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Alex schreibt an einem Essay. Und kommt nicht voran. Das Thema: Worüber meine Mutter und ich nicht sprechen. Ein Besuch in der glamourös kaputten Provinzvilla der überreizten Mutter soll weiterhelfen, doch er zeigt nur: Sie sprechen gar nicht miteinander. Nicht über Alex' Queerness, nicht über die Antidepressiva, die sie offensichtlich beide nehmen, nicht über die Traumata der Familie. Als die Mutter Alex beim Schützenfest (versehentlich!) anschießt, ist klar, dass nicht nur die Arbeit am Essay gescheitert ist. Ein grandios lakonischer Roman darüber, was Familien trennt und zusammenhält – das Unausgesprochene. Hart und verletzlich, kühl und komisch – ein knallgegenwärtiger Roman über familiäre Leerstellen
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Evan Tepest dankt dem Museum Schloss Moyland (Sammlung van der Grinten) für den Hinweis auf Joseph Beuys’ »Versuche für Plastik, 1957« in Kapitel „Am sechsten Tag“
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Für Frauke
Cover & Impressum
TEIL EINS:GELB
Am ersten Tag
Am zweiten Tag
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Am vierten Tag
Am fünften Tag
Am sechsten Tag
Am siebten Tag
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Am neunten Tag
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Am elften Tag
Am zwölften Tag
Am dreizehnten Tag
Am vierzehnten Tag
Am fünfzehnten Tag
Am sechzehnten Tag
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Am siebzehnten Tag
Am achtzehnten Tag
Am einundzwanzigsten Tag
Zwei Wochen später
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Als Alex die Mutter traf, war ihr übel. Auf dem Bahnhofsvorplatz warteten weder Taxis noch Mieträder auf die Reisenden, die aus der Regionalbahn stiegen.
Sie umarmten sich flüchtig, ihre Unterleiber so weit voneinander entfernt wie möglich. Bevor die Mutter ihr die Wange küssen konnte, entzog sich Alex.
Als die Mutter auf den POWER-Knopf ihres tiefergelegten Minis drückte, warnte eine laute Stimme vor Staus im Ruhrgebiet.
»Gut siehst du aus«, sagte sie beim Ausparken und blickte über ihre Schulter an Alex vorbei. Sie hatten sich mehr als zwei Jahre nicht gesehen.
Ein Stück weiter ragten Industrieschlote über die Dächer der Innenstadt. Rauch zog in den kopfsteingrauen Himmel. An seiner breitesten Stelle kühlte der Rhein die Chemiefabriken.
Alex schloss die Augen und massierte sich die Schläfen. Sie fühlte sich, als hätte sich die Grenze zwischen ihr und der Außenwelt in gleißenden Nebel aufgelöst. Es war erst 14 Uhr, und sie wünschte sich, dass das Licht bereits softer wäre. Dass sie in Schatten versinken könnte.
Sie suchte vergeblich nach ihren Reisekaugummis. In den letzten Wochen hatte sie immer wieder etwas verloren: ihren Schal, ein Buch. Egal, wie lange sie suchte – die Dinge blieben unauffindbar. Es war, als hätte sich die Stadt gegen sie verschworen. Dabei brauchte Alex Berlin als Bild und Versprechen, um die kommenden Tage auf dem Land zu überstehen. Um sich zu vergewissern, dass sie jemand anderes geworden war.
Der Mini fuhr über den Bahnübergang. Sie passierten die alte Stammkneipe von Opa Kurt und die erste Dönerbude der Stadt.
»Wie war die Fahrt?«, fragte die Mutter, ohne den Blick von der Straße zu nehmen.
»Der letzte Teil zieht sich. Hatte ich vergessen.«
»Warum fährst du nicht mit dem Auto?«
»Ich bin das letzte Mal mit zwanzig Auto gefahren.«
»Höchste Zeit, wieder anzufangen.« Die Mutter beschleunigte, der Motor heulte auf.
Alex atmete tief ein und aus.
»Hast du was?«
»Ich bin nur erschöpft.«
»Brauchst du was Süßes?«
Alex aß seit einer Weile fast keinen Zucker mehr. Das hatte sie ihrer Mutter offenbar nie gesagt. »Nur frische Luft.«
»Sehr gut. Ich muss eh mit Rozi Gassi gehen.«
Rozi war der nervöse Hund, den die Mutter aus einem rumänischen Tierheim adoptiert hatte. Die beiden waren immer in Bewegung.
»Übrigens: Oma Kriemhild wurde neulich auf der Rheinpromenade gefragt, wie lange es dauert, bis wieder ein Buch von dir erscheint«, setzte die Mutter zögerlich an. »Ist das normal, dass dazwischen jahrelang Pause ist?«
Alex’ erster Roman erzählte die Geschichte einer jungen Lesbe, die die Wohnung eines krebskranken alten Schwulen putzte und für ihn zu Fuß zum Grab seines an Aids verstorbenen Liebhabers von Berlin nach Kopenhagen lief. Er hatte sich ganz okay verkauft und war positiv besprochen worden. Doch mit ihrem zweiten Buch ging nichts voran. Kein Verlag hielt Coming of Sex, ein Verzeichnis von Alex’ achtunddreißig Sexualpartner*innen, für ein gutes Investment.
»Warum fragst du mich nicht direkt, was ich eigentlich die ganze Zeit mache?« Alex griff zu ihrem Notizbuch und las.
Schreib den Namen deiner Mutter
Um über meine Mutter zu schreiben, muss ich zuerst über die Stadt meiner Mutter schreiben.
Einwohner*innenzahl: 40.000zerstörte Bausubstanz im Zweiten Weltkrieg: 97 Prozent (fair enough)Zweitstimmen für die AfD bei der letzten Bundestagswahl: 933Arbeitslosigkeit: 8,4 Prozenteine Zigarette am Kiosk: 20 Centeine 5-Minuten-Terrine in der Schul-Cafeteria: 50 Centeine Bahnfahrt in die nächste Großstadt: 16,30 EuroDraußen zog der braune Aschenplatz vorbei, auf dem Alex sich als Kind die Knie aufgeschlagen und gefürchtet hatte, niemals das Tor zu treffen.
Die Mutter erzählte von den Renovierungsarbeiten am Haus. Als Nächstes war der Swimmingpool im Keller dran, aber es gab Probleme mit den Handwerkern. Es gab immer Probleme mit den Handwerkern.
Alex’ Mutter lebte in einer zweihundert Quadratmeter großen Villa am Waldrand. Das Haus stammte aus den Siebzigern. Damals strebten alle nach der größtmöglichen Expansion, in der Überzeugung, dass es genug Platz und Wohlstand für alle gab. Es war die Zeit vor der Überforderung durch das Internet, vor der minimalistischen Tiny-House-Ästhetik. Alex stellte sich vor, wie die Kleinstadtmittelschicht in den Achtzigern und Neunzigern ausufernde Pool-Partys gefeiert hatte, verteilt über das Grundstück und die Terrassen knutschend und Eierlikör trinkend.
Als die Mutter das Haus kaufte, waren die Wände vergilbt und der Teppichboden fleckig. Am Ende ihres Lebens hatte die damalige Eigentümerin, Frau Reintjes, ganz allein in den acht Zimmern gewohnt und in der Küche und im Salon unentwegt Davidoff Gold geraucht.
Das Gästezimmer, in dem Alex schlief, war frisch renoviert, geräumig und hatte einen eigenen Balkon. Es sah aus, als hätte die Mutter sich einmal durch den Made-Katalog geshoppt: petrolfarbener Teppich, Samt-Couch, Coffee Table in Mid-Century-Optik. Neben der Couch lehnte ein Glasrahmen an der Wand. Schwarz-Weiß-Fotos von Jim Morrison, Allen Ginsberg und Jimi Hendrix. Die einzige Frau: Janis Joplin. Alex verstand nicht, warum die Mutter ausgerechnet diese Collage aus ihrer alten Wohnung mitgenommen hatte. Alex hatte sie mit vierzehn gemacht, als sie sich im Kunstunterricht mit ihrer »Identität« beschäftigen sollten. Damals hörte sie einen holländischen Retro-Rock-Sender, drückte Zigaretten auf ihren Unterarmen aus und verschwand lieber in den tragischen Biografien anderer, als über sich selbst nachzudenken. Das Bild brachte ihr eine glatte Vier ein. Ein paar Monate später waren sie und ihre kleine Schwester Fritzi bei der Mutter ausgezogen.
Sie war nur einmal zu Besuch in der Villa gewesen, da hatte die Mutter ihren dritten Mann Günther geheiratet. Dass sie seitdem nicht mehr hier gewesen war, fand Alex nicht ungewöhnlich. Seit sie ein Teenager war, erfand sie Ausreden für Weihnachtsfeiern und Geburtstage und beantwortete nur jeden vierten Anruf der Mutter.
Als sie vor ein paar Wochen in ihrer Hausarztpraxis saß und auf ein EKG wartete, nahm sie ausnahmsweise ab. Die Mutter rief an, weil Opa Kurt gestorben war.
»Wir wollen die Asche in Holland verstreuen. Du weißt ja: Er hat das Meer geliebt.«
Alex sah die gelbe Speedo vor sich, die Opa Kurt bei ihren Tagesausflügen an die Nordsee getragen hatte. Alex hatte ihm nie nahegestanden. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie ihren Opa gemocht hatte.
»Du kommst doch, oder?«, fragte die Mutter.
Als ihr Name aufgerufen wurde, legte sie auf, ohne eine Antwort zu geben.
»Durchatmen und entspannen«, wies die Arzthelferin sie an, nachdem sie die Elektroden auf Alex’ Oberkörper und an ihren Knöcheln platziert hatte. Auf dem Tisch stapelten sich Boxen mit der Beschriftung Big Orange Needle. Eine Zeile wie aus einem Gedicht, dachte sie.
Zurück in ihrer Wohnung betrachtete Alex die Spuren der Saugnäpfe unter ihrer Brust. Sie sah aus, als hätte sie in einem Tentakel-Porno mitgespielt.
Sie würde zur Beerdigung gehen. Vielleicht war das ein letzter Rest ihrer kleinbürgerlichen Erziehung: Hochzeiten und Beerdigungen wahrzunehmen. Sich für Grußkarten mit einem Anruf zu bedanken. Die Form zu wahren, ob sie wollte oder nicht.
Also rief Alex die Mutter zurück und buchte ein Zugticket.
Am Tag darauf schickte die Mutter Alex und Fritzi eine SMS:
Ihr solltet wirklich eine Patientenverfügung ausfüllen. Ich kann einen Termin bei meinem Notar machen. Die Kosten übernehme ich :* :* :*
Nichts entkam der Organisationswut der Mutter. Nicht einmal der Tod.
Weil es im Gästezimmer keinen Schreibtisch gab, legte Alex den Laptop und ihre Notizbücher auf der Couch ab. Sie stellte den Balkontisch vors Fenster und breitete ihre Unterlagen darauf aus. Zum zweiten Mal las sie die E-Mail ihrer Agentin Jenny.
Betreff: Schreib den Namen deiner Mutter
Liebste Alex,
ich hoffe, dir geht es gut! Ich hab tolle News.
Ich hab gestern mit Roger von dem Schweizer Verlag gesprochen. »Coming of Sex« wollen sie leider nicht machen – zu nischig. ABER: Sie bringen im Frühjahr einen Sammelband raus, und Roger findet, dass du da super reinpassen würdest. Titel: SCHREIB DEN NAMEN DEINER MUTTER. Das Ganze ist Teil einer Ausstellung, bei der ein Dutzend Künstlerinnen gebeten worden sind, »das Unaussprechliche zwischen ihnen und ihren Müttern auszudrücken, indem sie den Namen ihrer Mutter zum Kunstwerk machen« (steht so auf der Website). Also im Grunde das, worüber Tochter und Mutter nicht reden. Anscheinend hat eine von denen den Namen ihrer Mutter mit Hundehaufen in altgriechischen Buchstaben ausgelegt, mit Benzin übergossen und dann angezündet. Eine andere hat ihre Arbeit nach zwei Tagen abgebrochen, ihr Honorar eingesackt und den Kuratoren eine Mail geschrieben, in der nur stand: »Das ist der Name meiner Mutter«.
Geil, oder? Abgabe wäre allerdings schon im September, aber das schaffst du! Honorar sind 1000 €.
I KNOW: Du bist genervt von Mutter-Tochter-Büchern mit Frauenfotos auf dem Cover – I get that. Aber das ist wirklich was anderes. Die machen ja sonst nur Kunstbücher, das wird sicher subtil.
Ich finde, das ist eine super Gelegenheit. So bleibst du nach dem ersten Roman sichtbar. Und danach finden wir für »Coming of Sex« hoffentlich auch einen Verlag. In Deutschland dürfen eben nur Französinnen über Sex schreiben, dachte ich gestern ;-).
In diesem Sinne:
Mille Bisous
Jenny
Alex war skeptisch. Doch sie brauchte das Geld. Außerdem würde es ihr guttun, eine Aufgabe zu haben, während sie hier war.
Das Problem war nur, dass, worüber Alex und die Mutter nicht sprachen, praktisch alles umfasste. Dass sie, um eine sinnvolle Unterscheidung zwischen dem Gesagten und dem Ungesagten vorzunehmen, überhaupt einmal miteinander reden mussten.
* * *
Im Haus war es ruhig. Die Mutter hatte einen Arzttermin, Günther war noch in der Firma. Nur das Schleudern der Waschmaschine durchbrach die Stille.
Alex musste dringend an die Arbeit, aber ihr fiel nichts ein. Kein Bild, das sie zum Weiterschreiben animierte. Sie schaltete den Kronleuchter im Flur ein und ging hinauf in den zweiten Stock. Dort betrat sie das Arbeits- und Bügelzimmer.
In den Dokumentenablagen auf dem Schreibtisch Bedienungsanleitungen und Rechnungen. Alex las die Buchrücken in dem kleinen Bücherregal. Sorge dich nicht, lebe! Viele Bände Mankell. Ein vereinzelter Goethe in einer abgegriffenen Reclam-Ausgabe.
Alex erschrak, als ihr zwischen den Büchern ein Notizbuch mit schlichtem schwarzem Einband in die Hand fiel. Hatte die Mutter nicht einmal erwähnt, dass sie während ihrer Schwangerschaften Tagebuch geschrieben hatte? Alex war so aufgeregt wie früher, als sie sich manchmal in der großen Pause in den Raum mit den aussortierten Schulbüchern geschlichen hatte.
Montag, 14. Juli 2010, 17 Uhr: Ölwechsel, 18:30 Uhr: Italiano/VHS.
Sie blätterte das ganze Buch durch und fand nichts als Termine. Alex seufzte und schob das Notizheft zurück ins Regal zwischen Die fünfte Frau und Mittsommermord. Sie hoffte inständig, dass das sein ursprünglicher Platz war.
Im untersten Fach Fotoalben. Ein einzelnes Foto war nicht eingeklebt. Es zeigte drei fast gleich große Kinder im Querformat. Rechts Fritzi mit zwei geflochtenen Zöpfen und einer großen Zahnlücke, links Alex im BVB-Trikot. In der Mitte ein Junge mit Brille, ihr Stiefbruder Georg, breit grinsend. Wie naiv sie alle aussahen, machte Alex wütend. Dass sie nicht gewappnet waren für das, was sie erwartete.
Auf dem akkurat gemachten Ehebett lag der Teddybär. Vor einigen Jahren hatte die Mutter ihn in eine Kuscheltierklinik geschickt. Dort waren ihm die Augen ersetzt und ein Stück Fell transplantiert worden.
Alex erinnerte sich genau, dass Georg einmal mit dem Bären gespielt hatte. Der Teddy war Godzilla, der Georgs Autoschrottanlage angriff, während eine Reihe Polizei- und Feuerwehrautos versuchte, ihn zurückzudrängen. Die Mutter verbot Georg eine Woche lang fernzusehen. Da musste er sieben gewesen sein.
Auf dem Nachtschränkchen der Mutter eine nach Tagen unterteilte Pillenbox. Alex öffnete das Abteil für Samstag. Eine dreieckige gelbe Tablette mit einer rundlichen Vertiefung. Eine Hartkapsel mit weißlichem Pulver. Eine längliche rote Pille mit Prägung.
Das Schlafzimmerfenster ging hinaus auf die Felder, die sich hinter der Einbahnstraße erstreckten. Sie kamen ihr weniger grün vor als früher. Auch hier war es wärmer als noch vor zehn oder gar zwanzig Jahren.
Das Leben in der Großstadt fühlte sich sehr weit weg an.
* * *
Eine Stunde später stand die Mutter am Waschbecken der Kücheninsel und wusch zwei Äpfel. Alex konnte sich nicht erinnern, dass es in ihrer Kindheit jemals Obst gegeben hatte.
»Wie war’s beim Arzt?«, fragte sie und setzte sich auf einen der Barhocker.
»Ach.« Die Mutter drehte den Hahn zu und griff nach einem Apfelteiler.
»Was wurde eigentlich untersucht?«
»Ich musste nur zum Check-up.« Sie legte die Apfelschnitze im Halbkreis auf einen Teller und schob ihn Alex zu. »Ging ganz schnell. Aber auf dem Rückweg waren die Schranken unten.«
Im Keller piepte die Waschmaschine. Alex nahm ein Stück in die Hand, ohne es zum Mund zu führen. Die Mutter begann, den Apfelteiler zu spülen.
»Ich wollte eigentlich noch tanken, aber sogar Diesel ist so teuer gerade. Ich versuch’s lieber in Holland.«
Als die Waschmaschine wieder piepte, einmal, zweimal, dreimal, eilte sie davon.
Online versuchte Alex, mehr über die Pillen zu erfahren. Die längliche Tablette mit der Kerbe hätte Ibuprofen sein können. Oder Tavor – zur Behandlung von Angst-, Spannungs- und Erregungszuständen.
Gelbe Pillen, las sie, waren häufig Antidepressiva, weil depressive Patienten gelbe Tabletten angeblich mochten: Gelb steht für Licht und Leben. Alex fragte sich, ob die Mutter wirklich depressiv sein konnte. Kein Adjektiv passte schlechter zur Mutter als »antriebsarm«. Doch auch Alex, deren Tabletten rund und weiß waren, war nicht in einem geläufigen Sinne depressiv. Sie hatte keine Probleme damit, Sport zu treiben, zu arbeiten oder morgens aus dem Bett zu kommen. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie sie die Mutter auf die Dose auf dem Nachtschrank ansprechen würde. Sie würde so etwas sagen wie: »Hey Mama, denkst du, wir haben beide eine agitierte Depression?« Die Vorstellung war so absurd, dass sie lachen musste.
Vor ein paar Wochen hatte Alex ein Paket bei ihrem Nachbarn abgeholt, einem Jurist kurz vor der Pensionierung. Der Mann hatte ihr von seinem glücklosen Weg nach der Wende erzählt. Davon, dass er es morgens oft nicht schaffte, sein Bett zu verlassen, und er dann in seinem Büro anrief und vorgab, er würde im Homeoffice Aktenberge abarbeiten. Als sie gerade gehen wollte, lud er sie zum Abendessen ein. Alex war zu langsam gewesen, um sich eine Ausrede einfallen zu lassen.
»Du musst lernen, das Unwohlsein anderer auszuhalten«, hatte Jenny ihr erklärt, als sie ihr davon erzählte. »Vielleicht solltest du mal bewusst nach Ablehnung suchen.«
»Erlebe ich als Autorin nicht schon genug Ablehnung?«
»Konfrontation ist schwer, aber sie lohnt sich«, sagte Jenny ungerührt.
Am folgenden Abend stand Alex geschlagene fünf Minuten vor der Wohnungstür des Nachbarn. Es war ihr plötzlich ganz und gar unmöglich, die Sätze über die Lippen zu bringen, die sie sich auf dem Weg durchs Treppenhaus zurechtgelegt hatte. Sie fürchtete seine Überforderung, wenn sie nicht tat, was er sich von ihr wünschte. Ohne zu klingeln, ging Alex zurück in ihre Wohnung im ersten Stock.
Alex hatte mal gelesen, dass bestimmte Hormone den Kiefer daran hinderten, sich zu öffnen, zu sprechen oder zu kauen. Mit der Mutter zu reden stellte sie sich körperlich genauso unmöglich vor, wie ihrem Nachbarn zu sagen, dass sie niemals mit ihm essen gehen wollte.
* * *
Nach einem schnellen Abendessen mit der Mutter und Günther – Graubrot und eine aufgeschnittene Gurke, Gespräche über Rozi, über die Arbeit und das Haus – lag Alex auf dem Bett und masturbierte. Sie versuchte, an nichts zu denken. Ihre Hand kreiste immer fester, und ihre Vulva fühlte sich zugleich taub und überreizt an. Sie kam ins Schwitzen. Seit zwei Wochen nahm Alex nun ihr Antidepressivum. Fasste sie sich seitdem an, spürte sie eine geleeartige Barriere. Früher, wenn sie sehr betrunken gewesen war, hatte sie sich beim Sex meistens so gefühlt. Als würde sie sich von außen beobachten. Als würde ihr Körper die Lust empfinden, ihr Bewusstsein aber ganz woanders sein.
Alex wischte die Hand an ihrer Bettdecke ab und griff nach ihrem Handy. Ihr neuer Bildschirmhintergrund war das Foto der drei lachenden Kinder. Georg, Fritzi und Alex. Eine Mahnung, es sich hier nicht allzu gemütlich zu machen. Sie wechselte in die Netflix-App, schaltete eine Hip-Hop-Doku an und ging ins Bad. Sie reinigte ihre Zähne mit zwei verschiedenen Zwischenraumbürsten. Das rosa Waschbecken, auf dem sie sich abstützte, hatte die Form einer Muschel.
Aus dem Handy klang Tupac:
»And since we all came from a woman/
Got our name from a woman and our game from a woman.«
Der Föhn war ein schwarzer ausklappbarer Reiseföhn. Alex steckte ihn ein, hob ihr T-Shirt an und begann, ihren Bauch zu föhnen, von links nach rechts und von oben nach unten. Nach ein paar Minuten schaltete sie die zweite Stufe ein. Sie merkte, wie ihr Atem gleichmäßiger wurde. Der Föhn roch nach verbrannten Haaren. Sie hoffte, dass das Gerät nicht schmelzen würde.
* * *
Schreib den Namen deiner Mutter
Ähnlichkeiten zwischen mir und meiner Mutter
eine ausgeprägte Angst vor Horrorfilmen (siehe unsere Albträume, nachdem wir »Der Exorzist« gesehen haben)das Mondzeichen (Fische)empfindliche Knie, mit denen sich schlecht auf Asphalt laufen lässtLieblingsschulfächer (Deutsch und Mathe)lieber zu laufen oder mit dem Fahrrad zu fahren, anstatt ein öffentliches Verkehrsmittel zu nutzeneine passable SingstimmeAls Kind der Spitzname »Wibbelstätz« (rheinisch für »unruhiges Kind«)Bücher als kindliche Ausflucht: Ephraim Kishons Kibbuze, Anne Franks Tagebuch (meine Mutter), Harry Potters Kammer, das Internat von Tim und Klößchen (ich)manchmal, beim Treppensteigen in öffentlichen Gebäuden, der plötzliche Gedanke an einen lebensgefährlichen Sturz