Schüchterne und sozial ängstliche Kinder in der Schule -  - E-Book

Schüchterne und sozial ängstliche Kinder in der Schule E-Book

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Beschreibung

Schüchterne Kinder und Jugendliche werden in der Schule häufig übersehen. Sie stören den Unterricht nicht, sind im Umgang "angenehm". Kinder, die unter Ängsten leiden, sind in fast jeder Klasse zu finden. Der Band gibt einen Überblick über wichtige Aspekte von Schüchternheit im Kontext Schule: Internationale Expertinnen und Experten schreiben über Grundlagen von Schüchternheit und schulspezifische Auswirkungen. Erfolgreiche therapeutische Ansätze werden anschaulich beschrieben sowie praxisnahe Handlungsmöglichkeiten für Lehrkräfte gegeben.

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Die Herausgeberinnen

Susan C. A. Burkhardt ist Psychologin und Sprecherzieherin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich. Ihre Schwerpunkte sind die emotionale Entwicklung und Prävention von Verhaltensauffälligkeiten sowie eine gesunde psychosoziale Entwicklung unter schwierigen familiären Bedingungen.

Beatrice Uehli Stauffer ist Psychologin. Sie arbeitet als Dozentin an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich am Institut für Verhalten, sozio-emotionale und psychomotorische Entwicklungsförderung. Sie ist Fachexpertin im Bereich internalisierender Störungsbilder im Kindes- und Jugendalter sowie Co-Leiterin der Studierendenberatung.

Susanne Amft leitet das Institut für Verhalten, sozio-emotionale und psychomotorische Entwicklungsförderung (IVE) an der Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik in Zürich. Sie ist Motologin und Therapeutin für Konzentrative Bewegungstherapie und Tanztherapie. Ihre Schwerpunkte sind Psychomotorische Entwicklungsförderung sowie Interventionen bei Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten.

Susan C. A. Burkhardt, Beatrice Uehli Stauffer, Susanne Amft

Schüchterne und sozial ängstliche Kinder in der Schule

Erkennen, verstehen, begleiten

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendungaußerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmunge und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-039528-2

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-039529-9

epub:   ISBN 978-3-17-039530-5

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

Vorwort

Einführung: Das Phänomen und Problem der Schüchternheit bei Kindern und Jugendlichen?

Susanne Amft, Beatrice Uehli Stauffer & Susan C. A. Burkhardt

Hintergrund

Wie äußert sich Schüchternheit?

Schüchtern oder introvertiert?

Woher kommt Schüchternheit

Von schüchtern bis zur sozialen Angststörung

Verhaltensauffälligkeiten – internalisierendes Verhalten

Häufigkeit von Verhaltensauffälligkeiten

Internalisierende Verhaltensauffälligkeiten

Relevanz des Themas

Zu diesem Buch

Literatur

Übersicht zum Phänomen Schüchternheit, zur Entstehung und zu sozialen Kompetenztrainings

Ulrike Petermann

1  Sozial ängstliche Kinder

1.1  Bedeutung und Auswirkungen von Schüchternheit

1.2  Soziale Angststörung und soziale Phobie

1.3  Trennungsangst

1.4  Selektiver Mutismus

2  Entstehung und ursächliche Zusammenhänge

2.1  Biologische Risikofaktoren

2.2  Psychische Risikofaktoren

2.3  Soziale Risikofaktoren

2.4  Bedingende und aufrechterhaltende Faktoren: Ein integratives Modell

3  Intervention

3.1  Prävention: Soziales Kompetenztraining

3.2  Anwendung in der Schule

Literatur

Schüchterne/sozial ängstliche Kinder in der Schule: Zusammenhänge mit schulischen Aspekten, Migration und Geschlecht

Barbara Gasteiger-Klicpera, Franziska Reitegger & Matthias Krammer

1  Schüchternheit und soziale Ängste in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen

2  Zusammenhang mit dem Geschlecht der Kinder und Jugendlichen

3  Zusammenhang von Schüchternheit und sozialer Ängstlichkeit mit kulturellen Aspekten und Migrationshintergrund

4  Der Einfluss des sozialen Schul- und Klassenklimas sowie der Qualität der Beziehungen zwischen Lehrpersonen und Schüler/-innen

5  Empirische Untersuchung

5.1  Methodisches Vorgehen

5.2  Untersuchungsinstrumente

5.3  Stichprobe

5.4  Statistische Auswertung

6  Ergebnisse

6.1  Unterschiede nach Schultyp und Schulstandort

6.2  Korrelationsanalysen zu Aspekten der Schulebene, der Klassenebene und der individuellen Ebene

6.3  Identifikation von Risikofaktoren

7  Zusammenfassung und Diskussion

Literatur

Jugendliche mit internalisierender Symptomatik auf Sekundarstufe II: Wohlbefinden und Belastungen

Annette Krauss, Patrizia Röösli & Claudia Schellenberg

1  Einleitung

2  Internalisierende Symptomatik im Jugendalter

3  Wohlbefinden und Anforderungsbewältigung von Jugendlichen mit internalisierenden Symptomen

4  Untersuchung zu Wohlbefinden und Belastungen von Lernenden mit internalisierender Symptomatik an Berufsfach- und Mittelschulen

4.1  Stichprobe

4.2  Instrumente

4.3  Statistische Analysen

4.4  Ergebnisse der Studie

4.5  Diskussion

5  Schlussfolgerungen

Literatur

Aktuelle Therapiemethoden zur kognitiv-behavioralen Behandlung sozial ängstlicher Kinder und Jugendlicher

Siebke Melfsen & Susanne Walitza

1  Therapiebedürftigkeit

2  Methoden der klassischen kognitiv-behavioralen Angsttherapie

2.1  Überblick über klassische kognitiv-behaviorale Interventionsmethoden

2.2  Therapiemanuale

2.3  Empirische Befunde

2.4  Weitere Behandlungsparameter

3  Weitere innovative Forschungsansätze

3.1  Gründe für weitere innovative Forschungsansätze

3.2  Kurzzeitige Intensivtherapien

3.3  Selbsthilfe-Programme

3.4  Achtsamkeit (mindfulness) und Selbstfürsorge (self-compassion)

4  Zusammenfassung

Literatur

Ängstliche Kinder in der Schule. Ein personzentriertes Verständnis und Handlungsempfehlungen für Lehrpersonen

Margaretha Florin

1  Angst und Ängstlichkeit im Umfeld von Schule und Unterricht

1.1  Ängste und Ängstlichkeit im schulischen Alltag

1.2  Auswirkungen von Ängsten auf das Lernen und Wohlbefinden

2  Ein personzentriertes Verständnis von Ängsten und Ängstlichkeit

2.1  Menschenbild und Persönlichkeitstheorie des personzentrierten Ansatzes

2.2  Entstehung von Ängsten und Ängstlichkeit nach dem personzentrierten Ansatz

3  Umgang mit Ängsten und Ängstlichkeit im schulischen Alltag

3.1  Haltung der Lehrperson und Beziehungsebene

3.2  Unterrichts- und Klassenklima

3.3  Ideen zur spezifischen Förderung

4  Schlusswort

Literatur

Der Umgang mit schüchternen Kindern im Unterricht

Xenia Müller

1  Erkennen und Wahrnehmung von Schüchternheit durch die Lehrperson

2  Schulleistungen und Leistungsbeurteilungen

3  Schüchterne Kinder und Peerbeziehungen

4  Handlungsansätze für den Unterricht

4.1  Schüchternheit erkennen und Haltungen reflektieren

4.2  Umgang mit Ängsten und emotionale sowie soziale Kompetenzen stärken

4.3  Förderung der Teilnahme am Unterricht

4.4  Soziale Integration in die Schulklasse

4.4  Leistungsbeurteilung

Literatur

Das unsichtbare Kind – Nonverbaler Ansatz zur Identifizierung von schüchternen und sozial ängstlichen Kindern

Iris Bräuninger, Rosemarie Samaritter & Sue Curtis

1  Einführung ins Thema

2  Literaturüberblick

3  Identifizierung von schüchternen und sozial unsicheren Kindern durch beobachtbaren nonverbalen Ausdruck

4  Fallvignetten zur Zielsetzung im schulisch-therapeutischen Setting mit schüchternen und sozial ängstlichen Kindern

4.1  Fokussieren auf nonverbale Hinweise

4.2  Kinder im allgemeinen Raum

4.3  Kinder im persönlichen Raum

4.4  Der symbolische Bewegungsausdruck

5  Schlussfolgerung

Danksagung

Literatur

6  Anhang

6.1  Nonverbale Checkliste für Fachkräfte zur leichteren Identifizierung schüchterner und sozial ängstlicher Kinder

Schüchterne Kinder in der Schule Möglichkeiten der Ermutigung mit Body 2 Brain CCM

®

Claudia Croos-Müller

1  Möglichkeiten der Ermutigung: Körpercodes gegen Schüchternheit

1.1  Embodiment und Körperpsychotherapien

1.2  Die Body 2 Brain CCM

®

Methode: einfache Körpercodes zur gezielten Selbststeuerung von Affekt, Kognition und Verhalten

1.3  Neurophysiologie und Body 2 Brain CCM

®

Wirkungsweise

2  Zentrales Nervensystem, peripheres Nervensystem und Neurophysiologie im Zusammenspiel mit Körper und Psyche

2.1  Das zentrale Nervensystem

2.2  Das periphere Nervensystem

2.3  Die Hirnnerven

2.4  Emotionen und Neurotransmitter

3  Schüchternheit – Ängstlichkeit – Selbstwertproblematik – soziale Phobie

3.1  Neurophysiologie und Körpersignale

3.2  Body 2 Brain CCM

®

Körpercodes – Grundformen und Kombinationen (Croos-Müller 2019)

4  Body 2 Brain CCM

®

Körpercodes – Übungsbeispiele für schüchterne Kinder

Literatur

Mit Musik geht alles besser? Musiktherapie für schüchterne, sozial ängstliche Kinder und Jugendliche

Susan Christina Annamaria Burkhardt

1  Einführung

2  Der Mensch ist ein musikalisches Wesen

3  Musik als therapeutisches Mittel

3.1  Musiktherapie mit Kindern und Jugendlichen

3.2  Wirkung von Musiktherapie

4  Musiktherapie für schüchterne Kinder und Jugendliche

4.1  Methoden der Musiktherapie bei Schüchternheit

4.2  Beispiele erfolgreicher musiktherapeutischer Interventionen

5  Musiktherapie und Schule

5.1  Entwicklungsförderung durch Musiktherapie in der Schule

6  Fazit

Literatur

Schüchternheit und Mobbing – Hintergrundwissen und Handlungsmöglichkeiten im pädagogischen Arbeitsfeld

Vanessa Jantzer & Michael Kaess

1  Einführung in das Thema Mobbing

1.1  Definition von Mobbing

1.2  Erscheinungsformen von Mobbing

1.3  Häufigkeit von Mobbing

1.4  Entstehungsbedingungen von Mobbing

1.5  Folgen von Mobbing

2  Soziale Angst

2.1  Potentielle Einflussfaktoren

3  Praktische Implikationen

3.1  Individuelle Schutzfaktoren speziell für schüchterne Kinder

3.2  Allgemeine Schutzfaktoren

3.3  Resilienz

4  Fazit

Literatur

Selbstverletzendes Verhalten bei sozial ängstlichen Jugendlichen

Tina In-Albon & Daniela Schwarz

1  Fallbeispiel

2  Selbstverletzendes Verhalten

3  Selbstverletzendes Verhalten und soziale Ängste

4  Interventionen

5  Zusammenfassung

Literatur

Eltern und ihre schüchternen Kinder im Kontext Schule

Beatrice Uehli Stauffer

1  Einleitung

2  Ausgangslage

3  Eltern sind nicht gleich Eltern – Die Interaktion von individuellen und soziokulturellen Rahmenbedingungen

3.1  Elterliche Risikofaktoren

4  Was Eltern wissen müssen – Relevante kindliche Entwicklungsbereiche

4.1  Bindungserfahrungen und Emotionsregulation

4.2  Selbstwirksamkeitserfahrung und ein realistisches Selbstkonzept

5  Was können Eltern tun?

5.1  Stärkung der Selbstwirksamkeitsüberzeugung

5.2  Ermöglichen von Erfahrungen in der Peergruppe

6  Fazit

Literatur

Die Autorinnen und Autoren

Vorwort

 

 

 

Im Verlauf meiner langjährigen Beschäftigung mit der sozialen Entwicklung von Kindern im Grundschulalter verengte sich mein Interesse immer mehr auf die spezifische und vernachlässigte Gruppe der schüchternen und sozial ängstlichen Schülerinnen und Schüler. Es wurde mir zunehmend bewusst, dass die Stillen in der Schule die Vergessenen sind. Das war selbst in der Forschung lange Zeit so.

Die damals zahlreichen auf aggressiv-störendes Verhalten ausgerichteten Publikationen motivierten mich erst recht dazu, in erster Linie die schüchternen Kinder in den Blick zu nehmen. Ganz im Gegensatz zur Tatsache, dass soziale Ängstlichkeit und Schüchternheit an unseren Schulen mindestens ebenso verbreitet sind wie Aggressivität und störendes Verhalten, wird der Leidensdruck von schüchternen und stillen Kindern auch heute noch leicht übersehen.

Schüchternheit ist ein sehr verbreiteter und gewohnter Bestandteil des menschlichen Verhaltens und längst nicht in jedem Fall ein Problem. Wer hat nicht schon Situationen erlebt, in denen man wirklich oder vermeintlich zu schüchtern gehandelt hat und sich ein mutigeres Vorgehen gewünscht hätte. Problematisch wird Schüchternheit vor allem dann, wenn sie das angemessene Verhalten mit großer Regelmäßigkeit in einer Vielzahl alltäglicher Situationen blockiert. Die Blockade beruht einerseits auf überzeichneten sozialen Befürchtungen (sie werden mich auslachen/sie werden mich ablehnen/ich werde dumm dastehen) und andererseits auf einem ausgeprägten Vermeidungsverhalten, das sich bis zur Schulverweigerung steigern kann. Auch schon bei milderen Formen von Schüchternheit sind die reduzierte Unterrichtsbeteiligung und die eingeschränkten Beziehungen zu Gleichaltrigen typisch.

Schüchternheit tangiert aber nicht nur einzelne Handlungsbereiche, sondern die gesamte Persönlichkeit, insbesondere auch die Selbstwahrnehmung und das Selbstvertrauen. Wegen des angeschlagenen Selbstvertrauens neigen Schüchterne dazu, ihre Fähigkeiten zu unterschätzen, woraus wiederum negative Folgen für das Lernen, die Lernfreude und die Erfolgszuversicht entstehen. Schüchterne äußern häufiger die Formel »Ich weiß nicht« als ein überzeugtes »Das kann ich«. Eltern kennen diese Schwierigkeiten nur zu gut. Viele Mütter und Väter mussten sich seit der Kindergartenzeit sagen lassen »Ihr Kind sagt nichts, macht nicht mit, steht immer abseits«. Eltern und Lehrpersonen gelingt es häufig nicht, angemessen auf das gehemmte und ängstlich vermeidende Verhalten der Schüchternen zu reagieren. Aus Mangel an wirkungsvolleren Maßnahmen beschränken sich Erwachsene zu oft auf meist wirkungslose Aufforderungen wie »Mach doch besser mit im Unterricht« oder »Sag doch auch mal was«. Die irrige Meinung, Schüchternheit lasse sich mit etwas mehr Motivation und gutem Willen von den Betroffenen selber überwinden, steht im Widerspruch zur Vielschichtigkeit und Tiefe des Problems.

Besonders im Rahmen der Schule muss sich deshalb ein professionelles Verständnis von Schüchternheit und sozialer Ängstlichkeit entwickeln. Dazu gehört nicht nur das theoretische Wissen um die Hintergründe und Auswirkungen von sozialen Hemmungen auf die Persönlichkeit und das Lern- und Sozialverhalten von Schülerinnen und Schülern, sondern auch ein fundiertes Handlungswissen im Umgang mit den Betroffenen. Wo Lehrpersonen an die Grenzen ihrer Möglichkeiten stoßen, sollten, wie bei anderen schulischen Schwierigkeiten, spezialisierte Fachpersonen unterstützend zur Seite stehen. Ich bin überzeugt, dass die vorliegende Sammlung von sehr sorgfältig ausgewählten Beiträgen zu zentralen Aspekten von Schüchternheit in der Schule den Leserinnen und Lesern wertvolle Einsichten und Kenntnisse vermittelt und dabei hilft, die Schüchternen in Zukunft weniger zu vergessen.

Georg Stöckli

Einführung: Das Phänomen und Problem der Schüchternheit bei Kindern und Jugendlichen?

Susanne Amft, Beatrice Uehli Stauffer & Susan C. A. Burkhardt

Hintergrund

Bei der Planung der Fachstelle »Verhaltensauffälligkeiten und herausfordernde Situationen« am Institut für Verhalten sozio-emotionale und psychomotorische Entwicklungsförderung an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik, Zürich, hatten wir im Sinn, Lehrpersonen und Schulen bei schwierigen Situationen im Schulalltag zu beraten. Wir stellten drei Fragen in den Vordergrund

1.  Erleben Sie Situationen in der Schule, die Sie täglich herausfordern?

2.  Gibt Ihnen das Verhalten eines bestimmten Kindes oder Jugendlichen Rätsel auf?

3.  Fragen Sie sich, wie Sie ein/-e Schüler/-in erreichen und bestmöglich fördern können?

Wir erhielten viele Anfragen. in denen Probleme mit aggressiv und hyperaktiv auffälligen Kinder geschildert wurden, die die Lehrpersonen an den Rand ihrer Belastbarkeit brachten.

Niemand wollte dagegen von uns wissen, welches Rätsel hinter dem Kind steckt, das sich im Unterricht niemals meldet, immer verträumt und zurückgezogen in der Klasse sitzt und, wenn die anderen spielen, lieber zuschaut. Niemand fragte bisher, wie er dieses Kind erreichen könne und welche Hilfestellung es möglicherweise benötigt.

Überraschend ist dies nicht, denn gerade die wilden, störenden Kinder erfordern meist die ganze Aufmerksamkeit der Lehrpersonen, damit der Unterricht möglichst reibungslos gestaltet werden kann. Hier scheint es offensichtlich, dass etwas geschehen muss.

Doch was ist mit diesen schüchternen, in sich zurückgezogenen Kindern, die oft im Klassenzimmer unbemerkt bleiben? Wie kann eine Lehrperson diese Kinder erkennen, die nicht nur ein wenig still sind, sondern möglicherweise tatsächlich Hilfe benötigen?

Schüchterne Kinder sind auch deswegen schwierig zu erkennen, weil sie sich ihrer Probleme schämen. In unserer Gesellschaft wird ein gewisses Maß an Beteiligung und Eigeninitiative sozial gewünscht und auch gefordert: »Sei doch nicht so schüchtern«, »Jetzt sag doch mal was«, »Hat’s dir die Sprache verschlagen?«, »Kannst du nicht reden?« – Schüchterne sind in ihrem Verhalten gehemmt und leiden unter solchen Etikettierungen.

Wie äußert sich Schüchternheit?

Schüchternheit hat viele Gesichter. Sie kann sich als zurückhaltendes, scheues Verhalten zeigen und von anderen Personen durchaus als angenehm, als Bescheidenheit und Zurückhaltung, wahrgenommen werden. Sie kann sich auch hinter einem exponierenden Verhalten verstecken. So liest man immer wieder über Musiker, wie z. B. Bob Dylan, dass er im privaten Leben eine sehr introvertierte, manchmal fast schüchtern wirkende Person ist, obwohl er seit über 50 Jahren auf der Bühne steht. In seiner Autobiographie beschreibt der Revolutionär Mahatma Gandhi eindrücklich seine Schüchternheit in der Kindheit:

»Ich war immer schon sehr scheu und vermied allen Umgang. Bücher und Schulaufgaben waren meine einzigen Gefährten. Täglich war ich mit dem Glockenschlag in der Schule, und sobald der Unterricht aus war, rannte ich wieder nach Hause – rannte buchstäblich, denn ich konnte es nicht ertragen, mit irgendwem zu reden, und zitterte bei dem Gedanken, man könnte sich über mich lustig machen« (Ghandi, 1983, S. 9).

Leidensdruck und Unsicherheit begleiten diese Menschen sowie die ständig kreisenden Gedanken um ihre eigenen Fähigkeiten, die in ihren Vorstellungen nicht genügend sind.

»Derzeit gibt es keine einheitliche Definition von Schüchternheit und es liegen – anders als zum Beispiel bei psychischen Störungen – auch keine festen Kriterien vor, nach denen wir entscheiden könnten, ob jemand schüchtern ist oder nicht. Das wäre auch gar nicht unbedingt sinnvoll, denn Schüchternheit ist als dimensionales Merkmal auf der Persönlichkeitsebene verankert. Es gibt also keine klare Grenze: Wir sind alle mehr oder weniger schüchtern« (Fehm, 2013, S. 1).

Schüchternheit ist schwer zu fassen, und es scheint keine Kategorisierung zu geben.

Auch nach Zimbardo (2002) »ist Schüchternheit ein schillernder und komplexer Begriff« und bedeute für jeden Menschen etwas anderes: »Letztendlich ist einer schüchtern, wenn er glaubt es zu sein …« (zitiert nach Eisner, 2012, S. 10).

Fast jeder kennt das Gefühl in Situationen, in denen er sich exponieren muss, er im Mittelpunkt steht und sich die Aufmerksamkeit aller auf ihn richtet, dass er angespannt und aufgeregt ist. Solche »leichten soziale Ängste« sind weit verbreitet. Es kommen einem Gedanken darüber, ob man den Anforderungen genügen wird, was die anderen von einem erwarten, man beginnt vielleicht zu schwitzen und bekommt Herzrasen. Diese Aufregung vor etwas Neuem, vor einer herausfordernden sozialen Situation, wird oft als Lampenfieber bezeichnet. Im schlimmsten Fall kann es bis zur Handlungsunfähigkeit führen. Doch diese hohe Anspannung ist nicht nur negativ zu bewerten, denn sie unterstützt uns dabei, auch Höchstleistungen zu erbringen. Dafür sorgen die Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin, sie führen zu gesteigerter Konzentration und Aufmerksamkeit.

Schüchternheit als Charaktereigenschaft liegt auf einem Kontinuum zwischen ganz »normaler« Schüchternheit bis hin zu einer behandlungsbedürftigen sozialen Phobie. Der Übergang ist nur schwer zu bestimmen. Asendorpf (1998) unterscheidet bei Kindern zwischen Gehemmtheit gegenüber dem Unbekannten und Gehemmtheit aus Angst vor Ablehnung von Gleichaltrigen aufgrund schlechter Erfahrungen. Der erste Subtyp wird als Temperamentsmerkmal verstanden, wobei auf Unbekanntes mit Vermeidungsverhalten reagiert wird. Die zweite Form von Schüchternheit führt er auf Lernerfahrungen zurück. Dadurch, dass das Kind früher Ablehnung erfahren hat, erwartet es auch jetzt wieder, abgelehnt zu werden. Dadurch entsteht ein unsicherer, gehemmter Umgang mit sozialen Kontakten. So halten sich schüchterne Kinder meist im Hintergrund, vermeiden Blickkontakt, sprechen ganz leise und beteiligen sich nicht am Unterricht, auch wenn sie die Antwort auf eine Frage kennen. Sie versuchen gar nicht erst, in Situationen zu geraten, in denen sie die Aufmerksamkeit ihrer Mitschüler/-innen auf sich ziehen und möglicher Kritik ausgesetzt sein könnten. Konflikte und Kontakte mit Mitschüler/-innen sind für sie Stressmomente, die es zu meiden gilt. Die Schule kann für diese Kinder schnell ein angstbesetzter Ort werden, der für sie ein emotionales Dilemma darstellt: Einerseits möchten sie gerne Kontakt haben und in der Klasse dazugehören, andererseits ziehen sie sich zurück und zeigen wenig emotionale Reaktionen auf ihr Umfeld. Ihr mangelndes Selbstbewusstsein hindert sie an der sozialen Interaktion, die notwendig wäre, um altersgemäße soziale Erfahrungen zu machen. Der Entwicklungspsychologe Asendorpf spricht von einem »Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt«. Lernen sie die fremden Menschen aber besser kennen, beginnen sich diese Kinder wohl zu fühlen. Der Angstforscher Borwin Bandelow (2007) erklärt in einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: Diese Charakterzüge per se sind noch kein Grund zur Beunruhigung. »Es gibt Schüchternheit und die sogenannte soziale Phobie. Die Grenze zwischen beiden ist fließend. Wichtiger als diese Abgrenzung ist aber ohnehin die Frage, ab wann jemand behandlungsbedürftig ist.« (FAZ vom 21.10.2007).

Schüchtern oder introvertiert?

Ebenso häufig wird Schüchternheit auch mit Introvertiertheit gleichgesetzt. Schüchterne und introvertierte Menschen verhalten sich manchmal ähnlich, sie ziehen sich zurück, dabei haben sie aber keineswegs die gleichen Motive. Viele Introvertierte sind gar nicht schüchtern. Sie können, wenn sie wollen, gut mit anderen Personen in Kontakt treten, fühlen sich dabei auch wohl und können durchaus selbstbewusst sein. Sie genießen es aber, Zeit für sich zu haben und bevorzugen im Allgemeinen eine ruhige Umgebung. Sie sind mehr nach innen gerichtet. Schüchterne Menschen hingegen wünschen sich oft mehr Kontakt zu anderen, werden aber von ihren Unsicherheiten und Ängsten daran gehindert, Kontakt aufzunehmen oder Kontaktversuche zu erwidern. Sie befinden sich in einem inneren Konflikt: Bevor sie sich einer Situation aussetzen, in der sie möglicherweise abgelehnt werden, bleiben sie lieber für sich und versuchen es erst gar nicht. Um akzeptiert zu werden, möchten sie gerne alle Erwartungen erfüllen. Dabei steht ihnen ihr mangelndes Selbstvertrauen häufig im Weg. Introversion dagegen ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das weitgehend gleichbleibt. Schüchternheit ist ein Verhalten, das häufig durch schlechte Erfahrungen erlernt und stabilisiert wird. Introvertierte Kinder haben kein Problem mit dem Selbstvertrauen und keine Angst vor der Bewertung anderer. Sie können Fehler akzeptieren und daraus lernen. Sie sind nicht so sehr von der Meinung anderer abhängig, sondern legen mehr Wert auf ihre eigene Persönlichkeitsentwicklung.

Woher kommt Schüchternheit

Gemeinsam ist allen Definitionen von Schüchternheit, dass es sich um eine Reaktionsweise von Personen handelt, die in sozialen Situationen auftritt.

Je nach Erklärungsmodell gibt es unterschiedliche Annahmen für die Ursachen von Schüchternheit. Häufig wird Schüchternheit als ein angeborenes Temperamentmerkmal beschrieben, das somit biologisch bzw. genetisch mitbedingt ist. Dies wird von verschiedenen Autor/-innen damit erklärt, dass betroffene Kinder auf Grund einer übererregbaren Amygdala bereits auf minimale Auslöser mit Furcht und Geschrei reagieren. Unbekannte, neue Situationen wirken auf sie ebenso beängstigend wie die Begegnung mit unvertrauten Menschen. Die Forscherin Margarete Eisner geht in ihrer tiefenpsychologischen Betrachtungsweise davon aus, »dass der Charakterzug der Schüchternheit seinen Ursprung in der frühkindlichen Entwicklung hat, und zwar in der Zeit, wenn das Kind beginnt, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, um ihre Reaktionen zu antizipieren. Parallel zu seinen kognitiven Fähigkeiten entwickelt sich dann eben auch das Potential zur Schüchternheit« (Eisner, 2012). Borwin Bandelow (2007) geht in seiner Annahme davon aus, dass beide Erklärungsansätze ihre Berechtigung haben: »Wir wissen, dass genetische Faktoren eine Rolle spielen. Man schätzt den Einfluss der Vererbung – je nach Studie – auf zwischen 24 und 51 %. Wir wissen auch, dass frühkindliche Traumata einen Einfluss haben, vor allem die Trennung der Eltern. Bei anderen Traumata hingegen, wie Gewalt in der Familie, Alkoholabhängigkeit oder sexuellem Missbrauch, konnte das nicht bewiesen werden (FAZ, 21.10. 2007).

Entwicklungspsychologische Betrachtungsweisem legen die Annahme zugrunde, dass Schüchternheit zu einem großen Teil von der Erziehung, der Entwicklung und dem sozialen Umfeld des Kindes abhängt. Werden dem Kind durch ein Vorbild in der Familie soziale Kompetenzen vermittelt und zeigen sich die Eltern als kontaktfreudig, so wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch das Kind nicht an schüchternem Verhalten leiden. Anders als ein Kind, das in einem Umfeld aufwächst, in dem die Eltern selbst eher kontaktscheu oder ängstlich sind. Fröhlich-Gilldhoff (2013) weist auf Studien hin, die einen engen Zusammenhang zwischen dem ängstlichen Verhalten der Eltern und dem der Kinder aufzeigen. Er berichtet von der Bremer Jugendstudie, in der 34 % der Jugendlichen mit Angststörungen davon berichten, dass auch ihre Eltern unter Angststörungen leiden. Dabei sollen Mütter gegenüber ihren Kindern häufiger Angst benennen als die Väter. Das Angstniveau der Mutter scheint also Einfluss auf die Ängstlichkeit des Kindes zu haben. Solche Eltern sind oft überbehütend und trauen ihrem Kind nicht so viel zu. Wir alle kennen das Beispiel der ängstlichen Mutter, die mit ihrem kleinen Kind auf den Spielplatz geht. Das Kind rennt voller Freude auf die Rutschbahn. Die Mutter steht unten und ruft: »Pass auf, pass auf, dass du nicht herunterfällst oder dich verletzt!« Das Kind wird von Mal zu Mal zögerlicher, bis es die Freude an der Rutschbahn verliert oder diese ganz vermeidet. Der Erziehungsstil der Eltern prägt also das kindliche Verhalten. Somit tragen negative Erwartungen und ein negatives Selbstbild zum ängstlichen Verhalten bei. Es kommt zu einem Teufelskreis: Das negative Selbstbild und die negativen Erfahrungen führen zu Angst und Vermeidung. Die Vermeidung stärkt das negative Selbstbild und verhindert, dass soziale Fähigkeiten erlernt werden können.

Von schüchtern bis zur sozialen Angststörung

Synonym zur Bezeichnung Schüchternheit wird häufig von sozialen Ängsten gesprochen – diese bilden einen Oberbegriff für diverse Angstformen in Zusammenhang mit sozialen Situationen (Melfsen & Walitza, 2013). Viele Autor/-innen beschreiben den Unterschied zwischen normaler Schüchternheit und einer Angststörung mit dem Leidensdruck und dem Grad der Beeinträchtigung der allgemeinen Entwicklung, die die Angststörung kennzeichnet. Schüchternheit ist keine psychische Störung. Ängste und Unsicherheiten im Grundschulalter sind weit verbreitet und können zunächst als entwicklungsbedingt angesehen werden. So ist es normal, dass Grundschulkinder in gleichen Entwicklungsphasen ähnliche Ängste haben: Angst vor Tieren, Angst vor Dunkelheit oder Angst vor neuen Situationen. Entwicklungsbedingte Ängste unterscheiden sich von klinisch relevanten Ängsten dadurch, dass sie das Kind in seinem Alltag stark einschränken und es in seiner gesamten Entwicklung beeinträchtigen. »Es gibt vielfältige Hinweise darauf, dass Patienten mit unterschiedlichsten Störungsbildern, insbesondere mit Angststörungen und Depressionen, bereits in der Kindheit beeinträchtigt waren« (Ahrens-Eipper, 2002; Ahrens-Eipper & Leplow, 2004; Petermann, 2005; Remschmidt & Walter, 1990; Schneider & Blatter, 2005). So berichten Patienten retrospektiv, dass sie bereits im Grundschulalter eine erhöhte Ängstlichkeit erlebten. Laut Petermann und Petermann »bilden früh auftretende Angststörungen den Startpunkt vielfältiger psychischer Störungen« (Krüger, 2014. S. 1). Allerdings ist sich die Literatur uneinig, ob Schüchternheit nun eine milde Form der sozialen Angststörung ist, oder ob es sich dabei um einen eigenen Bereich handelt (Stöckli, 2016).

Verhaltensauffälligkeiten – internalisierendes Verhalten

Häufigkeit von Verhaltensauffälligkeiten

Es gibt verschiedene Ansätze, Verhaltensauffälligkeiten bzw. seelische Störungen, Erkrankungen oder Behinderungen zu beschreiben und zu definieren. So kann es sein, dass die eine Lehrperson ein Kind als verhaltensauffällig bezeichnet, die Eltern es aber als völlig normal einstufen und auch das Kind sich selbst im Klassenverband als anders erlebt. Die Übereinstimmungen zwischen der Einschätzung der Eltern und der Selbstbeurteilung des Kindes sind oft nur sehr gering. So kann es bei epidemiologischen Studien zu großen Schwankungen bei den Angaben der Häufigkeit eines auffälligen Verhaltens kommen. Zusammenfassend über verschiedene Studien hinweg wird die Prävalenz, das Auftreten von psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter mit 18 % angegeben (Fröhlich-Gildhoff, 2013). Damit ist fast jedes fünfte Kind betroffen. Am häufigsten treten Angststörungen (bei 10,4 % der Kinder und Jugendlichen) auf, was in die Kategorie internalisierendes Verhalten fällt.

Angst und Angststörungen sind aktuell die häufigsten psychischen Erkrankungen. Die Angaben zu diesen Prävalenzahlen sind sehr unterschiedlich: »Die soziale Ängstlichkeit gehört mit einer Prävalenz von 0,5 %, über 3,9 % bis zu 7 % zu den Störungsbildern mit sehr heterogenen Prävalenzangaben in diesem Altersspektrum. Das Verhältnis von betroffenen Jungen und Mädchen liegt in etwa bei 1 : 2 zum Nachteil der Mädchen« (Laakmann et al 2015, S. 3). Auch Kinder, die nicht alle Diagnosekriterien für eine soziale Angststörung erfüllen, können im schulischen Alltag beeinträchtigt sein – mit schwerwiegenden Folgen. Dissoziale Störungen (Kategorie externalisierendes Verhalten) kommen am zweithäufigsten vor (bei 7,5 % der Kinder und Jugendlichen). An dritter Stelle der Häufigkeit/Prävalenz stehen depressive Probleme (Kinder: 1–3 %, Jugendliche: 1–6,4 % eines Jahrgangs (Zinniker & Kunz Heim, 2017), gefolgt von hyperkinetischen Störungen (4,4 %) (Fröhlich-Gildhoff, 2013). Eine Aussage, welche Störungen am häufigsten sind, ist auf der Ebene der Kategorie externalisierend vs. internalisierende Störung daher nicht möglich, die Kategorien wechseln sich in der Häufigkeitsliste ab. Durchgehend wurde jedoch beobachtet, dass Jungen, wenn sie unter Störungen leiden, eher in der externalisierenden Kategorie anzutreffen sind und Mädchen häufiger in der internalisierenden.

Internalisierende Verhaltensauffälligkeiten

Auffälligkeiten in der sozial-emotionalen Entwicklung lassen sich zwei Dimensionen zuordnen. Zum einen den externalisierenden Verhaltensweisen, bei denen die Probleme wie Unruhe oder Aggressivität nach außen gegen die Umwelt gerichtet sind, zum anderen den internalisierenden Verhaltensweisen, wie Rückzug oder Ängstlichkeit, die vor allem innerhalb der Person liegen (Bilz, 2008; 2014). Kinder mit internalisierenden Auffälligkeiten werden in der Schule leicht übersehen, und da ihre Symptome nicht einfach zu beobachten sind, stellen besonders diese psychischen Belastungen ein großes Entwicklungsrisiko dar. Internalisierende Störungen sind bei Jugendlichen unter 13 Jahren eher selten, sie treten in der Regel erst ab der Pubertät auf. Bis zu diesem Alter sind v. a. Jungen betroffen, ab 13 Jahren sind beide Geschlechter gleichermaßen vertreten, je nach Studie überwiegen dann sogar die Probleme bei Mädchen. Soziale Ängste gehören zu den internalisierenden Verhaltensauffälligkeiten. In der Psychologie und in der Heilpädagogik hat sich nach (Fröhlich-Gildhoff, 2013) die Unterscheidung von externalisierenden und internalisierenden Verhaltensauffälligkeiten durchgesetzt. Diese Kategorien sind empirisch abgesichert und akzeptiert. Dabei ist der Begriff »Verhaltensauffälligkeiten« ein Oberbegriff für eine Reihe von problematisierten Verhaltensweisen und keine Diagnose an sich (Wüllenweber, 2011).

Relevanz des Themas

Georg Stöckli, ein Experte im Thema Schüchternheit von der Universität Zürich, stellte in seiner langjährigen Arbeit immer wieder fest, dass trotz der beachtlichen Verbreitung bei Kindern im Schulalter Schüchternheit als schulisches und persönliches Problem kaum oder nur in besonderen Fällen gezielt angegangen wird und auch die Forschung sich häufiger um aggressiv-störendes Verhalten bemüht als um Schüchternheit (Stöckli, 1999). Seinen Artikel »Schüchterne leben in einer anderen Welt« in der Zeitschrift Grundschule untertitelt er mit folgender Aussage: »Schüchternheit ist mehr als ein oberflächliches Merkmal des Sozialverhaltens. Schüchternheit betrifft das Denken, die Emotionen, das Handlungsvermögen und die Selbst- und Fremdeinschätzung eines Menschen. Das Problem der Praxis liegt im fehlenden Bewusstsein für die Problematik schüchterner Kinder und in fehlenden Handlungsmöglichkeiten« (Stöckli, 2018, S. 6).

Zu diesem Buch

Aus dieser Erkenntnis heraus ist in Kooperation mit internationalen Expert/-innen unterschiedlicher Disziplinen, aus Wissenschaft und Praxis, dieses Buch entstanden, mit dem wir einen Beitrag zum Verständnis dieser »schüchternen Kinder« leisten wollen.

Im Anschluss an diese Einführung wird im Beitrag von U. Petermann der aktuelle Forschungsstand zum Phänomen Schüchternheit, dessen Ursachen sowie eine Darstellung eines sozialen Kompetenztrainings dargestellt. Ausgehend von beobachtbaren Phänomenen, durch welche sich das Verhalten schüchterner Kinder in sozialen Situationen beschreiben lässt, wird das gesamte Spektrum vom sog. unauffälligen, von den Erwachsenen meist tolerierten Verhalten, bis hin zu einer klinisch relevanten Symptomatik und den damit verbundenen Störungsbildern beschrieben. Die Entstehung und die ursächlichen Zusammenhänge werden unter dem Blickwinkel biopsychosozialer Risikofaktoren beleuchtet. Dabei werden in einem integrativen Modell sowohl bedingende wie auch die das sozial-unsichere Verhalten aufrechterhaltenden Faktoren erläutert. Daran schließen sich aktuelle Forschungsergebnisse zu Effektstärken von Präventionsprogrammen für ängstliche Kinder an.

Die nachfolgenden beiden Kapitel beleuchten das Phänomen aus systemischer Perspektive vor dem Hintergrund von gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen: Der Beitrag von B. Gasteiger-Klicpera et al. befasst sich mit den Zusammenhängen zwischen Schule, Migration und Geschlecht, während die Autorinnen Krauss et al. den Fokus auf Jugendliche mit internalisierender Symptomatik legen und deren Wohlbefinden und Belastungen in einer aktuellen Studie aufzeigen. Der erste der beiden Buchbeiträge bezeichnet Schüchternheit und soziale Ängstlichkeit als einen der wichtigsten Risikofaktoren der kindlichen Entwicklung, insbesondere zur Entstehung von internalisierenden Störungen wie Angst und Depression. Die Autor/-innen stellen aktuelle empirische Befunde zu den wichtigsten Risikofaktoren dar und bieten einen Überblick des aktuellen Forschungsstandes zum Zusammenhang von Schüchternheit und Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Neben individuellen Aspekten wie Temperament werden vor allem auch sozio-kulturelle Einflüsse beschrieben. Besonders hervorgehoben werden dabei mögliche Einflussfaktoren wie das Geschlecht, ein Migrationshintergrund sowie die Qualität der Beziehung zwischen Lehrperson und Schüler/-innen und der Einfluss des Klassenklimas. Zum letzteren stellen Gasteiger-Klicpera et al. Ergebnisse eines ihrer Forschungsprojekte vor. Der nächste Beitrag legt den Schwerpunkt auf das Jugendalter. In ihrer Untersuchung befassen sie sich A. Krauss et al. mit dem Wohlbefinden und der Anforderungsbewältigung von Jugendlichen mit internalisierenden Symptomen. Diese Studie untersucht die Situation von betroffenen Jugendlichen in Gymnasien und Berufsschulen in der Deutschschweiz hinsichtlich Unterschiede zu Jugendlichen ohne Symptomatik. Die Befunde unterstreichen dabei die Notwendigkeit, Jugendliche mit internalisierender Symptomatik in ihren Entwicklungsverläufen zu unterstützen. Auch wird von den Autorinnen hervorgehoben, dass die Schule einen zentralen Lern- und Erfahrungsraum darstellt. Abschließend zeigen sie die Vorteile von universellen gegenüber selektiven Präventionsprogrammen im Setting Schule auf, da bei den ersteren keine Stigmatisierungseffekte entstehen.

Einen großen Schwerpunkt legt das vorliegende Buch auf die unterschiedlichen Therapiemethoden. Der Beitrag von S. Melfsen und S. Walitza fokussiert die aktuellen Therapiemethoden zur kognitiv-behavioralen Behandlung von sozial ängstlichen Kindern und Jugendlichen. Die Autorinnen betonen die Bedeutung der Früherkennung sowie einer raschen therapeutischen Behandlung. Einleitend weisen sie darauf hin, dass insbesondere sozial ängstliche Kinder von den klassischen Ansätzen der kognitiven Verhaltenstherapie deutlich weniger profitieren als Kinder mit anderen Formen von Angststörungen. In der Folge bieten sie einen Überblick über eben diese Therapiemethoden und stellen drei Programme von größerer internationaler Bedeutung vor. Es folgen Überlegungen zu Behandlungsparametern wie Einzelsetting vs. Gruppensetting bzw. zum Einbezug von Eltern und Familien. Die Autorinnen betonen in der Folge die Notwendigkeit, bestehende Therapieprogramme stärker den Betroffenen anzupassen. Besprochen werden kurzzeitige Intensivprogramme, Selbsthilfeprogramme, sog. Selbsthilfebücher sowie auch Online-Programme. Einen besonderen Stellenwert erhalten zudem die Themen Achtsamkeit und Selbstfürsorge. Abschließend wird darauf hingewiesen, dass die Zugänglichkeit zu Therapien grundsätzlich erleichtert werden muss.

Im nachfolgenden Kapitel zeigt M. Florin die Thematik von ängstlichen Kindern in der Schule vor dem Hintergrund eines personenzentrierten Verständnisses von Angst und Ängstlichkeit auf und leitet daraus Handlungsempfehlungen für Lehrpersonen ab. Beschrieben werden Auswirkungen von Ängsten auf das Lernen und Wohlbefinden der betroffenen Kinder. Die Entstehung von Ängsten wird aus drei Perspektiven erklärt: als Ausdruck von blockierter Aktualisierungstendenz, als Ausdruck von Inkongruenz sowie als Folge mangelnder positiver Beachtung. Die Autorin bezeichnet die Haltung der Lehrperson, die Beziehungsebene und das Klassenklima als die entscheidenden Faktoren für einen entwicklungsförderlichen Umgang mit schüchternen Kindern. Abgeschlossen wird das Kapitel mit zwei Übersichten, einerseits zu Indikatoren für einen angstfreien Unterricht, andererseits mit Materialien zur Angstbewältigung bzw. zur Förderung von Mut und Selbstvertrauen.

Die nachfolgenden vier Kapitel skizzieren pädagogische wie auch therapeutische Herangehensweisen im Umgang mit schüchternen Kindern. Ein erster Beitrag von X. Müller beschreibt den aktuellen Wissenstand zur Situation des schüchternen Kindes in der Schule. Er benennt folgende drei Aspekte als besonders relevant und ausschlaggebend für die Situation von schüchternen Kindern im Unterricht: Das Erkennen durch die Lehrperson, die Leistungsbeurteilung sowie die Peerbeziehungen. Zudem wird der Frage nachgegangen, weshalb Schüchternheit so oft übersehen wird. Ein Hauptschwerpunkt dieses Beitrags liegt auf möglichen Handlungsansätzen für den Unterricht. Betont wird auch hier die große Bedeutung der Notwendigkeit, dass Schüchternheit von den Lehrpersonen erkannt wird und sie ihre Haltungen dazu reflektieren können. Auf Seiten der schüchternen Kinder werden Aspekte wie Stärkung der sozialen Kompetenzen, Förderung der Teilnahme am Unterricht sowie die soziale Integration in die Klasse benannt.

Der Beitrag von I. Bräuninger et al. stellt die Beobachtungsschulung des nonverbalen Verhaltens bei schüchternen und ängstlichen Kindern in den Mittelpunkt. Anhand eines kurzen Literaturüberblicks werden Studienergebnisse zu typischem nonverbalen Ausdrucksverhalten von schüchternen Kindern vorgestellt. Es folgen Überlegungen, wie Lehrpersonen Zugang zum inneren Zustand dieser Kinder finden können. Voraussetzung dafür ist, dass Lehrpersonen sich eigener Ängste und persönlicher Unsicherheiten bewusstwerden. Wichtig ist auch, dass für diese Kinder gezielt Angebote geschaffen werden, wie z. B. ein Rückzugsort in der Klasse oder ein Buddy-System. Abgeschlossen wird der Beitrag mit drei Fallvignetten. Diese konkreten Beispiele sollen dazu dienen, Bewegungsideen für den Schulalltag zu vermitteln und deren Umsetzung zu erleichtern. Im Anhang dieses Beitrages findet sich zudem eine Checkliste für Fachkräfte zum leichteren Erkennen schüchterner Kinder im Schulalltag.

Das Kapitel von C. Croos-Müller befasst sich mit den Möglichkeiten von Körperpsychotherapien und Embodiment speziell für schüchterne oder sozial ängstliche Kinder. Die Autorin stellt dabei ihre Body 2 Brain CCM® vor. Diese wurde von der Autorin im Rahmen ihrer klinischen neurologisch-psychiatrischen Konsiliartätigkeit entwickelt. Sie basiert auf der Wechselwirkung zwischen Körper und Psyche. Um Affekte beeinflussen zu können, werden gezielt und wiederholt körperliche Interventionen eingesetzt. Diese ursprünglich für den klinischen Bereich konzipierte Methode wurde von der Autorin in den Alltag und auch in die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen übertragen. Anhand von konkreten Beispielen beschreibt sie sehr anschaulich, wie diese Methode gerade bei sozial unsicheren Kindern angewandt werden kann. Abgeschlossen wird der Beitrag mit konkreten Übungsbeispielen speziell für schüchterne Kinder.

Der letzte der vier Beiträge zu den therapeutischen Herangehensweisen zeigt die Möglichkeiten der Musiktherapie auf. S. C. A. Burkhardt beschreibt diese gerade für schüchterne Kinder sehr wirksame Methode, wie sie Zugang zu ihren Emotionen finden, wie Musik deren Entwicklung fördert und die Persönlichkeit stützt. Die Musik erleichtert den Zugang zu Kindern und kann als therapeutische Methode gerade im Rahmen der Schule sinnvoll eingesetzt werden. Der Artikel beschreibt kurz musikbasierte Interventionen im Gesundheitswesen und veranschaulicht Elemente der Musiktherapie bei Kindern und Jugendlichen, mit den beiden großen Hauptkategorien: der rezeptiven einerseits und der aktiven Musiktherapie andererseits. Musiktherapie als nonverbale Methode ermöglicht einen direkten Zugang zum Gefühlsleben. Da sie keine sprachlichen Kenntnisse voraussetzt, ist sie auch für Kindern mit Migrationshintergrund unmittelbar zugänglich. Die Autorin weist auf aktuelle Studien hin, welche die Wirksamkeit der Musiktherapie untersuchen. Im deutschsprachigen Raum findet Musiktherapie bis jetzt erst vereinzelt im schulischen Kontext statt. Eine Integration von Musiktherapie in den Schulalltag wäre auch in der Schweiz wünschenswert.

Die folgenden beiden Kapitel befassen sich mit möglichen Risiken und Entwicklungsgefährdungen für schüchternen Kindern. V. Jantzer und M. Kaess untersuchen, inwieweit schüchterne oder sozial unsichere Kinder vom Phänomen Mobbing betroffen sind und welche Handlungsmöglichkeiten sich daraus für den pädagogischen Alltag ableiten lassen. Die Autor/-innen führen in das Thema ein und weisen darauf hin, dass in der klinischen bzw. pädagogischen Arbeit mit den Betroffenen, deren Eltern sowie der präventiven Arbeit an Schulen unbedingt darauf zu achten ist, auf die Begriffe »Täter« und »Opfer« zu verzichten. Dadurch könnten Stigmatisierungen vermieden werden. Sie betonen, dass Schüchternheit sowohl die Wahrscheinlichkeit erhöht, ein »Opfer« von Mobbing zu werden und in der Folge die psychische Gesundheit der sozial unsicheren Kinder beeinträchtigen kann. Die Viktimisierung durch Mobbing erhöht das Risiko für ein breites Spektrum an psychischen Störungen um ein Vielfaches. Im Abschnitt zu praktischen Implikationen wird aufgeführt, wie Mobbing an Schulen beendet oder verhindert werden kann. Zum Abschluss des Kapitels wird darauf hingewiesen, dass nebst der Beeinflussung von kontextuellen Bedingungen vermehrt auch eine Förderung der Sozialkompetenz der Betroffenen wie auch deren Peers stattfinden muss.

Der Beitrag von T. In-Albon und D. Schwarz befasst sich mit nicht-suizidalem selbstverletzendem Verhalten bei sozial ängstlichen Jugendlichen. Defizite im Umgang mit Emotionen und ein geringer Selbstwert bilden die Grundlage. Das selbstverletzende Verhalten wird in der Literatur häufig als kurzfristige Copingstrategie im Umgang mit sozialen Ängsten bezeichnet. Die Stärkung emotionaler und sozialer Kompetenzen, der Aufbau von Selbstwert und Informationsvermittlung sind wichtige Komponenten sowohl in der Behandlung als auch in der Prävention. Die Autorinnen betonen, dass der Zusammenhang von Impulsivität und Angst jedoch komplex ist und es weiterer Forschung zu diesem Thema bedarf. Der Beitrag beschreibt Formen des selbstverletzenden Verhaltens, Häufigkeiten sowie die Komorbidität mit anderen psychischen Auffälligkeiten. Zum Verständnis von Ursache und Aufrechterhaltung der Symptomatik beziehen sie sich auf das biopsychosoziale Modell. Ein Schwerpunkt dieses Kapitels bildet die Beschreibung von möglichen Interventionen. Im Zentrum steht dabei die Förderung der emotionalen Kompetenzen. Untersucht wird die Wirksamkeit von Trainingsprogrammen. Ebenso von Bedeutung ist im Bereich der Prävention das Erkennen und Ansprechen von selbstschädigendem Verhalten. Die Autorinnen weisen darauf hin, dass insbesondere Jugendliche mit erhöhtem Risiko oftmals eine geringe Bereitschaft aufweisen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ein Ansatz könnte hier die Vermittlung von professioneller Hilfe im Internet darstellen.

Abgeschlossen wird dieser Band mit einem Beitrag von B. Uehli Stauffer zu Eltern und Elternberatung von schüchternen Kindern. Ausgehend von der Beschreibung von Schüchternheit oder sozialer Unsicherheit als subklinisches Phänomen, das durch eine Kombination von Angst in Gegenwart anderer und durch das Vermeiden sozialer Situationen gekennzeichnet ist, wird auf Bedeutung und Einfluss der Eltern eingegangen. Einen entscheidenden Einfluss auf den Entwicklungsausgang haben dabei Risiko- und Schutzfaktoren, die Entwicklung von Resilienz, familiäre Interaktions- und Kommunikationsmuster sowie das elterliche Erziehungsverhalten. Eine begleitende und unterstützende Elternarbeit im Kontext von subklinischen Angstthemen ist von zentraler Bedeutung, um Familien zu stützen und das Risiko der Entstehung einer Angststörung zu vermindern.

Literatur

Asendorpf, J. B. (1998): Die Entwicklung sozialer Kompetenzen, Motive und Verhaltensweisen. In F. E. Weinert (Hrsg.), Entwicklung im Kindesalter (S. 153–176). Weinheim: Psychologie Verlagsunion.

Bandelow, B. (2007). https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/angstforscher-im-interview-sch uechterne-lieben-besser-1492891.html 21.10 2007 Zugriff 30.1.2021

Bilz, L. (2014): Werden Ängste und depressive Symptome bei Kindern und Jugendlichen in der Schule übersehen? Zeitschrift für Pädagogische Psychologie 28 (1–2), S. 57–62. DOI: 10.1024/1010-0652/a000118.

Eisner, M. (2012): Über Schüchternheit. Tiefenpsychologische und anthropologische Aspekte. Göttingen: Vandenhoeck Ruprecht. Online verfügbar unter http://site.ebrary.com/lib/alltitl es/docDetail.action?docID=10569557.

Fehm, L. (2013) report Psychologie Online verfügbar unter http://www.report-psychologie.de /fileadmin/user_upload/Thema_des_Monats/2-13_Fehm.pdf [Abgerufen am 10.05.2021]

Fröhlich-Gildhoff, K., Hensel, T., Sättele, E.-M. & Fröhlich-Gildhoff, M. (2018): Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen. Ursachen, Erscheinungsformen und Antworten. 3., erweiterte und aktualisierte Auflage. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.

Fröhlich-Gildhoff, K. (2013): Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen. Ursachen, Erscheinungsformen und Antworten. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart: Kohlhammer.

Gandhi, M. K. (Hrsg.) (2012): Mein Leben. 22. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch, 953).

Laakmann, M., Petermann, F., Petermann, U. (2015): Soziale Angst und Unsicherheit im Kindesalter. In: Nervenheilkunde 34 (01/02), S. 65–70. DOI: 10.1055/s-0038-1627553.

Renneberg, B. & Ströhle, A. (2006): Soziale Angststörungen. In: Der Nervenarzt 77 (9), S. 1123–1132. DOI: 10.1007/s00115-006-2087-x.

Stieler-Melfsen, S. & Walitza, S. (2013): Soziale Angst und Schulangst. Entwicklungsrisiken erkennen und behandeln. 1. Auflage. Weinheim, Basel: Beltz (Risikofaktoren der Entwicklung im Kindes- und Jugendalter). Online verfügbar unter http://eres.lb-oldenburg.de/re direct.php?url=http://www.content-select.com/index.php?id=bib_view&ean=97836212806 62.

Stöckli, G. (2018): Schüchterne leben in einer anderen Welt. In: Grundschule 50 (10), S. 6–31.

Stöckli, Georg (2007): Schüchternheit als Schulproblem? Spuren eines alltäglichen Phänomens. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Stöckli, Georg (2016): Zoom. Mutmacher gegen Hemmzwerg: Sozial fit – SoFit! : Sozialarbeit an Schulen: ein Trainingsprogramm für sozial ängstliche Schülerinnen und Schüler. 1. Auflage. Zürich: LMVZ.

Übersicht zum Phänomen Schüchternheit, zur Entstehung und zu sozialen Kompetenztrainings

Ulrike Petermann

Schüchterne Kinder sind angenehme Kinder, zumindest in der Wahrnehmung von Erwachsenen und ganz besonders von Personen, die sich beruflich mit Kindern beschäftigen. Dies liegt daran, dass diese Kinder sich scheinbar unauffällig verhalten, als pflegeleicht wahrgenommen werden und das Verhalten vor allem Erwachsene nicht unter Handlungsdruck setzt – ganz im Unterschied zu Kindern mit ADHS oder aggressivem Verhalten.

Schüchterne Kinder wirken unsicher in sozialen Situationen, und zwar durch Phänomene wie (Petermann & Petermann 2015):

•  keinen oder kaum Blickkontakt aufnehmen und nicht halten können,

•  schweigsam und still sein, vor allem in Situationen, in denen mehr als eine weitere Person anwesend ist,

•  leises und undeutliches Sprechen,

•  gehemmtes Verhalten, manchmal in Gestik und Mimik erkennbar (z. B. ängstlich umherschauen),

•  kontaktscheues, eher vermeidendes Verhalten,

•  anklammerndes Verhalten an vertraute Personen,

•  zittrige und feuchte Hände sowie Zittern in der Stimme bei sozialer Hervorhebung (z. B. beim Aufgerufen werden in der Schule).

Gegenüber diesen Verhaltensweisen schüchterner Kinder herrscht eher eine große Toleranz von Seiten der Erwachsenen bis hin zu schutzreflexhaftem Verhalten. Das heißt, dass das für diese Kinder typische Vermeidungsverhalten akzeptiert und entschuldigt wird. Als Problem wird das Vermeidungsverhalten schüchterner Kinder erst dann wahrgenommen, wenn die Kinder sich weigern, die Schule zu besuchen.

1          Sozial ängstliche Kinder

Bevor es zu klinisch relevanten Ausprägungen schüchternen Verhaltens kommt, treten viele der oben genannten Phänomene im Alltag auf. Aber auch leichte bis mittlere Ausprägungen von Schüchternheit, die noch nicht in vollem Umfang die Kriterien einer Störung mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters erfüllen, verursachen beim betreffenden Kind oder bei der Jugendlichen und dem Jugendlichen minimal Unwohlsein bis hin zu deutlichem Leiden.

1.1        Bedeutung und Auswirkungen von Schüchternheit

Schüchterne Kinder erfahren eine Reihe von Nachteilen in ihrer Entwicklung. Allem voran ist die sozial-emotionale Entwicklung gefährdet (Baardstu et al., 2020). So kann sich Schüchternheit im Kindesalter negativ auf die Gleichaltrigenkontakte und den Peerstatus auswirken und bis ins Jugendalter andauern (Stöckli, 2004). Je nach kulturellem Hintergrund wirkt sich Schüchternheit auch auf schulische Leistungen mehr oder weniger aus. Bayram Özdemir et al. (2017) verdeutlichen dies an schüchternen Kindern in der Türkei. Aus der Studie kann man schlussfolgern, je mehr Wert in einer Gesellschaft auf soziale Beziehungen gelegt wird, umso deutlicher ist die Bedeutung für den schulischen Erfolg erkennbar. In einer Studie von Stöckli (2004) zeigt sich ebenfalls der Zusammenhang von Schüchternheit beziehungsweise sozialer Ängstlichkeit und schulischer Leistung. Eine komplizierte Verknüpfung mit schulischen Leistungen kann auf Basis der Studienlage als begründet angenommen werden (vgl. z. B. Zhang et al., 2017). Stöckli (2004) fordert von daher zu Recht die Trennung der Leistungsbeurteilung durch Lehrerinnen und Lehrer von der Beurteilung der sozialen Kompetenz der Kinder. Dies verlangt eine entsprechende Ausbildung der Lehramtsstudierenden sowie eine Schulung der Lehrkräfte für ihren Unterrichtsalltag.

Angst vor sozialen Situationen, Gefühle der Einsamkeit und Niedergeschlagenheit bis hin zur Vermeidung des Schulbesuchs wirken sich negativ auf den Kontakt und die Beziehung zu Gleichaltrigen aus, zum Beispiel hinsichtlich der Akzeptanz durch Gleichaltrige. Und dies begünstigt weiter die Unzufriedenheit schüchterner Kinder mit der schulischen Situation (Bayram Özdemir et al., 2017). Eine zentrale Bedeutung hat dabei das Selbstbild und Selbstwertgefühl schüchterner Kinder, welches mit darüber entscheidet, ob sich ein schüchternes Kind am Unterricht oder an Gesprächen mit den Klassenkameradinnen und Klassenkameraden beteiligt. Eine Beteiligung wiederum beeinflusst die Sicht der anderen auf das schüchterne, ängstliche Kind in positiver Weise, eine Nicht-Beteiligung natürlich in negativer Weise, und hat sogar einen Effekt auf die Lehrperson (Stöckli 2009).

Früh auftretende Schüchternheit geht mit dem Risiko einher, dass sich eine Störung mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters entwickelt, die behandlungsbedürftig ist. Bleibt die soziale Angst unbehandelt, so stabilisiert sie sich, generalisiert in alle Lebensbereiche, bis hin zur Entwicklung einer komorbiden depressiven Störung im späten Kindesalter und Jugendalter (Büch et al., 2015a; Petermann & Suhr-Dachs, 2013). Entsprechend kann die Lebenszeitprävalenz für die soziale Angststörung um drei bis vier Prozent liegen (Demir et al., 2013; Wittchen et al., 1999). Die Punktprävalenz bei 12- bis 17-Jährigen schwankt zwischen 0,5 % und 2,6 % (Essau et al., 1999). Subklinische Formen sozialer Ängste treten weit häufiger auf. Von 1035 Jugendlichen der Bremer Jugendstudie gaben 47,2 % an, unter sozialen Ängsten zu leiden (Essau et al., 1998). Mädchen waren etwas häufiger betroffen. Der Geschlechtsunterschied war jedoch nicht signifikant.

1.2        Soziale Angststörung und soziale Phobie

Schüchternheit ist ein Vorläufermerkmal sozialer Angst, das die Wahrscheinlichkeit erhöht, eine soziale Angststörung im Laufe der Kindheit zu entwickeln. Schüchternheit ist eng mit dem Temperamentsmerkmal Verhaltenshemmung verknüpft (vgl. Abschnitt 2.1). Im Zentrum einer Störung mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters steht die Angst vor sozialen Situationen, in denen die Kinder fremden, unvertrauten Personen begegnen können. Hierbei spielt es keine Rolle, ob es sich bei den fremden Personen um Gleichaltrige oder Erwachsene handelt. Die anhaltende Ängstlichkeit führt zu Vermeidungsverhalten dieser sozialen Situationen. Auch sorgt sich ein Kind, ob sein Verhalten Fremden gegenüber angemessen ist. Es reagiert mit Verlegenheit und Scham, was z. B. am Erröten erkennbar ist. Durch das Vermeidungsverhalten besteht die Gefahr sozialer Isolation, was bei Kindern zu Defiziten in der sozial-emotionalen Entwicklung führt (Petermann & Suhr-Dachs, 2013). Um zu unterscheiden, ob es sich um ein nur schüchternes Kind handelt oder schon um eine Angststörung, müssen eine Reihe von Kriterien, die im Klassifikationssystem ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert sind, herangezogen werden (Dilling & Freyberger, 2019).

So ist weiter von Bedeutung, dass ein sozial ängstliches Kind vertrauten Personen gegenüber, wie den Eltern, Geschwistern und Freunden, zu altersüblichem Kontaktverhalten fähig ist. Auch muss das ängstliche Vermeidungsverhalten deutlich über das altersübliche Maß hinausgehen und eine hohe Stabilität aufweisen sowie vor dem sechsten Lebensjahr bereits auftreten.

Kommt bei älteren Kindern und Jugendlichen eine ausgeprägte Bewertungsangst, ein geringes Selbstwertgefühl und Furcht vor Kritik hinzu, dann spricht man nicht mehr allein von einer Störung mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters (ICD-10: F 93.2), sondern von sozialen Phobien, die im Erwachsenenbereich der ICD-10 (F 40.1) beschrieben sind. Diese Klassifikationskriterien der sozialen Phobien stimmen weitgehend mit den Kriterien bzw. Symptombeschreibungen der sozialen Phobie im DSM-5 (2015; Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) überein, welches von der American Psychiatric Association herausgegeben worden ist. Zudem gibt es im DSM-5 (2015) die Möglichkeit einer Zusatzcodierung, und zwar die Leistungsangst betreffend. Diese wichtige Zusatzcodierung kann angewendet werden, wenn sich die soziale Angst ausschließlich auf Situationen bezieht, die einen Leistungscharakter aufweisen und die mit einer Bewertung verbunden sind oder sein können. Es spielt die soziale Hervorhebung oftmals dabei eine Rolle, ebenso wie die Angst vor negativer Kritik. Solche Situationen treten typischerweise in der Schule auf, wie vorlesen, vortragen, antworten, zur Tafel gehen, vorsingen, eine Turnübung ausführen und Ähnliches. Die Zusatzcodierung darf also nur dann vergeben werden, wenn keine Angst vor sozialen Situationen ohne Leistungscharakter vorliegt (vgl. auch Petermann & Petermann, 2015, S. 20).

Im Alltag kann man Kinder und Jugendliche mit sozialer Ängstlichkeit bzw. sozialer Phobie nicht nur an ihrem Vermeidungs- und Rückzugsverhalten erkennen, sondern auch an Weinen, Erstarren, Passivität oder auch an Wutanfällen, wenn soziale Situationen unvermeidbar sind. Durch die hohe körperliche Erregung müssen die Kinder häufig zur Toilette, haben starkes Herzklopfen, fallen durch übermäßige Blässe oder aber Erröten auf. Diese Symptome reichen an eine Panikattacke heran.

1.3        Trennungsangst

Auf der Phänomenebene unterscheiden sich sozial ängstliche Kinder und Jugendliche von solchen mit einer Emotionalen Störung mit Trennungsangst des Kindesalters (ICD-10: F 93.0) an einem Punkt nicht: nämlich hinsichtlich der Vermeidung des Schulbesuchs bis hin zur aktiven, teilweise aggressiven Weigerung, die häusliche Umgebung zu verlassen. Jedoch sind die Gründe für dieses Vermeidungsverhalten sehr unterschiedlich: Während die sozial ängstlichen und schüchternen Kinder aus Furcht vor unvertrauten sozialen Situationen und Personen sowie wegen ihrer Bewertungsangst und Furcht vor sozialer Hervorhebung ihr häusliches Umfeld nicht verlassen wollen, möchten sich die anderen nicht von ihren engsten Bezugspersonen (in der Regel die Eltern) trennen; und zwar aus der irrationalen und unrealistischen Angst heraus, diesen Personen könnte ein Unglück zustoßen, wodurch sie diese wichtigen Bezugspersonen verlieren könnten, also von ihnen getrennt würden. Von Bedeutung ist, dass diese Sorge eines Kindes keinen realen Hintergrund aufweist, wie beispielsweise Krankheit und Tod eines engen Familienmitgliedes oder Vertreibung und Flucht mit traumatischen Trennungserfahrungen. In solchen Fällen darf eine Trennungsangst nicht diagnostiziert werden.

Selbst das Zubettgehen und Einschlafen kann bei diesen Kindern mit Trennungsschwierigkeiten verbunden sein. Eine Bezugsperson muss bei ihnen bleiben, bis sie eingeschlafen sind; oder die trennungsängstlichen Kinder wollen unbedingt im elterlichen Bett schlafen. Schlafen bei Freunden oder Klassenfahrten mit auswärtigen Übernachtungen werden gemieden oder verweigert. Weinen und Anklammern an die Bezugspersonen tritt genauso auf wie aggressives Verhalten, beispielsweise auf den Boden werfen, treten oder beißen, wenn eine Trennung unvermeidbar ist, was beim Schulbesuch der Fall ist. Durch diese Verhaltensweisen kann es leicht zu falschen Diagnosen kommen, zum Beispiel wird eine Störung mit oppositionellem Trotzverhalten diagnostiziert. So ist auch der Begriff Schulvermeidung zu unterschiedlichen psychischen Störungen gehörig und wird von Walter und Döpfner (2020) von anderen Begriffen, den Schulabsentismus betreffend, wie beispielsweise Schulverweigerung, Schulschwänzen oder Schulangst, abgegrenzt und so definiert, dass unterschiedliche, die Schulvermeidung mitverursachende Hintergründe berücksichtigt werden. Dadurch wird zugleich deutlich, dass schulvermeidendes Verhalten ein Symptom verschiedener psychischer Störungen ist und der Begriff Schulvermeidung körperlich krankheitsbedingtes Fehlen ausschließt.

Auch Kinder und Jugendliche mit einer Trennungsangst klagen oft über körperliche Symptome wie Übelkeit, Bauchschmerzen, Brechreiz und Erbrechen sowie Kopfschmerzen. Diese realen Beschwerden werden von manchen Kindern instrumentalisiert, um eine Trennungssituation, wie den Schulbesuch, zu vermeiden (Büch et al., 2015a; Suhr-Dachs & Petermann, 2013). In diesem Fall ist die Grenze zwischen körperlich begründetem Fernbleiben der Schule und psychisch bedingter Schulvermeidung fließend.

1.4        Selektiver Mutismus

Es gibt ein Symptom bei schüchternen, sozial ängstlichen Kindern, das zu einer anderen internalisierenden Störung differentialdiagnostisch abgegrenzt werden muss: Es geht um das Sprechen bzw. das Nicht-Sprechen. Sowohl Kinder mit selektivem Mutismus als auch Kinder mit sozialer Ängstlichkeit zeigen bezüglich des Sprechens deutliche Auffälligkeiten, aber in je unterschiedlicher Weise. Während Kinder mit selektivem Mutismus in bestimmten Situationen nicht sprechen, in anderen Situationen sich jedoch problemlos äußern, fallen Kinder mit sozialer Angst vor allem durch zu leises und undeutliches Sprechen auf. In neuen und Bewertungssituationen kann es auch vorkommen, dass sozial ängstliche Kinder vorübergehend nicht sprechen. Werden Kinder mit sozialer Angst mit neuen Situationen und Personen vertraut, verschwinden die Auffälligkeiten des Sprechens, sie gewöhnen sich also an diese soziale Situation. Beim selektiven Mutismus verhält es sich anders. Diese Kinder reden immer in bestimmten Situationen nicht, z. B. im Kindergarten oder in der Schule. Zu Hause sprechen sie unauffällig und altersentsprechend. Hin und wieder kann es auch umgekehrt sein. Die Klassifikationssysteme verwenden die Formulierung emotional bedingte Selektivität des Sprechens (ICD-10: F 94.0); Dilling & Freyberger, 2019) bzw. andauernde Unfähigkeit, in bestimmten Situationen zu sprechen, in denen üblicherweise Reden, Erzählen, Antworten erwartet werden (DSM-5 2015). In der ICD-10 wird der Begriff elektiver Mutismus verwendet; im DSM-5 heißt es selektiver Mutismus. Im ICD-11-Katalog, der 2019 von der WHO verabschiedet wurde, wird die Störung ebenfalls selektiver Mutismus genannt.

Es stellt sich die Frage, zu welcher Störungsgruppe der selektive Mutismus gehören soll, mehr zu internalisierenden Störungen, also zu den Angststörungen, oder zu einer eigenständigen Störungsgruppe. In der ICD-10 ist der elektive Mutismus in der Gruppe der Störungen sozialer Funktionen eingeordnet. In der ICD-11 wird der selektive Mutismus als eigenständige Angststörung betrachtet. Das DSM-5 fasst den selektiven Mutismus als einen Subtyp in der Gruppe der Angststörungen auf. Dies ist nicht unumstritten, ob der selektive Mutismus tatsächlich zu den Angststörungen gehört (Muris & Ollendick, 2015). In einer aktuellen Studie von Poole et al. (2020) wird der Frage nachgegangen, ob man selektiven Mutismus bei Kindern als Extremvariante der Störung mit sozialer Ängstlichkeit begreifen kann und inwiefern sich diese Kinder von solchen mit einer Störung mit sozialer Ängstlichkeit unterscheiden oder auch nicht. Poole et al. (2020) betrachten dabei subjektive Daten von Kindern, Lehrern und Eltern (Selbst- und Fremdurteil), führen Verhaltensbeobachtungen in standardisierten Situationen durch (per Video dokumentiert) und untersuchen mit Hilfe von Speichelkortisol die Stressreaktivität der Kinder. Neben einer Kontrollgruppe gibt es eine Gruppe von Kindern, die selektiven Mutismus und eine soziale Angststörung kombiniert aufweisen; eine weitere Gruppe zeigt nur soziale Angst. Interessant war das Ergebnis, dass beide klinischen Gruppen ähnlich hohe soziale Angst aufwiesen. Trotz der Überschneidungen von sozial ängstlichen Kindern mit und ohne selektiven Mutismus sollte der selektive Mutismus nicht als ein besonders stark ausgeprägter Subtyp der Störung mit sozialer Ängstlichkeit betrachtet werden. Denn zu einer weiteren Beurteilung dieses Sachverhaltes muss zukünftig eine weitere Gruppe von Kindern in eine solche Studie einbezogen werden, nämlich Kinder nur mit selektivem Mutismus ohne eine komorbide Störung mit sozialer Angst (Poole et al., 2020).

Auch die Studie von Schwenck et al. (2019) geht einer ähnlichen Frage nach, nämlich, zu welcher Störungsgruppe selektiver Mutismus letztlich gehört. Ihre Ergebnisse sprechen dafür, dass selektiver Mutismus eher eine Angststörung mit einem speziellen Angstprofil darstellt als eine Extremform einer Störung mit sozialer Ängstlichkeit. Obwohl nämlich beide Störungsgruppen eine ähnlich stark ausgeprägte Angst beim Anschauen von 21 verschiedenen Videosequenzen angaben, hoben doch die Kinder und Jugendlichen mit selektivem Mutismus im Vergleich zu solchen mit sozialer Angststörung hervor, dass ihre Angst besonders bei Videosequenzen hervorgerufen wurde, wenn diese Sprechanforderungen zeigten, im Unterschied beispielsweise zu peinlichen Situationen.

Es bleibt also eine differentialdiagnostische Herausforderung, eine Störung mit sozialer Ängstlichkeit von einem selektiven Mutismus zu unterscheiden bzw. abzugrenzen. Die sehr selten auftretende Störung selektiver Mutismus mit einer Punktprävalenz zwischen 0,03 % und 1 % in klinischen oder schulischen Stichproben (DSM-5 2015, S. 265) mahnt zu genauer multimodaler und multimethodaler Prüfung der relevanten diagnostischen Kriterien, zumal die verschiedenen Ängste im Kindes- und Jugendalter – zu den hier ausgeführten gehören zudem die phobische Störung des Kindesalters, die generalisierte Angststörung und die spezifische Phobie – untereinander komorbid, d. h. gleichzeitig, auftreten können. Einen Überblick dazu und zu weiteren, notwendigen differentialdiagnostischen Abgrenzungen gibt der Leitfadenband Kinder- und Jugendpsychotherapie Soziale Ängste und Leistungsängste von Büch et al. (2015, S. 6 und 7). Darüber hinaus ist für den Schulbereich ein Screening-Verfahren hilfreich, damit Lehrkräfte selektiven Mutismus zuverlässig in ihren Lerngruppen erkennen können. Ein solches evaluiertes Instrument liegt mit dem Dortmunder Mutismus Screening für die Schule (DortMuS-Schule) vor (Starke & Subellok, 2017), das von Lehrkräften bei Kindern im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren angewendet werden kann. Es besteht aus zwei Skalen mit insgesamt 17 Items, Schweigen im Unterricht (Skala 1) sowie Hilfe und Unterstützung einfordern