Schriftkram - Johannes I. L. Pfeiffer - E-Book

Schriftkram E-Book

Johannes I. L. Pfeiffer

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Beschreibung

In der Sammlung von Kurzgeschichten und Gedichten werden die wichtigen Themen des Lebens angesprochen: Liebe, Romantik, Trauer und Verlust, Ängste und Hoffnung. Dabei lassen sich die Geschichten nicht in eine Kategorie einordnen.

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IN DIESEM BUCH beschreibt der Autor in Kurzgeschichten wichtige Themen wie Liebe, Bindungen, Sehnsucht, Verlust, Respekt, Wahrheit, Männer und Frauen, und vieles mehr. Sie stammen dabei aus verschiedenen Genres, einige beschreiben Selbsterlebtes. Die Geschichten und Gedichte sind vielschichtig und lebendig und verfügen oft über einen unerwarteten Turn.

DER AUTOR ist Ingenieur und schreibt seit seinem 12. Lebensjahr, Kurzgeschichten und Romane in den Genres Belletristik, Krimi, Thriller und Science-Fiction.

Zu seinen Lieblingsautoren gehören Kafka, Pessoa, Hemingway, Chatwin, Malaparte, Poe, Mann, Hesse und Goethe. Das hier ist sein erstes Buch, weitere sind in Vorbereitung.

Inhalt

In eigener Sache

KURZGESCHICHTEN

Männer und Frauen

SIE

Herr K.

Schmetterlinge

Mein Vater

Die Reiter

Herz aus Glas

Liebe

Der Mann im Liegestuhl

Barnabas

Der Junge

Die Wand

Der Soldat

Nr. 99012137

Günter Pieper

Wetten auf Griechisch

Der alte Mann

Mein Opa

Die Kinder

Feuer

Drei Männer

Raimondo

Er

Die Bibliothek

Das Seil

Einstein hatte doch recht…

Schatten

Die grünen Hügel der Erde

Elise

Die Reparatur wird teuer

Der Schreiber

Wie alles begann

Untergebene

Du musst das Herz deines Feindes essen

Das Schiff

Brücke

Das Zelt

Tiere

Wir und die anderen

DNA

Die Dankbarkeit des Vaterlandes

Alte Freunde

Der Hüter

Auge um Auge, Zahn um Zahn

GEDANKEN, GEDICHTE

Die Legion

Die Krähe auf der Mauer

Regenwände

Stadt

Die Spinne

Rot

Der Gärtner

Ich

Die Krähe

Ride on

Denken

Die Stadt

Einsamkeit

Die Frau

Leben

Die Maschine

Der Nebel

Quellen und Lesetipps

In eigener Sache

Das Buch beinhaltet etliche meiner frühen Stories, die ich meist mit der Schreibmaschine verfasste. Daher wählte ich dieses Schriftbild für alle hier veröffentlichten Geschichten.

Es sollte der Eindruck entstehen, als wären die Geschichten mit der Maschine getippt und rasch zusammengestellt und direkt so veröffentlicht worden.

Inwieweit der Eindruck gelungen ist, vermag der Leser festzustellen.

Kurzgeschichten

Männer und Frauen

Die Götter trennten das Dunkel vom Tag und schufen den Himmel und die Erde. Sie erschufen alle Pflanzen und alles Getier. Dann erschufen Sie den Mann, damit er ihnen diene. Sie erschufen ihn aus Lehm, härteten ihn im Feuer. Als er sich nützlich zeigte, erschufen die Götter weitere Männer. Später erschufen die Götter die Frauen. Sie waren Luftwesen und flogen lachend über den Köpfen der Männer hinweg. Die Männer konnten nicht fliegen, sie waren Wesen der Erde, mit schweren Gebärden und schweren Körpern. Die Frauen waren leicht, trieben im Wind dahin, ihre langen Haare umwehten ihre Gesichter. Die Männer versuchten die Frauen zu fassen, doch diese wichen lachend vor ihnen zurück. Schließlich fertigten die Männer große Netze und erkletterten die Wipfel der hohen Bäume. Als am Morgen die Frauen zwischen den Bäumen flogen, warfen die Männer ihre Netze und fingen sie ein. Sie brachten die Frauen in ihre Höhlen. Damit sie nicht wieder wegfliegen konnten,legten sie sich auf die Frauen und füllten deren Schoss mit ihren Samen. Die Frauen wurden ebenfalls schwer, konnten nicht mehr aufsteigen, verloren ihre Flügel. Sie gebaren den Männern Kinder. Auch diese konnten nicht mehr fliegen. So waren die Männer und Frauen dem Boden verhaftet. Der Himmel blieb allein den Göttern vorbehalten.

SIE

Zögernd lüftet die Nacht den Mantel über dem Wäldchen und entfernt sich gemessenen Schrittes zu den Bergen, die von Ferne winken. Zurück bleibt ein kleines Bauernhaus, warmes Licht streichelt die Büsche vor den Fenstern. Tür fasst knarrend meine Hand, trete ein. Schatten lauern um die Deckenlampe.

S i e steht am Fenster und schaut zum nahen Wald. Mit wenigen Schritten gleite ich durch den Raum, fasse sie an den Schultern und drehe sie zu mir. Lange blonde Haare, zusammengebunden, blaue Augen. Kurzer Kuss, ergreife sie um die schmalen Schultern und schleuse sie zur Tür.

Draußen weicht die Nacht weiter zurück und überlässt dem Tag den Kadaver des greisen Dorfes. Runzelige Häuser, geduckt, wenige Gesichter an den Fenstern. Ein Hund schlägt an, Hühner tanzen um unsere Beine, packe eines, drehe ihm den Hals um und werfe es gegen eine Hauswand. Ein Habicht erscheint auf dem Dachrand und applaudiert, bevor er sich auf das Huhn stürzt.

Am Brunnen schöpft ein Esel Wasser und verteilt es unter seinen Brüdern am Trog. Es würde ein heißer Tag werden. Die Brücke über den gurgelnden Fluss wecke ich mit einem Tritt. Sie gähnt und reckt und streckt sich auf das andere Ufer hinüber. Fester Schritt, schlendern ihr Rückgrat entlang, befehlen ihr auf unsere Rückkehr zu warten. Am anderen Ufer warten Fliegen auf Frösche.

Freudig begleitet die Sonne uns auf dem gedrungenen Weg den Hügel hinab. An einer Kehre bleiben wir stehen und sehen einen Vogel, der über uns an der Himmelskachel festklebt. Mein Blick schneidet ihn aus und drapiert ihn auf den Zweigen eines nahen Baumes, von dem aus er nach Beute Ausschau hält. Er dankt mir mit einem leisen Krächzen, seine schwarzen Augen leuchten.

Schnaufend kriecht der asthmatische Bus die enge Straße herauf, bleibt schnaufend vor uns stehen und saugt uns in seinen Bauch. Langsam gehen wir an Puppen mit bleichen Gesichtern vorbei und setzen uns ganz nach hinten. Still winkt uns der Vogel zum Abschied.

Ohne Hast rollt der Bus den Weg hinab ins Tal, das keck seine Kleidung abwirft und sich uns nackt offenbart. Wie Quecksilber sickert die Straße ins grüne Fleisch, die Sonne biegt Zweige beiseite und sucht auf dem Boden nach dürren Sträuchern und kleinen freundlichen Feldern. Wir unterhalten uns, Worte kleben Mund an Mund, verlieren sich tröpfelnd zwischen den Marionetten vor uns.

Endlich hält der Bus vor einem rheumatischen Haus und spuckt uns aus, schreit uns an und fährt davon. Mühsam kommen wir auf die Beine und schlendern die Straße zur Stadtmitte entlang. Beiderseits biegen sich Häuser uns huldvoll entgegen, spielen mit Vögeln auf ihren Dächern, rollen Köpfe in ihren Augen. Menschenkörper scheren zwischen den Fahrzeugen über die Straße, kreuz und quer, schlagen Rad und purzeln durch Schaufenster, werden von Hausmündern eingesogen und wieder ausgespuckt.

Wir durchschwimmen ihre Blicke und Gesten und schneiden Gesichter aus, collagieren sie in unseren Erinnerungen. Kinderköpfe kleben an Fenstern wie riesige Spinnen, Frauen halten große Larven in Händen, füttern sie an ihren Leibern.

Auf einem Balkon hoch über uns zwischen den Wolken steht eine Frau und wirft ihr Kind hoch in die Luft, das freudig quietschend nach der Sonne greift und die Wolken mit kleinen Händen streichelt. Hoch und höher wirft die Frau mit angespanntem Gesicht ihr Kind, bis es endlich von der Sonne verschluckt wird. Sein Lachen zerbricht der Himmel hoch über uns.

Wir durchschreiten den Markt, auf dem sich Kühe anbieten und auf ihr schmackhaftes Fleisch aufmerksam machen. Obst und Gemüse stehen stramm, springen den Marktfrauen in die Hände und recken sich den Kunden entgegen. Wütende Proteste aufgereihter Hühner, die keiner kaufen will. Niemand achtet auf ihre winkenden halbierten Leiber. Ein Lamm bittet mich inständig, es zu kaufen, verneine das Angebot und schüttele sein Huf von meinem Ärmel

Jenseits des Marktes beginnt eine freie Fläche, auf der Kinder hoch durch die Luft segeln und nach Bällen greifen und sie sich gegenseitig zuwerfen. Ein Kind schwebt an mir vorbei und wirft mir ein Lachen an den Kopf. Wütend drehe ich mich herum, doch es entweicht zur Sonne und winkt mir von oben zu.

Schließlich endet der Platz in einem befreiten Aufatmen direkt am leeren Sandstrand. Das Meer rollt periodisch heran und nimmt meine Gefühle mit sich hinaus zum Himmel, mit dem es Eintracht hält.

Wir schreiten weiter voran, schwimmen durch den Sand und erreichen die ersten Stufen. Folgsam beschreiten wir Poseidons samtenes Reich und folgen den Fischschwärmen, die unsere Köpfe zärtlich streicheln. Uns bleibt nichts anderes übrig als weiterzugehen.

Hinaus, hinaus ... weg von den Menschen und ihren lächerlichen Problemen.

Herr K.

Herr K. betrat das Geschäft wie jeden Morgen um halb elf. Beim Klingeln der Türglocke hob der Mann an der Verkaufstheke kurz den Kopf und grüßte ihn. Sein „Guten Morgen!" schlängelte sich um die Köpfe der Kunden und zerschellte am Gesicht von Herrn K. Dieser erwiderte den Gruß mit einem kurzen Nicken seines schwarzen Hutes.

Langsam stieg er die Treppe auf, die vor ihm pyramidenförmig nach oben zu einer arroganten dunklen Tür führte. Protestierend gab sie seinem Drücken nach und weckte einen schmalen kurzen Gang, der links von zwei Fenstern beäugt wurde, aus seinem Morgenschlaf. Rechts lauerten zwei Türen auf unvorsichtige Besucher.

Herr K. wich ihren Augen aus und erreichte die Tür am Ende des Ganges. Kurz nestelte er an seiner Hose, dann hielten seine schwammigen Finger einen abgegriffenen Schlüssel bereit. Zögernd führte er ihn in das Schloss, stocherte kurz und drehte ihn dann energisch um. Ein Blick über seine Schulter zeigte ihm, dass niemand hinter ihm war. Die Türen sahen verstohlen beiseite. Flüchtig wischte er sich den Schweiß von der Stirn, bevor er eintrat.

Kaum im Zimmer schloss er hinter sich ab und drehte sich mit geschlossenen Augen um, machte zwei Schritte ins Innere des Raumes. Langsam öffnete er seine Augen und sog die Luft tief durch seine geblähten Nasenflügel ein. Das Fenster ihm gegenüber war mit grünem Tuch verhangen, Straßenlärmfetzen blieben daran hängen, jadefarbenes Licht erfüllte den Raum.

Sein Blick glitt über die aufgestapelten Spielsachen und stolperte über ein Schaukelpferd, aufziehbare Soldaten, ein dreibeiniges Teleskop, einen Kreisel, ein Luftgewehr und eine Dampfmaschine.

Herr K. zog sich rasch aus, faltete die Sachen ordentlich aufeinander und zog eine Schuluniform an, setzte eine Mütze auf und hockte sich auf den Boden, packte ein Buch und begann daraus zu lesen: „Und der V-V-Vaterrr bestrafte den ... den frechen Jungen, legte ihn ü-ü...über das Knie und ver…versohlte ihm den H-Hosenboden. Weinend lief der Junge zur Mutter. Sie legte die H...Hand auf die Stirn und wandte sich an ihre Freundinnen am Tisch. `Er hat heute Morgen s-s-seine kleine Schwester geärgert und einen Pächter erschreckt´. "Geschah Marie recht!“, flüsterte Herr K., Augenschnitt des Bildes neben ihm: Schnurrbartvater mit Uhrketten-Weste, Sonnenschirm-Mutter, bezopfte Schwester, ER.

„Die Jugend von heute!“, ereiferte sich eine andere Frau. „Zu unserer Jugendzeit hatten wir noch Respekt vor den Eltern!

Herr K. legte warf das Buch zu Boden, drehte sich abrupt um, glotzende Augenbälle. Doch Vaters Hand war nicht hinter ihm. Sein Atem beruhigte sich, wischte Schweiß von seiner Stirn. Liebevoll nahm er die Dampfmaschine aus dem Regal und begann das Feuer anzufachen.

Hei, wie lustig tanzte das Rad!

Der Kreisel rollte auf dem Boden und überholte den marschierenden Spielzeugsoldaten. Herr K. hockte auf dem Boden und klatschte in die Hände. Der Kreisel stieß gegen den Soldaten und warf ihn um, prallte gegen die Maschine und polterte gegen das Regal.

„Nein, Vater! Das kommt nicht wieder vor!", stammelte er und duckte sich auf den Boden, den Kopf unter den Händen verborgen.

Schließlich ließ sein Wimmern nach, und er hob langsam den Kopf. Der Kreisel kauerte ängstlich auf dem Boden. Mit einem raschen Griff holte er ihn heran, seine Finger konnten den Kreisel kaum umfassen. Er verbarg ihn unter sich und presste ihn so fest er konnte an seine Brust.

Der Vater würde gleich das Zimmer wieder verlassen!

Endlich entfernten sich seine Schritte aus dem Zimmer, pochten auf der Geländertreppe ins Arbeitszimmer hinab. Hans blieb liegen, bis er sich sicher glaubte, fischte den Globus aus einer alten Kiste und ließ ihn herumwirbeln. Mit dem Finger stoppte er ihn.

„Dort, dort will ich hin, wenn ich groß werde!", sagte er. Sein Finger drückte einen schwarzen Mann mit knappem Lendenschurz ins Erdreich. „Wenn ich endlich groß bin...!"

Seine Stimme wisperte durch die hohen Fenster nach draußen. Der Wind hörte ihn und schlüpfte behutsam ins Zimmer, flüsterte ihm Geschichten von fernen Ländern ins Ohr. Eines Tages...

Herr K. grüßte den Mann an der Theke kurz und verließ das Geschäft mit raschen Schritten. Auf dem Kopfsteinpflaster musste er einem Auto ausweichen. Menschengesichter blendeten ihn, ein Obsthändler preiste seine Ware an.

Wenn er einmal groß sein würde...

Schmetterlinge

Klingeln.

Tür.

Öffne.

Ein kleiner Mann steht vor der Tür.

Er hat einen großen Kopf, trägt einen Beutel in der Hand und lächelt zu mir herauf.

Ich sehe ihn fragend an.

„Ja, bitte?“

Sein Lächeln wird breiter.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich bin hier, um Ihnen zu helfen!“ sagt er.

„Wer sind Sie? Kennen wir uns?“

Er schüttelt den Kopf.

„Nein, aber Sie haben mich bereits gesehen!“

„Wo? Wie? Wann?“ entfährt es mir.

„Vorgestern auf dem Parkplatz beim Einkaufen, gestern vor Ihrem Büro. Erinnern Sie sich?“

Fotos blitzen auf. Gesicht. Lächeln. Seins.

„Ich bin ein Sammler!“

„Ein was?

„Ein Sammler!“

„Und was sammeln Sie?“

„Erinnerungen!“

Ich sehe ihn entgeistert an.

„Was …?“

Er bückt sich und hebt etwas vom Boden auf, das er rasch in seinen Beutel steckt.

„Auch Ihre!“

Ich trete unwillkürlich einen Schritt zurück.

„Ja, auch Ihre!“

Pause

„Die Menschen lassen ihre Erinnerungen achtlos fallen, als wären sie mit den Erinnerungen auch die Wunden und Schmerzen los. Ich hebe sie auf, reinige sie und gebe sie den Leuten bei Bedarf zurück.“

„Bei … Bedarf?“

„Wenn der Besitzer sich an Dinge erinnern muss, die er einst weggeschlossen geglaubt hatte.“

„Wieso ich?“

„Sie müssen wissen, warum. Ich bin nur der Überbringer!“

Der Mann hält mir den Beutel hin.

„Da nehmen Sie!“

Mechanisch ergreife ich den Beutel.

Er lächelt mich an tippt sich an die Stirn und geht die Treppe hinab.

Ich sehe ihm nach, bis er verschwindet. Dann schließe ich die Tür, gehe durchs Wohnzimmer und trete auf den Balkon.

Den offenen Beutel stelle ich auf einen Tisch.

Die Erinnerungen verlassen den Beutel und umschwirren mich Schmetterlingen gleich.

Mein Vater

Mein Vater war ein toller Mann

Er war groß und stark und trug mich auf seinen Schultern.

So konnte ich immer weit schauen.

Den Schlagball warf er weiter als alle anderen.

Beim Tauziehen waren drei Mann notwendig, um ihn von der Stelle zu bekommen.

Er wusste immer, wieviel Geld er bei sich trug.

Seine Schuhe standen aufgereiht auf der Fußbank im Flur. Er putzte sie 1-mal pro Woche.

Er wusste stets, wohin wir fuhren, und wir kamen immer pünktlich an.

In Mathematik, Englisch und Physik half er mir bei den Hausaufgaben.

Er wusste immer alles und erklärte mir die Welt.

Mein Vater …

Mein Vater

Meinen Vater habe ich zuletzt gesehen, als ich 2

Jahre alt war.

Nun habe ich selbst einen Sohn.

Und ich möchte, dass er einst sagen kann:

Mein Vater war ein toller Mann

Er war groß und stark und …

Die Reiter

„Sie kommen! Sie sind hinter mir her!" rief der Mann und versuchte sich loszureißen, aber ich hielt ihn am versengten Wams fest. Angst und Wahnsinn flackerten in seinen grauen Augen. Der Mund klaffte im verhärmten Gesicht wie eine offene Wunde, wirres Haar.

„Beruhig' er sich, Mann! Wer verfolgt und wieso?"

„Ich war in der belagerten Stadt unten an der Biegung des Flusses, als die letzten Wälle mit Schwert und Feuer gestürmt wurden. Sie müssen doch den Feuerschein gesehen haben, Herr, als die Häuser gebrandschatzt wurden!"

„Ich sah das Leuchten der Morgenröte am Himmel!"

„Das Schreien der geschändeten Frauen und der Kinder und Greise, die sie lebend in die Fluten warfen, Herr!"

„Ich lauschte dem müden Gesang des Windes in den Wipfeln!"

„Ich muss hier weg!" sagte er und riss sich los.

„Wer verfolgt sie?"

Er deutete nach hinten. Auf einem Hügelkamm erschienen drei Reiter, die ihre Pferde zügelten. Einer führte ein herrenloses Pferd am Zügel. Sie deuteten in unsere Richtung und gaben ihren Pferden die Sporen.

„Da! Sie kommen!"

Er wollte davonlaufen, aber ich ergriff ihn erneut am Ärmel und hielt ihn zurück.

„Wo wollen sie denn hin, so zu Fuß? Ohne Waffen?"

„Das Wort ist stärker als der Stahl! Welch Irrglaube!"

Sein Lachen verschmolz mit dem Horizont.

"Wir büßen alle für unsere Blasphemie! Der Einzige läßt sich nicht ins Handwerk pfuschen!" Irres Lachen. "Wir alle müssen bezahlen! Hier und jetzt und zu jeder Zeit!"

Er riss sich erneut los und lief vor mir den sanften Hügel hinab. Ein kleiner Bach plätscherte in einiger Entfernung, dahinter erhoben sich weitere geduckte Hügel. Schwach zeichneten sich Häuser in weiter Ferne ab. Seine Gestalt begann langsam kleiner zu werden.

Die Reiter

... waren heran.

Sie zügelten die bunten Pferde. Der Schimmel war herrenlos. Derjenige, der es am Zügel führte, reichte sie mir.

„Los, steig auf! Wir müssen den Menschen kriegen und ihn von seinen blasphemischen Ansichten befreien!" sagte er. „Im Namen des Einzigen!"

Ich stieg auf, und wir folgten der kleinen Gestalt, die in der Ferne kaum noch auszumachen war.

Herz aus Glas

An einem kalten Wintertag wurde ein Kind geboren – ein gläsernes Kind. Deutlich waren jede Ader und Vene, das Pulsieren des Herzens zu sehen. Die Eltern fürchteten, das Kind würde nicht überleben und tauften es auf den Namen Elias. Aber Elias gedieh und wuchs heran, wurde kräftig und stark. Er war ein aufgewecktes und neugieriges Kind, das alles sehen und erleben wollte. Rasch bemerkte Elias, dass die anderen Menschen ihn mieden. Während sie sehen konnten, was in seinem Inneren geschah, sah er bei den anderen nur ihre Hülle. Er lernte seine Durchsichtigkeit zu verstecken hinter Kleidung und fadenscheinigem Benehmen.

Aber Elias hatte eine weitere Besonderheit, eine Gabe. Er konnte sein Herz verschenken, es aus dem Brustkorb nehmen und es jemand anderen geben. Er schenkte es Mädchen und Frauen, mit denen er zusammen war. Einige nahmen das Herz behutsam in ihre Hände und behandelten es sanft, andere warfen es ihm vor die Füße, wo es zersprang. Er klaubte die Splitter vom Boden auf und setzte sein Herz zusammen.

Eines Tages spazierte Elias hoch über den Köpfen der anderen. Plötzlich geriet er ins Straucheln und stürzte tief hinab auf die Straße zwischen die Menschen. Durch den Aufprall glitt sein Herz aus seiner Brust und zerschellte in tausender kleiner Splitter, die davonstoben. Menschen zertraten sie achtlos.

Elias las die Splitter vom Asphalt auf und trug sie vorsichtig in seinen Händen. In der Menge Mensch wurde er hin- und her gestoßen und verlor die Splitter, bis er ein letztes größeres Stück in Fingern hielt.

Mühsam bahnte er sich einen Weg durch die Masse. Schließlich wurde er niedergestoßen, der Splitter entglitt seinen Händen. Bevor jemand darauf treten konnte, hob ein Kind den Splitter auf und sah hindurch.

„Ein Regenbogen!“, rief es aus und lachte.

Elias kam wieder auf die Beine. Das Kind reichte ihm den Splitter, der wieder zu einem pulsierenden Herzen gewachsen war.

„Paß besser darauf auf!“, sagte das Kind.

„Das werde ich!“ versprach Elias.

Er setzte das Herz wieder in seine Brust und verwahrte es gut darin auf.

Nur bei besonderen Menschen, holte er es hervor und zeigte es ihnen.

Liebe

Der Mann lag still da, wagte kaum zu atmen – aus Angst, das kostbare Bild könnte sich in Wohlgefallen auflösen. Er konnte sich nicht satt sehen an dem schlanken hellen Körper neben ihm, an den langen dunklen Haaren, dem herrlichen Busen und den langen Beinen. Er schloss die Augen und atmete tief ihren Geruch ein, nachdem er sich so lange gesehnt hatte. Mit dem Geruch kamen die Erinnerungen an das damals.

Die Frau erhob sich in einer fließenden Bewegung und glitt auf den Balkon zu. Wind griff mit Vorhängen nach ihr. Sie spürte deutlich den Blick des Mannes auf ihrem Rücken. Auf dem kleinen Balkon blieb sie stehen und sah sich um.

Sie konnte hören, wie der Mann aufstand und hinter sie trat.

Langsam legte er die Arme um sie und zog sie an sich heran. Sie lehnte sich zurück, ihren Kopf an seiner Schulter. Kuss. Küsse. Langsam und leidenschaftlich. Unter ihnen lag die Stadt, das rötliche Licht des Sonnenunterganges durchflutete die Gassen und Straßen.

„Endlich habe ich Dich wieder, meine Liebe!“, flüsterte er „Zehn Jahre war ich wie tot. Erst jetzt lebe ich wieder!“

„Ich habe nie aufgehört Dich zu lieben! Jeden Tag habe ich an Dich gedacht!“

„Zehn Jahre! So nah beieinander und doch so weit entfernt!“

Er deutete auf die Insel vor der Küste. Die Bergspitzen verschwanden in der Dämmerung. „Wir segelten sofort hin, als wir unser Dorf brennen sahen. Die Barbaren tanzten vor den Flammen, niemand schien dem Gemetzel entkommen zu sein. Wir drehten ab und ich ließ mich hier nieder. Wer konnte ahnen, dass Du Dich auf die Insel gegenüber retten konntest?“

Er küsste ihren Hals.

„Endlich habe ich Dich wieder! Endlich!“

Sie drehte sich um, gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss, ergriff seine Hand und führte ihn in das Zimmer zurück.

Der Mann im Liegestuhl

Ich entdecke den Mann im Liegestuhl an unserem vierten Tag hier in Marseille. Wie die meisten Flüchtlinge aus dem Norden waren wir hier in einer Turnhalle untergebracht worden. Meine Frau und die beiden Kinder gingen an den Strand, während ich versuchte, eine Überfahrt nach Nordafrika zu organisieren. Wir waren nicht die einzigen, die vor den heranrückenden Deutschen nach Nordafrika übersetzen wollten. Überall drängten sich Menschen. Fischer wurden von verzweifelten Menschen angesprochen, um sie gegen Geld überzusetzen. Dabei sah ich die Gier in den Augen der Fischer und die Angst in den Augen der Fragenden und Bittenden.

Wie in den letzten Tagen stand ich auch wieder am Kai und beobachtete die Kutter, die reiche Flüchtlinge hinaus aufs Meer brachten. Geschichten machten die Runde, dass die Zigeuner unter den Fischern nur Flüchtlinge mitnahmen, um sie auf hoher See umzubringen und dann zurückzukehren, um die nächsten aufzunehmen. Gerüchte über deutsche U-Boote kursierten, die nur auf hoher See auf die Flüchtlingsboote warten würden, um sie zu versenken.

Geschichten, Gerüchte.

Marseille brodelte vor Menschen und ihren Geschichten. Die Cafés waren überfüllt von Menschen, die nach einem Ausweg suchten. Unter den Geflüchteten waren viele Juden Es kursierten wilde Geschichten über Lager, in denen die Juden von den Deutschen untergebracht wurden, um sie zu internieren oder nach Afrika zu verschiffen.

In Paris hatte ich als Ingenieur gearbeitet und war an der Planung und Ausführung von mehreren großen Gebäuden im Stadtzentrum beteiligt gewesen. 1936 war ich mit Rahel, meiner Frau, aus Bordeaux nach Paris gezogen. Die beiden Kinder waren noch klein gewesen. Francois war jetzt 7 und Sara 5. Mit staunenden Augen hatten sie uns dabei beobachtet, wie wir in aller Eile die wichtigsten Sachen in den Wagen packten. Meine Frau war Jüdin, und wir waren wie viele andere Franzosen Hals über Kopf vor den heranstürmenden Deutschen geflohen. Meine Eltern waren vor Jahren gestorben, ihre wohnten in Algier, wohin wir zu kommen hofften. In den Kolonien sollten wir vor den Deutschen sicher sein. Laut den letzten Berichten standen die deutschen Panzertruppen nur wenige Kilometer vor Paris. Es war mühsam gewesen, sich mit dem Wagen durch die verstopften Straßen zu kämpfen. Seit Tagen hatte ich schon Benzinkanister gehortet, so dass wir zwei Tage fahren konnten ohne tanken zu müssen. Zweimal mussten wir aus dem Wagen raus und in einem Straßengraben Deckung suchen, als deutsche Flugzeuge erschienen. Sie flogen tief über die Kolonne entlang, wohl eher, um uns Angst zu machen, als um auf uns zu schießen. Unsere Kinder spielten am Strand. Franois schoss den Ball hoch in die Luft und er rollte bis zu einem Mann im Liegestuhl. Dieser bückte sich, hob den Ball auf und warf ihn Francois zu. Ich trat zu ihm. Er war groß und schlank und trug eine helle Hose und ein weites helles Hemd mit hochgerollten Ärmeln. Seine Haare waren an den Schläfen ergraut, er hatte große klare Augen und ein männlich markantes Gesicht.

„Danke für den Ball!“, meinte ich.

Er nickte. Ich drehte mich um und spielte weiter mit den Kindern. Am späten Nachmittag verließen wir den Strand und gingen über die Uferstraße. Hier waren kleine Cafés mit klangvollen Namen wie Riviera, Casablanca, Café del Mondo oder Hollywood. Überall saßen Menschen davor. Andere hockten auf niedrigen Mauern oder auf dem Boden. Kellner huschten zwischen den Menschen und brachten Getränke und kassierten sogleich ab.

In den Straßen hinter der Uferpromenade waren die Cafés kleiner, schmutziger, ebenso die Menschen, die sie umgaben. Wir mussten fast einen Kilometer gehen, bis wir an die Turnhalle kamen, in der wir untergebracht waren.

Das Abendessen bestand aus einer einfachen Suppe mit Brot. Wir setzten uns zu den anderen an die langen Tische in einer Ecke der Turnhalle und aßen.

Die Kinder ließen ihre Beine baumeln und neckten sich.

Fast wie im Urlaub.

An der einen Seite des Tisches saß ein junges Paar. Die Frau weinte und der Mann versuchte sie zu trösten. Sie redeten von der Wohnung, die sie zurückgelassen hatten, den Freunden, Hunden und Katzen.

Während ich ihnen lauschte, kam es mir vor, als wäre das alles Hundert Jahre entfernt. Versuchte meine Gedanken an das Gestern zu vertreiben. Es machten keinen Sinn, in der Vergangenheit zu leben. Das hier, die Turnhalle, die Suppe, meine Familie, das war Realität. Die Deutschen waren Realität.

Später brachten wir die Kinder zu Bett. Wir schliefen in einer Ecke der Turnhalle auf vier Armeeliegen. Sie waren unbequem, aber meine Frau hatte sie mit den mitgebrachten Decken bequem gemacht. Überhaupt war Rahel ein Fels in der Brandung für ich gewesen. Sie war stark und hielt uns alle zusammen. Sie war beinahe hysterisch gewesen, als ich ihr eröffnete, dass wir Paris verlassen mussten. Dann hatte sie sich rasch gefasst und hatte alle wichtigen Sachen eingepackt. In einen der Koffer hatte ich auch mein Diplom gelegt – falls ich in der Kolonie einen Nachweis meiner Qualifikation benötigte. Jetzt beschäftigte und sie Frage: Wie hinkommen?

Rahel und ich setzten uns an den Tisch und betrachteten die alte Karte, die ich mitgebracht hatte. Die Route von Marseille nach Algier war mit roten Strichen angedeutet. Wir folgten den Strichen mit dem Finger nach. So nah und doch so fern! Rahel deutete auf einen Ort unweit von Algier.

Boumerdes

„Hier leben meine Eltern!“, sagte Rahel. „Ich habe gestern versucht ihnen ein Telegramm zu schicken, aber das Amt war hoffnungslos überfüllt.“

„Ich war gestern noch mal am Flughafen und habe mich nach Maschinen erkundigt, die uns nach Nordafrika bringen können. Die wenigen Tickets sind unbezahlbar, die Wartelisten sind ellenlang. Es gibt einige Privatflieger, aber die bringen nur die Reichen hinüber.

Wir können uns das niemals leisten. Auch nur die Kinder übersetzen zu lassen ist zu teuer. Wir müssen wohl mit einem Schiff übersetzen. Am Hafen sprach ich mit mehreren Beamten. Selbst mit Bestechung dauert es noch mindestens 3 Wochen, bis wir ausreisen können.“ Ich schüttelte mit dem Kopf. „Ich weiß nicht, wie lange wir das hier noch durchhalten. Unser Geld geht zur Neige. Wann werden die Deutschen hier sein? Sie sind schon in Paris. Hast Du die Nachrichten im Radio gehört? Unsere Armee hat sich aufgelöst, flieht vor den Panzern der Deutschen. Die Engländer haben uns im Stich gelassen. Niemand kann die Deutschen noch aufhalten!“

Rahel nahm meine Hände in ihre und hielt sie an ihr Gesicht. „Was auch kommen mag, Jacques, wir werden es gemeinsam schaffen. Wir gehen gemeinsam nach Nordafrika oder bleiben gemeinsam hier!“

Ich musste lächeln. „Meine kleine Rahel!“, sagte ich und küsste sie sanft. „Du bist mein Fels in der Brandung!“

Da lachte sie und küsste mich zurück. Wir redeten über unsere Zeit in Nordafrika und was wir alles machen würden. Ihre Eltern waren alt, vielleicht konnten wir deren Lebensmittelladen übernehmen.

„Etwas zu essen brauchen die Leute immer!“, meinte Rahel und malte mir aus, wie wir in dem Laden die Einheimischen bedienen würden. Im Garten würden die Kinder spielen können, das Meer und der Strand wären gut erreichbar. Sie träumte weiter und ich dachte an die Möglichkeit, eine Kabine auf einem der Passagierschiffe zu bekommen. Später legten wir uns schlafen.

Am nächsten Morgen war ich morgens früh aufgestanden, gegen 04:45 und begab mich zur Hafenbehörde. Hier standen in der Morgenkälte schon Dutzende von Menschen. Wichtig aussehende Polizisten und Beamte zwängten sich durch die Wartenden und betraten das Gelände durch ein Tor, das sich hinter jedem der Passierenden schloss. Ein Beamter mit dicker Mappe erschien gegen 07:00 und ließ die Wartenden einzeln vortreten. Ein anderer saß hinter einem Tisch unweit des Tores. Die Menschen traten einzeln heran, zeigten ihm ihren Ausweis und brachten ihr Anliegen vor. Alle wollten an Bord eines Schiffes hinausfahren oder mit einem Flugzeug ausfliegen. Er notierte sich die Namen der Leute, ihre jetzige Adresse und versprach, sich um Plätze auf Schiffen zu kümmern. Die nächsten freien Plätze wären erst in vier Wochen zu erwarten. Endlich war ich dran, legte meine und unsere Papiere vor. Er notierte sich meinen Namen, den Namen meiner Frau und der beiden Kinder. Als er mir den Paß zurückgab, sah er mir nur auf die Krawatte, nicht in die Augen.

„In vier Wochen werden wohl Plätze auf den Schiffen frei werden, Monsieur Leclerc. Abhängig von der Situation. Wir haben Ihren Namen notiert. Melden Sie sich in 3 Wochen noch einmal bei uns!“

Ratlos stand ich vor ihm. Er sah an mir vorbei zum nächsten. Ich drehte mich um und ging zum Tor, der nächste trat an den Tisch, seinen Hut in den Händen.

Auf dem Weg zurück kaufte ich in einer kleinen Bäckerei Brot. Dabei zählte ich mein Geld. Es ging rasch zur Neige. Noch vier Wochen würden wir nicht auskommen. Mehrere Menschen bettelten mich unterwegs an. Achselzuckend und bedauernd ließ ich sie stehen. Ich hatte mal Machiavelli gelesen und seine Sicht der Dinge damals nicht verstanden. Jetzt verstand ich es besser. Der Mensch zeigt sein wahres Antlitz, wenn es um seine nackte Existenz geht. Die Decke der Zivilisation ist dünn.

Unwillkürlich ging ich zur Promenade hinunter. Menschen hatten an der niedrigen Mauer oder auf den Bänken übernachtet.

Ein Kind weinte irgendwo. Wohl vor Hunger.

Nach kargen dem Frühstück gingen wir zum Strand. Der Mann von gestern, der den Ball meines Sohnes aufgehoben hatte, saß an der gleichen Stelle wie gestern. Er trug einen einfachen hellen Anzug und sah auf das Meer hinaus. Entspannt sah er aus, anders als all die anderen Menschen um ihn herum. Er interessierte mich. Die Kinder gingen mit Rahel an das Wasser. Es war noch frisch, aber die Sonne begann den Sand und die Herzen zu wärmen.

„Entschuldigen Sie!“, sprach ich den Mann an.

„Sie sind uns gestern schon aufgefallen!“

Der Mann sah auf zu mir und hob fragend die Augenbraue.

„Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Leclerc.“

Der Mann lächelte.

„Donatelli!“ stellte er sich vor.

Wir reichten uns die Hand.

„Ihre Familie!“

Er wies mit einem Nicken auf Rahel und die beiden Kinder. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Ich nickte.

„Woher stammen Sie? Dem Akzent nach aus Paris!“

Ich bejahte.

„Wir sind wie die anderen geflohen. Jetzt suchen wir eine sichere Überfahrt nach Nordafrika. Dort leben die Eltern meiner Frau.“

„Damit sieht es schlecht aus!“, sagte er und lächelte. „Alle wollen nur weg von hier.“

„Und woher kommen Sie?“

Donatelli wies auf die Stadt hinter sich.

„Ich bin von hier, wuchs unweit von hier auf.“

„Und was machen Sie jetzt? Wollen Sie auch nach Nordafrika übersetzen?“

Er sah mich an und überlegte kurz.

„Ich habe es nicht eilig,“ sagte er. „Ich habe viel von der Welt gesehen und bin jetzt wieder hier gelandet. Mal sehen!“

„Wo waren Sie denn überall?“

Er überlegte. Meine Kinder und Rahel kamen. Ich stellte Sie Herrn Donatelli vor. Donatelli erhob sich aus seinem Sessel, um meiner Frau die Hand zu geben. Dabei bemerkte ich erst, wie groß er war, mindestens 1,90 Meter.

„Die Kinder wollen am Strand entlanggehen!“, sagte Rahel. „Kommst Du mit?“

Ich nickte.

„Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Monsieur Donatelli!“

„Ebenso!“, meinte er und ließ sich wieder auf dem Liegestuhl nieder.

Wir gingen am Strand spazieren und beobachteten die Schiffe. Viele anderen Menschen spazierten ebenfalls am Strand entlang. Was wollten sie auch anderes tun? An einem Kiosk prangten die Zeitungen mit den Siegesmeldungen der Deutschen. Paris war gefallen, ihre Panzertruppen drangen Richtung Süden vor. Rahel las die Zeilen und sah mich ängstlich an.

„Wir müssen unbedingt von hier fliehen!“

Ich beruhigte sie und wir gingen weiter. Auf einem Spielplatz hielten wir an. Die Kinder wollten unbedingt schaukeln. Sie setzten uns zu einem anderen Pärchen auf die Bank. Schnell drehte sich das Gespräch um den Krieg, die Angst vor den Deutschen. Auch sie waren Flüchtlinge, auch aus der Nähe von Paris. Auch sie wollten hinüber nach Nordafrika. Und wie wir hatten sie kaum Hoffnung. Der Mann legte seinen Arm um die Frau, als sie leise zu weinen begann. Seltsamerweise berührten mich Ihre Tränen nicht. Etwas hatte sich in mir verändert, meine Einstellung zu anderen Menschen hatte sich verändert. Mein Onkel Gustave hatte im ersten Weltkrieg gekämpft und er hatte mir von den endlosen Tagen im Graben erzählt. Als ich klein war, berichtete er davon wie von einem Abenteuer. Eines Tages, als ich 16 und er betrunken bei uns auf der Couch saß, berichtete er mir voller Entsetzen über die ganzen Leichenberge, neben denen er seine Suppe gegessen hatte. Teilnahmslos, abgestumpft. Ihm war der Tod allgegenwärtig gewesen und er hatte ihn umarmt.

„Nur wer den Tod liebt, kann ihm auch entkommen!“, hatte er besoffen gestammelt.

„Die Kameraden waren mir egal. Hauptsache ich habe eine Schlacht überlebt, einen weiteren Tag überstanden!“

Damals hatte ich seine Haltung nicht verstanden. Jetzt, auf der Flucht mit der Familie, Angst vor den herankommenden Deutschen und wenig Hoffnung auf Rettung verstand ich ihn besser. Er hatte sich wenig später nach unserem Gespräch in der Scheune aufgehängt.

Wir kehrten zur Promenade zurück. Ich trug Sara, die müde war. Sie hatte ihre Arme um meinen Hals geschlungen und schlief. Wir kehrten zur Turnhalle zurück, wo ich Sara auf ihr Bett legte. Rahel und Francois blieben bei ihr, ich ging hinunter zum Strand. Monsieur Donatelli lag mit geschlossenen Augen in seinem Liegestuhl, die Sonne im Gesicht. Ich ging an ihm vorbei und verdeckte kurz die Sonne. Er öffnete die Augen und sah mich an. „Ich habe die Sonne genossen!“, sagte er. „Sonst bleiben mir wenige Freuden!“

„Sie sagten mir, dass sie viele Länder gesehen hätten!“, begann ich. Er richtete sich im Liegestuhl auf.

„Warum interessieren Sie sich so für mich und mein Leben?“

Ich lächelte.

„Wir haben viel Zeit, und hier passiert wenig Interessantes!“

Donatelli lächelte. „Das stimmt auch wieder, Monsieur…“

„Leclerc!“

„Ah … oui.“

Er atmete tief ein und erhob sich dann.

„Ich muss jetzt gehen!“, erklärte er und nahm seinen Liegestuhl, den er zusammenklappte.

„Vielleicht sehen wir uns morgen!“, meinte ich

Er nickte, packte seinen Liegestuhl und ging davon.

Am Abend lag ich lange wach und überdachte unsere Lage. Langsam stieg die Hoffnungslosigkeit in mir auf, die ich nur mühsam unterdrücken konnte. Rahel war an meiner Seite schon eingeschlafen. Ich beobachtete ihr Gesicht im Schlaf. Sara und Francois schliefen ebenfalls. Sie atmeten ruhig.