Geschichten aus dem Nachbarschaftscafe - Johannes I. L. Pfeiffer - E-Book

Geschichten aus dem Nachbarschaftscafe E-Book

Johannes I. L. Pfeiffer

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Beschreibung

In Kurzgeschichten beschreibt der Autor wichtige Themen des Lebens wie Liebe, Respekt, Sehnsucht, Ärger mit Ämtern, etc

Das E-Book Geschichten aus dem Nachbarschaftscafe wird angeboten von BoD - Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Belletristik, Abenteuer, Science Fiction, Krimi, Fantasy

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Seitenzahl: 218

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DAS BUCH

In diesem Buch beschreibt der Autor in Kurzgeschichten Themen wie Bindungen, Liebe, Sehnsucht, Respekt, Kampf mit den Ämtern, Wahrheit, Frauenpower, andere Länder - andere Sitten, Sinne, Rheinspaziergang und vieles mehr. Sie stammen aus verschiedenen Genres, einige beschreiben Selbsterlebtes. Dabei tauscht er sich mit anderen Autoren monatlich in einem literarischen Kreis zu den Themen aus.

Den Abschluss bilden biblische Geschichten mit einem unerwarteten Turn.

DER AUTOR

ist Bauingenieur, schreibt seit seinem 12. Lebensjahr Kurzgeschichten und Romane in den Genres Belletristik, Thriller, Krimi und Science-Fiction. Die Geschichten sind lebendig und vielschichtig und verfügen oft über einen unerwarteten Turn. Seine Lieblingsautoren sind Kafka, Pessoa, Hemingway, Chatwin, Malaparte, Poe, Mann, Hesse und Goethe.

Bereits veröffentlicht:

Schriftkram ISBN 978-3-759-77013-4

Schrift-Gut ISBN 978-3-759-77036-3

Schrift-Art ISBN 978-3-759-72902-6

Inhalt

Das Jahr

Januar und Februar

Der Plan

Wahrheit

März

Liebe

Im Garten

Ärger mit der Technik

April

Glücksboten

Andere Länder - Andere Sitten

Rheinspaziergang

Mai

Bindungen

Frauenpower

Respekt

Juni

Kaffeeklatsch

Generationen

Das Sofa

Juli

Entfallen

August

Der Kreisverkehr

Kampf mit den Ämtern

Die Lösung auf alle Fragen des

Universums ist

September

Alles für die Tonne

Der Zettel / Das Geschenk

Wandererlebnisse

Oktober

Wer anderen eine Grube gräbt

Gesellschaft

Freiheit

November

Lust und Frust

Sinne

Auf Knopfdruck

Dezember

Literarischer Adventskalender

Das Adventsgesteck

Licht und Schatten

Sonstige Geschichten

Ein glücklicher Tag

Wenn Blätter fallen I

Wenn Blätter fallen II

Wenn Blätter fallen III

Peter

Das weiße Zimmer

Die Stimme

Terra incognita

Sehnsucht

Biblische Geschichten

Barabbas

Lilith

Die Ersten

Jericho

Der engste Bruder

Der Holzhändler

Das Jahr

Januar und Februar

Der Plan

Mein Vater gehörte zu den Menschen, die sich im Hotel als erstes immer die auf dem Flur ausgehängten Fluchtpläne ansehen und sich ausrechnen, wie schnell sie das Hotel sicher verlassen können. In seiner Firma achtete er bei den Planungsunterlagen auf Kleinigkeiten. Es bürgerte sich ein, dass er die Pläne als Letzter bekam, bevor sie an die Ausführenden verschickt wurden. Er fand Details, die man vergessen hatte, darzustellen oder die nicht funktionieren würden. Er berichtete davon zuhause beim Essen. Wir Kinder konnten es irgendwann nicht mehr hören. Unsere Mutter hörte ihm immer zu. Wir drei Kinder hatten die Vermutung, dass sie nur hin und wieder nickte oder etwas fragte, damit er das Gefühl hatte, es würde sie interessieren. Unser Vater breitete vor Antritt eines Urlaubs auf dem Wohnzimmertisch Pläne und Prospekte aus, hielt auf einem Zettel fest, was wir uns alles anschauen sollten, wie weit entfernt und wie erreichbar.

Wir Kinder wurden größer und älter und studierten, teilweise in anderen Ländern. Hin und wieder meldeten wir uns bei ihm oder wir erhielten eine Karte aus dem Urlaub von ihm, alles in seiner gestochen scharfen Handschrift. Als die Mutter starb, brach ihm das Herz, seine Anrufe wurden weniger.

Wenige Jahre später starb auch er.

Wir alle haben Kinder, ich drei Söhne, und ertappe mich dabei, dass ich vor einer Urlaubsreise Pläne und Prospekte auf dem Wohnzimmertisch ausbreite und auf einem Zettel festhalte, was wir sehen wollen, wie weit diese vom Hotel entfernt sind - und im Hotel studiere ich zuerst die Flucht- und Rettungswegpläne...

Wahrheit

„Die Wahrheit! Wer will schon die Wahrheit wissen, sie Narr!“

Der Mann beugte sich zu mir herunter und spie mir die Worte förmlich ins Gesicht. Er trug einen dunklen Mantel und einen dunklen Hut. Seine Augen blitzten hinter der Brille mit goldener Fassung.

„Glauben sie, die Menschen wollen das wissen, was sie als die Wahrheit bezeichnen? Nein, der Mensch will belogen und betrogen werden! Die ganze Welt will belogen werden! Wir Menschen sind so programmiert. Wir glauben lieber an das, was uns angenehm ist als an das, was die Wahrheit ist!“

Er deutete auf die Bildschirme um uns herum. Sie zeigten Aufnahmen von Katastrophen, Unwettern, Krieg und Zerstörung, Menschen liefen in Panik umher.

„Das ist die Realität. Aber die Menschen sollen das hier sehen!“

Er winkte einem der Männer an den Steuerungen zu und plötzlich war auf allen Monitoren eine Sommerwiese zu sehen, auf der Schmetterlinge tanzten.

„Das hier wollen die Menschen sehen, und wir geben ihnen das, was sie sehen wollen!“

Er trat wieder eng an mich heran. Ich konnte nicht aufstehen, sie hatten mich an einen Metallstuhl festgebunden, der am Boden verankert war. Den Knebel hatten sie mir abgenommen. Mir war kalt, obwohl ich schwitzte. Sie mussten mir etwas gespritzt haben, als ich nach den Schlägen ohnmächtig geworden war.

Der Mann fasste mit seiner behandschuhten Hand in meine Haare und bog meinen Kopf zurück. Sein Gesicht war nahe an meinem, sein Speichel tropfte auf mein Gesicht. Seine blauen Augen waren groß und glänzten. Wahnsinn leuchtete aus ihnen.

„Sie wissen gar nicht, welchen glorreichen Zeiten wir entgegen gehen, Müller! Der Führer wird uns zum überwältigenden Sieg führen. Wir werden die Weltherrschaft an uns reißen! Dafür müssen wir an den Code in ihrem Kopf. Entweder geben sie uns den freiwillig oder wir holen uns den!“

Er holte aus und wollte zuschlagen.

„Programm - Stopp!“, rief ich laut aus.

Der Mann hielt mitten in der Bewegung inne.

„Programm - Meine Fesseln lösen!“

Der Mann und ein Wachposten an der Tür traten heran und lösten mir die Fesseln. Mühsam kam ich auf die Beine. Die ganze Veranstaltung war sehr real gewesen. Ich ging an dem Mann vorbei, der mich verhört hatte zu den Wachen an der Tür. Auf meinen Befehl hin traten sie beiseite.

Draußen folgte ich einen breiten Gang und genoss die helle Abendsonne. Ich fühlte noch die Nachwirkungen der Schläge durch die Androiden. Ich musste unbedingt mit deren Programmieren sprechen, damit diese das gesamte Programm noch einmal überarbeiteten.

Durch den großen Vergnügungspark, der Erfahrungen aus allen Epochen der Weltgeschichte anbot, ging ich langsam Richtung meines Hoovercars. Hinter mir leuchtete die Reklame auf: „Besuchen Sie Hitlers Nazi- Deutschland! Inklusive einer echten Befragung durch die GeStaPo.“

März

Liebe

Wie so oft stand der Mann in der Küche am hohen Bartisch und hatte seinen Laptop vor sich stehen. Er sah auf den Monitor und sah ratlos aus.

„Was ist das Thema deines Artikels?“

„Der Chefredakteur war der Ansicht, dass ich etwas zum Thema Liebe schreiben sollte. Das war wohl eine wiederholte Aufforderung in der Leserpost. Und jetzt muss ich was schreiben.“

Er sah zur Decke.

„Liebe, Liebe...“

Seine Frau stand am Herd und kochte, sie trug eine Schürze und aus Spaß eine Mütze. Sie stellte den Herd kleiner, trat zu ihrem Mann und gab ihm einen Kuss.

„Dir wird schon etwas einfallen, da bin ich mir sicher.“

„Liebe, Liebe. Ich muss mal googeln.“

Der Mann tippte auf der Tastatur.

„Liebe, es gibt verschiedene Arten von Liebe, Bruderliebe, Geschwisterliebe, Liebe zum Partner, zu den Kindern,... wusstest du, Schatz, dass es auch Menschen gab, die mit Nachnamen Liebe hießen?“

„Nein, das wusste ich nicht. Was du alles weißt!“

Der Mann lachte.

„Das Internet, nicht ich! Liebe... puh, das ist echt schwer.“

Er sah sich in dem Raum um, schloss die Augen, wusste nicht, wie er anfangen sollte.

„Liebe... ah, Filme sind immer gut. Love-Story. Guter Anfang.“ Er tippte einige Worte, verharrte. „Filme und Bücher und Musik gehen an sich immer.“ Er pfiff Melodien vor sich hin. Seine Frau erkannte ‘Love is in the air’ von John Paul Young, ‘I’m not in love’ von 10CC, ‘Love, love me do’ von den Beatles. Ihr Mann hatte eine gute Stimme und sang einige Strophen von Liedern, die er kannte. ‘Gimme Shelter’ von den Rolling Stones, ‘Gimme all your lovin’ von ZZ Top und anderes ließ er aus dem Internet anspielen.

„Tolle Musik!“, meinte seine Frau und gab ihm einen Kuss. „Ich habe einen Schriftsteller und Musikwissenschaftler geheiratet!“, lachte sie.

„Nur, dass der Schriftsteller sein Leben als mittelmäßiger Journalist sein Leben bei einer Kleinstadtzeitung fristen muss!“

„Ja, aber diesen Journalisten liebe ich halt und habe ihn geheiratet, weil er so ist wie er ist!“

Sie hatte ihm die Arme um den Hals gelegt und sie küssten sich leidenschaftlich.

Aus dem Kinderzimmer ertönte eine Kinderstimme. Ein etwa dreijähriger Junge erschien und kam zu den beiden, ein Auto in der Hand. Ein Rad war abgefallen. Sie trennten sich und der Mann hob den Jungen samt Auto hoch und setzte ihn neben dem Laptop auf dem Bartisch ab.

„Na, kleiner Mann, was ist los?“

„Auto kaputt!“, meinte der Junge und hielt ihm Auto und Reifen hin.

Der Vater besah sich den Reifen. Er war nur abgegangen, nicht abgebrochen. Er steckte den Reifen wieder auf die Achse, hielt auf der anderen Seite dagegen und presste den Reifen fest an.

„So, das wird halten, Junior!“, meinte er.

Sein Sohn drückte ihn und ließ sich vom Vater wieder auf den Boden der Küche setzen. Dann bewegte er den Wagen, halb krabbelnd, halb knieend, über die Fliesen der Küche Richtung Flur.

„Liebe, Liebe...“, begann der Mann wieder.

Er trat ans nahe Fenster und sah hinaus. Im Garten tummelten sich kleine Singvögel in den Wipfeln der Bäume. Die Sonne strahlte hell und klar in die Küche. Er beobachtete Schmetterlinge über den Blumenbeeten. Der Mann sah sich um und beobachtete seine Frau und seinen Sohn, der mit seinem Auto die Küche verließ und auf dem Flur weiterspielte.

Und begriff.

Er trat an seine Frau am Herd und umarmte sie von hinten.

„Die Liebe ist immer da und wird immer da sein. Sie ist unsterblich. Sie umgibt uns. Wir müssen uns nur die Zeit nehmen, dies zu erkennen.“

Er gab seiner Frau einen Kuss auf die Wangen.

„Ich liebe dich und unseren Sohn. Danke, dass ihr in meinem Leben seid. Und das werde ich auch schreiben. Jetzt habe ich die Inspiration erhalten, die ich gesucht habe.“

Und er trat an den Laptop und schrieb seinen Artikel.

Im Garten

„Wir alle lieben die Gartenarbeit hier, und du wirst sie auch noch lieben!“, sagte der Mann und hielt mir die Harke hin.

Ich ergriff sie und sah mich um. Er deutete auf eine Stelle des Gartens, wo noch niemand war.

„Dort kannst du arbeiten! Und sei froh, dass du hier bist. Wenn du aber Mist baust, bist du schnell wieder im Sumpf!“

Ich nickte und eilte zu der angegebene Stelle. Ich war in der Tat sehr froh, hier zu sein. Nach all den Monaten und Jahren im Sumpf mit den Toten und der Hoffnungslosigkeit um mich herum war die Arbeit hier im Garten des Gouverneurs das reine Paradies. Und ich würde alles tun, um das nicht zu gefährden.

Schon acht Jahre hatte ich hier auf der Teufelsinsel ausgehalten. Weit mehr, als die meisten der Tausenden von armen Teufeln, die hier jedes Jahr eingeliefert wurden und starben, ohne das erste Jahr vollendet zu haben. Was mich am Leben hielt, konnte ich gar nicht sagen. Es war eine tiefe innere Kraft, die mich einfach immer weiter machen ließ. Wenn ich abends völlig erschöpft in meine Hängematte sank, war ich sicher, am nächsten Morgen nicht wieder aufstehen zu können und zu wollen. Und dennoch, immer wenn das Wecksignal ertönte, erhob ich mich und begann den Tag mit der Morgentoilette. Wie jeden anderen Morgen zuvor auch. Viele hatten aufgegeben, nicht mehr gegessen, ertranken in Flüssen, wurden von Schlangen gebissen oder ließen sich beißen, wurden von den Alligatoren in den Sümpfen angegriffen. Manchmal schossen die Wachen nicht auf die Alligatoren, nur um zu sehen, wie sie Gefangene angriffen, töteten und fraßen. Die Wachen misshandelten uns, manchmal missbrauchten sie einen von uns, nur so zum Spaß, ließen uns sinnlose Arbeiten tun und hatten ihre pure Freude daran.

Nur durch Zufall war ich dem Sumpf entkommen. Beim morgendlichen Zählappell war ein hoher Offizier erschienen, schritt die Reihen ab und zeigte auf einige Gefangene. Auch auf mich. Wir wurden ausgesondert. Die anderen traten ab. Wir trotteten auf Anweisung des Offiziers zu einem bereitstehenden Lastwagen, der uns in die Hauptstadt brachte. Dort stiegen wir aus und wurden zu einer Unterkunft gebracht. Wir duschten sofort und wurden entlaust und erhielten neue Kleidung.

„In einem Monat kommt eine Delegation des Roten Kreuzes auf die Insel. Wir wollen denen zeigen, dass es hier anständig zugeht. Daher werden wir auch den Garten des Gouverneurs und die Straßen der Hauptstadt säubern und schöner machen!“

Ich konnte mein Glück nicht fassen. Mindestens einen Monat weg aus den Sümpfen und wenn ich mich geschickt anstelle vielleicht auch für immer!

Wir säuberten die Straßen der Hauptstadt, ich tat, was angewiesen wurde. Wir brachten den Müll in Karren weg, reinigten die Abflüsse und die Kanalisation, verlegten Platten in Gehwegen neu, besserten Dächer und Wände aus. Egal was anfiel – wir machten es. Kaufleute und andere Bewohner gewöhnten sich an unseren Anblick und dass wir alles Mögliche für sie reparierten. Manchmal besserten wir auch deren Häuser aus. Als Bezahlung erhielten unsere Aufseher Wein und Geld. Wir erhielten nichts. Aber ich war zufrieden. Bloß weg von den Sümpfen!

Im Garten des Gouverneurs pflanzten wir neue Beete, stutzten Büsche und Hecken. Wir strichen die Veranda wieder weiß an, wo in den letzten Jahren die Farbe abgeblättert hatte. Manchmal kam der Gouverneur heraus und beobachtete uns beim Arbeiten. Er nickte, rauchte weiter an seiner Pfeife und ging wieder hinein.

Die Wächter standen unweit von uns, tranken Wein aus Kaffeekannen. Sie schoben die Helme in den Nacken und unterhielten sich lautstark über die aktuelle politische Situation in Frankreich und Europa. Sie achteten kaum auf uns. Wohin hätten wir auch fliehen sollen? Es gab nur die Insel und sonst nichts. Weit und breit nichts! Nur wenige hatten eine Flucht versucht und noch weniger hatten es geschafft, erfolgreich zum Festland zu kommen. Dort wurden sie geschnappt und wieder zurückgebracht. Nach wenigen Wochen starben sie an den Folgen der Misshandlung durch die Wachen.

Wir gingen abends in ein Haus am Rande des Ortes. Dort wurden wir in einen Raum eingesperrt ohne Fenster, mit einem Eimer für die Notdurft, den wir morgens leerten. Wir schliefen in Hängematten. Ich fiel müde hinein und stand morgens auf. Immer in dem Bewusstsein, dass der kommende Tag immer besser war als die Tage, die wir hinter uns gelassen hatten.

Die Zeit verging. Die Straßen vom Kai in den Ort waren gesäubert, die Häuser leuchteten in weiß und hellblau. Mehrmals standen wir am Kai und sahen zum Ort, der sich vor uns erstreckte. Wir genossen den Anblick, den Geruch des Meeres. Ich fühlte mich so lebendig wie schon lange nicht mehr. Am Nachmittag riefen uns die Wachen zusammen. Sie trugen neue Uniformen und verteilten Kleidung an uns. Wir sollten für morgen, wenn das Schiff mit dem hohen Besuch anlegte, gut aussehen. Sie teilten uns mit, dass wir morgen die Gepäckstücke der Ankommenden von Bord des Schiffes holen sollten. Wir nickten nur, nahmen die Kleidung entgegen. Wir erhielten auch neue Sandalen. Ich konnte es kaum glauben, lief ich doch seit meiner Ankunft auf der Insel nur barfuß herum, auch im Sumpf.

Wir brachten die Kleidung zu unserer Unterkunft, begleitet von einer gelangweilten Wache. Wir hängten sie an ein Seil auf, das wir an einer Wand entlang aufgespannt hatten.

Wir waren alle stolz auf unsere Kleidung. Acht Männer waren wir. Abends in der Unterkunft sprachen wir darüber, was wir im Zivilleben gewesen waren. Zwei waren Kriminelle, einer Arzt, der betrunken einen Patienten operiert hatte. Der Mann starb und der Arzt landete hier. Zwei Bauern, die Schulden hatten und damit beglichen, dass sie ihre Häuser anzündeten, um die Versicherung zu betrügen. Einer war Apotheker gewesen, der ein falsches Mittel weitergab, ebenfalls betrunken. Eine ganze Familie starb und er bekam zwanzig Jahre hier. Pierre, der Schweigsame, hatte schließlich berichtet, dass er seine Frau mit einem anderen im Bett erwischt hatte, und er sah auf seine Hände hinab und sagte leise, dass er beide umgebracht hatte. Ich war Ingenieur, Bauleiter bei einer Brücke. Aufgrund einer fehlerhaften statischen Berechnung war ein Teil der Brücke zusammengebrochen und vier Arbeiter starben. Mir wurde eine erhebliche Mitschuld angelastet, da ich als Bauleiter den Fehler in der Berechnung hätte sehen müssen. Wegen fahrlässiger Tötung erhielt ich fünfzehn Jahre Teufelsinsel. Ein Todesurteil! Ich erinnere mich noch, wie ich damals im muffigen Gerichtssaal vor dem selbstherrlichen Richter stand und dieser auf mich zeigte und das Urteil mir entgegenspie. Wie benommen nahm ich das Urteil hin, spürte nicht mehr, wie ich von Polizisten aus dem Raum geführt wurde. Nach der langen Überfahrt war ich dann mit all den anderen Bemitleidenswerten hier angekommen. In weiser Voraussicht hatte ich mir einen länglichen Behälter mit Geldscheinen anal eingeführt und auch drinnen behalten. Die Ärzte, die bei Entzündungen die kleinen Etuis rausschneiden mussten, behielten das Geld, andere hatten Ruhr und konnten die Etuis nicht drinnen behalten, das Geld wurde ihnen gestohlen. Ich hatte es geschafft, mir so mit dem Geld Ruhe bei den Wächtern erkauft. Das Geld war schnell weg und ich wurde genauso schlecht behandelt wie die anderen. Sogar noch schlimmer, weil die Wärter kein Geld mehr von mir erhielten. Ich musste hart arbeiten. Manchmal flehte ich Gott um den Tod an. Jetzt wusste ich, warum er mich hatte leben lassen.

Früh am nächsten Morgen erschienen die Wärter mit einem Rasierpinsel und einem Rasiermesser. Einer trug eine Schüssel voll Wasser und sie stellten alles vor uns ab. Während wir uns einseiften und vor einem Spiegel rasierten, hielten sie wegen des Rasiermessers Abstand von uns und hatten ihre Pistolen griffbereit. Anschließend sahen wir sauber aus, zogen frische Kleidung nach der Morgendusche an. Die Wächter hatten das Rasierzeug entfernt und ließen uns draußen antreten. Herbert, der Anführer der Wächter, baute sich vor uns auf, seine Hände in den Taschen.

„Gefangene!“, rief er. „Heute wird das Schiff der Besucher anlegen. Es sind Leute vom Roten Kreuz dabei, die sich bei uns umsehen wollen und nur das Beste zu sehen bekommen werden. Ihr geht an Bord des Schiffes und bringt ihre Koffer und Taschen herunter. Alles tragt ihr dann in das Haus des Gouverneurs. Für die paar Tage werden die Leute Gäste des Gouverneurs sein. Ihr alle werdet euch benehmen. Verstanden?“

Wir bejahten. Er war zufrieden und sah zum Hafen. Weit draußen kam das monatliche Versorgungsschiff langsam näher. Wir eilten zum Kai, stellten uns neben der Ehrengarde von Soldaten an, nahmen unsere Hüte ab. Der große weiße Dampfer kam näher, wurde langsamer. Er glitt zwischen den Fischerbooten heran und legte am Kai an. Seile wurden hinabgeworfen und am Kai befestigt. Matrosen eilten geschäftig an der Reling hin und her, eine überdachte Treppe wurde abgelassen, parallel zur Bordwand. Matrosen stiegen sie herunter, sicherten sie. Einige weißgekleidete Seeoffiziere verließen das Schiff, stiegen das Fallreep hinab und traten zu den wartenden Offizieren, begrüßten sich mit Händeschütteln. Die Offiziere gingen nebeneinander langsam den Kai entlang, blieben auf einen Ruf vom Schiff hin stehen. Damen stiegen das Fallreep hinab. Die Soldaten und wir sogen die Luft ein. Frauen und vor allem hübsche Frauen hatten wir schon lange nicht mehr gesehen. Die vier Damen trugen helle Kleider, Hüte und Sonnenschirme. Sie traten zu den Seeoffizieren, die ihnen die anderen Anwesenden vorstellten. Dies geschah unweit von uns. Einer der Seeoffiziere nahm die Mütze ab und wischte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn. Der Mann, groß und schlank, mit hellen Augen und braunen Haaren, sah sich um. Ich sah den Offizieren und den Frauen nach, die in Richtung des Gouverneurshauses gingen.

Laute Rufe vom Schiff ertönten, die ersten Waren wurden durch einen Schiffskran entladen und auf dem Kai abgestellt. Kaufleute waren gekommen und beaufsichtigten das Abladen ihrer Waren, teilten sie auf, sie wurden auf Karren umgeladen und weggebracht.

Einer der Wachposten trat vor und rief uns zu sich, deutete auf das Schiff und wies uns an, das Gepäck der Besucher herunterzubringen. Dann ging er das Fallreep hinauf. Oben warteten Stewards, sie führten uns zu den Kabinen der Damen. Sie wiesen uns an, welche Koffer, Taschen und Hutbehälter wir alle mitnehmen sollten. Unfassbar, wieviel Gepäck eine Frau auf eine Reise mitnehmen kann! Für mich hätte das für eine gesamte Familie gereicht! Wir trugen alles herunter. Einer der Männer strauchelte und fiel die letzten Stufen der Treppe hinab, dabei öffnete sich einer der Koffer und die Wäsche fiel heraus. Alle lachten, Gefangenen, Soldaten, selbst die Wächter. Nach wenigen Augenblicken schnauzte der Wachposten uns wieder alle an, schlug und trat nach dem Mann.

Der Gefangene raffte die Kleidung zusammen und stopfte alles in die Tasche. Wir trugen alles den Kai entlang, folgten den Damen und Offizieren. Uns begleiteten auch die Schiffstewards. Die Wachen hielten uns auf Abstand. Erst nachdem die Gruppe beim Haus angelangt war, durften wir ebenfalls dorthin. Am Eingang wurden wir zurückgehalten. Die Stewards erkundigten sich bei dem Major Domus nach den Zimmernummern der Damen. Dann gingen sie voran, gefolgt von uns. Wir brachten das Gepäck zu den Zimmern.

„Miss Svensson kommt hierher!“, wies uns einer der Stewards an.

Henry und ich trugen das Gepäck von Miss Svensson in einen der schönen Räume am Ende des Nordflügels. Die bodenhohen Fenster an der Meeresseite waren offen und ließen die Frische des Meeres hinein. Ein Bett stand dort, ein großer Schrank, ein Schreibtisch. Wir stellten das Gepäck vor dem Bett ab, standen kurz da und bewunderten das Interieur. So etwas hatten wir auch lange nicht mehr gesehen. Ich schämte mich für unsere Kleidung. Der Steward sortierte das Gepäck. Wir traten beiseite. Stimmen. Miss Svensson und der Seeoffizier, den ich am Kai bemerkt hatte, traten ein. Ich senkte den Kopf, nahm meinen Hut ab. Henry folgte meinem Beispiel. Der Offizier sah uns nur kurz an.

„Los, raus mit den Gefangenen! Das sind Verbrecher, Miss Svensson!“

Als wir hinausgingen, hörte ich sie sagen: „Aber, Serge, das sind doch auch Menschen!“

„Die sind hier für schlimme Verbrechen. Vielleicht sind es Mörder. Halte dich bloß fern von diesem Gesindel!“

„Was steht noch für heute an, Serge?“

„Der Gouverneur hat uns zum Dinner eingeladen. Um 20 Uhr. Bis dahin können Sie sich frisch machen, Svenja!“

Ich merkte mir ihren Namen. Svenja Svensson. Und der Seeoffizier hieß Serge. Aus Gewohnheit merkte ich mir alles um mich herum. Irgendwann konnte es mir hilfreich sein.

Henry und ich warteten auf dem Gang. Im Zimmer blaffte der Seeoffizier den Steward an, die Koffer auszupacken und alles auf das Bett zu legen. Miss Svensson dankte ihm, wollte alles selbst in den Schrank packen. Sie dankte dem Seeoffizier für seine Bemühungen und wollte ihn erst heute Abend wiedersehen. Dann trat er auf den Gang, hinter den Steward. Er war sichtlich sauer, setzte seine Mütze auf und ging wortlos an uns vorbei. Wir folgten dem Steward, trafen die Wachen am Ende des Ganges wieder. Sie zählten uns durch. Acht. Wir verließen das Gebäude. Draußen stand ein Karren mit Pflanzen. Der Caporal der Wachen deutete auf mich und drei andere und wies uns an, die Pflanzen zur Nordseite zu bringen. Wir sollten sie dort einpflanzen. Wir folgten der Anweisung, Henry und ich packten das Zaumzeug des Esels und lenkten den Wagen auf die Nordseite des Hauses. Dort hatten andere Bedienstete Spaten bereitgestellt. Der Caporal zeigte uns, wo wir die hohen bunten Blumen einpflanzen sollten. Ich sah immer wieder unauffällig zum Haus gegenüber. Ich hatte mir die beiden Bäume gemerkt. Da war das Zimmer von Miss Svensson. Die eine Lade war offen. Die andere wurde geöffnet, dann auch die beiden Türen nach außen. Miss Svensson trat hinaus, hatte die langen blonden Haare offen, trug einen hellblauen Rock und eine helle Bluse, einen Sonnenschirm in der Hand. Sie trat aus dem Zimmer und ging über die Platten durch den Garten. Sie wanderte zwischen den hohen Pflanzen und Hecken voller duftender Blumen. Ich beobachtete sie. Der Caporal mahnte mich einmal, beim zweiten Mal schlug er mich mit seinem Stock. Ich arbeitete weiter. Miss Svensson kam heran, wohl durch die laute Stimme des Caporals aufmerksam geworden. Sie sprach ihn an. Ihr Französisch war gut, in der Schule gelernt, oder auf einer langen Reise. Der Caporal stand stramm, begrüßte sie wie eine hochgestellte Persönlichkeit. Er ließ uns in einer Reihe antreten. Sie kam zu uns und erkundigte sich bei jedem einzelnen nach unserem Namen und ob wir gut behandelt werden würden. Wir schielten zum Caporal, der sanft den Stock in die Handfläche der linken Hand schlug. Wir alle sagten ihr natürlich, dass man uns gut behandeln würde. Ich sah ihr an, dass sie uns nicht recht glaubte. Als sie an mich herantrat, roch ich den Duft ihrer Haare und ihr zartes Parfüm. Nach all den Jahren ohne Kontakt zu Frauen warf es mich fast um. Ich senkte den Blick, konnte sie nicht ansehen. Ich beantwortete ihre Frage, sah auf meine Schuhe. Sie stellte mir eine weitere Frage nach meiner Herkunft. Ich blickte auf und sah in ihre klaren blauen Augen.

„Lyon!“, murmelte ich. „Ich stamme aus Lyon!“

„Wie lange sind sie hier?“

Ich überlegte.

„Acht Jahre!“

„Und zu wieviel Jahren wurden sie verurteilt?“

„Fünfzehn!“

„Wie heißen Sie?“

„Jean, Jean Hougrotte!“

„Danke Ihnen, Monsieur Hougrotte!“

Ich war ihr dankbar, dass sie nicht nach dem Grund meiner Verurteilung fragte. Sie trat an den Mann neben mir. Ich sah sie an, ihr zartes Gesicht, die Adern an den Wangen und am Hals. Bekam nicht genug von ihr. Sie beendete ihre Gesprächsrunde und ging zum Haus zurück.

Vor dem Haus erwartete sie der Seeoffizier. Er bot ihr den Arm an und sie hakte sich nach kurzen Zögern ein. Er führte sie rechts um das Gebäude herum, vorbei an der verglasten Gebäudefassade. Ich wusste, dass der Gouverneur gerne in diesem Bereich saß, rauchte und auf das Meer hinausschaute. Ich hatte ihn mehrmals dabei beobachtet.

Unauffällig ergriff ich meinen Spaten und stellte mich einige Schritte entfernt auf, begann den Boden umzugraben. Dabei beobachtete ich Serge und Miss Svensson. Serge hatte sie in die Arme genommen und versuchte sie zu küssen. Miss Svensson wehrte sich, riss sich los und ging davon. Serge sah sich um. Ich hatte mich schon abgewandt und tat so, als würde ich graben. Nach einigen Augenblicken drehte ich mich vorsichtig um. Er starrte mich an, drehte sich abrupt um und ging davon. Der Blick, den er mir zugeworfen hatte, war eisig gewesen. Ich musste mich vor ihm hüten.