Schuldsaldo - Frits Remar - E-Book

Schuldsaldo E-Book

Frits Remar

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  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Die Schulden häufen sich. Brigitte weigert sich mittlerweile die Post zu öffnen. Und der Kaufmann sieht sie auch schon so sonderbar an, wenn sie sagt, er solle aufschreiben. Lange kann das nicht mehr gutgehen. Frits Remar erzählt in diesem spannenden, psychologischen Krimi von zwei rechtschaffenen Menschen, die ein Verbrechen begehen, aus dem es so schnell kein Entkommen gibt...-

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Seitenzahl: 199

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Frits Remar

Schuldsaldo

Ein Bergh-Krimi

Saga

Schuldsaldo

Aus dem Danish von Ursula von Weise

Originaltitel: Saldo negativ © 1979 Frits Remar

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711512999

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Fast automatisch kuppelte ich aus, wie jeden Abend an dieser Stelle, und schaltete vom dritten in den zweiten Gang. Langsam ließ ich das Kupplungspedal los und merkte zufrieden, wie der Motor ohne jeden Ruck bremste.

Ich hatte den kleinen Teufelswagen allmählich im Griff.

Anfangs hatte ich Schwierigkeiten mit ihm gehabt. Der Sprung vom Volkswagen zu einem BMW 2002 war größer gewesen, als ich gedacht hatte.

Er kam auch teurer zu stehen.

Ich spürte, daß sich eine Sorgenfalte in meine Stirn grub.

Ich mußte einen Bogen um Sörens Volvo machen. Er war gerade im Begriff, in seine Garage einzubiegen, ungeschickt wie immer. Nach dem Überholen ließ ich das Gaspedal los, trat leicht auf die Bremse, blinkte nach rechts und bog in meine eigene Garage ein.

Birgitte war zu Hause. Ihr kleiner roter Fiat stand auf seinem Platz in der Doppelgarage. Während ich hineinfuhr, ging das Licht an. Ich bremste, legte den Leerlauf ein und ließ den Motor noch ein paar Sekunden laufen, bevor ich ihn abstellte.

Mit einem leichten Seufzer nahm ich die schwarze Mappe, die neben mir lag, an mich und stieg aus.

Ein Weilchen blieb ich neben dem Wagen stehen und blickte in den Garten hinaus. Er glich allen anderen Vorgärten an der Straße. Er war von einem halbmeterhohen Steinmäuerchen umgeben, bepflanzt mit niedrigen blühenden Sträuchern und Zierblumen.

Die Häuser an der Straße sahen eins wie das andere aus, obwohl sie verschieden waren. Gelbe Ziegel, schwarzes Eternitdach, L-förmig oder langgestreckt, Fenster bis zum Boden, Türen aus Naturholz, helle Vorhänge.

Ich atmete abermals auf. Ich fühlte mich hier wohl. Zwar fühlte ich mich noch nicht richtig daheim, aber ich hatte die unklare Empfindung, daß ich es verdiente, in einem solchen Haus zu wohnen, einen BMW zu fahren und solche Nachbarn zu haben.

Ich drückte auf den Knopf an der Wand, und die große Garagentür kippte mit leisem Zischen hinunter. Dann ging ich am Wagen entlang zu der Tür, die in die Diele führte. Als ich die Tür hinter mir schloß, erlosch das Licht in der Garage automatisch.

Zufrieden schaute ich mich in der großen, fast viereckigen Halle um. Birgitte hatte einen guten Geschmack. Von ihr hatte ich viel gelernt.

Der Fußboden aus dunkelbraunen Fliesen, da und dort ein echter Teppich als gedämpfter Farbfleck, ringsum gelbe Backsteinwände. Zwischen der Wohnzimmer- und der Küchentür hing ein abstraktes Gemälde in braunen, gelben und violetten Tönen. Links von der breiten Haustür mit Milchglasscheiben stand ein niedriger weißer Tisch mit rotem Telefonapparat, daneben ein blaubemalter Lehnstuhl mit orangefarbenen Kissen, auf der anderen Seite der Tür ein steinerner Blumenkasten mit grünen Pflanzen.

An der Decke hing eine riesige kupferne Kugellampe. Ringsum an den Wänden waren diskrete Lämpchen angebracht.

»Hallo!« rief ich. »Da bin ich!«

Maria stürzte aus der Küche und fiel mir um den Hals. Ihre langen braunen Haare flatterten, als ich sie herumwirbelte. Sie umarmte mich fest und gab mir einen innigen, nassen Kuß. Ich stellte sie auf die Füße und wischte mir mit dem Rockärmel den Mund ab.

»Guten Tag«, sagte Birgitte.

Sie stand in der Küchentür und lehnte sich mit der einen Hüfte an den Rahmen. Ihre lange schwarze Hose saß wie angegossen. Der ärmellose, in Rippen gestrickte weiße Pullover spannte sich über ihren großen, festen Busen.

Ich konnte den Blick nicht davon losreißen.

Noch immer hatte ich mich nicht daran gewöhnt, daß ich mit Birgitte verheiratet war. Dabei dauerte unsere Ehe nun schon über zwölf Jahre. Ich hatte sie an der Universität kennengelernt. Damals fehlten mir noch zwei Jahre bis zum Abschluß meines Studiums. Sie hatte erst damit angefangen. Mehrere Monate lang versäumten wir beide die Vorlesungen. Wir kamen in der ganzen Zeit buchstäblich nicht aus dem Bett.

Es war herrlich und zugleich schrecklich.

Ich versäumte nicht nur die Vorlesungen, sondern arbeitete auch sonst nicht. Und ich hatte im Gegensatz zu Birgitte keine Reserven. Sie hatte ihren Vater, der damals in Geld schwamm. An sich machte es mir nichts aus, ›ausgehalten‹ zu werden. Darüber wurde nicht gesprochen.

Aber trotzdem ...

Birgitte war jetzt zu mir getreten. Sie schmiegte sich an mich, und ich fühlte die Wärme ihres Körpers durch den dünnen Stoff. Sie legte den einen Arm um meine Schulter und streichelte meinen Nacken. Es rieselte mir über den Rücken. Dann öffnete sie ganz leicht den Mund und küßte mich lange und ausgiebig.

Es war einer jener Küsse, die gewöhnlich damit endeten, daß ich sie hochhob und ins Schlafzimmer trug.

»Komm und schau, Papa!« sagte Lars hinter mir.

Er war zwölf Jahre alt und im Gegensatz zu Maria hellblond. Er hatte immer irgend etwas gebastelt, das ich mir sofort ansehen mußte, wenn ich nach Hause kam.

Ich ließ Birgitte los und sagte: »Laß mich wenigstens erst die Jacke ausziehen.«

»Du mußt auch sehen, was ich gemacht habe«, rief Maria aus ihrem Zimmer.

»Laßt Vater erst einmal hereinkommen, bevor ihr ihn überfallt«, mahnte Birgitte und schaute mich prüfend an. »Hattest du einen anstrengenden Tag?«

»Nicht schlimmer als sonst«, sagte ich und zuckte schicksalsergeben die Schultern. »Du weißt ja, wie es ist. Und du?«

Sie gab keine Antwort, sondern drehte sich um und ging in die Küche. Ich zog mein Jackett aus und hängte es in den eingebauten Schrank, ehe ich ihr folgte. Die Mappe ließ ich neben dem Schrank stehen. Der Eichentisch am Fenster war für uns vier gedeckt. Auf dem Herd dampften zwei Töpfe. In dem einen rührte Birgitte energisch.

»Wo ist Susanne?« fragte ich.

»Ich habe ihr freigegeben«, antwortete Birgitte, während sie weiterrührte. »Ich hatte Lust, uns selbst etwas Gutes zu kochen.«

Ich äugte in die Töpfe, nahm ihr den Holzlöffel aus der Hand und schnupperte daran. Genüßlich schnalzte ich mit der Zunge. »Mhm, chinesisch. Din Chop suey.«

Sie wandte den Kopf und strahlte mich an. Es kam mir vor, als läge auch Bewunderung in ihrem Blick. Ich leckte den Löffel ab und rieb mir die Hände.

Ich merkte selbst, daß meine Augen unruhig und meine Bewegungen fahrig waren.

Aber Birgitte merkte es nicht, sie betätigte sich weiter am Herd. Ich ging wieder in die Halle, nahm meine Mappe und begab mich ins Wohnzimmer.

Es war enorm groß, fast siebzig Quadratmeter. Mit weißen Wänden, gefüllten Bücherregalen, mehreren abstrakten Bildern, einer teuren Stereo-Anlage, bequemen, tiefen Sesseln, Glastischen und einem Spannteppich.

Ich ging zum Schreibtisch und stellte die Mappe neben den Stuhl auf dem Boden.

Auf dem Schreibtisch lagen sechs ungeöffnete Briefumschläge.

»Du hast die Post nicht aufgemacht«, rief ich.

»Was sagst du?« antwortete sie leicht gereizt.

»Du hast die Post nicht aufgemacht«, wiederholte ich noch lauter.

»Nein, damit habe ich aufgehört.«

Ich setzte mich und begann die Umschläge aufzuschlitzen.

Ich hätte sie nicht öffnen müssen, um zu erfahren, was sie enthielten.

Ich wußte es im voraus.

Trotzdem schlitzte ich das erste Kuvert erregt auf und faltete den Brief mit heftigen Bewegungen auseinander. Am liebsten hätte ich ihn zerrissen. Ich warf ihn hin und ließ die Hände auf den Schreibtisch sinken.

Ruhig Blut, sagte ich zu mir und holte tief Atem. Deshalb ändert sich nichts. Deshalb ändert sich überhaupt nichts. Ich zitterte innerlich, aber meine Hände lagen unbeweglich auf der Schreibtischplatte. Ich starrte darauf, während ich das innere Zittern bekämpfte. Fast gelang es mir. Irgendwie verdichtete es sich zu einem schmerzhaften Knoten im Zwerchfell.

Aber alles andere war besser als das Zittern.

Alles andere, wenn es nur nicht äußerlich zu sehen war.

Ich nahm den Brief wieder auf. Es war eine Rechnung der Autowerkstatt. Neue Stoßdämpfer 498 Kronen; Bolzen, Schraubenmuttern, Splinte und Federn 17 Kronen; Arbeitszeit . . .

Die Zahlen verschwammen vor meinen Augen.

Alles zusammen 930 Kronen. Zahlbar in 30 Tagen netto.

Ich öffnete den nächsten Brief.

»Bei Durchsicht unserer Bücher haben wir leider festgestellt, daß . . .«

Das war von einem Warenhaus. Das Soll war unter allen Umständen, auch unter den günstigsten, mindestens doppelt so hoch, als es hätte sein dürfen.

Ich warf den Brief wütend hin und nahm den dritten zur Hand.

Gartenarchitekt . . . Rasenfläche . . . 710 Quadratmeter . . . Summa summarum . . .

Im vierten Brief teilte mir meine Bank mit, daß mein Konto jetzt um 25 384,11 Kronen überzogen sei.

Es stand nichts davon da, daß man den Ausgleich baldigst erwarte; aber das lag nur daran, daß der Bankdirektor ein guter Freund von mir war. Es hätte eigentlich darin stehen müssen.

Ich durfte mein Konto nicht über 15 000 Kronen überziehen.

Die beiden letzten Briefe öffnete ich gar nicht erst. Sie waren ohnehin nur kleine Katastrophen im Vergleich zu den ersten vier.

Ich zog die mittlere Schreibtischlade auf, fegte alles hinein und knallte sie zornig zu. Ich begriff nicht, wie das Ganze zugegangen war. Ich verdiente bei der Medicochemico 130 000 Kronen pro Jahr und Birgitte mit ihrer Halbtagsarbeit ungefähr 50 000. Wie war es bloß schiefgegangen? Was konnten wir einsparen? Wo klemmte das Räderwerk?

Ich raffte mich auf und ging ins Schlafzimmer. Ich wußte nicht, woran es lag, aber ich wurde immer aufgeregt, wenn ich im Schlafzimmer stand. Hätte ich Birgitte gefragt, so hätte sie mir sicher eine erschöpfende psychologische Erklärung dafür geben können.

Schuldgefühl. Bettfetischismus. Gut entwickelte sexuelle Antennen, die keines starken Signals bedurften.

Ich wußte es nicht. Jedenfalls beeilte ich mich, in meine Hauskleidung zu schlüpfen. Bequeme ausgetretene Schuhe, Jeans und ein kariertes Hemd.

Die Unordnung auf meinem Nachttisch störte mich wie jeden Tag. Die ungelesenen Bücher, die halbgelesenen Bücher und die gelesenen Bücher, die da immer herumlagen.

Ich ging ins Badezimmer, wusch mir die Hände und warf einen verstohlenen Blick auf mein Spiegelbild über dem Waschbecken. Meine Stirn hatte Geheimratsecken, aber sonst waren meine Haare noch voll. Die Gesichtshaut war noch nicht schlaff. Ich fragte mich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis es soweit war.

Ich sollte lieber nicht so viel trinken.

Mein Gott, es gab so vieles, das ich nicht gedurft hätte.

Ich hätte mehr schlafen müssen. Ich hätte nicht so viel arbeiten sollen. Ich hätte nicht so viel Geld verbrauchen dürfen. Ich hätte ausspannen müssen.

All das läßt sich zu andern und zu sich selbst so leicht sagen, aber schwer verwirklichen.

Das Kreis, das Karussell drehte sich immer schneller. Saß man erst einmal auf dem Karussell, so konnte man nicht mehr absteigen. Das wußte ich aus bitterer Erfahrung.

Nein, nicht aus bitterer Erfahrung.

Ich wollte ja gar nicht abspringen. Ich wollte dabeibleiben, mitmachen.

Ich grinste mich im Spiegel schief an und zwinkerte mit dem einen Auge.

Es geht noch, Kamerad. Es ist noch immer gegangen.

Ich machte die Tür des fliesen- und chromglänzenden Badezimmers hinter mir zu, durchquerte das Schlafzimmer und betrat just in dem Augenblick das Wohnzimmer, als Birgitte aus der Küche rief: »Das Essen ist fertig.«

Ich sputete mich, konnte es aber nicht lassen, im Vorbeieilen einen bekümmerten Blick auf den Schreibtisch zu werfen. Was sollte ich nur damit machen? Ich schüttelte das Unbehagen ab und ging in die Halle, wo ich von Lars und Maria beinahe umgeworfen worden wäre, denn sie sprangen mich von zwei Seiten an.

Jeder hängte sich bei mir ein, und in einem wirren Klumpen taumelten wir in die Küche. Ein Stuhl fiel krachend zu Boden. Trotzdem sah Birgitte uns lächelnd an, während sie die letzte Schüssel auf den Tisch stellte.

Zuerst tat sie den Kindern auf, eine kleine Portion für Maria und eine reichliche für Lars. Danach schob sie mir mit strahlendem Lächeln die Schüsseln zu. Auf dem Tisch stand eine Vase mit roten Rosen, und sie hatte eine lange, handgezogene orange-farbene Kerze angezündet. Die Servietten bildeten einen hübschen Fächer, und eine Flasche Rotwein war geöffnet.

»Zum Wohl«, sagte sie und sah mir tief in die Augen.

»Zum Wohl«, sagte ich, sah ihr tief in die Augen und versuchte den Knoten in meinem Magen zu vergessen.

Es war wichtig, daß ich den Knoten in meinem Magen vergaß.

Ich wußte, wie der Abend verlaufen würde, und ich wollte mich freuen.

Kaffee. Vielleicht ein Gläschen Kognak. Eng beisammen auf dem Sofa sitzen. Kleine Zärtlichkeiten. Die Kinder früh im Bett. Lange leidenschaftliche Küsse. Schließlich wird sie aufstehen und mich, einen scheinbar Widerstrebenden, ins Schlafzimmer ziehen. Später barfuß in zerknittertem Schlafanzug ins Wohnzimmer für zwei Getränke. Den zufriedenen Ausdruck in ihren verschleierten Augen sehen und im Verlauf einer Stunde den Knoten im Magen vergessen haben.

Aber er wird danach wiederkommen.

In diesem Punkt war ich sicher.

»Der Kaufmann sah mich heute so sonderbar an, als ich sagte, er solle aufschreiben«, begann Birgitte. »Ist es lange her, seit wir bezahlt haben?«

Ich antwortete nicht, sondern schaute sie nur ausdruckslos an. Auch die Kinder schwiegen. Sie aßen tief versunken weiter. Meiner Meinung nach geschah es nicht aus Hunger, sondern weil sie nichts hören wollten. Ich nahm ein paar Bissen, schnalzte behaglich, obwohl es mir schwerfiel, zu schlucken, hob den Kopf und blickte sie an. Ich fragte: »War er . . . wie heißt er doch noch? ja, Björn . . . war er heute bei dir?«

Sie ließ sich nichts anmerken, sondern ging sofort auf meine Frage ein: »Ja, natürlich. Er kam wie gewöhnlich. Ich weiß eigentlich nicht, was er will. Hilfe will er ja nicht. Er kommt nur und stiehlt mir die Zeit. So war es auch heute.«

»Ich verstehe nicht, warum du dich weiter mit ihm abgibst.«

»Wir kümmern uns um alle. Das weißt du recht gut.« Ihre Stimme hatte einen leicht aggressiven Unterton. »Anders ist es nicht zu machen. Irgendwann wird er eines Tages um Hilfe bitten. Das kommt ganz von selbst. Wir können Vorschub leisten, aber nur bis zu einer bestimmten Grenze. Ich weiß nichts anderes als . . .« Sie brach ab und sah ins Leere.

Wir aßen weiter und wechselten nur belanglose Worte miteinander und mit den Kindern. Maria erzählte von ihren neuesten Erfolgen im Zeichnen. Sie ging in die erste Klasse und war ganz davon erfüllt. Lars sollte am Sonntag rechts außen spielen, und ich mußte ihm hoch und heilig versprechen, mir den Wettkampf anzusehen.

Als wir fertig gegessen hatten, löschte Birgitte die Kerze, stand auf und machte sich an der elektrischen Kaffeemaschine zu schaffen. Die Kinder räumten den Tisch ab und stellten das Geschirr in die Spülmaschine. Danach polterten sie hinaus. Ich nahm die leere Rotweinflasche und trug sie in die Waschküche zu den andern leeren Flaschen.

In dem großen Raum herrschte peinliche Ordnung. Ölheizung, Waschmaschine und Schleuder reihten sich in ihrer weißen laboratoriumshaften Vornehmheit aneinander. Unter der langen Werkbank standen die vier Wäschekörbe, die alle mit einem Namen gekennzeichnet waren. Über der Werkbank hing das Handwerkszeug. Der Schrank, in dem allerhand Kleinkram aufbewahrt wurde, war zwar geschlossen, aber ich wußte, daß er ebenso ordentlich aufgeräumt war.

Vier Kisten mit leeren Bierflaschen stapelten sich neben der Tür, die in den Garten führte. Der Botenjunge des Kaufmanns kam jeden Freitag und holte sie ab. Die Schachtel daneben enthielt schon sieben leere Weinflaschen. Ich stellte die achte dazu und kehrte in die Küche zurück.

Birgitte stand beim Fenster und blickte hinaus. Auf der Straße fuhr langsam ein Auto vorbei, als ob der Fahrer eine Adresse suchte. Ich hoffte, daß nicht wir unerwartete Gäste bekommen würden. Darauf hatte ich heute abend keine Lust. Ich hatte heute abend überhaupt auf nichts Lust.

Hingegen spürte ich ein starkes Verlangen, mich irgendwo zu verstecken, mich zu vergraben, zu verschwinden.

Ich lächelte gezwungen und fragte: »Ist der Kaffee fertig?«

Sie fuhr zusammen und drehte sich um.

»Habe ich dich erschreckt?« sagte ich zerknirscht und nahm ihre Hand.

»Ja, ein wenig. Ich war in Gedanken.«

»Worüber hast du denn nachgedacht?«

»Ach, über vieles. Über das Leben, die Welt, die Lage. Nicht klar und deutlich. Es war so ein Strom, der einem manchmal durch den Kopf geht, ohne Anfang und Ende, ohne Analyse und Ergebnis.«

»Bist du heute abend philosophisch?«

»Nein«, sagte sie und sah mich mit gefährlich glitzernden Augen an. »Ich bin heute abend etwas ganz anderes, und ich hoffe, du bist der Mann, der dem entspricht.«

Ich nickte, wobei ich mich bemühte, verführerisch auszusehen.

Der Knoten in meinem Magen zog sich ein bißchen stärker zusammen.

Wir stellten das Fernsehgerät nicht an, und der Abend verging, wie ich es vorausgesehen hatte.

Wir kuschelten uns auf dem Sofa aneinander. Die Kinder wurden früh zu Bett geschickt. Sie widersprachen kaum. Maria war müde, und Lars war ja im Training gewesen. Eine halbe Stunde später zog sie mich ins Schlafzimmer.

Ich war Manns genug, ihren Wünschen zu entsprechen, aber ich hatte selbst nicht viel davon. Es glückte mir, den Knoten im Magen zu vergessen, aber nicht für lange.

Als ich im zerknitterten Pyjama barfuß im Wohnzimmer stand und zwei Gläser vollschenkte, fühlte ich mich unglücklicher als je im Leben. Bei näherer Überlegung mußte ich mir sagen, daß ich eigentlich nie Grund gehabt hatte, mich unglücklich zu fühlen. Vielleicht doch als Kind, aber ich konnte mich nicht daran erinnern. Wir waren sehr arm gewesen; ich glaube, mein Vater verdiente sehr wenig als einfacher Arbeiter. Er war außerdem ein streitbarer Mensch – außerhalb des Hauses, nicht daheim –, so daß er selten längere Zeit eine Stelle behielt.

Da er – jedenfalls meines Wissens – abwechselnd Ziegeleiarbeiter, Knecht oder Futtermeister auf größeren Bauernhöfen war, zogen wir oft um. Wenn ich über etwas mitreden kann, dann ist es über Wohnungswechsel. Ein solcher Umzug jedes Jahr oder alle zwei Jahre bedeutet für arme Leute wie meine Eltern eine Katastrophe. Zu meinen unangenehmsten Kindheitserinnerungen gehört das geringschätzige Grinsen des Fuhrmanns und seiner Gehilfen, die unsere bescheidene Habe vor der neuen Wohnstätte abluden.

»Wo bleibst du, Hans Christian?« rief Birgitte aus dem Schlafzimmer. »Mir fallen gleich die Augen zu.«

»Komme schon«, antwortete ich, nahm die Gläser und schlurfte zu ihr.

»Glaubst du nicht, Carl könnte uns helfen?« fragte sie, als wir, jeder mit einem Glas Wodka und Saft in der einen Hand und einer brennenden Zigarette in der andern, in den Kissen ruhten.

»Carl?« wiederholte ich zweifelnd.

Carl, ihr Bruder, führte die väterliche Fabrik weiter, in der Plastikbeutel und ähnliche Dinge hergestellt wurden. Dank Birgittes Erbanteil hatten wir das Haus kaufen können. Als Entgelt hatten wir Carl eine Bürgschaft von 100 000 Kronen leisten müssen, damit er nicht in Liquiditätsschwierigkeiten geriet.

»Ich habe lange nicht mehr mit Carl gesprochen«, fuhr ich fort. »Ich habe keine Ahnung, wie die Fabrik läuft. Vor einem halben Jahr sah die Lage nicht sehr rosig aus.«

»Dummes Zeug«, erwiderte sie scharf. »Vater hatte eine Unmenge feste Kunden. Sie werden Carl wohl nicht im Stich gelassen haben.«

Es war hoffnungslos, mit Birgitte über Geschäfte zu sprechen. Ihrer Ansicht nach bestanden sie sozusagen aus freundschaftlichen Kontakten, bei denen man sich gegenseitig unterstützte und einander half. Sie ahnte nichts von der messerscharfen Konkurrenz, die mit Preisen und Lieferterminen zusammenhing. Sie war auch nie im Leben von einem Mann abhängig gewesen, der auf der anderen Seite eines Schreibtischs saß oder bedauernd die Schultern zuckte.

»Ich möchte Carl lieber nicht fragen«, sagte ich. »Im übrigen nützt es nichts, wenn wir uns Geld leihen. Wir können nicht noch größere Verpflichtungen auf uns nehmen, als wir ohnehin schon haben. Es bleibt uns nur ein Ausweg: sparen.«

»Das macht nichts«, sagte sie und schmiegte sich an mich, »solange die Liebe nichts kostet.«

Das kleine Büro mit den grauen Wänden und der rissige Schreibtisch mit den Brandflecken. Ein Durcheinander von Papieren, Büchern, Kugelschreibern, ihrer schmutzigen Kaffeetasse und dem Aschenbecher voller Asche und Zigarettenstummel. Hinter ihr ein Regal, in dem die Bücher bunt durcheinander stehen. Das macht alles nichts, denkt sie und zündet sich fieberhaft eine neue Zigarette an.

Es hat nichts zu bedeuten, sagt sie sich leichthin. Aber was hat denn etwas zu bedeuten? Sie hebt den Kopf und blickt geradeaus. Ihre Augen sehen in ein anderes Augenpaar. Es sind blaue, leicht verschleierte Augen. Sie haben einen spöttischen Ausdruck.

Sie schaut weg und kramt in den Papieren auf dem Schreibtisch. Sie versucht, ein wenig Ordnung zu schaffen, gibt es aber auf und richtet die Aufmerksamkeit auf ihre Zigarette.

Björn bedeutet etwas, denkt sie gereizt. Sie ärgert sich auch über sich selbst. Närrin. Sie sollte es besser wissen. Gerade sie. Sie nimmt sich zusammen und betrachtet ihn, macht sich ein Bild von ihm, analysiert ihn.

Ein einsachtzig großes und zweiundsiebzig Kilo schweres, ungewaschenes Mannsbild anfangs der Zwanzigerjahre. Lange, fettige Haare und schlampig gekleidet. Jeans, Pullover, Schaffelljacke und Mokassins. Alles zusammen zweit-, dritt- oder viertklassig. Hat sich seit mehreren Tagen nicht rasiert.

Wie kann er etwas bedeuten? So ein – sie sucht das Wort – so ein Ausgeflippter. Woher kommt dieses Wort? Sie weiß doch, daß es milieugeschädigt, kontaktarm, unterschwellig aggressiv heißt.

Der Ausgeflippte läßt das eine Bein über die Stuhllehne baumeln. Er sieht sie immer noch spöttisch an.

Ausgeflippter!

Das Wort paßt zu ihm.

Ausgeflippter! Ausgeflippter! Ausgeflippter!

Sie spürt die Wärme hinter den Augenlidern, die sich immer fühlbar macht, bevor man zu weinen beginnt. Sie räuspert sich vorsichtig. Sie hat keinen Klumpen im Hals. Das ist gut. Sie kann es wagen, etwas zu sagen. Zuerst drückt sie jedoch ihre Zigarette aus und zündet sich eine neue an. Dann sagt sie es.

»Du vergeudest meine Zeit, Björn.«

Sie will ihn böse ansehen. Sie weiß nicht, ob es ihr gelingt. Jedenfalls wirkt es nicht.

»Sollten Sie mir nicht auch eine anbieten? Gehört das nicht zur Behandlung? Man mache es dem Klienten gemütlich, oder sagt man richtiger Patient? Man biete ihm Kaffee und Zigaretten an. Man sorge dafür, daß er sich wohl fühlt.«

»Hör auf, Björn. Ich hab’s satt. Ich will dir gern helfen. Das weißt du. Aber das hier führt zu nichts. Wozu kommst du jeden Tag, wenn du dir nicht helfen läßt?«

Sie merkt zu ihrer Verwunderung und zu ihrem Ingrimm, daß ihre Stimme fast zu einem Kreischen angestiegen ist.

Björn lacht.

Der Ausgeflippte erlaubt sich, zu lachen.

»Ich muß ja aufpassen, was Sie machen«, sagt er. »Ich muß meine Geschäftsinteressen wahren.«

Mit nervöser, ungeduldiger Bewegung drückt sie die Zigarette aus. Auf den Tisch fällt Asche. Weshalb drücke ich sie aus? denkt sie. Weshalb um alles in der Welt drücke ich sie aus? Sie fühlt plötzlich Abscheu gegen Björn und hofft, daß es in ihren Augen zu sehen ist.

»Eines Tages werde ich dich dem Inspektor melden, Björn. So kann es nicht weitergehen. Du hinderst mich an meiner Arbeit. Ich habe dich auch im Verdacht, hier Kunden kapern zu wollen.«

Der ausgeflippte Björn steht auf. Sein Gesicht drückt immer noch Hohn aus.

»So dumm bin ich nicht«, erwidert er. »Ich gebe mich nur mit guten, gediegenen Kunden ab, die keine aufreizenden Anfälle von schlechtem Gewissen haben.«

Sie sieht ihn zornig an.

Er hebt abwehrend die Hand. »Nur mit der Ruhe. Ich gehe ja schon, damit Sie weiterarbeiten können.«

Das bringt er so höhnisch vor, daß sie selbst sekundenlang in Zweifel gerät.

Arbeit!

War das Arbeit?

Sie redete, wartete, schrieb, gab ein Urteil ab.

Ja, sie gab Urteile ab.

Wie viele falsche Urteile waren es mittlerweile?

Allesamt? Die Hälfte?

Ich weiß es nicht, denkt sie niedergeschlagen. Ich weiß es wahrhaftig nicht. Wie viele kommen wieder? Etwas über die Hälfte. War das ein gutes Zeichen?

Ich weiß es nicht, denkt sie niedergeschlagen. Ich weiß es wirklich nicht.

Sie zündet sich eine neue Zigarette an, schafft einen freien Platz auf dem Schreibtisch, so daß sie die Ellenbogen aufstützen kann, und legt den Kopf in die Hände.

Ich sollte es wissen. An meiner Tür steht: Psychologin und Sozialberaterin. Ich spreche jeden Tag mit mindestens zehn jungen Häftlingen. Gleich wird wieder einer kommen. Ich sollte es wissen.

Nehmen wir zum Beispiel Björn. Den Ausgeflippten. Sie kennt seine Akte auswendig. Zwischenhändler. Das erste Mal war es Hasch. Sechs Monate. Jetzt, das zweite Mal, Morphium. Anderthalb Jahre. In ein paar Monaten soll er entlassen werden. Einziges Kind. Wohlhabende Eltern. Student. Immatrikuliert in der Universität und so heruntergekommen. Warum?

Ich weiß es wirklich nicht, denkt sie verzweifelt.

Seit langer Zeit haben wir fast täglich miteinander gesprochen.