie. Zum ersten Mal in ihrem Leben bezog sie nun eine kernige Tracht Prügel. Es war Inges erste Niederlage. Voller Wut, Schmerz und Empörung schrie sie aus Leibeskräften. Franz brachte sie kurzerhand ins Bett.

Pöppi, die von ihrem Einkauf zurückkam, flog nur so die Treppen hoch. Sie hatte schon von weitem das Geschrei vernommen. Sie rannte zum Bett ihrer Tochter, die jetzt noch eine Tonstärke zulegte. Pöppi wirbelte sich zu ihrem Mann herum und schrie:

„Was ist hier los?“

Franz war noch immer total entsetzt über das Vorgefallene, entgegnete wütend: „DEINE Tochter hat mich mit der Gabel bombardiert!“

Pöppi, gereizt wie eine Löwin, rief: „Ach, jetzt ist sie MEINE Tochter, und was hast DU ihr getan?“

„Das spielt wohl keine Rolle!“, erwiderte Franz. Im Stillen stellte er fest, dass seine Tochter nicht nur das Aussehen seiner Frau geerbt hatte, die braunen, schräg gestellten Augen und das dunkle Haar, sondern anscheinend auch ihre unkontrollierten Wutausbrüche. Pöppi wirkte auf den ersten Blick wie eine kleine zierliche Japanerin. Meistens war sie liebenswürdig und charmant, konnte sich aber, wenn sie angegriffen wurde, oder noch schlimmer, ihre Kinder, in einen spuckenden Vulkan verwandeln. Franz hingegen war eher bedächtig. Allerdings konnte auch er sehr eigensinnig sein. Er sah aus wie ein Seemann. Blau-graue Augen, wie das Meer, schien er immer prüfend den Horizont zu beobachten. Er hatte eine kräftige, gebogene Nase und einen wohlgeformten Mund, über dem er einen Schnurrbart trug. Sein Kinn verriet viel Eigenwilligkeit und Energie. Er war nicht sehr groß, etwa 1,73 m und doch von kräftiger Statur. Man tat besser daran, sich nicht mit ihm anzulegen.

Im Moment aber standen sich die Eheleute als zwei ebenbürtige Gegner gegenüber. Äußerlich David und Goliath, aber in ihrem Kampfgeist gleich stark.

In diese hoch explosive Atmosphäre platzte nun Jonny herein. Er sah seinem Vater so ähnlich.

Er kam aus der Schule und fragte unbedarft: „Was ist denn hier los?“

Jetzt hatten die beiden Kampfhähne ihr Ventil gefunden.

Franz brüllte: „Das lass man unsere Sorgen sein, damit hast du nichts zu tun.“

Und Pöppi schrie: „Wasch deine Hände, wir wollen essen.“

Einzug bei einer Witwe

Franz hatte eine Erfindung gemacht und sein ganzes Geld in diese gesteckt. Als er es beim Patentamt anmelden wollte, stellte sich leider heraus, dass diese Erfindung schon von einer anderen Person in ähnlicher Ausführung erfunden war. Die Folge: Die Familie musste ihre schöne Wohnung aufgeben und vorübergehend, so hofften sie jedenfalls, in eine billigere Bleibe ziehen. Das Einzige infrage kommende waren zwei Zimmer bei einer alleinstehenden Witwe. Diese konnte ihre große Wohnung nur von ihrer kleinen Witwenrente nicht mehr bezahlen.

Die Witwe selbst hatte keine Kinder und war zuerst geschockt, dass jetzt gleich zwei bei ihr einziehen sollten. Nach kurzer Zeit allerdings war Inge ihr so ans Herz gewachsen, dass sie regelrechte Omagefühle für sie entwickelte. Sie war gelernte Schneiderin und so dauerte es nicht lange, bis sie das Mädchen mit den schönsten Kleidern ausstattete. Mit dem Jungen konnte sie allerdings nicht viel anfangen.

Zu allem Unglück war Pöppi erneut schwanger geworden. Sie konnte und wollte unter keinen Umständen ein weiteres Kind und irgendwie gelang es ihr, eine Abtreibung vorzunehmen. Da die Nationalsozialisten seit zwei Jahren am Ruder waren, war es eine gefährliche Situation. Es musste alles sehr geheim passieren und das alles in dieser behelfsmäßigen Unterkunft. Die arme Witwe Klemmer war total überfordert, also rückten Pöppis Schwestern und Mutter an. So viele Frauen auf einmal, das löste bei Franz Panik aus und fluchtartig verließ er die Wohnung. Da die Witwe nur im Wege stand und nicht zu gebrauchen war, vertraute man ihr Inge an. Die Frauen wollten beide aus dem Haus haben und so schickten sie die beiden zum Einkaufen.

Es ließ sich auch ganz gut an, bis die Kleine eine Murmel aus Ton fand. Sie war schön glatt und rund, also wurde sie zur Probe erst einmal in den Mund gesteckt. Leider blieb sie dort nicht lange. Irgendwie hatte Inge sie verschluckt. Ob es der Verlust oder der Schreck war, blieb ungeklärt. Jedenfalls hob Inge ein fürchterliches Geschrei an. Die ohnehin gestresste Witwe verlor nun ganz die Nerven. Sie rannte mit dem schreienden Bündel schnurstracks nach Hause, um dort das Chaos perfekt zu machen. Pöppi bekam diese Aufregung ganz und gar nicht. Für kurze Zeit beherrschte ihre Tochter mal wieder das Spielfeld. Da sie aus dem schreienden Wesen nichts heraus bekommen konnten, und ein Arzt zu dem Zeitpunkt nicht ins Haus kommen durfte, wurde Inge mit warmer Milch vollgepumpt in der Hoffnung, dass dadurch die Kugel nach unten transportiert wurde. Zur Kontrolle wurde sie auf den Nachttopf gesetzt. Weil ihr Darm auf derartige Blitzaktionen nicht eingestellt war, passierte auch nichts. Inges Energien waren nun aufgebraucht, die Murmel hatte sie inzwischen vergessen. Voll gepumpt von der vielen Milch war sie müde und wollte nur noch schlafen. Da sie drohte, vom Topf herunter zu fallen, steckte man das Kind kurzerhand ins Bett. Irgendwie wird die Kugel dann wohl ihren natürlichen Lauf genommen haben. Obwohl sehr viel später, als Inge erwachsen war, und bei ihr ein Gallenstein festgestellt wurde, überlegte sie für einen kurzen Moment, ob das vielleicht ihre Murmel sein könnte. Was natürlich totaler Quatsch war.

Ein missratener Weihnachtsmann

Weihnachten rückte immer näher und sie wohnten immer noch bei der Witwe. Franz überlegte, wo er für Inge einen Weihnachtsmann auftreiben konnte. Jonny war für so etwas natürlich schon zu alt.

Seine Kollegen hatten alle Kinder und am Heiligabend keine Zeit. Dann hatte er eine geniale Idee. Er hatte einen Freund, der alleinstehend war. Vielleicht war es sogar ein Partner für die Witwe. Da es eine Überraschung werden sollte, erzählte er niemanden davon, noch nicht einmal seiner Frau. In der Gaststätte am Stammtisch wurde die Sache dann abgemacht.

Eines hatte Franz allerdings bei dieser Angelegenheit nicht berücksichtigt. Sein Freund, der lange Zeit in Indien als Ingenieur tätig gewesen war, hatte aufgrund einer obskuren Krankheit seine Stimme verloren. Vielleicht war Franz dieser Umstand auch nicht mehr so bewusst, denn er verstand ihn ganz gut. Außerdem redeten die beiden sowieso nicht viel miteinander. Franz jedenfalls war sehr zufrieden mit sich und sah dem Heiligabend voller Erwartungen entgegen.

Der Tannenbaum war geschmückt, Pöppi hatte das Essen fast fertig, die Kinder waren schon gut angezogen und der Tisch festlich gedeckt. Frau Klemmer hatte sich zu ihnen gesellt und eigentlich konnte es nun losgehen. Nur Franz, der normalerweise immer der Erste am Tisch war, benahm sich sonderbar fahrig und nervös. Als Pöppi ihn fragte, was denn los sei, grummelte er nur unverständlich vor sich hin. Es klingelte an der Haustür und Franz sprang sofort auf und eilte hinaus. Die Frauen sahen sich erstaunt an. Wer mochte am Heiligabend vor der Tür stehen? Und wieso rannte Franz zur Tür? Das war doch alles schon sehr eigenartig und befremdlich. Er kümmerte sich doch sonst auch nicht darum.

Ja, und dann nahm das Grauen seinen Lauf. Besagter Freund, noch nie als Weihnachtsmann tätig gewesen, hatte sich erst einmal Mut antrinken müssen und wurde von Franz schwankend in die Stube geführt. Vor sein Gesicht hatte er sich eine Pappmaske gebunden, die zu allem Überfluss auch noch etwas schief saß. Eine Rute ergänzte sein sonderbares Aussehen. Mit dieser fuchtelte der Riesenkerl nun vor Inges Nase herum und gurgelte etwas Ähnliches wie artig sein, hervor. So etwas Schreckliches hatte Inge in ihrem bisherigen Leben noch nicht erlebt. Voller Panik begann sie an zu schreien und flüchtete ängstlich unter die langen Röcke der Witwe. Dort krallte sie sich voller Furcht in die Beine der armen Frau fest. Worauf diese nun ebenfalls zu schreien anfing. Pöppi, die sich bis dahin in einer Art Schockzustand befand, zischte erst ihren Mann wütend an, und dann zu der Witwe:

„Hören Sie doch endlich mit ihrem furchtbaren Gekreische auf!“

Die sonst so prüde Frau hob ihre Röcke hoch und zeigte auf das immer noch schreiende Gör. Resolut holte Pöppi das verängstigte Kind hervor. Inge aber sah den Bösewicht immer noch da stehen und merkte, sie war der Gefahr noch nicht entronnen. Also flutschte sie geschwind unter den Tisch und hielt sich krampfhaft am Tischbein fest. Die Mutter hatte jedoch jetzt die Faxen dicke und begann an Inges strammen Beinen zu zerren, um sie wieder hervor zu holen. Doch sie hatte nicht mit so heftigem Widerstand ihrer Tochter gerechnet. Der ganze Tisch begann sich zu bewegen und so ließ Pöppi von ihrer Tochter ab. Inzwischen war Franz wohl klar geworden, dass das Ganze wohl keine sehr gute Idee gewesen war und versuchte nun seinerseits, seinen widerspenstigen Freund zur Tür hinaus zu bugsieren, was sich als nicht so ganz einfach erwies, denn letzten Endes hatte man ihn eingeladen und er hatte sich auf diesen Abend und das schöne Essen gefreut. Auf keinem Fall wollte er nun die warme Stube mit den herrlichen Gerüchen verlassen und so setzte er sich zur Wehr. Außerdem wo sollte er nun am Heiligabend hin und so ging das Gerangel noch eine Weile weiter. Franz kam dabei ganz schön ins Schwitzen und hatte dabei wohl auch ein schlechtes Gewissen aber schließlich gelang es ihm doch, den missratenen Weihnachtsmann vor die Tür zu setzen.

Von Freude konnte nun wirklich keine Rede mehr sein. Pöppi begann nämlich jetzt mit Franz Klartext zu reden. In weiser Hinsicht erwiderte er lieber nichts. Als er aber sah, wie sich sein zwölfjähriger Sohn auf dem Sofa vor Lachen den Bauch hielt, brüllte er den unschuldigen Jungen an:

„Wenn du nicht sofort mit deinem blöden Gelächter aufhörst, setzt es was!“

Leider war es gar nicht so einfach in dieser irren Situation das Lachen einzustellen. Das Ganze konnte man wohl als „Schöne Bescherung“ bezeichnen, wobei die Bescherung allerdings dann erst am nächsten Tag stattfand.

Die arme Witwe hatte sich das Fest im trauten Familienkreis wohl auch etwas feierlicher vorgestellt.

Der Fall in die Mistkuhle

Man schrieb jetzt das Jahr 1937 und die Wirtschaft begann allmählich sich zu erholen. 1920 gab es noch über 7 Millionen Arbeitslose, die inzwischen fast gänzlich wieder Arbeit hatten und somit ihre hungernden, unterernährten Familien wieder normal ernähren konnten. Das war wohl auch eines der Hauptgründe, warum Hitler so einen enormen Zulauf erlebt hatte. Es wurden Autobahnen gebaut (für welchen Zweck, ahnten allerdings die wenigsten. Er brauchte sie als Nachschubverbindungen für seine Truppen.) Hitler hatte in seinen Propagandareden allen Deutschen einen Volkswagen versprochen und so glaubten die Leute, die Autobahnen wären für diesen Zweck gedacht.

Franz erholte sich allmählich von seinen finanziellen Schwierigkeiten und Pöppi wollte für sich und die Familie wieder ein eigenes Heim. Sie wohnten nun schon über ein Jahr bei Frau Klemmer, was mit vier Personen auf engstem Raum nicht immer einfach war. Denn Pöppi war ein sehr eigenständiger Mensch. So beschlossen sie, sich nach einer anderen Wohnung umzusehen. Sie sollte nicht zu weit entfernt von Franz Werkstatt liegen.

Pöppi fand dann auch bald eine Wohnung, die zwar nicht ihren Vorstellungen entsprach, aber so waren sie endlich wieder unter sich und die Wohnung war auch recht preisgünstig. Allerdings war sie sehr klein und lag in unmittelbarer Nähe eines Pferdestalls mit Fuhrbetrieb. Zuweilen machte sich das in sehr starken Gerüchen bemerkbar. Im Parterre war ein Sattler untergebracht, sehr praktisch, da immer wieder Zaumzeug zu flicken war.

Inge mochte den Ledergeruch sehr gern und besuchte den alten Mann oft. Der alte Mann sprach nicht viel, gab aber auf ihre Fragen immer bereitwillig Antworten. Auch mit den übrigen Leuten im Haus schloss sie schnell Freundschaft. Bei Pöppi, die sich nicht gern in ihre Kochtöpfe gucken ließ, verhielt es sich da schon etwas anders. Und Jonny, jetzt 13 Jahre alt, ging schon eigene Wege. Franz konnte seine Werkstatt gut zu Fuß erreichen. Sie waren nicht unbedingt glücklich mit der Wohnung, aber erst einmal zufrieden.

Inge ging noch nicht zur Schule, also hatte sie viel Zeit für die Nachbarschaft. Nebenan wohnten zwei alte Damen, es waren Mutter und Tochter. Die Tochter war wohl so an die Siebzig, und die Mutter mochte um die Neunzig sein. Vor der Mutter hatte Inge große Angst. Sie erinnerte sie an eine Hexe aus dem Märchenbuch, groß, hager und mit dünnem, zotteligem Haar. Von der Tochter bekam Inge immer Pralines zugesteckt.

Vorsichtig fragte Inge jedes Mal: „Ist die andere Oma auch da?“

„Nein, du kannst ruhig herein kommen“, sagte die Tochter und Inge schlüpfte dann beruhigt in die Wohnung. Da die sehr alte Dame die Wohnung überhaupt nicht mehr verlassen konnte, war sie natürlich anwesend und sobald sie auftauchte, rannte Inge voller Panik davon.

Bei schönem Wetter spielte sie auch gern auf dem Platz bei dem Pferdestall, wo sich auch eine große Mistkuhle befand. Eines Tages stromerte sie wieder auf dem Platz herum. Als sie ihren Kopf hob, sah sie die Nachbarn am Fenster stehen, die wie wild mit den Händen und Armen winkten. Inge winkte freudig zurück und bewegte sich dabei rückwärts. Die Freude der Nachbarn wurde immer größer und Inge winkte so lange begeistert zurück, bis sie schließlich rückwärts in die Mistkuhle fiel. Gott sei Dank war sie bis obenhin voll und es dampfte auch noch ganz frisch. Igitt, Inge ekelte sich fürchterlich und schrie sich die Seele aus dem Leib. Erschrocken kamen die Fuhrknechte angerannt, voller Sorge, die Kleine könnte sich verletzt haben. Doch Inge wollte sich nicht auf die Beine stellen lassen und knickte immer ein, also war die Angst der Männer berechtigt. Allmählich kamen sie aber dahinter, dass es purer Eigensinn und Protest war und so bekam Inge dann auch noch ein paar kräftige Klapse auf den Po dazu. Dermaßen bedient und stinkend rannte sie zu ihrer Mutter. Die aber bekam einen Tobsuchtsanfall – wie die Mutter, so die Tochter. So, wie sie war, wurde Inge in die Zinkwanne gelegt, zum Einweichen. Dann wurden das Kind und die Sachen noch einmal gesondert gewaschen.

Anschließend musste die Wohnung dann gründlich gelüftet werden, es dauerte eine ziemlich lange Zeit bis der Gestank wieder verschwunden war.

Jonnys Erkrankung

Der Sommer neigte sich dem Ende zu, als Jonny eines Tages früher von der Schule nach Hause kam. Er hatte hohes Fieber und Pöppi steckte ihn sofort ins Bett. Da sie noch keinen Arzt in der Nähe kannte, erkundigte sie sich bei den Nachbarn. Sie eilte sofort zur Praxis und der Arzt versprach, gleich nach der Sprechstunde zu ihr zu kommen.

Inge wurde derweil bei den Nachbarn untergebracht. Um die Mittagszeit erschien der Arzt und stellte bei Jonny Diphtherie und Scharlach fest. „Ihr Sohn muss sofort ins Krankenhaus.“

Pöppi, die eine heillose Angst vor Krankenhäuser hatte, es war für sie gleichbedeutend mit dem Tod, erklärte entschie den, das käme überhaupt nicht in Frage. Der Arzt spürte wohl, dass er bei ihr auf Granit beißen würde und gab widerwillig nach. So fragte er Pöppi:

„Haben Sie weitere Kinder?“

„Nein“, erklärte Pöppi bestimmt.

Der Arzt gab ihr Anweisungen für die Pflege und versorgte sie mit Medikamenten.

Er versprach, am anderen Tag wieder zu kommen.

In aller Eile packte die Mutter Sachen für ihre Tochter zusammen und als Franz zum Essen nach Hause kam, sagte sie zu ihm:

„Ich habe nichts für dich zum Essen. Du musst bei dem Jungen bleiben. Inge muss zu meiner Mutter.“

Franz schluckte trocken, sah aber ein, dass dies ein Notfall war und fügte sich.

Pöppi holte Inge von der Nachbarin ab und fuhr mit ihr, einige Stationen mit der Straßenbahn, zu ihrer Mutter. Inge, die noch nicht ganz begriff, was los war, freute sich unbändig auf den Besuch bei ihrer Oma.

Doch die fiel aus allen Wolken, als ihre Tochter mit der Enkelin bei ihr auftauchte, so plötzlich und zu so einer ungewöhnlichen Zeit. Nach kurzer Besprechung war alles geregelt und Pöppi eilte wieder von dannen.

Oma hatte einen Kater, Puhs, und einen Hund, Prinz. Der Kater verschwand sofort unter dem Sofa und Prinz knurrte gereizt, als Inge ihn streicheln wollte. Beide Tiere waren nicht an Kinder gewöhnt. So blieb es auch die ganze Zeit über. Oma hatte nur ein Schlafzimmer und eine große Wohnküche, das war alles. Diese klitzekleine Behausung teilte sie noch mit ihrer unverheirateten Tochter Dolly. Als diese abends nach getaner Arbeit nach Hause kam, war sie entsetzt, dass die Kleine mindestens vierzehn Tage mit ihnen in dieser Enge verbrin gen sollte. Oma aber, die glücklich war, ihr Enkelkind für längere Zeit bei sich zu haben, fegte alle Bedenken vom Tisch. In dem Doppelbett, dass sie sich mit ihrer Tochter teilte, wurde eine Besucherritze, also die Mitte der beiden Betten, für Inge hergerichtet.

Als es Abend wurde, bekam die Kleine, die noch nie über Nacht von zu Hause fort war, Heimweh. Sie war gerade am Überlegen, ob sie noch ein bisschen weinen sollte, als gerade zur rechten Zeit der Laternenanzünder auftauchte. Oma wohnte im Parterre und vor ihrem Fenster befand sich eine Gaslaterne, die jeden Abend von Hand angezündet wurde. Der Mann hatte einen langen Stab, womit er die Kette an der Laterne herunter zog und schon ging das Licht an. Alles sah auf einmal sehr gemütlich aus.