Schrei der Erinnerung - Ann Gosslin - E-Book

Schrei der Erinnerung E-Book

Ann Gosslin

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Ein brutales Verbrechen. Ein geheimnisvoller Patient. Eine unbequeme Psychiaterin. Die Psychiaterin Erin Cartwright wird gebeten, einen ungewöhnlichen Fall zu begutachten: Tim Stern soll mit 17 Jahren seine Mutter und seine Schwester brutal ermordet haben. Jetzt könnte er nach fast drei Jahrzehnten freikommen. Als Erin erfährt, dass ihre und Tims Wege sich schon einmal gekreuzt haben, steht sie kurz davor, abzulehnen. Doch je länger sie sich mit dem eigenwilligen Mann beschäftigt, desto größer werden ihre Zweifel an seiner Schuld. Während gleichzeitig der Verdacht in ihr keimt, dass ihre eigene Familie tiefer in die Sache verstrickt sein könnte, als ihr lieb ist …

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Deutsche Erstausgabe

© Ann Gosslin 2020

Titel der englischen Originalausgabe: »The Shadow Bird«,

Legend Press Ltd, 51 Gower Street, London, WC1E6HJ, 2020

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2021

Lektorat: Werner Wahls

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: Mark Owen / Trevillion Images, FinePic®, München

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

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Inhalt

Cover & Impressum

Der menschliche Wahnsinn ist oft eine listige und höchst grausame Sache. Wenn man glaubt, er sei geflohen, hat er sich vielleicht nur in eine noch subtilere Form verwandelt.

Herman Melville

The MeadowsLansford, New York

Februar, Gegenwart

Kapitel 1

Ihr dunkles Haar, offenbar mit einem Küchenmesser abgesäbelt, war das einzige Anzeichen, dass etwas nicht stimmte. Sie trug kein Make-up, schlief in einem schmalen Bett und sah wie ein normales Mädchen aus, das von Jungs und Samstagen im Einkaufszentrum träumte. Doch sobald die Wirkung der Drogen nachließ, würde sie zu dem Albtraum zurückkehren, der sie hergebracht hatte.

Erin legte ihre Finger an das Handgelenk des Mädchens und wartete auf den Pulsschlag. Wie jeder gute Arzt versuchte auch sie ihre Emotionen im Zaum zu halten, doch einige Patienten machten ihr mehr zu schaffen als andere. Hätte ein Mitarbeiter am Ende seiner Schicht den leblos wirkenden Körper des Mädchens nicht in einer Schneewehe am Tor entdeckt, hätte sie die Nacht nicht überlebt. In ihrer Umhängetasche hatte man ein fünfzehn Zentimeter langes Schälmesser, eine Handvoll Haare und zwei Schlüssel an einem einfachen Metallring gefunden. Aber keinen Ausweis, und auch sechs Stunden später gab es noch immer keine neuen Informationen von der Polizei.

Während dieser ersten hektischen Minuten in der Notaufnahme der Klinik nach ihrer Einlieferung hatte Erin ihr das Glitzeroberteil ausgezogen, ihre Strumpfhose zerrissen und verzweifelt versucht, etwas Leben in die gefrorenen Glieder des Mädchens zu reiben. Nur um festzustellen, dass die Haut an Armen und Oberschenkeln mit Schnitten übersät war. Ein Netz aus rautenartigen Zeichen, die wie Schuppen ihre Haut überzogen.

Schneeflocken stoben gegen das Fenster, und sie spürte mehr, als sie sah, dass sich Schneewehen bildeten, die gegen das Glas drückten. Es war noch zu dunkel, sie konnte nicht viel von dem erkennen, was jenseits der gespenstischen, schneebedeckten Sträucher geschah.

Ein Geräusch durchbrach die Stille. Hohe Absätze, die wie Schüsse auf den Steinboden knallten. Erin trat in den Flur und sah eine junge Krankenschwester, die mit einem panischen Ausdruck auf dem Gesicht auf sie zurannte. »Es gibt ein Problem. Ich habe Dr. Westlund angepiept, aber er ist noch immer nicht da.«

Am anderen Ende der Empfangshalle stritt eine Frau in einem kurzen Mantel und schwarzen Lederstiefeln lauthals mit der Krankenschwester. Sie knallte ihre Handflächen auf den Tresen und zischte wütend. Sie war groß, blond, und ihr Mund sah aus wie ein roter Strich.

Erin erstarrte. Konnte das sein? Nein. Sie hielt sich abseits und zögerte, das Herz schlug ihr bis zum Hals.

»Ich möchte meine Tochter sehen. Cassie Gray. Wo ist sie?«

Cassie. Und das war die Mutter des Mädchens. Nicht die warmherzige Frau, auf die sie gehofft hatte. Die Stationsschwester schien die Situation unter Kontrolle zu haben, aber wo war Niels? Für Fälle wie diesen gab es ein Protokoll. Aber er war nicht hier, und das hier konnte nicht warten.

Sie riss sich zusammen und näherte sich dem Tresen. »Ich bin Dr. Cartwright, Ihre Tochter ist außer Gefahr, aber sie schläft jetzt. Könnten Sie vielleicht etwas leiser sprechen …«

Spitze Ohrringe, billiges Parfüm und dieser verbissene rote Mund. Die Frau überragte sie wie eine Walküre. »Was glotzt du so, Tinkerbell?«

Tinkerbell. War es ihre Größe oder der britische Akzent, der etwas in der Frau ausgelöst hatte? Ihr kam eine Antwort in den Sinn, doch Erin verkniff sie sich. Sie war den Umgang mit wütenden Eltern gewohnt. »Ich kann verstehen, dass all das sehr verwirrend für Sie ist, aber bitte versuchen Sie, ruhig zu bleiben …«

»Ruhig? Ich bekomme mitten in der Nacht einen Anruf von irgendeinem Punk, dass meine Tochter in dieser Irrenanstalt ist, und Sie wollen, dass ich ruhig bleibe? Fick dich.« Sie stieß Erin hart zurück und schob sich an ihr vorbei.

Der Schmerz schoss ihren Arm hinunter, und sie keuchte. Noch bevor sie reagieren konnte, hatte die Frau mit ihrem lächerlichen Stiefelgeklapper bereits den halben Gang hinter sich gelassen. Wenn niemand sie aufhielt, würde sie noch die ganze Klinik wecken.

Doch da kam Niels. Fröhlich und putzmunter kam er um sechs Uhr morgens durch den Bogengang des Atriums. Er trug ein perfekt gebügeltes, oxfordblaues Hemd, eine hellbraune Hose, und sein Haar war akkurat gescheitelt. Hatte er deshalb so lange gebraucht, weil er noch vor dem Spiegel gestanden und sein Haar gekämmt hatte?

Als er sich Cassies Mutter näherte, hatte sein Gesicht bereits einen angemessen sorgenvollen Ausdruck angenommen. »Ich bin Dr. Westlund«, sagte er und streckte ihr seine Hand entgegen. »Keine Sorge, Ihre Tochter ist in besten Händen.«

Noch bevor er sie berühren konnte, zuckte die Frau zurück. »Glauben Sie bloß nicht, dass ich es zulasse, dass Sie ihr den Kopf verdrehen. Ich will sie sehen.«

»Warten wir, bis sie wach ist, in Ordnung?«, sagte Niels und schnippte einen Fussel vom Ärmel seines weißen Kittels. »Wenn es nach mir ginge, Mrs Gray, würde ich Ihnen ja gestatten, einen kurzen Blick in ihr Zimmer zu werfen, nur damit Sie beruhigt sind. Aber leider mach ich hier nicht die Regeln.«

»Ich habe ein Recht, sie zu sehen. Ich bin ihre Mutter«, sagte sie, und in dem gedämpften Licht wirkte ihr Gesicht totenbleich.

»Tut mir leid«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Sie sollten jetzt nach Hause gehen und sich ausruhen. Wir rufen Sie an, sobald wir mehr wissen.«

Mit entschlossenem Blick schob sie sich an Niels vorbei und ging weiter den Flur hinunter, wobei sie immer wieder den Namen ihrer Tochter rief. Doch sie kam nicht weit, ein Sicherheitsmann trat aus dem Schatten und versperrte ihr den Weg. Einen Moment lang schien sie sich auf ihn stürzen zu wollen, blieb dann aber vor ihm stehen und drehte sich aufgebracht zu ihnen um.

»Okay, ich gehe. Sie können Ihre Schläger zurückpfeifen.«

Dieser Mund, dieses höhnische Grinsen. Erin blieb fast das Herz stehen. Erst nachdem die Frau durch das Eingangstor hinausgeleitet worden war, konnte sie wieder normal atmen.

Cassie.

Sie eilte zum Zimmer des Mädchens. Noch schlief sie, ihr fahles Gesicht umrahmte ein trauriges Büschel Haar. Erin zog ihr die Decke bis zum Kinn hoch. »Hier bist du sicher«, flüsterte sie, »ich werde dich beschützen«, und ein Kribbeln durchfuhr ihre Handflächen.

Das wünschst du dir. Doch niemand ist sicher.

Wieder diese Stimme – wessen Stimme? Sie hielt sich die Ohren zu, um den Ton zu dämpfen. Cassie war in Sicherheit. Natürlich war sie das. Solange sie in der schützenden Umarmung des Meadow blieb. Draußen in der Welt, da begannen die Probleme.

Von der Fensterbank oben in ihrem Büro blickte Erin auf die verschneite Landschaft hinaus, die sich in der Morgenröte still unter ihr ausbreitete. Es war so ruhig, dass man eine Uhr hätte ticken hören, wenn es denn hier eine geben würde, die den Lauf der Zeit anzeigte. Der scharlachrote Kardinalvogel, der vorbeiflitzte, war der einzige Farbfleck in der weißen Winterlandschaft. Das steinerne Herrenhaus glich in dieser Stille eher einem englischen Landsitz denn einer psychiatrischen Klinik.

Ihre Augenlider wurden schwer. Nur ein paar Stunden Ruhe hatte sie sich seit gestern Abend gegönnt, auf dem harten Ledersofa in einer Ecke ihres Büros. Nicht unbedingt ein günstiger Start in einen Tag, der eigentlich ein Freudentag werden sollte. Nach drei Monaten intensiver Behandlung durfte Sara, eine ihrer Patientinnen, die sie beinahe verloren hätten, nach Hause gehen.

»Tock, tock.« Niels stand in der Tür und schwenkte einen Umschlag. »Der ist gestern angekommen. Ich wollte ihn dir schon früher vorbeibringen, aber bei all dem Krawall gestern Abend und heute Morgen habe ich es einfach vergessen.« Er durchquerte mit zwei schnellen Schritten den Raum. »Ich habe bereits letzte Woche die Zustimmung hierzu erhalten, vorab vom Vorstand abgesegnet.«

Sie glitt von der Fensterbank und nahm den Umschlag entgegen. Sie ahnte, was sich darin befand. Es ging vermutlich um eine dieser ehrenamtlichen Aufgaben, denen sie bei ihrer Einstellung zugestimmt hatte. Grundsätzlich eine durchaus löbliche Initiative, doch bis jetzt hatte sie es noch immer geschafft, jedem Fall aus dem Weg zu gehen. Außerdem blieb ihr neben Klinikalltag und ihren eigenen Patienten, um die sie sich kümmern musste – war das nicht der Grund, warum der Vorstand sie aus London abgeworben hatte? –, wenig Zeit für etwas anderes. Sie warf einen Blick auf den Absender: Psychiatrische Einrichtung Greenlake, Atherton, New York.

Greenlake? Der Name klang vertraut, aber die Einrichtung hatte früher anders geheißen. Atherton State Asylum for the Criminally Insane, so hieß sie richtig. Früher wurden Heime in psychiatrische Kliniken umgewandelt, damit sie ihren schlechten Ruf verloren, auch wenn die Namensänderung meistens reine Augenwischerei war. »Ist das nicht eine forensische Einrichtung?«

»Genau«, sagte er und zog die Augenbrauen hoch. »Ganz deine Richtung.«

Sie ließ den Umschlag fallen. »Ich bearbeite keine Kriminalfälle«, sagte sie und starrte auf die Unterlagen auf ihrem Schreibtisch, um seinem Blick auszuweichen. »Nicht mehr. Und ganz sicher nicht, wenn es sich um gewalttätige, gestörte Männer handelt.«

»Tu mir den Gefallen und nimm das hier an«, sagte er und schob sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund. »Der Vorstand trifft sich kommende Woche. Es wird unangenehm werden, wenn ich ihnen mitteilen muss, dass du dich noch immer nicht für ein Projekt angemeldet hast.«

Er hatte recht. Ein gewisses Maß an ehrenamtlichem Engagement war Bedingung für diesen Job gewesen, und sie hatte bereits drei Projekte abgelehnt. Dennoch, in ihrem Vertrag stand nichts darüber, dass es in diese Richtung gehen musste.

»Vielleicht hilft es dir ja zu wissen, dass der Direktor von Greenlake ausdrücklich nach dir gefragt hat«, sagte Niels, setzte sich halb auf ihren Schreibtisch und zermalmte das Bonbon zwischen seinen Zähnen.

»Nach mir?« Wer wusste überhaupt, dass sie hier war?

»Ein gewisser Harrison hat gesagt, du wärest perfekt dafür.«

Ihr Auge begann zu zucken. Sie kannte niemanden mit dem Namen Harrison. Sie wartete, bis Niels’ Schritte auf dem Gang verklungen waren, dann ging sie mit der Greenlake-Akte zum Fenster, wo das Licht besser war. Sie wollte sie eigentlich nicht sofort lesen, aber vielleicht war es besser, schnell zu wissen, was auf sie zukam. Mit einem Brieföffner schlitzte sie die Klappe auf und schnitt sich dabei in den Finger. Auf ihrer Haut bildete sich ein Blutstropfen, sie leckte ihn weg.

Sehr geehrte Dr. Cartwright … Ich schreibe Ihnen im Namen des Staates New York, um Sie in der Angelegenheit eines Patienten um Ihre Hilfe zu bitten. Das war schlimmer, als sie vermutet hatte. Für einen in der Forensik untergebrachten Patienten, der kurz vor seiner Entlassung stand, wurde ein unabhängiges psychiatrisches Gutachten benötigt: Weiß, männlich, 43 Jahre alt. Seit 1977 wegen des Mordes an seiner Mutter und seinen zwei Schwestern in Haft. Der Brief war von einem gewissen Dr. Robert K. Harrison unterzeichnet. Wie kam er dazu zu behaupten, sie zu kennen? Sie war erst seit einigen Monaten wieder im Land. Der Name sagte ihr nichts.

Sie setzte sich wieder auf die Fensterbank und lehnte sich an die Scheibe. Der schmiedeeiserne Pavillon inmitten der schimmernden Schneefelder glich einem riesigen, vom Himmel gefallenen Vogelkäfig. Weiß, männlich, 43 Jahre alt. Mutter und Schwestern brutal erschlagen. Ein Patient mit dieser besonderen Geschichte kam für sie auf keinen Fall infrage.

Es war unwahrscheinlich, dass Niels wusste, welche Rolle sie im Fall Leonard Whidby gespielt hatte, auch wenn er vielleicht bis in die Staaten Wellen geschlagen und von den Zeitungen hier aufgegriffen worden war. Und sie hatte nicht vor, es ihm zu erzählen. Warum alte Wunden aufreißen? Eines jedenfalls war sicher. Sie war nicht nach zwanzig Jahren in die USA zurückgekehrt, um hier mit kriminellen Geisteskranken zu arbeiten.

Kapitel 2

Ein Klopfen an der Tür riss Erin aus ihren Gedanken und brachte sie in die Gegenwart zurück. Gerade noch rechtzeitig, um Sara Henley zu begrüßen, die von ihrem Betreuer in ihr Büro geführt wurde. Sie schob die Greenlake-Akte unter die Schreibunterlage und empfing das junge Mädchen mit einem Lächeln.

Vor drei Monaten wäre Sara beinahe gestorben, doch dann hatte ihr Leben eine spektakuläre Wende genommen. Erin und das gesamte Klinikpersonal waren begeistert und zugleich erleichtert, dass die bahnbrechende Behandlung der Identitätsorientierten Psychotraumatherapie wie erhofft gewirkt hatte. Doch nun hatte sich über den freudigen Anlass der Schatten des Greenlake-Falls gelegt.

»Komm rein, Sara«, sagte sie und führte das Mädchen zu zwei übergroßen Sesseln, die mit einem fröhlichen apricotfarbenen Paisleystoff bezogen waren. Auch wenn sie immer noch ein wenig zerbrechlich wirkte und ihre dürren Beine in den rosafarbenen Leggings wie Zahnstocher aussahen, hatte Sara große Fortschritte gemacht. Eine speziell auf sie zugeschnittene Musiktherapie und Körperarbeit sowie nahrhafte Mahlzeiten des hauseigenen Küchenchefs und Erins besonderer Therapieansatz hatten sie vor dem Schlimmsten bewahrt.

Der letzte Tag eines Patienten war immer ein Erfolg, den es zu feiern galt. Dennoch machte Erin sich Sorgen, dass Saras hart erkämpfte Gesundheit Stück für Stück in dem Moment wieder auf dem Spiel stehen könnte, in dem sie die schützenden Mauern der Klinik verließ. Belastet durch unausgesprochene Erwartungen und überfürsorgliche Eltern, die oft mehr Schaden anrichteten, als sie von Nutzen waren. Das häusliche Umfeld konnte oftmals Monate sorgfältiger Arbeit zunichtemachen.

Während Sara sich in den Sessel setzte und ihre Beine unter sich einzog, driftete Erin in Gedanken zur Greenlake-Akte, die wie ein Skorpion auf ihrem Schreibtisch lauerte und bereit war zuzuschlagen. Weißer Mann, 43 Jahre alt. Mutter und Schwestern brutal erschlagen. Sie zwang sich, ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Mädchen vor ihr zu richten. Was sie während dieses wichtigen Entlassungsgesprächs zu Sara sagte, würde den Ton setzen für den Rest ihrer Genesung. Sie atmete tief durch. Vermassle das nicht.

»Das ist ein großer Tag für dich«, begann sie.

Saras Lippen bebten. Es war offensichtlich, dass sie Mühe hatte, ihre Tränen zurückzuhalten, während sie ein weiches Kissen auf ihrem Schoß umklammert hielt. Wo war sie in Saras Alter gewesen? In einem verschlossenen Raum mit fleckigen Wänden. Der Gestank der Verzweiflung. Körperlose Gesichter, die durch eine schmale Glasscheibe blickten. Keine weichen Kissen oder lächelnden Therapeuten.

Erin faltete die Hände in ihrem Schoß. »Worauf freust du dich, wenn du wieder nach Hause kommst?«

Saras Augen hatten den sanften Grauton eines Taubenflügels. »Dass ich meinen Hund knuddeln kann. Und auf den Kunstunterricht bei Mister Mulder. Er ist der coolste Lehrer an der Schule.« Sie wurde rot und zupfte an einem losen Faden an ihrem Ärmel.

Ein Windstoß rüttelte an den Fenstern und erschreckte beide; Erin eilte hin und zog die Vorhänge zu, der Himmel war nun wolkenverhangen. Sie registrierte die Stimmung im Raum, ein Wechselbad der Gefühle zwischen Angst und Optimismus; sie berührte Sara kurz an der Schulter, bevor sie sich wieder setzte.

»Wir haben eine außergewöhnliche Reise hinter uns, nicht wahr?« Sie hatten Menschenfresser bekämpft, Dämonen überlistet und Drachen getötet. Jedenfalls schien es ihnen so.

Beide starrten auf die flackernde Kerze, die zwischen ihnen stand. Es war eine große Herausforderung, am Tag der Entlassung den richtigen Ton zu treffen. Einige ihrer Kollegen entschieden sich für eine nüchterne Herangehensweise, in der Hoffnung, eine vollständige Kernschmelze zu verhindern. Erin hingegen ließ sich lieber von ihrer Intuition leiten, und so viel war klar, Sara brauchte mehr als einen Klaps auf die Schulter und ein fröhliches »Los geht’s!«

Auch wenn es kein endgültiger Abschied war. In den nächsten sechs Monaten würde Sara auch weiterhin ambulant betreut werden und einmal in der Woche von ihrem Heim auf Long Island in die Klinik fahren. Die ersten Wochen zurück in der Familie waren am schwierigsten, das Risiko eines Rückfalls hoch. Nach Hause! Eigentlich sollte das nicht so schwer sein, doch das war es, immer.

Während Sara versuchte, ihre Tränen wegzublinzeln, glitt ihr Blick zu dem Bücherregal, auch wenn dort nichts Interessantes zu sehen war. Keine Fotos. Nichts Persönliches. Erin fand, dass es besser war, ein leeres Blatt zu sein, als es den Patienten zu überlassen, ihr Vorzüge oder Macken anzudichten, die sie nicht hatte.

Durchlebte Sara noch einmal die Ereignisse, die sie hergebracht hatten? Sie war seit ihrem zwölften Lebensjahr krank, hatte ein Viertel ihres Körpergewichts in einem einzigen Jahr verloren. Ihre Mutter war wütend (iss doch einfach!), ihr Vater verzweifelt. So hatte man sie nach Meadows gebracht und in die Obhut von Greta Kozani gegeben. Ein kostspieliger Fehler. Gretas ungeschickter Therapieansatz hatte Sara nicht weitergebracht. Und auch wenn sie keine Beweise hatte, so vermutete Erin, dass es zu Gretas haarsträubenden Methoden gehörte, der Patientin Scham für ihr Verhalten einzureden.

Als könnte sie Gedanken lesen, sagte Sara schließlich: »Ich bin froh, dass ich zu Ihnen wechseln konnte.«

Dass Sara noch nicht bereit war, sie zu verlassen, war offensichtlich. Dennoch war es an der Zeit. »Ich habe etwas für dich«, sagte Erin und holte eine schwarze Samtkiste von ihrem Schreibtisch. Geschenke an Patienten verstießen gegen die Regeln, aber dieses Geschenk war so klein, dass wohl kaum jemand Aufhebens darum machen würde. Ein Eckchen der Greenlake-Akte lugte unter der Schreibtischunterlage hervor. Mutter und Schwestern brutal erschlagen. Erin schob die Akte aus ihrem Blickfeld.

Sie legte die Schachtel in Saras Hand. »Nur zu, mach sie auf.«

Eingebettet in ein Stück weißen Satin, schimmerte ein grün-goldener Paradiesvogel, dessen Flügel im Licht glitzerten. Sara hob die feine Goldkette hoch und hielt sie in die Luft. »Wie hübsch, darf ich sie anlegen?«

»Warte lieber, bis du zu Hause bist«, sagte Erin und lächelte. »Es soll dich daran erinnern, wie weit du gekommen und wie stark du bist.«

Auch Erin trug einen Talisman an einer Kette versteckt unter ihrem marineblauen Wollpullover. Ein silberner Anhänger in Form eines Quetzals, den ihr ein Heiler geschenkt hatte, den sie auf einem Straßenmarkt in Córdoba kennengelernt hatte. Porqué estas triste? Warum bist du so traurig?, hatte er sie gefragt und ihr den Anhänger in die Hand gedrückt. Siebzehn war sie gewesen und auf der Flucht. Seitdem hatte sie ihn nicht mehr abgelegt.

Am Empfang unterhielt sich ein Mann in einem blau gestreiften Hemd mit Greta Kozani, die ein schwarzes Kreppkleid trug, das besser zu einer Beerdigung als zu einer Klinik passte. Sie klopfte dem Mann kokett auf den Arm. Erin spürte, wie der Ärger in ihr hochstieg. Wo war Saras Mutter? Dass sie sich nicht die Mühe machte, ihre Tochter abzuholen, war ein schlechtes Zeichen, aber auch keine Überraschung. Bei den Familienberatungen hatte sie sich verschlossen und unnachgiebig gegeben. Erin hoffte nur, dass Saras Vater ihr die Liebe und Akzeptanz zuteilwerden ließ, die Sara so dringend brauchte.

»Ich kann Ihnen gar nicht genug danken, Dr. Kozani. Ihnen und Dr. Cartwright natürlich«, sagte er, als er Erin sah. »Es ist fantastisch, Sara wieder so zu sehen, wie sie früher einmal war. Meine Frau und ich sind sehr erleichtert.«

Erin stieg die Hitze ins Gesicht. Natürlich war es kindisch, dass ihr das etwas ausmachte, trotzdem war es wieder einmal typisch und gleichzeitig beschämend, dass Greta die Lorbeeren für Saras Genesung für sich beanspruchte. Hätte Erin den Fall nicht übernommen, wäre Sara gestorben.

Sie schaute durch das Guckloch des Beobachtungsraums. Cassie war wach. Ihre dunklen Augen wanderten vom Fenster zur Tür. Hoffte sie, ausbrechen zu können? Aber es gab keinen Ausweg, nicht aus diesem Raum. Weder baumelnde Seile noch scharfe Gegenstände, und das Fenster war aus Sicherheitsglas. Es würde schwer für Cassie werden, sich hier drinnen selbst zu verletzen. Laut Gesetz durfte sie zweiundsiebzig Stunden lang festgehalten werden. Davon waren dreizehn bereits verstrichen, und die Uhr tickte weiter.

Sie öffnete die Tür. Die fahle Wintersonne erhellte den Raum kaum. Draußen im Flur erklang der Ton einer tibetischen Messingschale, der den Beginn des Mittagessens anzeigte. Erin zog einen Stuhl zum Bett.

»Du hast uns gestern Abend einen ziemlichen Schrecken eingejagt«, sagte sie.

Cassie hustete und kämpfte sich in Sitzposition hoch. »Wo bin ich?«

Erin reichte ihr einen Becher Wasser. »Du bist in einer Klinik, sie heißt The Meadows.«

Der Schock darüber war ihr ins Gesicht geschrieben. »Sie meinen, ich bin eingesperrt? Wie eine Verrückte?«

Zum Glück war Erin ohne Arztkittel erschienen. Ein weißer Kittel regte neue Patienten oft unnötig auf. Hatten sie nicht alle schon einmal in einem Horrorfilm gesehen, wie wehrlose Seelen mitten in der Nacht von Männern in weißen Kitteln verschleppt wurden? »Du bist nicht eingesperrt. Und niemand hier ist verrückt.«

»Ich habe jemanden schreien gehört.«

Erin suchte nach einer Ausrede. »Eine unserer Mitarbeiterinnen ist auf dem Eis ausgerutscht und hat sich den Knöchel verstaucht«, sagte sie, doch das klang selbst in ihren Ohren lahm. Sie hatte noch nie gut lügen können.

»Okay, wie auch immer.« Cassie ließ sich zurück in die Kissen sinken. Sie griff sich an die kurzen Haare. »Sie wird mich umbringen.«

»Lonnie? Du meinst deine Mutter?«

»Pflegemutter. Sie behauptet gerne, dass sie meine echte Mutter ist. Sie spielt sich wie die verdammte Mutter Teresa auf«, sagte Cassie und zupfte an der blanken Haut an ihrem Daumen. »Dabei droht sie mir immer, mich einsperren zu lassen.«

Erin wurde unruhig. Wenn Cassie die Wahrheit sagte, war diese Lonnie schlimmer, als sie dachte. Sie griff nach ihrer Hand, doch Cassie zuckte zusammen und zog sie schnell zurück.

»Kannst du mir etwas über gestern Abend erzählen?«

Das Mädchen schwieg und sah auf den brüchigen Nagellack auf ihren Nägeln herab. »Wenn ihr mich hier nicht eingesperrt habt, kann ich ja nach Hause gehen, oder?«

»Jetzt noch nicht. Wir müssen erst verstehen, was gestern passiert ist.«

»Ich war völlig fertig, das war ja offensichtlich«, sagte sie und keuchte. »Aber jetzt geht es mir besser.«

Um ihr etwas Raum zu geben, ging Erin zum Fenster und dachte über ihren nächsten Schritt nach. Es war nicht leicht, jemanden dazu zu bringen sich einzugestehen, dass er Hilfe brauchte, dabei war dieser erste Schritt unerlässlich. Wenn Cassie Erin nicht an sich heranließ, würde sie sich auch in Zukunft allen Versuchen widersetzen, sie zu erreichen.

»Es geht dir nicht gut.«

Cassie vermied es, sie anzusehen.

»Du wurdest bewusstlos im Schnee vor dem Eingangstor gefunden. Es war reiner Zufall, dass einer unserer Mitarbeiter dich da entdeckt hat«, sagte Erin und wartete, bis das Mädchen das verinnerlicht hatte. »Wenn er dich nicht gefunden hätte …«

Schweigen.

»Wolltest du sterben?«

»Nein«, sagte Cassie und sah auf. »Kann ich jetzt nach Hause gehen?«

Von ihrem Platz am Fenster aus beobachtete Erin die vorbeiziehenden Wolken, die frischen Schnee mit sich brachten. »Du hast Alkohol und Pillen gemixt«, sagte sie und machte eine Pause. »Eine gefährliche Kombination.«

Cassie schloss die Augen und wandte sich ab.

Nun kam der schwierigste Teil. Sie musste abwarten, bis der Verdrängungsmechanismus zu bröckeln begann und aufbrach. Doch wenn sie keine Verbindung zur Patientin herstellen konnte, würde sie nicht weiterkommen. Ein Großteil ihrer Arbeit bestand darin, zu beobachten und abzuwarten, bis eine Brücke auftauchte, ein Licht aus dem Dunkel, auf das sie hoffen konnte.

Aber Cassie sagte nichts mehr. Sie schlüpfte unter die Decke und drehte sich mit dem Gesicht zur Wand. Das versetzte Erin einen Stich, und Enttäuschung machte sich in ihr breit. Sie ging zur Tür und zögerte in der Hoffnung, Cassie würde sie zurückrufen. Wenn die Zeit abgelaufen und sie bis dahin nicht zu ihr vorgedrungen war, würde Cassie zur Tür hinausgehen und ihnen entgleiten. Dann wäre jede Chance, sie zu retten, vertan.

Kapitel 3

Erin schrieb ein paar Notizen in Cassies Akte. Sie ist wach, wütend und will nicht reden.Was verheimlicht sie? Im Musikzimmer klimperte jemand heftig auf dem Klavier. Erin konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Nicht mit der Greenlake-Akte, die noch immer auf ihrem Schreibtisch lag. Sie zog sie heran und klappte sie auf. Ein unscharfes Foto wie das eines schlechten Fahndungsfotos klebte an der Innenseite des Einbandes. Schlammbraunes Haar. Tief liegende Augen von undefinierbarer Farbe. Eine sichelförmige Narbe über dem linken Wangenknochen. Auf der ersten Seite eine Zusammenfassung der Verhaftung und des anschließenden Prozesses sowie eine Anamnese des Patienten.

Im Laufe der Jahre hatte der Patient alle möglichen Diagnosen erhalten – reaktive Psychose, schizoaffektive Störung, Schizophrenie, paranoide Persönlichkeitsstörung,paranoide Schizophrenie. Als wären seine Ärzte Umherirrende auf der Suche nach einem Weg durch die Dunkelheit. Als letzter Schritt auf seinem Weg zum Gesuch auf Entlassung sollte der Patient Timothy Warren Stern Jr. am 30. Juni vor dem Richter erscheinen.

Nervös warf sie die Akte zurück auf den Schreibtisch. Warum das? Warum jetzt? Inzwischen war sie seit fast vier Monaten wieder zurück in den Staaten und hatte ihre Angst vor der Rückkehr fast überwunden. Dabei half auch, dass alle glaubten, sie sei in England geboren und dort aufgewachsen. Eine riskante Strategie, aber ein Weg, um lästigen Fragen über ihre Familie und eine Vergangenheit, die sie vergessen wollte, aus dem Weg zu gehen.

Ihre neue Rolle in den Meadows entsprach jedermanns Vorstellung von einem Traumjob, und sie war sich bewusst, dass sie in den ersten Wochen einen guten Eindruck machen musste. Die Klinik war hervorragend ausgestattet und erlaubte ihr, jedes Mädchen in Not zu behandeln, ganz unabhängig von der Zahlungsfähigkeit der Eltern. Ganz im Gegensatz zur Thornbury-Klinik in London, der nur begrenzte finanzielle Mittel zur Verfügung standen. Und es war eine große Entlastung, endlich dem Druck des dortigen Direktors entkommen zu sein. Julian war vielleicht kein Tyrann, aber ein Dompteur, der es nie versäumte, einem klarzumachen, welchen Platz man in der Rangordnung hatte, und dass man es sich besser zweimal überlegte, bevor man ihn herausforderte.

Sie hätte überglücklich sein sollen, doch der Fall Greenlake drohte alles zu torpedieren. Sie hielt das Foto ins Licht. Blasse Haut. Starrer Blick. Genau wie der Whidby-Fall. Damals hatte sie noch nicht den richtigen Instinkt gehabt, ihr jugendlicher Übermut und ihre Unerfahrenheit hatten sie mit übertriebenem Selbstvertrauen ausgestattet. Wie konnte sie sich also angesichts eines ähnlichen Szenarios sicher sein, dass ihr Instinkt sie nicht wieder trog? Sie hatte den Patienten noch nicht einmal kennengelernt, und schon neigte sie dazu, ihn wieder wegsperren zu wollen. Hier handelte es sich um einen klaren Interessenskonflikt, und das war die perfekte Ausrede, um den Fall abzulehnen. Das konnte auch Niels nicht bestreiten.

Sie drehte sich zum Fenster. Mitten auf dem weitläufigen Gelände stand eine Rotbuche, deren Äste in der Kälte knarrten. Nachdem sie die Akte in einer Schublade verschlossen hatte, zog sie die Jalousien hoch, um mehr Licht hereinzulassen. Die Wolken, die vom Fluss herüberzogen, verloren bereits einige Schneeflocken, die schon bald zu einem dichten Vorhang werden würden.

Drei Uhr. Sie würde Cassie bis fünf Uhr Zeit geben, sich selbst ein Bild von ihrer Lage zu machen. Dann musste sie reden, ob sie wollte oder nicht.

Als Erin halb durchgefroren vom Kampf gegen das Schneetreiben das Café betrat, saß Niels bereits am Fenster. Das Lokal, erst vor Kurzem eröffnet, lag nicht weit von der Klinik entfernt und bot eine wohlige Atmosphäre. Dass Niels ihr vorschlug, sich hier mit ihr zu treffen, um über Cassie Gray zu sprechen, war nicht ungewöhnlich, doch in diesem Fall hatte Erin das Gefühl, er wolle ihr etwas mitteilen, was ihr nicht gefallen würde.

Sie zog ihren Parka aus und warf ihn über die Stuhllehne. Abgesehen von einer älteren Frau mit rotem Schal, die ihre Hände an einer Tasse Kaffee wärmte, waren sie die einzigen Gäste. Niels klappte sein Notizbuch zu und steckte es in die Tasche seines Hemdes.

»Harter Fall im St. Vincent«, sagte er und rieb sich die Augen. »Sechzehn Jahre alt. Das arme Mädchen hat einen Mitarbeiter für ihren Vater gehalten und praktisch das ganze Haus niedergerissen. Es ist ihre zweite psychotische Episode, ohne Anzeichen von Manie, also bin ich ziemlich sicher, dass wir es mit Schizophrenie zu tun haben.«

Erin hörte ihm nur mit halbem Ohr zu, als er den Fall schilderte, während sie die Speisekarte studierte. Zwanzig Kaffeesorten mit allem Schnickschnack, aber nur eine einzige Sorte Tee. Mit etwas Glück war es eine richtige Mischung und kein schaler Teebeutel aus der hintersten Ecke eines Schrankes.

»Es geht immer auf die Eltern zurück, nicht wahr?«, murmelte sie und legte die Speisekarte auf den Tisch.

»Nicht bei einer Psychose.«

Sein Ton war harsch, sie unterdrückte einen Seufzer. Da wären wir wieder. Wenn es um psychische Erkrankungen ging, stützte Niels sich gerne auf die Biologie. Zuerst die Hirnchemie, dann die Psychodynamik. Damit befanden sie sich in entgegengesetzter Richtung, was den therapeutischen Ansatz betraf. Obwohl die Familie nicht die einzige Quelle für die Leiden ihrer Patienten war, spielte sie eine bedeutende Rolle. Und ein Großteil ihrer Arbeit, ob Niels es nun zugeben wollte oder nicht, bestand nun mal darin, ihre Patienten vor den Menschen zu schützen, in deren Obhut sie waren.

»Auch wenn in diesem Fall ein Kindheitstrauma nicht auszuschließen ist«, sagte er und schnippte einen Krümel vom Tisch.

Die verlassenen Lagerhäuser und Wollmühlen auf der anderen Straßenseite, Relikte aus der industriellen Vergangenheit der Stadt, verliehen dieser Seite des Flussufers eine trostlose Atmosphäre. Ein Pflug rumpelte vorbei und schaufelte schmutzigen Schnee über den Bürgersteig. Ein Barista mit einem schmerzhaft aussehenden Augenbrauenpiercing stellte einen Becher mit heißem Wasser auf den Tisch und balancierte dabei einen Teebeutel der Marke Lipton auf einer Untertasse. Erin sehnte sich nach einem ordentlich aufgebrühten Kännchen Tee mit einer reichhaltigen Mischung aus Assam und Ceylon.

Niels zeigte auf den Becher. »Ein Teetrinkerin im Land der Kaffeesüchtigen«, sagte er und schlürfte seinen Cappuccino. »Vermisst du London?«

»Manchmal«, sagte sie und goss Milch in ihren Tee. »Aber nicht den Regen. Oder die Pannen in der U-Bahn. Ein gutes Kännchen Tee aber schon.« Hatte sie alle Klischees aufgezählt? Schlechtes Wetter, die Londoner U-Bahn, Nachmittagstee. Denn alles andere hätte unwillkommene Fragen nach sich ziehen können.

Er wischte sich einen Schaumfleck von der Lippe. Seine blassen Handrücken waren mit Sommersprossen gesprenkelt, die Nägel waren sauber und ordentlich geschnitten. Er hatte nicht die Hände eines Bauernjungen aus Nebraska, auch wenn das Ausmisten von Ställen und das Fahren eines Traktors vielleicht nicht auf seiner To-do-Liste gestanden hatte.

»Aber du warst vorher schon einmal in den Staaten, stimmt’s?«

Hitze stieg ihr ins Gesicht. »Klar. Vor allem auf Medizinkongressen. Chicago, San Francisco.« Sie durchwühlte absichtlich auffällig ihre Tasche, um den Fragen aus dem Weg zu gehen, fand zwischen zerknüllten Quittungen und Lippenbalsam ein Notizbuch und griff danach.

»Können wir jetzt über Cassie Gray sprechen? Die Zeit drängt.«

»Wieso?«, fragte er, doch dann schien es ihm zu dämmern. »Du meinst, sie festzuhalten.« Er rührte mehr Zucker in seine Tasse. »Sie hat gesagt, dass die Pillen ein Unfall und kein Selbstmordversuch gewesen seien.«

»Sie hat mit dir gesprochen?« Erin verspürte einen Stich. Warum hatte sich Cassie Niels und nicht ihr geöffnet? Ihre Fähigkeit, sich schnell an einen Patienten zu binden, hatte sie schon immer mit Stolz erfüllt.

»Ja. Sie hat gar nicht mehr aufgehört zu reden. Sie hat mir erzählt, dass sie bei einer Freundin gewesen sei und sie dort ein paar Pillen aus dem Arzneischrank der Mutter genommen haben. Später haben sie sich dann rausgeschlichen, sind in einen Club gegangen und haben kübelweise Tequila getrunken.«

»Hat sie gesagt, was mit ihrem Haar passiert ist?«

»Eine Dummheit, die aus dem Ruder gelaufen ist«, sagte Nils und schob sich den Rest des Brownies in den Mund. »Was die häusliche Situation betrifft, so behauptet sie, ihre Mutter und sie seien die besten Freundinnen.«

»Pflegemutter.«

Er leckte Schokolade von seinem Daumen. »Pflegemutter? Davon hat sie nichts gesagt.«

Was für ein Spiel spielte Cassie da? »Okay«, sagte Erin. »Nehmen wir an, sie ist keine Selbstmordkandidatin, braucht aber trotzdem Hilfe. Wenn nicht wegen des Trinkens und der Pillen, dann weil sie sich ritzt. Hast du ihre Arme gesehen? Wenn das kein klares Zeichen dafür ist, dass etwas nicht stimmt, weiß ich auch nicht.«

»Ich habe nicht gesagt, dass sie keine Hilfe braucht«, sagte Niels und trank den letzten Schluck Kaffee. »Aber das reicht nicht, um sie festzuhalten.«

»Das weiß ich, es ist nur… Ich habe ein ungutes Gefühl, dass etwas passieren könnte, wenn wir sie wieder nach Hause lassen.«

Niels bezahlte und steckte die Quittung ein. »Ich kann Janine bitten, beim Sozialdienst eine Kopie ihrer Akte anzufordern, wenn du dich dann besser fühlst.« Er stand eilig auf und zog seinen Parka bis unter das Kinn zu. »Hat dich denn irgendwas an Cassies Mutter gestört?«

Pflegemutter. »Nichts Bestimmtes«, sagte Erin und sammelte ihre Sachen ein. »Nur der Schock darüber vielleicht, dass sie so aufgebracht in der Klinik aufgetaucht ist.«

»Aufgebracht?«

»Du hast sie doch selbst gesehen.«

»Ich habe nur ein verängstigtes Elternteil gesehen.«

Sie und Niels agierten eindeutig auf unterschiedlichen Ebenen. Wäre es nach ihr gegangen, hätte sie Cassie vorübergehend aufgenommen und sie dann in ein dreimonatiges Wohnprogramm gesteckt. Aber ihr waren die Hände gebunden. Als Direktor der Klinik hatte Niels das letzte Wort.

Die kalte Luft draußen auf der Straße war messerscharf. Sie drehten sich beide in den Wind und zogen durch das Schneetreiben.

»Was ist mit dem Greenlake-Fall?«

»Ich habe mich noch nicht entschieden«, sagte sie und zog ihren Schal über die kalten Lippen.

»Ich weiß, dass das ein Problem ist, aber es ist Teil der Abmachung. Wenn Herr Geldsack, der die Klinik unterstützt, ein wenig gemeinnützige Arbeit erwartet, dürfen wir uns nicht beklagen, oder?«

Erin spürte ihre Finger kaum mehr, als sie am schmiedeeisernen Tor des Meadows ankamen, das zu beiden Seiten von hohen Eibenhecken flankiert wurde. Durch die Gitterstäbe war nur eine Ecke des gläsernen Wintergartens am Ostflügel zu erkennen, der im Winter mit seiner Fülle an Orchideen und Topfpalmen lockte. Die Bibliothek und das Musikzimmer, die Ölgemälde sowie der Privatkoch, die wunderschön eingerichteten Patientenzimmer, all das wurde von einem mysteriösen Wohltäter bezahlt, der es vorzog, anonym zu bleiben.

Sie zitterte in der beißenden Kälte. »Ich sage dir am Montag Bescheid.«

»Großartig.« Er steckte seinen Schlüssel in das Schloss. »Ich freue mich schon darauf, dem Vorstand die gute Nachricht zu überbringen.«

Cassie war aufgestanden und stand am Fenster. Laken und Decke lagen zusammengeknüllt auf dem Boden.

»Du bist auf«, fragte Erin vorsichtig, aus Angst etwas zu tun, das sie erschrecken könnte. »Du fühlst dich bestimmt besser.« Langes Schweigen. »Cassie?«

»Es geht mir gut!« Sie wirbelte herum und schaute Erin wütend an. »Wann kann ich endlich nach Hause?«

»Ich kann dir nicht helfen, wenn du nicht mit mir redest.«

»Wer sagt denn, dass ich Hilfe brauche?« Ihre Knie wurden weich, und sie hielt sich am Fensterbrett fest.

Erin eilte zu ihr, doch Cassie winkte ab. »Ich lege mich nicht wieder in dieses Bett.«

»Wie wäre es mit einem Kompromiss?«, sagte Erin und zog den Sessel zum Fenster. »Du setzt dich hierhin, und ich ziehe mich zurück.« Sie setzte sich aufs Bett und versuchte, Augenkontakt herzustellen, doch Cassie wandte ihr Gesicht ab. »Was wartet denn daheim auf dich, dass du so unbedingt zurückwillst? Ein Freund? Deine Pflegemutter?«

»Lonnie? Äh, nein«, sagte Cassie spöttisch. »Sobald ich da durch die Tür gehe, wird sie mich wahrscheinlich windelweich prügeln.«

Erin erstarrte. »Wenn du von ihr misshandelt wirst, müssen wir das dem Sozialdienst melden.«.

»Sie wollen mir helfen?«, sagte Cassie, beugte sich vor und riss sich die weißen Kliniksocken runter. »Dann tun Sie nicht so was Dummes, wie den Sozialdienst zu verständigen. Lonnie hat ihre Probleme, aber sie ist besser als andere. Es könnte viel, viel schlimmer sein.«

Lonnie mit dem bösen Blick und der scharfen Zunge. Erin schauderte bei dem Gedanken an das Leben, das Cassie führen musste. Verwahrlost. Misshandelt. Von einer Pflegestelle zur nächsten geschoben. Sobald sie eine Kopie ihrer Akte hatte, würde sie sich ein genaueres Bild machen.

»Du kannst dich jetzt ausruhen.«

»Ach, was soll’s.«

An der Tür drehte Erin sich noch einmal um. Cassies Gesicht wirkte müde, doch ihr Blick war hellwach und lauerte auf das kleinste Zeichen von Gefahr. Eine Haltung, die Erin gut kannte.

»Wie lange bist du schon in dem System?«

»Schon immer«, sagte sie, riss die Augen auf und spannte den Kopf an. »Ich war ein Müllcontainerbaby. Sind Sie jetzt zufrieden?«

Kapitel 4

Gegen den Wind geduckt, stolperte Erin über die gefrorenen Schneeblöcke am Rand des Parkplatzes. Hier konnte man leicht ausrutschen und sich den Hals brechen. Wer würde sie dann rechtzeitig finden? Die grüne Pudelmütze und die Handschuhe, die sie auf einem Weihnachtsmarkt in Galway gekauft hatte, boten nur geringen Schutz vor der eisigen Luft. Der Autositz knarrte vor Kälte. Als Erin mit ihrem Wagen endlich vor ihrem Haus hielt, war es bereits nach acht Uhr.

Das dreistöckige Gebäude im viktorianischen Stil, das bei Tageslicht einladend wirkte, sah im Dunkeln trostlos und verlassen aus. Eine fahle Glühbirne auf der vorderen Veranda spendete das einzige Licht. Das Haus, das seit Langem in Wohnungen aufgeteilt war, hatte die beste Zeit hinter sich. Hätte sie die Möglichkeit gehabt, hätte auch sie sich wie Niels am Rande der Klinik eine Wohnung im ehemaligen Kutschenhaus genommen. Sie war zwar nie drinnen gewesen, stellte sie sich aber geräumig und hell vor, mit einer schlichten, modernen Küche und Blick auf die Gärten. Wie herrlich wäre das, und sie wäre endlich befreit vom täglichen Kampf gegen die verschneiten Straßen. Sie hatte vergessen, wie brutal die Winter in diesem Teil der Welt waren.

Das Verandageländer bebte im Wind. Die moosgrüne Farbe blätterte von den Fensterrahmen ab. Doch wenn Erin über die schäbige Farbe und den Garten hinwegsah, kam die Wohnung ihrem Wunschtraum schon sehr nah. Ein separater Eingang, zu allen Seiten Fenster und Blick auf den Fluss. In der Wohnung darunter wohnte ein junges Paar aus Honduras, das ein Baby erwartete. Der Teil des Hauses, in dem sie wohnte, erstreckte sich über die gesamte obere Etage, über ihr war nur noch ein leerer Dachboden. Mrs Deptford, eine ältere Witwe und Vermieterin der Wohnungen im oberen Stock, war begeistert, Erin als Mieterin zu haben.

»Ich liebe den britischen Akzent«, hatte sie bei ihrem ersten Treffen gesagt. »Sie klingen genau wie Mary Poppins.« Ihre Augen hatten geleuchtet, als Erin ihr sagte, warum sie nach Lansford gekommen war. »Was für eine wunderbare Sache, jungen Mädchen in Not zu helfen. Ich habe mich immer gefragt, was da drüben hinter der großen Eibenhecke vor sich geht. Ich erinnere mich noch, dass das Haus zu meiner Schulzeit ein Privathaus war. Irgendein hohes Tier aus der Stadt verbrachte immer die Sommer mit der Familie dort. Und was die für Partys im Park veranstalteten … Ich lag oft wach im Bett und lauschte bis in die frühen Morgenstunden der Musik.« Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Wie hießen sie gleich? Harkness, Hartford. So in der Art.« Sie strich sich eine graue Haarsträhne hinter das Ohr und kicherte. »Ich fürchte, mein Gedächtnis ist nicht mehr das, was es einmal war.«

Für Erin war es nicht schwer, sich vorzustellen, wie die Sommerresidenz eines wohlhabenden Mannes ausgesehen haben musste. All der Glanz und Glamour. »Es ist seit fast zehn Jahren eine Privatklinik«, hatte sie gesagt.

»Ich kann nur sagen, dass es schön ist zu wissen, dass das alte Herrenhaus so gut genutzt wird. Viele Häuser aus den glorreichen Tagen sind nur noch Ruinen. Sind Sie mal am alten Bennetthof vorbei flussaufwärts gefahren? Das war so ein schöner Ort. Ein altes Familienanwesen, das in den Fünfzigerjahren zu einem Mädchencollege umfunktioniert wurde. Jetzt taugt es nur noch für die Abrissbirne.«

Unter dem traurigen Blick des Cockerspaniels ihrer Vermieterin kontrollierte Erin den Briefkasten auf der Veranda, obwohl sie nie Post bekam. Außer der Telefongesellschaft wusste niemand, wo sie wohnte, und ihr war das lieber so. In den ersten Wochen nach ihrer Rückkehr, mit dem Kulturschock kämpfend und mit einem Anflug von Beklommenheit, zweifelte sie an ihrer Fähigkeit, sich auch weiter nach außen hin als Engländerin auszugeben. Auch wenn es für sie nach zwanzig Jahren in England ganz natürlich war, mit britischem Akzent zu sprechen, so drohte seit ihrem Umzug nach Lansford der typisch amerikanische Zungenschlag und Wortschatz zurückzukehren. Auch wenn bisher niemand an ihrer Geschichte gezweifelt hatte, hielt sie ganz instinktiv Abstand. Wie sprachlos wären ihre Kollegen im Meadows, wenn sie herausfänden, dass sie eine waschechte Amerikanerin und in einer Kleinstadt nur drei Autostunden von hier entfernt aufgewachsen war.

Bevor sie durch den schmutzigen Streifen Schnee stiefelte, der zum Eingang ihrer Wohnung führte, sah sie noch einmal auf die Straße zurück. Keine Schatten lauerten im Gebüsch, und am Straßenrand stand auch kein verdächtiges Auto. Sie konnte getrost zur Tür huschen und das Bolzenschloss entriegeln, das sie bei ihrem Einzug angebracht hatte. Als sie die Treppe hinaufstieg, vergaß sie langsam die Sorgen des Tages, freute sich auf ein heißes Bad und frühe Nachtruhe.

Sie schloss die Tür und verriegelte sie hinter sich, stellte ihre Tasche ab und zog die Vorhänge zu, bevor sie das Licht einschaltete. Erst nach einem kurzen Blick in die Schränke und unter das Bett war sie in der Lage, sich zu entspannen. Dass sie sich manchmal gezwungen fühlte, die Wohnung zwei- oder dreimal zu überprüfen, bevor sie zu Bett ging, war zwar lästig, aber nicht lästig genug, um etwas dagegen zu unternehmen. Schon vor langer Zeit hatte sie aufgehört, jegliche Art von Anxiolytika zu nehmen. Nie wieder wollte sie eine pelzige Zunge oder ein vernebeltes Gehirn spüren. Nie wieder.

Die Schränke in der Küche waren leer. Eine Packung Cracker, eine Handvoll schwarzer Oliven und ein Stück Käse, das zu klein war, um eine Maus zu füttern, war alles, was sie zu essen hatte. Gestern noch hatte sie einkaufen wollen, war dann aber lange in der Klinik geblieben, um einen ihrer Patienten zu beruhigen.

Dass ihr das Essen ausgegangen war, war ein schlechtes Zeichen. Normalerweise war ihre Speisekammer gut gefüllt. Ein Überbleibsel aus ihrer Kindheit, wo verschlossene Küchenschränke die Norm waren und die Portionen streng reglementiert wurden. Wenigstens stand eine Flasche Cabernet im Kühlschrank, die noch halb voll war. Sie schenkte sich ein Glas ein und trug es zum Fenster. Durch einen Spalt in den Jalousien betrachtete sie das dunkle Haus auf der anderen Straßenseite. Ihr Nachbar, ein großer Mann mit einer Vorliebe für karierte Hemden und Jogginghosen, war zu seltsamen Zeiten zu Hause. Wenn sie nachts nicht schlafen konnte, stand sie gern am Fenster und wartete auf ein Lebenszeichen. Den blauen Schein des Fernsehers oder das Aufflackern eines Streichholzes.

In ihrer Umhängetasche befanden sich zwei Dinge, die sie schon den ganzen Tag gemieden hatte. Die Greenlake-Akte und ein dicker Umschlag von Julian, der gestern mit der Post gekommen war. Was war das geringere Übel? Sie legte beide nebeneinander auf den massiven Eichentisch. Tür Nummer eins oder Tür Nummer zwei?

Arzt, heil dich selbst.

Hannahs Stimme. Weise Beraterin, gute Fee. Es war Hannah, die sie vom Fenstersims gezogen hatte, als Erin, Universitätsstudentin in Bristol, noch von den Dämonen verfolgt wurde, die sie über den Atlantik gejagt hatten. Wann hatten sie zuletzt miteinander gesprochen? Morgen wollte sie einen ausführlichen Brief an ihre Freundin schicken.

Hannahs Stimme in den Ohren riss sie die Lasche von dem sperrigen Umschlag aus London auf. Eine Kaskade von Hochglanzdrucken ergoss sich auf ihren Tisch. Exemplare ihrer letzten Veröffentlichung. Es war immer wieder aufregend, sie zu erhalten. Aber was war das? Beim Anblick von Julians Namen, der als Hauptautor angeführt war, machte sich Wut in ihr breit. Wieder einmal hatte er für ihre Arbeit die Lorbeeren eingeheimst. Schämte er sich nicht? Das war nur einer der vielen Gründe gewesen, weshalb sie bereit gewesen war, der Thornbury-Klinik den Rücken zu kehren. Ein Stück Papier von einem gelben Notizblock flatterte auf den Boden.

Hallo E. – Ich hoffe, du hast dich inzwischen eingelebt und bist glücklich in deiner neuen Position. Wie gefällt dir das Leben in Amerika? Ich hoffe, man behandelt dich dort gut. Ich muss dir bestimmt nicht sagen, wie leid es mir tut, dass du gegangen bist, aber es ist gut zu wissen, dass du unsere Arbeit auf der anderen Seite des Teiches fortsetzen wirst. Ich bin mir sicher, dass der Vorstand des Meadows erkennt, was für ein Treffer es ist, ein Ehrenmitglied des Royal College of Medicine in ihrem Team zu haben. Wirklich beeindruckend, sie haben Glück, dich zu haben. Ich habe Nachdrucke der Anorexia für deine Unterlagen beigefügt. Wollte sie dir eigentlich schon früher zukommen lassen, aber hier war es ein wenig chaotisch. Und noch etwas: Amanda ist nach monatelangem Zögern endlich ausgezogen, und das ist auch gut so.

Noch einmal Glückwunsch zu der ausgezeichneten Veröffentlichung (und glaube ja nicht, dass ich vergessen habe, dass du den Löwenanteil dazu beigetragen hast). Halte mich über dein neues Leben auf dem Laufenden.

Liebe Grüße, J.

PS Du wirst hier schmerzlich vermisst – die Klinik ist ohne dich nicht mehr dieselbe …

Sie ließ den Zettel auf den Tisch fallen. Der Löwenanteil? Er hatte nicht mehr getan, als den Supervisor gespielt. Der Mann konnte einen in den Wahnsinn treiben. Und was sollte dieses nervige »J« am Ende des Briefes? Sollte das der Versuch sein, Intimität herzustellen? Fehlanzeige! Typisch Julian, zu warten, bis sie in sicherer Entfernung auf der anderen Seite des Atlantiks war, um dann seinen Zug zu machen. Auch wenn sie nicht die geringste Absicht hatte, sich jemals zu revanchieren.

Die Straße draußen war menschenleer, der mit Rissen überzogene Gehweg gefroren. Neben den Mülltonnen bewegten sich Schatten auf dem Boden. Ratten? Oder anderes widerliches Ungeziefer? Schneeflocken trieben durch die Luft. Die Fenster auf der anderen Straßenseite waren dunkel. Bevor sie die Vorhänge zuzog, warf sie einen letzten Blick auf den Bürgersteig. Die Schatten neben den Mülltonnen waren verschwunden.

Als Nächstes kam die Greenlake-Akte dran. Gerade weil sie nicht vorhatte, den Fall zu übernehmen, war es wichtig, Niels gegenüber dafür eine plausible Erklärung zu haben. Sie trug die Akte und das Glas Wein zum Sofa.

Timothy Warren Stern Jr., geboren am 18. Juli 1960 in Brookline, Massachusetts. Die Morde an seiner Mutter und seinen Schwestern wurden am 26. August 1977 im Haus der Familie in der Easton Road 44, Belle River, Maine, begangen.

Belle River? Sie schielte auf das Foto. Timothy Warren Stern. Tim Stern. Ein Schauder jagte ihr über den Rücken. Sie kannte ihn oder hatte von ihm gehört. Sommerszenen aus ihrer Kindheit in Belle River schossen ihr durch den Kopf. Sie ließ die Akte fallen und schloss die Augen. Aber das waren doch gute Neuigkeiten, oder nicht? Damit war sie aus dem Schneider. Sie kannte den Patienten, wenn auch nur flüchtig, sie war also ganz offensichtlich befangen, und das hieß, sie konnte die Anfrage guten Gewissens ablehnen.

Nur, dass das leider nicht ging. Wie konnte sie zugeben, eine Verbindung zu einem Patienten aus Maine zu haben, wenn Niels davon ausging, dass sie in England aufgewachsen war? Und was war mit der Geschichte, die sie ihm über ihre Familie aufgetischt hatte. Sie ein Einzelkind und ihre Eltern glücklich in einem Dorf am Meer in Sussex im Ruhestand? Alles Lügen. Wenn sie die Wahrheit erzählte, würde man sie als Hochstaplerin anzeigen, aus dem Register streichen und mit dem nächsten Flieger zurück nach Heathrow schicken. Das schmachvolle Ende einer herausragenden Karriere und von allem, wofür sie jemals gearbeitet hatte.

Tief im Keller erwachte der alte Kessel brummend zum Leben. Tim Stern. Sie schloss die Augen und versuchte sich sein Gesicht vorzustellen. Ein zotteliger Junge … mit einer Art Hut? Hinter einem Tresen lauernd. Kurz tauchte seine Bild vor ihr auf und verwand dann wieder.

Sie musste einen anderen Grund suchen, um den Fall ablehnen zu können. Die Leonard-Whidby-Geschichte könnte eine Möglichkeit sein, auch wenn sie gehofft hatte, diesen Schandfleck in ihrer Akte unter Verschluss halten zu können. Am Morgen, wenn sie wieder einen klaren Kopf hatte, würde sie einen Plan ausarbeiten. In der Zwischenzeit, wie von einer unsichtbaren Kraft getrieben, kehrte sie zur Akte auf dem Tisch zurück.

Die Stern-Morde. Es war unmöglich, sich klar daran zu erinnern, wenn man erst Jahre danach davon erfahren hatte. Belle River war eine Kleinstadt, also musste sie Tim Stern schon einmal gesehen haben, auch wenn sie sich nicht an sein Gesicht erinnern konnte. Sie sah sich das Foto an – schlaffer Kiefer, Ringe unter den Augen – erst dann wagte sie sich an die Lektüre.

August 1977. Mutter und Schwestern brutal erschlagen. Tims Flucht durch die Staaten. Seine Verhaftung und der anschließende Prozess. Urteil »nicht schuldig« wegen Unzurechnungsfähigkeit. Einweisung ins Greenlake, ehemals Atherton State Asylum, einer psychiatrischen Einrichtung mit höchster Sicherheitsstufe im Hinterland von New York. Der Vater, zur Tatzeit geschäftlich unterwegs, hatte bei der Verhandlung nicht ausgesagt. Nach dem Prozess verkaufte er das Haus der Familie und zog nach Westen. Wohin genau, stand nicht in der Akte.

Und wo war sie gewesen, als all das passierte? Gefangen in dem Haus in der Gardiner Road, im Kampf ums Überleben. Sie legte ihren Kopf auf die Arme und lauschte dem Schnee, der gegen die Fensterscheiben flog. War es ein Fehler gewesen zurückzukommen? Vor zwanzig Jahren war sie wie ein verängstigtes Reh auf der Flucht vor einem Feuer aus dem Land geflohen. Würde das neue Leben, das sie sich wie Phoenix aus der Asche ihrer Vergangenheit erkämpft hatte, nun Tag für Tag und Stück für Stück zusammenbrechen? Ausgerechnet jetzt, da sie dachte, frei zu sein?

Sie zog unter ihrem Pullover den silbernen Quetzal der Maya hervor und hielt ihn in der Hand.

Bitte mach, dass alles in Ordnung kommt. Bitte sorge dafür, dass es mir gut geht.

Ein Appell an … was, oder an wen? Als überzeugte Rationalistin glaubte sie nicht wirklich, dass irgendetwas oder irgendjemand zuhörte. Aber zu etwas zu beten, egal, wie vage es war, war eine kindliche Angewohnheit, die sie noch nicht aufgegeben hatte. Auch wenn sie in ihrem Herzen wusste, dass ein Klumpen Metall, egal, wie sehr sie ihn schätzte, die Vergangenheit nicht dort halten konnte, wo sie hingehörte. Sie schaltete das Licht aus und spähte durch die Jalousien in die Wohnung gegenüber. Alles war dunkel.

Am Morgen wollte sie Niels sagen, dass sie den Fall nicht übernehmen würde.

Kapitel 5

Der Beobachtungsraum war leer. Das Bett war mit einem sauberen weißen Laken frisch bezogen, darüber die grüne Decke der Klinik. Das konnte nur eines bedeuten: Cassie hatte der Behandlung zugestimmt und war in eines der Zimmer im Obergeschoss verlegt worden. Erin wurde fast schwindlig vor Erleichterung. Was auch immer sie gestern zu ihr gesagt hatte, offensichtlich hatte es sie erreicht.

An der Rezeption war Janine gerade am Telefon und signalisierte ihr, dass sie warten solle. Erin, ungeduldig und voller Tatendrang, entwarf in Gedanken bereits Cassies Behandlung, als Janine auflegte. Wann hat sie sich zum letzten Mal so sehr für einen Patienten interessiert?

Sie lehnte sich über den Tresen und versuchte, einen Blick auf die Aufnahmeliste zu erhaschen. »Wo hast du Cassie Gray untergebracht?«, fragte und hoffte, sie hätten ihr das Larkspur-Zimmer im zweiten Stock gegeben, das primelgelbe Wände und große Fenster mit Blick auf den Fluss hatte und das schönste Patientenzimmer im Obergeschoss war.

»Cassie Gray?«, sagte Janine und sah den Dienstplan durch. »Auf der Aufnahmeliste steht sie nicht.« Sie beugte sich näher an den Bildschirm heran. »Hier steht, dass sie heute Morgen entlassen wurde.«

»Entlassen? Wer hat das veranlasst?«

»Dr. Westlund«, sagte Janine und sah sie betrübt an. »Stimmt etwas nicht? Ich bin sicher, er sagte …«

Doch da war Erin schon verschwunden und rannte hinauf zu Niels’ Büro. Sie klopfte an seine Tür und riss sie auf, ohne auf seine Antwort zu warten.

Hinter einem übergroßen Mahagonischreibtisch saß Niels und starrte sie mit offenem Mund an. Eine seiner Patientinnen, ein hageres, sommersprossiges Mädchen aus Ohio, das neben vielen anderen Ängsten unter Agoraphobie litt, lümmelte in einem großen Ledersessel.

Erin zögerte. Die Therapiesitzung mit einer Patientin zu unterbrechen, war eine grobe Missachtung der Regeln, aber das hier konnte nicht warten. »Entschuldige die Unterbrechung, ich muss mit dir reden.«

Niels’ Gesicht war erstarrt. »Ich bin mitten in einer Sitzung mit einer Patientin«, sagte er kurz angebunden.

»Es dauert nicht lange.«

Er wandte sich an das Mädchen im Ledersessel. »Vergiss nicht, was du sagen wolltest, Lisa. Ich bin gleich wieder da.«

Niels drängte Erin in den Flur hinaus und schloss die Tür. Er hatte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Er mochte verärgert sein, doch sie kochte förmlich vor Wut. Welches Recht hatte er, eine Patientin zu entlassen, ohne sie vorher zu konsultieren?

»Warum hast du Cassie nach Hause geschickt?«

»Darum geht es also«, sagte er und sah sie verärgert an. »Es war Zeit. Außerdem gab es keinerlei Hinweis darauf, dass sie selbstmordgefährdet ist.«

»Sie ist aus irgendeinem Grund in Gefahr. Was ist mit der Pflegemutter? Cassie sagte, die Frau habe sie geschlagen. Ich kann nur ahnen, was sie sonst noch hinter verschlossenen Türen tut.«

»Pflegemutter?« Er wippte auf seinen Fersen vor und zurück. »Ach, richtig. Janine hat das Sozialamt angerufen und eine Kopie von Cassies Akte angefordert, und ob du es glaubst oder nicht, sie haben noch nie von ihr gehört. Sie ist kein Pflegekind. Sie ist nicht adoptiert. Lonnie Tyler ist Cassies echte Mutter.« Er wirkte fast fröhlich, als er ihr die Nachricht überbrachte. »Da hat sie dir einen kleinen Bären aufgebunden.«

Erin verspürte einen Stich in der Brust. Die Anzeichen für Missbrauch. Der Teil über das Müllcontainerbaby. Alles Lügen? Aber wozu?

»Trotzdem«, sagte sie und kämpfte darum, ihre Gelassenheit wiederzuerlangen. »Du hättest mir Bescheid sagen können, bevor du sie nach Hause schickst.« Doch ihre Worte wirkten lahm, sogar in ihren eigenen Ohren. Ich bin eine Idiotin. Wie leicht sie sich doch überlisten ließ. Und doch … dass Cassie sich gezwungen sah zu lügen, konnte man auch als Hilferuf verstehen. »Ich hoffe nur, dass sie das nächste Mal, wenn wir sie sehen, nicht in der Leichenhalle liegt«, sagte Erin und versuchte einen letzten Schuss.

»Solange sie nicht selbst Hilfe sucht, können wir nichts für sie tun«, sagte er und sah sie an. »Wir haben alles getan, was wir konnten.«

Das Blut schoss Erin ins Gesicht, und unüberlegt platzte es aus hier heraus: »Nur damit du es weißt, ich werde den Greenlake-Fall nicht übernehmen.«

Er hatte die Tür zu seinem Büro bereits geöffnet, schloss sie aber hastig wieder. »Warum? Das ist nur eine Formalität. Höchstens zwei oder drei Tage.«

»Eine Formalität?« Drei Menschen waren brutal ermordet worden, und der Verantwortliche konnte auf ihre Empfehlung wieder auf die Gemeinschaft losgelassen werden. Das war wohl kaum nur eine Formalität. Nicht, wenn Leben auf dem Spiel standen. »Ich bin in dem Fall befangen.«

Sein Mund zuckte. »Dann regle das mit dem Zuständigen in Greenlake. Wenn er das auch so sieht, hätte ich das gerne schriftlich. In der Zwischenzeit werde ich dem Vorstand mitteilen, dass du den Fall übernimmst.«

Erin war zu aufgebracht, um in ihr Büro zurückzukehren, und flüchtete sich in die Stille des Wintergartens, in der Hoffnung, die tropische Luft und das üppige Grün würden sie beruhigen. In letzter Zeit schien Niels Freude daran zu haben, sie zu reizen. Beim Einstellungsgespräch schien ihr sein Engagement für die Patienten gepaart mit seiner freundlichen Art eine Erfolg versprechende Kombination zu sein. Sie hatte angenommen, dass sie sich gut verstehen würden, doch in Cassies Fall offenbarte er eine Seite, die sie noch nicht an ihm kannte.

Ende der Leseprobe