Schrift-Art - Johannes I. L. Pfeiffer - E-Book

Schrift-Art E-Book

Johannes I. L. Pfeiffer

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Beschreibung

Schrift-Art beinhaltet Kurzgeschichten, in denen die wichtigen Themen des Lebens beschrieben werden: Liebe, Bindungen, Ängste, Hoffnungen.

Das E-Book Schrift-Art wird angeboten von BoD - Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Belletristik, Abenteuer, Science Fiction, Fantasy, Krimi

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Seitenzahl: 198

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IN DIESEM BUCH greift der Autor in Kurzgeschichten viele wichtigen Themen des Lebens auf: Familie, Liebe, Verluste, Bindungen, Ängste und Freude. Dabei bewegt er sich in unterschiedlichen Genres, die Erzählungen sind vielschichtig und lebensnahe, oft mit einem unerwarteten Ende.

DER AUTOR ist Ingenieur und schreibt seit seinem zwölften Lebensjahr Kurzgeschichten, Novellen und Romane in den Bereichen Belletristik, Science-Fiction, Fantasy und Aphorismen. Zu seinen Lieblingsautoren gehören Hemingway, Kafka, Pessoa, Poe, Malaparte, Chatwin, Hesse und Mann.

Das hier ist sein viertes veröffentlichtes Buch. Weitere folgen.

Bereits veröffentlicht:

Schriftkram ISBN 978-3-759-77013-4

Schrift-Gut ISBN 978-3-759-77036-3

Geschichten aus dem Nachbarschaftscafé ISBN 978-3-759-75293-2

Inhalt

Hinweis in eigener Sache

Kurzgeschichten

Australien

Die Mutter

Das rote Bild

Rainer

Der Nebel

Sektfrühstück

Sophie

Ivo

Giacomo und Lisa

Ein glücklicher Tag

Kaffeeklatsch

Ein Traum

Onkel Peter

Erinnerungen

Die Lösung auf alle Fragen des Universums ist

Die Spinne

Frank

Das Leben

Gefallene Engel

Der Mönch und die Kerze

Das Geschenk

Der Läufer

Die Ämter

Generationen

Steine

Mediatoren

Der alte Mann

Das Kind

Der Bote

Die Tankstelle

Die Dunkelheit

Erinnerungen

Generationen

Die Hunde

Gerettet

Flügel

Die Haut

Das Sofa

Der Kreisverkehr

Die Stimme

Ein Traum

Atemsitzung 1

Atemsitzung 2

Der Lebensweg

Lesetipps und Quellen

:

Hinweis in eigener Sache

Ich liebe die Kurzgeschichten und Erzählungen von Ernest Hemingway, Franz Kafka, Thomas Mann, Hermann Hesse, Edgar Allan Poe und Philip K. Dick. Sie haben ihre Stilrichtungen zur Perfektion gebracht. Ich stehe nunmehr auf den Schultern dieser Giganten und kann weit springen.

Kurzgeschichten

Australien

Der Mann stand an der Bushaltestelle und schlug den Mantelkragen hoch. Ihm war kalt. Ab und zu sah er auf die Armbanduhr, während er die Straße beobachtete. Er wirkte unbeteiligt, einfach wie jemand, der auf den Bus wartet. Hin und wieder sah er zu den Häusern auf der anderen Straßenseite hinüber. Hier standen Reihenhäuser. Der Mann war mittelgroß, schlank, dunkle Haare und dunkle Kleidung.

Nach einer Viertelstunde ging ein weiterer Mann die Straße hinab. Er trug Flugblätter in den Händen. Bei dem Mann an der Bushaltestelle blieb er kurz stehen und reichte ihm wortlos einen Zettel. Dieser holte Geldscheine aus der Hosentasche und gab sie dem anderen, der sie wie beiläufig einsteckte. Der Mann bat um einige Flugblätter und der andere händigte sie ihm aus. Dann nickte er und ging weiter.

Der Mann an der Bushaltestelle sah auf die Uhr. Es begann dunkel zu werden. Die Straßenlaternen gingen an. Er holte ein Handy aus der Manteltasche und rief ein neues Straßenkartenleseprogramm auf. Er gab verschiedene Adressen nacheinander ein und prüfte die Entfernung. Dann betrachtete er die Adressen über ein Satellitenprogramm. Er prüfte die Lage der Häuser, wählte eine Adresse aus. Während er dem blauen Strich auf dem Handy folgte, blieb er ab und zu stehen und sah sich um. Den Ton hatte er ausgemacht. Als er das Ziel erreichte, war es schon dunkel. Erging bis zum Ende der Straße und kehrte auf der anderen Straßenseite zurück.

Er ging an Häusern mit beleuchteten Fenstern vorbei. Mütter stellten Speisen auf die Esstische, von fröhlichen Familienmitgliedern umgeben. Er wandte den Blick ab und ging langsam weiter. Als er die gesuchte Adresse erreichte, blieb er stehen und sah sich um. Ein Wagen fuhr an ihm vorbei. Die Scheinwerfer waren aufgetaucht, wischten über die Bäume und Garten

zäune und verschwanden hinter der nächsten Kurve.

Der Mann gelangte durch die Querstraße auf die Rückseite des Gebäudes, umrundete es langsam, kehrte zur Vorderseite des Hauses zurück. So konnte er sich alle Seiten des Grundstückes anschauen und prüfen. Er betrat die Einfahrt links vom Gebäude, blieb am Anfang stehen und betrachtete die angrenzenden Grundstücke. Niemand war auf der Straße zu sehen. Er hielt sich ganz links, ging am hohen Holzzaun entlang und blieb am Carport stehen, direkt am Gebäude. Alles blieb dunkel, keine Bewegungsmelder aktivierten die Außenlampen. Kein Hund kläffte. Der Mann wartete noch einige Augenblicke, dann trat er an die Hauswand, die Haustür, daneben ein Fenster mit dunklen Gardinen. Er hielt die Flugblätter gut sichtbar in den Händen. Eine gute Ausrede für seine Anwesenheit – falls doch jemand zuhause war.

Aus der Jackentasche holte er Handschuhe, die er sich überzog, dann eine Metallschiene und einen Schraubenzieher. Er setzte die zwei Werkzeuge an und hebelte die Tür auf. Instinktiv hatte er sich darauf vorbereitet, einen lauten Warnton zu hören und sofort fliehen zu müssen. Nichts geschah. Er drückte die Tür auf und trat ein. Sofort schloss er die Tür wieder hinter sich und sah sich um. Er stand in einem Flur, von dem weitere Räume abgingen. Links führte eine Treppe nach oben. Bevor er einen weiteren Schritt machte, zog er Überschuhe aus blauem Kunststoff an. So begab er sich in den nächsten Raum, die Küche. Angrenzend das große Wohnzimmer mit Esstisch. Auf dem Tisch waren Papiere ausgebreitet. Vor dem Fernseher stand eine Couch in L-Form.

Der nächste Raum war ein kleiner Raum, in dem Vorräte und das Bügelbrett untergebracht waren.

Das Gäste-WC vervollständigte das Erdgeschoss. Dann ging er die Treppe nach oben. Er schaltete das Licht nicht ein. Die umgebenden Häuser waren bewohnt. Wenn die Nachbarn wussten, dass die Leute aus diesem Haus seit Tagen nicht da waren, musste Licht auffallen. Er hatte den albanischen Flugblattausträger für die Info bezahlt, welche Häuser seit Tagen ihre Post nicht reinholten. Die Albaner verkauften diese Kenntnisse auch an andere.

Er sah sich langsam in dem Obergeschoss um. Zwei Kinderzimmer, offensichtlich von Teenagern, Junge und Mädchen. Schlafzimmer. Er durchsuchte Nachttische und Kleiderschränke, fand Geld und Schmuck und nahm alles an sich.

Im separaten, fensterlosen Arbeitszimmer stand ein neuer Laptop auf dem Tisch, großer Monitor, Aktenschränke mit Unterlagen. Er setzte sich an den Laptop, schaltete ein und wartete, bis der Startbildschirm erschien. Von draußen war er nicht auszumachen, das Licht des Laptopmonitors drang nicht durch die dichten Vorhänge.

Kennwort

Er sah sich um. Nach einigen Sekunden hob er den Laptop hoch und fand darunter einen Zettel mit durchgestrichenen Worten. Das letzte war nicht durchgestrichen und so tippte er Australien_2024 ein. Der Bildschirm wurde freigegeben. Er rief den Explorer auf und tippte Code ein. Keine Ergebnisse. Dann versuchte er es noch mit Kennwort, Schlüssel und anderen. Keine Ergebnisse. Manchmal lagerten die Leute ihre wichtigen Unterlagen hier ab. Aus früheren Einbrüchen wusste er, dass die meisten Leute faul waren und sich einfache Kennworte aussuchten und wie in diesem Falle sich die Kennworte noch notierten und in der Nähe des Laptops lagerten, falls sie sie vergessen hatten. Der Mensch war faul und bequem. Es kam ihm stets zugute.

Er durchsuchte den Explorer nach Kennworten wie „Code, Kennwort, Zugang, Eintritt, auch Zutritt...“ – fand eine Worddatei. Dort waren die Kennworte für viele Konten, wie zum Beispiel für Bewerbungen, abgespeichert. Dazu verschiedene TV-Kabelsender Nichts von Banken und Sparkassen. Einige Internetkennworte und E-Mail-Namen. Das war für ihn nicht interessant. Er druckte die Seiten aus und legte sie neben den Laptop.

Er druckte alle Seiten mit den Kennworten aus. Sicherheitshalber. Er widerstand der Versuchung, sich in seinem Browser anzumelden. Er durfte keine Spuren auf dem Rechner hinterlassen.

Er sah sich aufmerksam im Zimmer um, bemerkte die zahlreichen Bücher über Australien neben und hinter dem Laptop. Er zog sein Handy hervor und fotografierte alles. Dann nahm er ein 'lonely planet' Buch in die Hand und blätterte es mit seinen Handschuhen durch. Er las sich vieles durch, betrachtete die Fotos und Abbildungen. Er dachte an seine Eltern, wischte die Erinnerungen an sie beiseite.

Er stellte das Buch zurück und bemerkte einen dicken Umschlag neben den Büchern. Er öffnete ihn und breitete die Unterlagen vor sich auf der Tastatur aus. Vier Flugscheine lagen dort, ebenso die Pässe der Familie. Er blätterte die Pässe durch. Vater, Mutter, zwei Töchter. Der Mann blickte ratlos in die Kamera. Hübsche Frau, aufgeweckte, hübsche Töchter. Der Mann ähnelte ihm. Er betrachtete das Gesicht des Mannes eindringlich. Unbewusst nahm er die Mimik des Mannes an. Er prüfte die Flugscheine. Der Abflug sollte in 14 Tagen sein. Mit Aufenthalt in Singapur. Dauer ca. 14 Stunden. Früher war er auch schon mal geflogen. Den Flugschein sah er mehrmals durch, ließ seine behandschuhten Finger über das Papier gleiten. Er legte alles wieder zurück in den Umschlag.

Australien!

Immer wieder das Land auf der anderen Seite des Planeten! Er legte bedauernd den Umschlag zurück auf seinen Platz, schloss die Augen und atmete durch. Er durchforstete den Laptop und fand viele schöne Urlaubsfotos, Schnappschüsse. Vor allem aus Spanien und Italien. Immer wieder ertappte er sich dabei, dass er die Fotos länger betrachtete. Wie gerne hätte er auch diese Urlaubsorte aufgesucht und die freie Zeit genossen.

Australien!

Seine Eltern...

Er sah sie vor sich stehen. Sein Vater hob ihn hoch und drückte ihn. Seine Mutter gab ihn einen Kuss und fuhr mit der Hand durch seine Haare. Alle drei lachten. Sein Vater setzte ihn wieder auf den Boden.

Seine Mutter hockte sich vor ihn.

„Hallo Thomas, bald werden wir nach Australien auswandern, mein Sohn. Dort werden wir uns eine neue Zukunft aufbauen können. Jetzt fahren wir zur Botschaft nach Bonn. Die Nachbarin wird auf dich aufpassen, bis wir wieder da sind.“

Beide herzten ihn. Dann brachten sie ihn zur Nachbarin, die ihn gerne bei sich aufnahm.

„Hallo Thomas!“, begrüßte ihn die Nachbarin. „Erich spielt im Kinderzimmer. Er wartet auf dich!“ Die Eltern verabschiedeten sich. Thomas winkte ihnen von der Tür aus. Dann zog die Nachbarin ihn langsam rein und schloss die Tür. Er spielte Lego mit Erich.

Später am Abend klingelte es an der Tür. Thomas lief los, weil er seine Eltern erwartete. Als die Nachbarin die Tür öffnete, standen zwei Polizisten vor der Tür. Sie berichteten der Nachbarin von Thomas Eltern, die in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt gewesen waren. Beide seien tot, berichteten die Polizisten. Sie fragten nach, ob Thomas noch bei der Nachbarin bleiben könne, bis das Jugendamt sich melden würde.

Die Nachbarin nahm Thomas fest in den Arm und drückte ihn an sich. Er verstand nicht, was geschah.

Einige Tage später...

Er erinnerte sich an fremde Gesichter. Frauen und Männer, die ihn begrüßten und an die Hand nahmen. Er wurde in ein Büro gebracht, Telefonate, immer wieder Absagen. Irgendwann sah die Frau über den Schreibtisch auf ihn hinunter.

„Wir müssen dich in ein Kinderheim bringen, Thomas. Niemand aus Deiner Familie kann dich bei sich aufnehmen“.

Sie nickte ihrem Kollegen zu und sie fuhren ihn zu einem großen Gebäude zwischen hohen Bäumen. Hier waren freundlich lächelnde Damen, die ihn bei sich aufnahmen. Er wurde in ein Büro gebracht, wo Formalitäten besprochen wurden. Er sollte so lange dortbleiben, bis jemand ihn abholen würde.

Eine Frau führte ihn zu einem Zimmer, wo vier Betten nebeneinanderstanden. Sie brachte seine Sachen in einem der Schränke neben dem Bett unter und zeigte ihm alles. Toilette auf dem Gang, den Frühstücksraum, den Aufenthaltsraum, wo zahlreiche andere Kinder saßen und spielten oder malten.

„Nachher gibt es Abendessen!“, meinte die Frau und setzte ihn an einen der Tische.

Hier sollte er malen. Aber er weinte nur und rief nach seiner Mutter. Ältere Kinder machten sich lustig über ihn, äfften sein Weinen nach. Er stand auf und ging in eine Ecke des Zimmers, wo dicke mit Sand gefüllte Säcke standen. Er kannte die von zuhause und warf sich in einen hinein und weinte bitterlich.

„Heulsuse!“, rief einer der älteren Jungs.

Eine Aufsichtsperson war anwesend, der den älteren Jungen zurechtwies und sich neben den weinenden Jungen hockte.

„Wie heißt du?“, fragte er den Jungen.

Der Junge hörte auf zu weinen und wandte ihm sein tränenverschmiertes Gesicht zu.

„Thomas!“, sagte er leise.

Der Mann strich ihm über den Kopf.

„Du brauchst hier keine Angst zu haben, Thomas. Ich passe auf Dich auf!“

Thomas fand die Berührung unangenehm, wagte aber nicht etwas zu sagen. Der Mann erhob sich, als er von der Tür aus gerufen wurde. Thomas beruhigte sich. Später ging er mit den anderen zum Abendessen in den Nachbarraum. Lange Tische mit Stühlen. Alle setzten sich. Thomas griff nach einem Brötchen, hielt aber inne, als die andern ihn nur ansahen.

„Du musst warten, bis alle sitzen!“, sagte ein größerer Junge zu ihm, der am Kopfende saß und die Kleineren übersah.

Thomas hatte Hunger. Er beobachtete die anderen Kinder, die sich setzten und ruhig saßen. Erwachsene kamen und setzten sich an den Tisch am Kopfende. Es wurde ein kurzes Gebet gesprochen, und alle griffen zu. Er war zu langsam, die Brötchen fischten die älteren weg. Er konnte sich eine Scheibe Brot schnappen. Der Platte mit dem Aufschnitt war umgehend leer. Thomas schaute zu, wie die größeren Kinder sich die leckeren Dinge nahmen. Ihm blieb etwas Marmelade, welche ein älteres Mädchen neben ihm auf seinen Teller löffelte.

Er kämpfte damit, die Marmelade mit einem Löffel auf seine Brotscheibe zu kriegen. Die Marmelade fiel daneben, auf den Tisch. Er weinte. Das ältere Mädchen, das ihm mit der Marmelade geholfen hatte, beugte sich zu ihm, kratzte mit ihrem Messer die Marmelade vom Tisch und schmierte sie auf seine Brotscheibe und legte sie auf seinen Teller. Thomas weinte leise, während der die Scheibe aß.

Nach dem Essen blieben die Kinder sitzen. Erst als die Erwachsenen fertig waren und sich erhoben und den Raum verließen, durften auch die Kinder aufstehen. Thomas passte sich an, folgte den anderen. Einige gingen in den großen Aufenthaltsraum, andere gingen nach oben. Ohne viel zu überlegen, ging er neben dem Mädchen, welches ihm geholfen hatte. Er sah zu ihr hoch. Sie bemerkte ihn und fragte ihn, wie er heiße.

„Thomas!“, sagte Thomas verhalten.

„Wie alt bist du?“

Thomas lächelte.

„Vier Jahre!“

Er war stolz darauf.

Das Mädchen sah zu ihm hinunter.

„Ich heiße Petra. Wenn du Fragen hast, dann frag mich einfach. Jetzt muss ich woanders hin. Du gehst mit den anderen hier die Treppe hoch, Zähneputzen.“

Thomas erinnerte sich an die ersten Tage in dem Waisenhaus. Er wusste nichts und musste schnell lernen. Das ging am schnellsten durch Hunger. Wenn er langsam war, blieb er hungrig. Die Kinder gingen nach dem Frühstück in den nahen Kindergarten oder in die Schulen des Ortes. Thomas spielte mit den anderen Kindern. Er lernte, sein Essen schnell zu nehmen und es rasch zu essen, bevor andere kamen und es wegnehmen konnten. Manchmal waren die Größeren schneller und nahmen ihm die leckeren Dinge weg, wie Süßigkeiten oder Nougatcreme. Thomas weinte viel. Manchmal wurde er auch von älteren Jungs einfach beiseite geschubst oder geschlagen. Er lernte sich zu ducken, zu verstecken. Er malte ein schönes Bild von einem Känguru, malte die Eltern und sich daneben und schrieb darüber: Australien.

Im Laufe der Zeit lernte er auch, dass die Gefahr nicht nur von den älteren Schülern ausging, sondern auch von den Erziehern. Einer, so merkte er rasch, war gerne mit den kleineren Jungs unterwegs, legte die Arme um sie, auch wenn sie es offensichtlich nicht mochten. Peter Groß, so hieß der Mann, war untersetzt, mit Bart und engen Cordhosen. Sein Geschlecht drückte sich durch die Hose. Andere Erwachsene mieden ihn.

Eines Tages strich er Thomas durchs Haar und meinte, dass er ihm etwas zeigen wollte. Er führte ihn aus dem Raum hinaus. Die anderen Kinder sahen weg. Am Ende des Ganges lagen die Toiletten. Thomas sah die Türen auf sich zukommen und wusste, dass er da nicht mit dem Mann hinwollte. Links kamen Leute die Treppen hoch. Einer war ein Lehrer. Thomas drehte sich weg und lief an dem Lehrer die Treppe hinab. Der Lehrer war oben an der Treppe stehengeblieben und sah Groß an. Der war einfach stehengeblieben, seine Hände griffen ins Leere. Er sah Thomas hinterher. Dann ging er einfach weiter, auf die Toilette. Die Blicke des anderen Lehrers folgten ihm.

Thomas wich Groß immer wieder erfolgreich aus. Als er fast sechs war, hatte er gelernt, sich in dem Schrank auf der Toilette vor ihm und den größeren Jungs zu verstecken. Er hatte dies zufällig entdeckt. Dort hatte er unter den Packen mit dem Klopapier ein Kinderbuch versteckt, in dem er gerne blätterte. Wenn er sich in dem Schrank versteckte, schloss er die Tür. Er setzte sich auf die Pakete. Durch die breiten Lüftungsklappen über ihm drang genug Licht herein, um die Bilder lesen zu können. So durchblätterte er immer wieder das schöne Buch über Australien und stellte sich vor, wie er mit seinen Eltern da war, Kängurus und andere Tiere beobachtete, mit ihnen am Meer war und Wale schaute. Er verbrachte lange Zeit in seinem Versteck. Er hatte rasch zu lesen begonnen, lernte schnell und die Erzieher waren zufrieden mit ihm.

Es machte ihm nichts aus, dass er die Geräusche der anderen Kinder mitbekam, wenn sie auf die Toilette gingen. Einige Male entging er der Entdeckung nur knapp.

Eines Tages, als er wieder in seinem Versteck saß, hörte er die Stimme eines kleinen Jungen und Groß, der den Jungen offensichtlich mit sich zog und ihm unbedingt etwas zeigen wollte.

Wenig später hörte er wie Groß dem Jungen befahl, die Hose auszuziehen. Der Junge wollte nicht, Groß wurde kurz laut. Schläge folgten. Der Junge weinte, ihm wurde der Mund zugehalten. Dann begann Herr Groß zu grunzen, der Junge weinte und versuchte zu schreien, doch er brachte nur ein Schluchzen hervor. Das Grunzen wurde lauter, dann Stille. Groß befahl dem Jungen, die Hose wieder hochzuziehen.

Dann verließ Groß die Toilette. Der Junge blieb zurück, weinte. Thomas blieb in seinem Schrank, bis auch der Junge schließlich gegangen war. Dann erst kam er heraus und sah sich um. Sein Herz raste. Was sollte er tun? Sich mit dem Direktor darüber unterhalten? Wem würde er glauben? Groß oder ihm? Thomas war sich sicher, dass der Direktor wohl eher einem langjährigen Lehrer glauben würde als ihm. Also schwieg Thomas. Er traf später den Jungen, der in der Toilette gewesen war. Er hatte viel geweint, bewegte sich nur schleppend, wirkte abwesend.

Groß kam ihm auf dem Gang entgegen und lächelte. Thomas blieb stehen, sah ihn entsetzt an und lief davon. Thomas ging Groß aus dem Weg, selbst im Unterricht versuchte er nicht auf seine Fragen zu antworten, redete nur, wenn er selbst angesprochen wurde.

Er versteckte sich eines Tages wieder im Schrank auf der Toilette, als ihn der Junge bemerkte, der von Groß missbraucht worden war. Der Junge sah Thomas an, als er die Tür vom Schrank öffnete und herauskam. Der Junge sah ihn an.

„Hast du...“, begann er.

Thomas sah zu Boden. Er nickte langsam.

Der Junge weinte.

„Er hat mir sehr weh getan. Das darf er nicht!“

Thomas nickte nur wieder und sah auf seine Schuhspitzen.

„Er tut vielen Jungen weh!“, sagte der Junge wieder. Peter hieß er, das fiel Thomas jetzt wieder ein. Beide schwiegen.

„Was willst du machen?“, fragte Thomas schließlich, sah hoch, direkt in Peters Augen.

Peter weinte wieder.

„Das weiß ich noch nicht!“

Zwei ältere Schüler kamen herein. Sie machten sich über den weinenden Peter lustig und gingen an die Urinale. Thomas schob Peter nach draußen.

Auf dem Gang war niemand zu sehen. Sie gingen zu den Schlafräumen. Plötzlich blieb Peter stehen.

„Ich gehe zum Direktor. Kommst du mit?“

Thomas wich erschrocken zurück.

„Er wird uns nicht glauben, Peter!“

Peter weinte wieder.

„Ich will nicht, dass er mir wieder weh tut.“

Dann ging er davon. Thomas blieb zurück, ging dann einfach weg.

Zwei Tage später wurde Thomas in das Büro des Direktors gerufen. Peter stand dort – und Herr Groß. Beide Erwachsenen wirkten sehr ernst.

Der Direktor saß hinter seinem großen Schreibtisch, Peter stand davor, Groß war rechts an den Fenstern.

Der Direktor erhob sich und kam um den Tisch herum. Er stellte sich vor Thomas und sah zu ihm hinunter.

„Thomas, ich habe dich heute rufen lassen, weil Peter etwas ganz Schlimmes über Herrn Groß gesagt hat. Er hat mir gesagt, dass du etwas darüber weißt!“

Ich sah Herrn Groß an, der warnend den rechten Zeigefinger erhoben hatte und mich wütend ansah.

Der Direktor bemerkte es und schickte Herrn Groß hinaus. Er sollte dort warten.

Groß ging eng an ihm vorbei. Thomas hatte Angst, dass er ihn schlagen würde und duckte sich. Der Direktor ging in die Knie und sah Thomas an.

„Thomas, du musst die Wahrheit sagen über das, was du weißt!“, meinte er leise.

Peter sah ihn an. Deutlich war zu sehen, dass er geweint hatte. Thomas atmete tief durch und berichtete schnell und mit überschlagender Stimme, dass er sich in dem Schrank versteckt hätte und dass er gehört hätte, wie Groß Peter in eine Toilette gezogen hätte und dass er ihm offensichtlich dort wehgetan hatte. Der Direktor atmete tief durch, stand auf, ging um den riesigen Schreibtisch zurück, blieb stehen.

Er sah sie beide lange an.

„Ihr beide, Peter und du!“, er deutete auf Thomas. „Ihr zwei werdet darüber Schweigen bewahren, das heißt, ihr werdet niemanden darüber erzählen. Ich werde Herrn Groß bestrafen. Und jetzt geht spielen!“ Sie gingen hinaus. Herr Groß stand draußen. Er sah die beiden wütend an. Der Direktor rief ihn herein und wies ihn an, die Tür zu schließen. Die Jungs blieben unschlüssig an der Tür zum Vorzimmer des Direktors stehen und hörten, wie der Direktor Herrn Groß lautstark anschrie.

In den kommenden drei Wochen war Herr Groß nicht mehr zu sehen. Alle atmeten auf. Auch die anderen Lehrer und Erzieher in der Anstalt schienen Herrn Groß nicht zu vermissen. Ganz im Gegenteil.

Als Herr Groß schließlich zurückkehrte, war er nicht mehr bei den kleinen Kindern eingesetzt. Er war nur Ersatzlehrer für die älteren Schüler. Und selbst da hielt er sich zurück.

Mit sieben Jahren wurde Thomas adoptiert.

Später wurde ihm klar, dass der Direktor die Adoption vorangetrieben hatte, um ihn und das leidige Thema mit Herrn Groß und allem, was damit zusammenhing, loszuwerden. Peter war kurz zuvor von einer anderen Familie adoptiert worden.

Thomas lebte bei seiner „Familie“. Strenge Regeln. Alle aßen zusammen, vorher wurde gebetet. Ähnlich wie im Kinderheim. Nach der Schule gleich heim, dann erst mal Hausaufgaben machen.

Anschließend erfolgte eine strenge Kontrolle der Hausaufgaben. Erst danach durfte er raus und spielen. Mit den anderen Kindern aus der Nachbarschaft kam er gut klar. Es waren die Eltern, die ihn spüren ließen, dass er nur in einer Pflegefamilie aufwuchs und nicht bei den eigenen Eltern.

Als einmal in einer Wohnung etwas fehlte, wurde ihm gesagt, dass er es gestohlen hatte. Erst später wurde klar, dass der Junge gelogen hatte, dem das Spielzeug abhandengekommen war. Aus Angst vor Strafe hatte er behauptet, das teure Spielzeug wäre ihm gestohlen worden. Das ferngesteuerte Spielzeugauto war ihm heruntergefallen und kaputt gegangen. Dann hatte er es versteckt.

Thomas durfte länger nicht mit anderen Kindern spielen, erhielt Hausarrest. Seine Pflegefamilie hielt nicht zu ihm, der strenge Vater stellte ihn mehrmals zur Rede, schrie ihn an, verwies ihn in sein Zimmer. Hausarrest!

Als seine Unschuld herauskam, zögerte der Pflegevater, sich bei ihm zu entschuldigen. Er machte es halbherzig und schenkte ihm ein Spielzeugauto. Thomas nahm das Auto nur widerwillig an. In seinem Zimmer pfefferte er das Auto in die Ecke. Später ging er wortlos raus. Er ging zum Spielplatz, fand die anderen Jungs in seinem Alter. Der Junge, der ihn und seine Eltern angelogen hatte, ging ihm aus dem Weg. Sie wussten, was passiert war und spielten mit ihm Fußball. Der andere Junge sah ihnen zwischen den Bäumen aus zu.

Als Thomas nach Hause ging folgte er ihm. Mit einem Schrei griff er plötzlich Thomas an, schlug mit