Schuldstau - Axel Schröder - E-Book

Schuldstau E-Book

Axel Schröder

0,0

Beschreibung

Was ist das nur mit Schönstadt? Diese kleine Stadt, in der jeder jeden kennt und in der dennoch jahrelang ein Serienmörder unerkannt bleiben konnte? Kriminalkommissarin Claudia Herbst, eigentlich nach Schönstadt versetzt, weil der Stress in der Landeshauptstadt für sie zu viel geworden war, brauchte als Fremde nur zwei Tage, um den Serientäter zu finden. Ihn zu fassen allerdings, will nicht recht gelingen. Auch, weil jeder in Schönstadt auf irgendeine Art darin verwickelt zu sein scheint und die Grenzen zwischen Opfern und Tätern verschwimmen. Wer den ersten Teil der Trilogie mochte („Liebe Mami, lieber Papi“), der wird den zweiten Teil lieben. Scheinbar beiläufig plaudernd wirft der Autor Streiflichter auf die Lebensgeschichten der Menschen. Die Spannung, die wie nebenbei daraus entsteht, ist bereits nach wenigen Seiten kaum noch auszuhalten. Ein Krimi, den man nicht mehr aus der Hand legen mag, sobald man sich einmal darauf eingelassen hat.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 305

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Schuld ist das Einzige, mein Kind,das Du mit keinem teilen kannst.

Sie bleibt Dir stets.

Sie bleibt Dir ganz.

Schuld macht aus uns das,was wir sind.

(Friedrich Porsch, Schönstadt)

INHALTSVERZEICHNIS

DAMALS

JETZT

CHRISTIAN

HEINZ

THORSTEN

CLAUDIA

KÖRTING

GRUBER

VAN GERSTENBORN

GRUBER

THORSTEN

CLAUDIA

CHRISTIAN

ERIKA

THORSTEN

CLAUDIA

KÖRTING

VAN GERSTENBORN

HEINZ

MORITZ

CLAUDIA

CHRISTIAN

CLAUDIA

MANUELA

CLAUDIA

THORSTEN

GRUBER

MICHAEL

HEINZ

HANS

VAN GERSTENBORN

CLAUDIA

CHRISTIAN

GRUBER

NADINE

MORITZ

KORTING

GRUBER

NACHTRAG

DAMALS

Wenn Waltraud Porsch, geborene Scheppan, eine schlechte Eigenschaft hatte, dann war das ihre Unpünktlichkeit. Jeder in Schönstadt kannte sie als Omi Porsch; eine reizende ältere Dame, vital und lebensklug, nie um eine ungebetene Antwort verlegen und stets bereit, heikle Fragen zu stellen, die geeignet waren, dem Gefragten das Rot in die Ohren zu treiben. Sie tat das ohne Vorsatz und spürbar ohne verletzen zu wollen; alles, was sie sagte, wurde von einem bezaubernd arglosen, noch immer mädchenhaften Lächeln begleitet, das es unmöglich machte, ihr etwas zu verübeln.

Sollte es dennoch jemals einen Menschen gegeben haben, der sie nicht mochte, dann war der schon vor Jahrzehnten gestorben, während sie mit einem unerschütterlichen Lächeln weiterlebte. Ebenso wie dieses Lächeln schien auch die Unpünktlichkeit zu ihr zu gehören und niemanden zu stören. Manche hielten sie für angeboren, aber das ließ sich nicht mehr nachprüfen, weil niemand in Schönstadt alt genug war, um Omi Porsch aus diesen Tagen zu kennen. Als sie, das muss an ihrem 90. Geburtstag gewesen sein, vom Bürgermeister zum hochoffiziellen Seniorenjubiläumskaffeekränzchen eingeladen wurde, erschien sie auch dort zu spät. Statt einer Entschuldigung erklärte sie freudestrahlend: „Ich werde mich bestimmt auch zu meiner Beerdigung verspäten.“

Der Bürgermeister, eher als Terminpedant bekannt, hatte den ihm eigenen strafenden Blick auf die Armbanduhr unterlassen, einfach mitgelacht und sie in den Arm genommen. Er wirkte bei dieser Pose sogar ausnahmsweise natürlich. Selbst der stets gehetzt scheinende Fotograf vom Tageblatt rief: „Kurz so bleiben!“, und wollte dann gar nicht mehr aufhören zu knipsen. Diese Wirkung hatte Omi Porsch auf alle Menschen.

Als der Bürgermeister sie endlich aus seiner Umarmung entließ, wedelte sie einwenig mit der Hand vor ihrer Nase und erklärte heiter: „Manche Menschen haben Mundgeruch. Omi Porsch hat die Verspäterei. Da kann man nichts machen. Gibt`s Kirschkuchen?“

Wenn Waltraud Porsch gewollt hätte, sie hätte sich an den Tag erinnern können, an dem sie sich mit der Verspäterei infizierte. Oder besser: An dem sie von der Pünktlichkeit kuriert wurde.

Diese Kur begann am 2. Januar 1964.

Es war ihr erster Arbeitstag in der neuen Holzfabrik, die kurz vor Weihnachten sechs Kilometer vor der Stadt eröffnet worden war. Mit eigenem kleinen Hafen, auf dem das Holz verladen wurde und eigenem kleinen Bahnhof, an dem der Vorortzug ankam, den man eigens in den Fahrplan hineingeschrieben hatte, um die Arbeiter morgens zum Werk zu bringen und abends wieder abzuholen. An diesem 2. Januar verließ der Zug mit Waltraud Porsch an Bord pünktlich 6:38 Uhr den Hauptbahnhof Schönstadt, der auch erst seit kurzem „Hauptbahnhof“ hieß, nämlich seit der Bahnhof „Schönstadt-Holzwerk“ existierte. Der zug fuhr 13 Minuten bis zum neuen Bahnhof; von dort hatten alle noch vier Minuten zu gehen, bis sie das Werkstor erreichten. Dort standen sie dann in der Januarkälte und warteten, dass es sieben Uhr würde. Denn das Werkstor öffnete pünktlich um sieben Uhr. Keine Sekunde früher.

In diesen verfrorenen fünf Minuten ging Waltraud Porsch Einiges durch den Kopf. Zum Beispiel, wie unsinnig es doch war, am frühen Morgen verschlafen durch die Wohnung zu stolpern, anschließend, kaum gekämmt und unbefrühstückt, durch die Straßen zum Hauptbahnhof und zum Vorortzug zu hetzen, nur um dann hier vor einem verschlossenen Tor zu stehen und zu frieren. Das war einfach verrückt.

Der Gedanke, von nun an jeden Morgen hier so herumzustehen, war nicht akzeptabel. Die Sache musste geändert werden!

Gebildetere Menschen als Waltraud hätten nun nach komplizierten und äußerst langwierigen Wegen gesucht, das Problem durch höhere Mächte aus der Welt schaffen zu lassen. Sie hätten Briefe geschrieben: an die Werksleitung, damit die das Tor früher öffnet, oder an den Bahnchef, damit der den Zug später fahren lässt. Oder an den Bürgermeister, damit der sich um beides kümmert. Solche komplizierten Umwege lagen Waltraud fern. Nicht nur, weil sie Schreiben und Lesen nie gelernt hatte, sondern vor allem, weil ihr das Leben beigebracht hatte, sich um ihre Probleme selbst zu kümmern und nicht darauf zu warten, dass andere sie aus der Welt schaffen.

„Wenn Du willst, dass sich was tuet, dann machst besser du et“, war ihre Lebensregel Nummer eins, die sie schon damals, mit erst 52 Jahren, gern, oft und ungefragt anderen anbot. Auch jetzt murmelte sie den Satz halblaut vor sich hin. Sie glaubte daran. Es schien, als wäre sie damit nicht die Einzige.

Einige andere Arbeiter rüttelten bereits am Gitter und redeten auf den Pförtner ein, der auf der anderen Seite des Tores stand, ebenfalls fror und ihnen nicht zuhörte. Stattdessen starrte er auf die große beleuchtete Uhr an seiner Pförtnerloge, deren Sekundenzeiger unglaublich langsam vorwärtstickte. Seine ganze Haltung sagte: „Reden zwecklos! Ich habe Anweisung!“

Das erkannte Waltraud mit einem Blick und beteiligte sich deshalb gar nicht erst an den Überredungsversuchen der Anderen. Und während die allmählich resignierten und sich ins Warten fügten, hielt sich Waltraud an ihre Lebensregel Nummer 2. „Irgendwas geht immer.“ Und sie beschloss, das zu tun, was kein anderer hätte tun können.

Sie würde dafür sorgen, dass der Zug fünf Minuten später ankam. Und zwar deshalb, weil er fünf Minuten später am Hauptbahnhof abfuhr. Und das bereits ab morgen früh.

In diesem Moment war Waltraud Porsch wohl die einzige Arbeiterin vor dem Werktor, die lächelte. Sie stellte sich bereits vor, wie schön es wäre, sich fünf Minuten länger in die Kissen zu kuscheln, die so warm nach ihrem Friedrich dufteten …

Am nächsten Morgen blieb sie tatsächlich fünf Minuten länger liegen, kam auch fünf Minuten später zum Hauptbahnhof, wo der Vorortzug stand und auf sie wartete. Sie wusste, der Schaffner würde ihn keinesfalls abfahren lassen, ehe sie eingestiegen war. Schließlich hieß der Schaffner Friedrich. Und er war ihr Mann.

Natürlich: Am Abend dann zu Hause machte er ihr Vorhaltungen, redete von Dingen wie „Fahrplan“, „Beamtenpflicht“ und „Dienstbeschwerden“. Aber das waren nur Worte. Und Worte konnte Waltraud Porsch schon damals einfach weglächeln.

Drei Jahre lang ging das gut. Sehr gut sogar. Die Arbeiter gewöhnten sich schnell daran, dass der Zug später abfuhr; es regte niemanden auf. Natürlich nicht. Alle kamen ja trotzdem pünktlich ins Werk. Auch bei der Bahn selbst verstörte das niemanden. Fünf Minuten später hielt man schon damals für „im Grunde noch pünktlich“ und es wurde ja auch keine folgende Zugverbindung dadurch gestört. Weil auf dieser Strecke ja kein anderer Zug fuhr. Nur der Pförtner auf seiner Seite des Werktores war etwas verwirrt: Er fühlte sich irgendwie bedeutungsloser. Und er konnte sich nicht erklären, woran das lag.

Manchen Menschen hat Waltraud Porsch später diese Geschichte erzählt. Einige Voreilige glaubten nun, sie könnten die Sache mit der chronischen Unpünktlichkeit erklären. Waltraud Porsch würde eben mit Pünktlichkeit ein Gefühl von Frieren und Sinnlosigkeit verbinden, während sich Unpünktlichkeit für sie warm und kuschelig anfühle. „Das mag schon sein“, pflegte Waltraud zu antworten, wenn wieder einmal jemand versuchte, sie zu analysieren. Tatsächlich aber war sie bis hierher noch nicht unheilbar verspätet. Im Grunde war sie noch gar nicht eigentlich „verspätet“, sondern eben nur fünf Minuten später pünktlich. Das alles war noch ein Spiel. Ernst wurde es am 27. Februar 1967. Ein Montag. Das war der Tag, an dem sie endgültig von der Pünktlichkeit kuriert wurde.

Beim Sonntagskaffee gestern hatte Friedrich die halb volle Tasse fallen lassen. Einfach so. Hatte sie von der Untertasse genommen, zum Mund gehoben und dann, nur ein kleines Stückchen, bevor sie die Lippen erreichte, war sie ihm aus der Hand gefallen.

Er war aber auch ein Tollpatsch! Waltraud hatte einwenig gezetert: „Das gute Hemd … die gute Hose … die gute Tischdecke … der gute Teppich … Wer soll die Flecken wieder rausschrubben??!!“

Derb klang es, und das sollte es auch. Nur so einwenig. Denn sie liebte ihn ja, ihren Friedrichtollpatsch. Aber sie war doch auch ein kleinwenig wirklich böse auf ihn, wenn auch nur ein ganz kleines bisschen.

Und Friedrich?

Der hatte stumm da gesessen, sie mit seinen grauen Augen regungslos angestarrt, den Mund leicht geöffnet, als ob er gerade „Wallimäuschen“ sagen wollte, aber beim „Wa…“ aufgehört hätte. Und nicht einmal das war zu hören gewesen, sondern einfach nur nichts. „Plötzlicher Herztod“, meinte später der Arzt, „da kann man nichts machen. Es war wohl seine Zeit.“

Waltraud Porsch hatte es an diesem Abend in ihrer Wohnung nicht mehr ausgehalten. Die ganze Nacht hindurch irrte sie durch die Straßen von Schönstadt, von einer Straße zur nächsten, nur um nicht nach Hause gehen zu müssen. Sie verfluchte ihren Friedrich und dass er sich immer so genau an alle Zeiten hielt, sogar als es seine Zeit war. Und sie verwünschte sich, weil das Letzte, das sie ihm gesagt hatte, etwas Böses und so völlig Belangloses gewesen war. Was bedeutete schon ein Kaffeefleck auf der guten Tischdecke?

Und dann, es war schon Morgen, saß sie mit leergeweinten Augen auf dem Hauptbahnhof. Es wurde halb sieben und sie stieg in den Vorortzug, den heute ein anderer Schaffner abfahren ließ. Pünktlich, zum ersten Mal seit drei Jahren.

Der Zug war noch beinahe leer, nur wenige Arbeiter waren so früh schon am Bahnhof gewesen; längst hatten sich alle auf die spätere Abfahrt eingestellt. Dass sie an diesem Tag den Zug verpassten und zu spät zur Arbeit kamen, blieb allerdings für sie ohne Konsequenzen. Acht Minuten später nämlich überrollte der unglücklicherweise pünktliche Zug einen Mann, den Papierhändler Wilsbach. Er hatte versucht, über den Bahndamm zu klettern. Eine Abkürzung auf dem Weg zum Krankenhaus, wo seine Frau gerade in den Wehen lag.

Wäre der Zug unpünktlich gefahren wie immer: ihm wäre nichts geschehen. Niemandem wäre etwas passiert.

Aber leider war Waltraud Porsch an diesem Morgen pünktlich gewesen und der Zug auch. Eines schwor sie sich: Das mit der Pünktlichkeit würde ihr nie wieder passieren. Sie würde sich für den Rest ihres Lebens daran halten, noch 44 Jahre lang.

JETZT

Michael lag auf gefrorener Erde. Wieder einmal. Er hörte nicht die kreischenden Bremsen des Güterzuges neben sich. Er spürte nicht, wie die Kälte in seine Knochen kroch, durch die Mullbinden hindurch, in die er eingewickelt war, bemerkte nicht, dass sich in den nässenden Brandwunden längst Eiskristalle bildeten, die seinem verbrannten Rücken nun auch noch Erfrierungen zufügten. Er hätte die Kälte als Linderung seiner Schmerzen empfinden können, aber nicht einmal das tat er. Er fühlte einfach nichts, sah nur diesen unglaublich blauen Himmel und direkt über sich eine kleine, verirrte Wolke. „… sehr weiß und ungeheuer oben …“ schoss es ihm durch den Kopf, „genau wie im Gedicht von …“ Nicht einmal der Name fiel ihm ein, dabei war Berthold Brecht sein Lieblingsdichter.

Was er gestern wusste oder morgen wissen würde war belanglos. Die Leute würden ihn weiter für einen Brandstifter und Mörder halten. Oder auch nicht. Vor achtundvierzig Stunden war sich die Stadt in diesem Punkt einig gewesen. Davon würde keine Rede mehr sein, wenn morgen die Zeitungen erschienen. Es ging ihn nichts an. Sie würden glauben, sie könnten die Schuld von ihm nehmen, nur weil sie den wahren Täter gefunden hatten. Aber er würde sich weiter schuldig fühlen. Er ahnte, dass er am Ende seiner Reise durch die Straßen von Schönstadt angekommen war. Er hatte gefunden, wonach er gesucht hatte; so sehr und so lange gesucht hatte, dass ihm mit der Zeit der Grund für die Suche abhandengekommen war. Sylvia. Noch einmal hatte er sie gesehen. Sie lebte. Und sie hatte ihn nicht erkannt. Sie war geflohen. Vor ihm? Vor diesem anderen Mann, der hinter ihr her stürmte? Er würde sie erreichen, vielleicht schon erreicht haben, auf der anderen Seite des Bahndamms. Michael konnte nichts dagegen tun.

Wie oft in den letzten Jahren hatte er sich ausgemalt, was er sagen, wie er sich geben würde, wenn er nur einmal noch diese Chance bekäme. Wie er so ganz anders sein würde als damals: endlich fürsorglich, zärtlich, entgegenkommend, entschuldigend, neu beginnend. Wie flehentlich hatte er sich das herbeigewünscht.

Er war kein gläubiger Mensch, er hatte nie darum gebetet. Jedenfalls nicht zu einem Gott. Aber er traf, wie er es nannte, sehr dringliche Verabredungen mit dem Universum. „Wenn ich sie noch einmal sehen darf, dann höre ich im Gegenzug auf zu trinken und schreibe ein großes Buch über deine Gerechtigkeit.“ So etwas in der Art.

Nun hatte er sie noch einmal sehen dürfen. Für einen lebendigen Moment und nur für diesen einen. Jetzt war sie fort. Für immer wohl. Das Universum hatte seinen Teil der Verabredung eingehalten. Er allerdings würde sein Versprechen vielleicht nicht halten können.

So also ist das Ende.

Es fühlt sich nach Nichts an.

In einem hilflosen Aufflackern versuchte ein Gedanke, sich in den Vordergrund zu drängen: der Gedanke, dass es eigentlich logisch sei, dass sich das Ende nach „Nichts“ anfühlt, weil „Nichts“ genau das ist, was nach dem Ende kommt. Dem Schriftsteller Michael Garnstädter hätte dieser Gedanke wohl gefallen. Der hätte in seinen besten Zeiten am Tisch beim Lieblingsitaliener aus dem Stegreif einen philosophierenden Vortrag darüber gehalten, befeuert vom besten Rotwein des Hauses und ein paar Zügen aus der „Spezialzigarette“, die ihm Paolo hin und wieder aus Tabak und etwas Haschisch gedreht hatte. Er hätte auch nicht die merkwürdige Ironie übersehen, die darin lag, dass sein Übergang ins „Nichts“ vor jenem brennenden Haus begonnen hatte, das gegenüber der Pizzeria, direkt auf der anderen Straßenseite stand.

Aber dieser Michael Garnstädter war nicht hier. Hier lag ein, halb verbrannter, vom Frost ausgezehrter, unendlich müder Michael Garnstädter, der nicht einmal genügend Kraft aufbrachte, die Augenlider zu schließen. So starrte er auf einen frostigblauen Himmel mit einer einzigen, verirrten Wolke darin. „… so weiß und ungeheuer oben …“

Er sah die Wolke in Flammen aufgehen und durch die Häuserschlucht der nächtlichen Charlottenstraße schweben, während er, eine menschliche Fackel, auf dem wunderbar kalten Boden liegt. Jemand wirft eine Decke über ihn, der eben noch, eine junge Frau neben sich, vor dem brennenden Haus gestanden hatte. Er sah eine alte Frau in Pantoffeln und Nachthemd, eine Stola über die Schultern geworfen danebenstehen, und einen Familienvater mit Frau und zwei Kindern. Und einen hageren mittelalten Herren im Bademantel mit Collegemappe unter dem Arm. Und sie alle starrten auf ihn und auf das Haus und wieder auf ihn und wieder auf das Haus. Und keiner sah den brennenden Fetzen einer Gardine davonschweben, der langsam verlosch und nun eine weiße Wolke geworden war.

Als er schon nichts mehr sah, träumte er die Wolke weiter. Sie schwebte noch vor ihm, als die Sanitäter kamen, ihn auf die Trage hoben und in den Rettungswagen schoben. Er träumte sich an ihr fest, als die Sirene aufheulte und der Wagen rumpelnd anfuhr. Er nahm sie noch war, als der Wagen wenig später noch einmal bremste, die Türen sich öffneten und eine Frau neben ihn gesetzt wurde, deren Gesicht irgendwie seiner Wolke ähneln wollte, aber er konnte das durch die geschlossenen Lider nicht erkennen.

Vielleicht, sagten später die Ärzte, vielleicht hätte er den Tag nicht überlebt, ohne diese Wolke, an die er sich zu klammern schien und die ihn festhielt, bis Körper und Hirn wieder stark genug waren, sich selbst zu halten. Allzu viele medizinische Erklärungen dafür, dass er noch lebte, fanden sie jedenfalls nicht.

Und hätte er noch im Krankenwagen die Wahrheiten erkannt; hätte er das Wolkengesicht ernsthaft betrachtet, das dem Gesicht, nach dem er suchte, so sehr ähnelte; hätte er bemerkt, dass es diesem Gesicht so gar nicht glich; hätte er erfahren, dass die Frau, nach der er seit Jahren verzweifelt suchte, längst tot war; hätte er verstanden, dass die Frau neben ihm im Krankenwagen nur deshalb noch lebte, weil er sie für die andere gehalten hatte: Es hätte ihm womöglich den Rest von Leben ausgetrieben. Denn in diesem Moment war der Rest von Leben so klein und so leicht, dass eine Wolke ihn tragen konnte.

Doch er hatte die Augen vor der Realität verschlossen, wie er es seit Jahren getan hatte, als er hoffte, in Alkohol und Haschisch eine bessere Realität zu entdecken; besser, weil in ihr noch Hoffnung bestand, Sylvia wieder zu finden.

Einmal, dieses eine Mal vielleicht, hatte ihm die Weigerung, das Leben so zu akzeptieren, wie es war, das Leben gerettet.

Er würde später versuchen, das Weiß der Wolke mit dem Weiß der Unschuld zu vergleichen und zu begründen, warum diese Wolke Schönstadt verlassen musste, diese Stadt, die so sehr unter angestauter Schuld litt. Als „überspannte Allegorie eines vom Schicksal gebeutelten Dichterkollegen“ wird es später ein Kritiker abtun und dafür einigen Beifall ernten. Aber was Schönstadt betraf, hatte er ganz sicher keinen Schimmer.

Und er fand auch kein Besseres sprachliches Bild dafür. Natürlich nicht.

Denn Michael Garnstädter hatte es tatsächlich und ganz genau so vor sich gesehen. Kein Kritiker würde daran etwas ändern können.

CHRISTIAN

Der rechte Fuß war gebrochen. Vielleicht sogar abgerissen. Kein Zweifel. Es fühlte sich heiß an und stechend, fremd und endgültig. Es konnte unmöglich etwas anderes bedeuten als dies: Der Fuß würde nicht mehr zu gebrauchen sein.

Christian schaute gar nicht erst hin. Ein wenig aus Furcht, einen blutenden Stumpf zu entdecken, wo vorhin noch sein Schuh gewesen war. Und weil er unbedingt den Bahndamm im Auge behalten musste. So zwang er sich, den Schmerz am Bein ebenso zu ignorieren wie die Platzwunde neben der Schläfe, wo ihn vorhin die Frau mit der Handlampe geschlagen hatte. Läge er jetzt nicht gerade hier, verborgen im Gestrüpp am Bahndamm, er hätte sicher geschrien. Eine Hand, fest auf seinen Mund gepresst, hinderte ihn daran: seine eigene.

Wenn er aus dieser Sache irgendwie herauskommen wollte, durfte er jetzt nicht schreien. Nicht einmal wimmern, wie er es von klein auf getan hatte, wenn er allein war und ihm etwas weh tat.

Christian hatte eigenen Schmerzen nie etwas Positives abgewinnen können. Der Spruch: „durch Schmerzen gestählt“, den er als Junge im Zeitungsinterview eines Boxers gelesen hatte, mochte für andere Leute gelten. Für ihn galt er nicht. Wenn er in der Kindheit von anderen gequält wurde, hatte er nicht das Gefühl, dadurch abgehärtet zu werden. Es tat einfach nur weh. Schmerz war für ihn so etwas wie ein bissiger Hofhund: Man ging ihm besser mit möglichst großem Abstand aus dem Weg. Und wenn das nicht möglich war, schrie man eben, bis er verschwindet. Hier und jetzt allerdings war das keine Option. Dabei hatte er reichlich Grund dazu: Immerhin hatte ihm die dornige Hecke auch noch die Haut zerkratzt.

Aber die Männer in den schwarzen Uniformen konnten jeden Moment wieder auftauchen, mit ihren Helmen und den Maschinenpistolen vor der Brust.

Er musste weg hier, raus aus diesem Gestrüpp. Schnell. Solange ihn die anderen noch für tot halten konnten. Solange auf dem Gleis noch der bremsende Zug quietschte, oben, auf dem Bahndamm, wo er selbst eben noch gestanden hatte.

Im Moment würden sie wohl vermuten, der Zug habe ihn erwischt.

Irgendwie hatte er das ja auch.

In der letzten Hundertstelsekunde aber war er doch noch von den Schienen gesprungen. Eigentlich hatte ihn der heranpreschende Zug da schon erreicht. Er hatte sich das nicht vorgenommen, nicht geplant. Es war ihm passiert.

Er hatte den Zug ja zuvor auch gar nicht bemerkt, die Freude hatte ihn abgelenkt. Das Ende der robusten Stahlkette, mit der er ihren Knöchel gefesselt hatte und die sie hinter sich her schleifen musste, als sie vor ihm flüchten wollte – er hatte es wieder zu fassen bekommen. Mit dem Kopf nach unten lag sie auf der Böschung. Ja, er hatte sie wieder. Ja, er würde auch sie bestrafen, wie er alle Frauen bestrafte, die ihn verlassen wollten. Nur erst fort von hier, weg von den Polizisten, die ihnen auf den Fersen waren.

Den heranpreschenden Zug hatte er tatsächlich nicht gesehen oder gehört. Lediglich gespürt. Sein Körper hatte reagiert und er war gesprungen.

Was für ein Sprung! Der Flug durch die Luft hatte ewig gedauert, wenigstens kam es Christian so vor. Einen solchen Hechtsprung hätte ihm niemand zugetraut. Er sich auch nicht. Die Lok hatte ihm natürlich den wesentlichen Schub dafür gegeben, und dabei wohl seinen Fuß …Nicht daran denken!

Christian war nie ein Athlet gewesen, eher einwenig pummelig. Das war Veranlagung. Er war nicht wirklich fett, aber alles an ihm wirkte irgendwie weich. Als Kind hatten ihn die Leute meist für ein verzärteltes Muttersöhnchen gehalten. Inzwischen war er über vierzig, seine Mutter tot. Und doch hielten ihn die meisten wohl noch immer dafür. Ignoranten! Aber hätten sie diesen Sprung gesehen, die Böschung hinab und ins Gebüsch hinein, mit lang gestrecktem, sich längs durch die Luft schraubendem Körper, ohne jede Rücksicht darauf, wo er aufschlagen, wie sehr er sich verletzen würde: Sie hätten ihre Meinung geändert. Ganz sicher hätten sie das.

Andererseits würden sie ihn ab heute ohnehin mit anderen Augen betrachten. Jetzt, da sein Geheimnis wohl keines mehr war. Deshalb schließlich jagten ihn doch wohl die Polizisten in den schwarzen Uniformen. Sie mussten den Keller der bestraften Mädchen längst entdeckt haben.

Auf den Schienen kreischten die Bremsen. Der Lokführer hatte bestimmt sofort die Notbremse gezogen, aber noch immer war der mehrere hundertmeterlange Güterzug nicht zum Stehen gekommen. Das war gut für Christian. Solange die Waggons noch rollten, mussten seine Verfolger auf der anderen Seite des Bahndammes bleiben. Wenigstens so lange war er hier sicher.

Er zwang sich zum Lächeln. Sein Lächeln. Das Geschäftslächeln, das er als kleiner Junge seiner Mutter abgeschaut hatte. Seine Kunden im Papiergeschäft verwechselten es stets mit naiver, leicht kauziger Freundlichkeit. Und das sollten sie ja auch. Dass dieses Lächeln in Wahrheit eine Waffe war, mit der er sie üblicherweise überrumpelte, das ging sie nichts an. Aber es war noch mehr als das. Das erzwungene Lächeln war zugleich ein Ordnungsruf an sich selbst, sachlich zu sein, logisch zu denken. Nie war er ernsthafter, als mit diesem Lächeln, das er nach Belieben ein- und ausschalten konnte. Also zog er die Mundwinkel leicht nach hinten, bis sie in perfekter Position hingen, zwei Daumen breit unterhalb der Nasenflügel.

Er hatte das bereits als Kind trainiert. Denn dieses Lächeln war es gewesen, das den Gesichtsausdruck seiner Mutter prägte, wenn sie von ihm forderte, dies zu tun oder das zu lassen. Nie, wirklich nie hatte er sich dagegen aufbegehren oder gar diesem Ausdruck widerstehen können. Dabei wirkte diese Grimasse nur wegen seiner fleischigen Wangen und der vollen Lippen wie ein gut gelauntes fröhliches Lächeln. Im schmalen Gesicht seiner Mutter hatte dieselbe Lippenstellung nur einen übellaunigen Strich ergeben; wenig attraktiv, übellaunig, humorlos. Dass er als Kind darin ein Lächeln zu entdeckte, lag mehr an dem Wunsch, genau das zu sehen. Dennoch: die bezwingende Wirkung, die diese Lippenstellung bei seiner Mutter auf andere ausübte, die war sehr real. Es machte auf einen Blick deutlich, wer die Situation kontrollierte.

Sobald Christian dieses Lächeln trug, hatte er sich komplett im Griff. Und die Welt tat ohne Widerspruch, was er von ihr erwartete, so wie er es früher für seine Mutter getan hatte. Zumindest galt das, solange er sich dabei in seinem Papiergeschäft befand.

Das war nun allerdings unerreichbar für ihn. Aber falls es in seinem Leben je einen Moment gegeben haben sollte, in dem er Kontrolle wirklich brauchte, dann war es dieser, in dem das Stechen am Ende des Beines unerträglich zu werden begann.

Die Lokomotive hatte ihn noch gestreift, ganz leicht nur. Bei der Geschwindigkeit des Zuges hatte die Berührung jedoch ausgereicht, ihn wegzuschleudern, in der Luft herumzuwirbeln. Insgesamt war das ein Glücksfall, fand Christian, dem es lächelnd nun leichter fiel, seine Situation zu beurteilen. Aus eigener Kraft hätte er keinesfalls diese vielleicht fünfzehn Meter weit springen können, hinein in die mannshohe, dichte Hecke. Sie hatte ihm Gesicht, Hals und Hände zerkratzt – vor allem aber hatte das Gestrüpp verhindert, dass er ungebremst auf die Erde aufschlug und sich womöglich alle Knochen brach. Und jetzt, da er am Boden lag, würde es ihn vor den Männern mit den schwarzen Uniformen verbergen, die ihn so weit entfernt kaum vermuten würden. Wenigstens fürs Erste.

Sechsundfünfzig Sekunden später verstummte das Kreischen der Bahnbremsen.

Der Zug war zum Stehen gekommen. Noch immer versperrten Waggons den Weg für seine Verfolger. In der Ferne, dreihundertsiebzig Meter entfernt, steckte ein Lokführer den Kopf aus dem Fenster, starrte an der endlosen Reihe der Güterwagen entlang und versuchte, irgendetwas zu erkennen. Aber da war nichts zu sehen, nur die Kette aus siebenundvierzig aneinandergehängten Waggons. Auf der anderen Seite des Bahndamms trabten einige Polizisten in seine Richtung, andere trabten zum Ende des Zuges, auch das war noch einmal gut hundert Meter entfernt. Zwanzig Sekunden später sah Christian die Ersten von ihnen schemenhaft auf seiner Seite des Dammes auftauchen und allmählich näherkommen.

Vielleicht würden sie sich zunächst um die Frau kümmern, die ein Stück von ihm entfernt kopfüber benommen an der Böschung lag. Dann aber würden sie weiter suchen. Nach ihm oder etwas, das von ihm übrig geblieben wäre. Zunächst entlang der Schienen und unter den Waggons. Und wenn sie in zwei, vielleicht drei Minuten die Lok erreicht und nichts gefunden hatten, würden sie, langsamer und gründlicher nun, wieder zurückkehren und beiderseits des Bahndamms noch einmal suchen.

Es konnte nicht lange dauern, bis sie erkennen müssten, dass er nicht vom Zug mitgerissen, überrollt, zerfetzt worden war.

Ihm blieben zwei Minuten, vielleicht auch drei, wenn es günstig für ihn lief.

Zu wenig Zeit jedenfalls, um hier im Gebüsch liegen zu bleiben, sich auszuruhen oder gar wegen der Schmerzen zu bedauern. Er musste weg hier. Schnell. Soviel wusste Christian.

Also kroch er durch die Hecke, die sich für einen auf dem Boden liegenden Mann als erstaunlich durchlässig erwies. Nur eilig fort vom Bahndamm, hin zur Straße, die nur zwanzig Meter dahinter lag.

Sie war eins parallel zur Bahnstrecke gebaut worden. Oder umgekehrt, so genau wusste das wohl niemand mehr. Sie war eben da, wie so vieles in Schönstadt.

Außer von Radfahrern war sie kaum benutzt worden. Ein Stück hinter dem Horizont nämlich trennte sie sich von den Schienen. Während die weiter zu einer Brücke und über die Elve führten, mündete die Straße etwas später in einen unbefestigten Feldweg, der sich entlang des Flusses durch die Elveauen schlängelte. Man konnte auf ihm beinahe bis in die Landeshauptstadt fahren. Außer, wenn starker Regen ihn aufgeweicht hatte. Oder wenn zu lange Trockenheit ihn sandig machte. Kilometerweit nichts als Landschaft.

Für Autofahrer war sie einfach eine Sackgasse, die im Nichts endete; es gab eigentlich keinen Grund, sie zu befahren. Und wenn in den vergangenen Jahren an Sonntagabenden hier doch manchmal Autos fuhren, dann saßen darin meist besorgte Eltern, die solange es ihnen möglich war, neben dem Zug her fuhren und einer Tochter winkten, die sie am Bahnhof gerade in den Zug gesetzt hatten und die nun an einen fernen Urlaubsort reiste, oder zu einem Studentenheim oder in ein neues Leben. Es war ja ein offenes Geheimnis in Schönstadt, dass immer wieder Mädchen grundlos verschwanden und den Eltern später nicht mehr Lebenszeichen schickten als ab und zu eine Ansichtskarte: „Liebe Mami, lieber Papi …“ Dass man ihre Leichen im Keller unter dem Papiergeschäft finden würde, konnte niemand ahnen.

Christian erreichte das Ende der Hecke, schon konnte er den Kopf zur Straße heraus strecken. Er hatte gehofft, sie würde leer sein.

Zu seinem Glück war sie es nicht.

Keine vier Meter rechts von ihm parkte ein Kipplaster. Mit weit geöffneten Türen.

Er gehörte zu den vier Bauarbeitern, die ein Stück der Straße abgesperrt hatten, wo sie Löcher im Asphalt ausbesserten.

Aufgeschreckt vom Kreischen der Zugbremsen auf dem Gleis hinter der Hecke, waren sie dem Lärm gefolgt. Sie liefen ein gutes Stück neben der für sie nicht sichtbaren Bahn her, sechzig, siebzig Meter vielleicht, bis sie eine Stelle erreichten, an der die Hecke nicht ganz so hoch gewachsen war, sodass sie darüber hinweg sehen konnten. Da standen sie nun, reckten die Hälse und versuchten, etwas Aufschlussreiches auf dem Bahndamm zu entdecken; irgendein Detail, das dramatisch genug wirkte, um das nervtötende Geräusch zu rechtfertigen.

Sie registrierten nicht, wie Christians Kopf sich aus der Hecke schob. Sie hatten nur Augen für den Bahndamm, niemand blickte zurück. Nicht zur Baustelle. Nicht zum Lastwagen.

Unbemerkt robbte Christian aus der Hecke; nur einen Moment später war er bereits auf der Beifahrerseite hinter dem Laster verschwunden. Selbst wenn die Männer jetzt in seine Richtung geschaut hätten – sie hätten ihn nicht mehr entdecken können.

Am Trittbrett des Führerhauses zog er sich langsam hoch, schlüpfte durch die Beifahrertür ins Innere.

Wieder hätte er nicht sagen können, warum er das tat. Er hatte keinen Plan. Er wollte nur weg von der Hecke, fort vom Bahndamm. Alles an ihm war Reflex und Flucht.

Hinter den Sitzen für Fahrer und Beifahrer gab es im Führerhaus eine kleine Kabine, abgeteilt mit einer Gardine, wohl gedacht als notdürftiger Schlafplatz. Jetzt gab es dort zwar keine Matratzen, decken oder Kissen. Dafür aber einen Berg unordentlich zusammengeraffter Planen und drei orangefarbene Wetteranzüge, die wohl den Arbeitern draußen gehörten.

Christian zwängte sich auf den Boden der Kabine, deckte Planen, Hosen und Jacken so gut es ging über sich. Jetzt erst gestattete er sich, mit der Hand vorsichtig nach seinem rechten Bein zu tasten. Langsam glitten die Finger an der Wade abwärts Richtung Fuß.

Er war noch da. Dick geschwollen am Knöchel, aber noch da. Vermutlich sogar nur heftig verstaucht, nicht einmal gebrochen. Kein Blut. Beinahe hätte Christian erleichtert aufgeatmet. Der stechende Schmerz, der ihn durchfuhr, weil er dabei mit den Fingerspitzen einwenig zu stark auf den Knöchel drückte, verwandelte das das Aufatmen sofort in ein Wimmern. „Scheiße. Scheiße. Scheiße!“ Es war ein kurzer, tonloser Aufschrei. Für seine Ohren allerdings so viel lauter als die Bremsen des Güterzuges vorhin, dass er verschreckt sofort die Luft anhielt. Das war unnötig, natürlich. Niemand war nah genug, um sein Keuchen unter dem Berg aus Planen und Schutzbekleidung hören zu können.

Auch das war ein gut trainierter Reflex. Schon als Kind, wenn er sich unter dem Sofa des Wohnzimmers versteckt hatte oder im Schrank des Schlafzimmers, um seine Mutter zu beobachten, hatte er stets die Luft angehalten, solange er konnte. Selbst wenn niemand außer ihm im Zimmer war. Es war mit der Zeit so etwas wie eine Selbstbestätigung geworden, ein Signal an den eigenen Körper: „Ich habe das Ziel erreicht!“

Abgesehen davon war es ohne die störenden Geräusche des eigenen Atems sehr viel leichter, zur Tür hin zu lauschen, von woher jeden Moment Mutters leise Schritte hörbar werden mussten … Natürlich konnte auch er die Luft nicht endlos anhalten. Über die Jahre jedoch hatte er seinen Körper damit sehr intensiv trainiert. Bis zu vier Minuten waren für ihn nichts Besonderes. Und wenn die Lungen dann doch wieder nach Sauerstoff verlangten, dann sog er die Luft kontrolliert und beinahe geräuschlos ein. Ohne das rasselnde, saugende Quieken, das Filmschauspieler von sich geben, wenn sie einen Ertrinkenden spielen.

Später, als er längst selbst das Papierwarengeschäft führte, hatte er im Laden hin und wieder ganz bewusst den Atem angehalten; bei Preisverhandlungen mit Lieferanten etwa oder wenn Kunden wortreich versuchten, ihn zu Mengenrabatten zu überreden. Es half ihm, sich zu konzentrieren und es verunsicherte die anderen auf eine Weise, die sie nicht hätten beschreiben können. In Verbindung mit seinem Geschäftslächeln war er so für Preisverhandler eine uneinnehmbare Bastion geworden.

Jetzt half es ihm, sich zu beruhigen. Und nachzudenken. Sein Geschäft, die Papeterie Wilsbach? Den Laden würde er wohl nicht wiedersehen können. Das konnte er verschmerzen. Den Keller darunter mit seinen Mädchen, den würde er allerdings sehr vermissen. Und die Tagebücher mit den wunderbaren Ledereinbänden, die er selbst genäht hatte. Eins für jedes von seinen Mädchen, in stundenlanger, manchmal nächtelanger Kleinarbeit, bis sich der Einband anfühlte, wie ihr Gesicht … Ein wohliges Gefühl flackerte in ihm auf, wollte sich im Gesicht breitmachen. Das Geschäftslächeln löste sich auf, wurde zu einem verträumten, weichen, kindlich, glückseligen Strahlen …

Er musste jetzt Luft holen. Drei, vier tiefe, ruhige Züge. Und schon hielt er erneut den Atem an, schloss die Augen, holte sein Geschäftslächeln zurück. „Wachsam bleiben!“

Christian hatte keine Idee, was er jetzt tun sollte. Zum Friedhof? Zu Mami und Papi? Mit Mami konnte er über alles reden, dort würde er eine Lösung finden, ganz sicher. Und Papi würde verständnisvoll zuhören.

Aber zwischen ihnen und ihm stand der Zug. Und da waren immer noch die schwarzen Männer mit den Maschinenpistolen, die vorhin seinen Laden gestürmt hatten. Die ihn holen wollten. Die bald bemerken würden, dass er nicht tot war, nicht vom Zug überrollt wie sein Vater, damals am Tag seiner Geburt.

Weg hier!

Der Sauerstoffmangel beruhigte ihn jetzt spürbar. Die Gedanken wurden klarer. Als würde er mit den Fingern durch die Kärtchen eines Karteikastens wandern, ging er im Kopf seine Möglichkeiten durch.

Er fand vier.

Die Augen aufreißen und bemerken, dass alles nur ein böser Traum ist. Christian riss die Augen auf. Nein, er lag wirklich hier unter müffelnden Planen und Wetterjacken versteckt in einem LKW hinter dem Fahrersitz.

Einen der Wetteranzüge überstreifen und ganz einfach, auf der Straße schlendernd weggehen. Die Arbeiter? Naja, die würden das zunächst nicht bemerken, wenigstens auf den ersten Metern würde der Laster die Sicht auf ihn versperren. Ein Stück weiter, die Straße aufwärts, kam eine Kurve, ab da wäre er ohnehin aus ihrem Sichtfeld verschwunden. Und dann käme auch schon bald der Bahnübergang. Natürlich würden genau aus der Richtung in Kürze auch Polizisten kommen. Sie würden nicht ihn erkennen, sondern nur einen schlendernden Straßenarbeiter. Und falls sie ihn anhielten, würde er ihnen erzählen, dass er unterwegs zu einer Telefonzelle sei, weil da hinten gerade verdächtig eilig ein Mann in Richtung Elve gestürmt sei. An diesem Punkt wurde Christian von seinem Knöchel daran erinnert, dass diese Idee auf mehr als nur eine Art hinkte. Er würde keinesfalls so weit gehen können.

Bliebe ihm drittens noch die Möglichkeit, einwenig abzuwarten, dann wieder ins Gebüsch zurück zu kriechen und darauf zu hoffen, dass genau die Stelle bereits abgesucht worden war und er unentdeckt bliebe.

Aber: Wie lange müsste er da warten? Und würde die Polizei, wenn sie das Gestrüpp abgesucht hatte, nicht auch den Lastwagen entdecken und durchsuchen. Und überhaupt: Musste das nicht zwangsläufig ohnehin gleich geschehen?

Blieb nur Möglichkeit Nummer Vier.

Den Lastwagen starten und losrasen.

In Christians Hals gluckste es. Er hätte nicht sagen können, ob sich damit die nach Sauerstoff gierende Lunge meldete oder doch ein unterdrücktes Lachen über diesen wirklich dummen Einfall.

Einen LKW kapern? Womöglich eine Verfolgungsjagd mit der Polizei? So etwas würde es vielleicht in einem Fernsehkrimi geben, der in der Landeshauptstadt spielt. Ganz sicher nicht hier in Schönstadt.

Allein schon die Anmaßung, mit einem 20-Tonnen-LKW durch die engen Straßen zu poltern und dabei schneller sein zu wollen als die Polizei mit ihren Streifenwagen? Das war lächerlich! Abgesehen davon würde er mit seinem verstauchten rechten Knöchel nicht mal richtig das Gaspedal treten können. Oder war rechts die Kupplung? Christian hatte sich das nie merken können. Er hatte nicht nur keinen Führerschein, er konnte auch tatsächlich nicht Auto fahren.

Nein, auch Alternative Nummer Vier erwies sich bei näherer Betrachtung als unrealistisch.

Christian atmete aus. Und ein.

Ihm blieb nichts übrig, als hier liegen zu bleiben, sich damit abzufinden, was geschehen würde und zu hoffen, dass er im entscheidenden Moment erneut richtig reagieren würde. Er konnte nur warten.

Lächeln, die Luft anhalten und warten: Abgesehen von seinem Talent für sehr persönliche Bucheinbände waren das die drei Dinge, die er am besten beherrschte.

Christian hatte hin und wieder darüber gelesen, dass die meisten Menschen nicht damit umgehen können, wenn sie aus einer Situation keinen Ausweg finden, dass sie dann nervös werden, unruhig, fahrig.

Ihn hingegen beruhigte das. „Wenn`s scheint, als würde gar nichts nützen, die Augen zu. Bleib einfach sitzen.“ Er hatte sich das einst ins Tagebuch geschrieben. Weil es sich so schön reimte. Es hatte sich für ihn bewährt.

Ihm fiel jetzt nichts ein, dass er tun könnte. Also tat er nichts. Wie damals als Kind lag er einfach da, zählte die Atemzyklen.

Nach dem vierten Atemholen hörte er die Bauarbeiter. „…wahrscheinlich einer die Notbremse gezogen.“

„Meinste? So kurz hinterm Bahnhof?“

„…vielleicht den Koffer vergessen …“

„In einem Güterzug? Schon klar …„

„Ach, ich glaub eher, ne Bombendrohung oder so. War ja doch reichlich Bullerei da …“

„…ne ‘iesenherde …“

Die Männer lachten. Ihre Stimmen wurden deutlicher, ihre Schritte lauter. Sie kamen näher.

„Oder da hat sich doch mal wieder einer auf die Schiene gelegt und n bisschen Zug gekriegt …“

„Quatsch, hier doch nicht. Wenn schon, dann da vorne beim Bahnübergang.“