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Die Inhalte und Wertungen von Schulbüchern prägen das gesellschaftliche und politische Bewusstsein ganzer Generationen. Was die Großelterngeneration im Schulranzen mit sich herum trug, verrät viel darüber, wie sie sozialisiert wurde, welches selektierte Grundwissen sie mit auf den Weg bekam, wie nachhaltige Grundhaltungen und politische Einstellungen entstanden. Schulbuchforschung ist somit politische Kulturforschung. In der Zeit zwischen den Weltkriegen waren die Schulbücher in Österreich je nach dem herrschenden politischen System sehr unterschiedlich in Inhalt und Ausrichtung. Roman Pfefferle zeichnet in diesem Buch anschaulich nach, was die politischen Eliten der Ersten Republik und jene des Austrofaschismus für die Jugend wollten und wie sie es propagierten.
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Seitenzahl: 271
Roman Pfefferle
Schule - Macht - Politik. Politische Erziehung in österreichischen Schulbüchern der Zwischenkriegszeit
Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag. Politikwissenschaften, Bd. 35
© Tectum Verlag Marburg, 2010
Zugl.: Univ. Diss. Wien, 2009
Gefördert von Universität Wien, Kulturabteilung der Stadt Wien – Wissenschafts- und Forschungsförderung
ISSN 1861-7840
ISBN 978-3-8288-5644-8
Bildnachweis Cover: © Österreichischer Bundesverlag, Wien 1935
(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter der ISBN 978-3- 8288-2519-2 im Tectum Verlag erschienen.)
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung
Teil I
1 Politische Kultur
1.1 Begriff
1.2 Ursprungskonzept der politischen Kultur
1.3 Kritik am Ursprungskonzept
1.4 Weiterentwicklung des Konzepts
1.5 Forschungsrichtungen und Forschungsstand
1.6 Methoden politischer Kulturforschung
2 Politische Sozialisation
2.1 Begriff
2.2 Instanzen politischer Sozialisation
2.2.1 Familie als politische Sozialisationsinstanz
2.2.2 Politische Sozialisation in Gleichaltrigengruppen
2.2.3 Politische Sozialisation durch Massenmedien
2.2.4 Politische Sozialisation in der Schule
Teil II
3 Schulbuchforschung als politische Kulturforschung
3.1 Begriff und Funktion des Schulbuchs
3.2 Felder der Schulbuchforschung
3.3 Schulbücher als Analysegegenstand politischer Kulturforschung
3.3.1 Schulbücher als Politikum
3.3.2 Exkurs: Approbation von Schulbüchern: 1918–1945
3.3.3 Schulbücher als Begleiter im politischen Sozialisationsprozess
3.3.4 Schulbücher als Spiegel der politischen Mentalitätsgeschichte
3.4 Methoden der Schulbuchforschung
4 Analyserahmen
4.1 Ebene der Inhalte
4.2 Ebene der Werte
4.3 Ebene der Vermittlung
Teil III
5 Die Erste Republik
5.1 Verfassung und politische Entwicklungen
5.1.1 Republik Deutschösterreich
5.1.2 Republik Österreich
5.1.2.1 Die „Kompromissverfassung“ von 1920
5.1.2.2 Konkurrenzdemokratie, Zentrifugaldemokratie und Verfassungsnovellen
5.1.2.3 Das Ende der Demokratie
5.2 Schulpolitik und politische Erziehung
5.2.1 Schulpolitische Ausgangslage 1918
5.2.2 Sozialdemokratische Initiativen
5.2.3 Kernelemente der Schulreform unter Otto Glöckel
5.2.4 Neue Inhalte politischer Erziehung
5.2.5 Schulpolitische Entwicklungen 1920–1933
5.2.6 Modifizierte Inhalte politischer Erziehung
5.3 Schulbuchanalyse Erste Republik
5.3.1 Ebene der Inhalte
5.3.1.1 Räume der Politik
5.3.1.2 Akteure der Politik
5.3.2 Ebene der Werte
5.3.2.1 Politische Tugenden
5.3.2.2 Konsens und Konflikt in der Politik
5.3.3 Ebene der Vermittlung
5.4 Synthese: Politische Kultur und politische Erziehung in der Ersten Republik
6 Die Periode des austrofaschistischen Staates
6.1 Verfassung und politische Entwicklungen im Austrofaschismus
6.1.1 Konstitutionalisierung
6.1.2 Charakteristika des Austrofaschismus
6.2 Schulpolitik und politische Erziehung im Austrofaschismus
6.2.1 Schulpolitische Entwicklungen 1933–1938
6.2.2 Inhalte politischer Erziehung
6.3 Schulbuchanalyse Austrofaschismus
6.3.1 Ebene der Inhalte
6.3.1.1 Räume der Politik
6.3.1.2 Akteure der Politik
6.3.2 Ebene der Werte
6.3.2.1 Politische Tugenden
6.3.2.2 Konflikt und Konsens in der Politik
6.3.3 Ebene der Vermittlung
6.3.4 Exkurs: Gegenüberstellung politischer Erziehung im Austrofaschismus und im Nationalsozialismus
6.4 Synthese: Politische Kultur und politische Erziehung im Austrofaschismus
7 Resümee
8 Bibliographie
8.1 Sekundärliteratur
8.2 Primärliteratur
8.2.1 Schulbücher Erste Republik
8.2.2 Schulbücher Austrofaschismus und Nationalsozialismus
Vorwort
In Zeiten großer wirtschaftlicher und politischer Transformationen, wie wir sie gegenwärtig durch die Wirtschafts- und Finanzkrise, durch die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und die Ostöffnung erleben und die auch eine Krise der Politik implizieren, kommt Fragestellungen grundsätzlicher Art über politische Kultur und deren Entstehung und Veränderung, wie sie in der vorliegenden Arbeit behandelt werden, besondere Bedeutung zu. Dies nicht zuletzt deshalb, weil gerade eine – man könnte fast sagen – Abkoppelung der Jugend von hergebrachten Politikkonzeptionen zu beobachten ist, was nicht zuletzt angesichts der seit zumindest 20 Jahren verstärkten Bemühung um politische Bildung auch in den Schulen geradezu als Paradoxon erscheint. Auch von der Aktualität der hiermit angesprochenen Fragestellungen abgesehen, legt Roman Pfefferles Untersuchung eine theoretisch breit fundierte, inhaltlich interessante Analyse eines, wenn auch zeitlich beschränkten Aspekts von Fragestellungen über historische Grundlagen der politischen Kultur vor, deren Schlussfolgerungen nicht zuletzt im Zusammenhang mit den erwähnten Problemlagen durchaus auf breiteres Interesse stoßen werden.
Die Arbeit führt zunächst in einem allgemeinen Teil in die sozialwissenschaftliche Sozialisationsforschung ein und arbeitet einen von Anton Pelinka festgestellten Zusammenhang theoretisch und empirisch heraus: „Politische Sozialisation produziert politische Kultur“. In einem weiteren Abschnitt wird zunächst die Schulbuchforschung als politische Kulturforschung präsentiert. Dabei geht es nicht nur um Begriff und Funktion des Schulbuches oder um Felder der Schulbuchforschung sondern spezifisch auch um Schulbücher selbst als Gegenstand dieser Forschung. Schulbücher sind und waren immer ein Politikum. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang die Analyse des Aprobationsprozesses, der exemplarisch den Umstand aufzeigt, dass im Zentrum schulpolitischer Bemühungen keineswegs der Versuch steht, Jugendliche zu emanzipieren, sondern sie – unter dem Aspekt einer Angst vor derartiger Emanzipation – unter Kontrolle zu halten. Die Arbeit weist auch darauf hin, dass Schulbücher als Begleiter im politischen Sozialisationsprozess bzw. als Spiegel politischer Mentalitätsgeschichte gesehen werden können. Interessant sind auch die Zusammenstellungen über bisherige Methoden der Schulbuchforschung.
Für besonders wesentlich halte ich den vom Autor entwickelten Analyserahmen für die eigentliche Schulbuchanalyse, in der er die Ebenen der Inhalte, der Werte und der Vermittlung unterscheidet.
Damit kommen wir zum wichtigsten und innovativsten Teil der Arbeit, in dem für die erste Republik bzw. die Periode des Austrofaschismus eine konkrete Analyse von Schulbüchern vorgelegt wird. In beiden Abschnitten werden zunächst die Verfassungsentwicklung sowie die Schulpolitik dargelegt und es werden anschließend konkret – dem zuvor entwickelten Analyserahmen folgend – die verschiedenen Ebenen der Schulbuchinhalte dargestellt. Letztere sind insbesondere im historischen Vergleich besonders interessant wobei Fragen wie die unklare Definition des Staatsgebietes, die geradezu apolitische Verleugnung der Parteien oder die Betonung von Pflicht und Konsens in der Politik besonders deutlich heraus gearbeitet werden. Dabei ergeben sich zwischen den Perioden die zu erwartenden Unterschiede und Akzentverschiebungen. Ein kurzer informativer Ausblick stellt zusätzlich die politische Erziehung von Austrofaschismus und Nationalsozialismus gegenüber.
Die vorliegende Arbeit behandelt mit beachtlichem Erfolg oft vernachlässigte Aspekte der österreichischen Politik. Insbesondere scheinen mir die Ausführungen Pfefferles über die politische Kultur und politische Kulturforschung – wie bereits erwähnt – umfassend und theoretisch sophisticated zu sein und viele Fragen aufzuwerfen, die über landläufige Untersuchungen sowohl der ursprünglichen Almond-Verba-Tradition oder überhaupt der Tradition der Umfrageforschung weit hinaus gehen. Auch was die Schulbuchforschung an sich betrifft, ist die vorliegende Arbeit durchaus kreativ. Das trifft nicht nur für die Erarbeitung verschiedener Dimensionen der Analyse zu, sondern auch auf die methodische Untersuchung der drei Ebenen des Analyserahmens und die Darstellung von allgemeinen und schulpolitischen Rahmenbedingungen für die Schulbuchanalyse. Die Interpretation der Ergebnisse ist im Einzelnen aufschlussreich und überzeugend, auch der Vergleich der Perioden und nicht zuletzt der Exkurs über Austrofaschismus und Nationalsozialismus im Schulbuchbereich verdient großes Interesse.
Man kann nur hoffen, dass Pfefferle die Möglichkeit finden wird, die Analyse fortzuführen und auch die Perioden des Nationalsozialismus ausführlicher bzw. zusätzlich noch die der Zweiten Republik darzustellen. Dabei wäre es von nicht geringem Interesse, herauszuarbeiten, wie sich die Schulbuchinhalte seit seinem Untersuchungszeitraum weiter entwickelt haben: Ob es hier eine etwa in Parallelität zur österreichischen Geistesgeschichte beobachtbare Entwicklung eines Auf und Ab gegeben hat, was die Darstellung der Ersten Republik und des Austrofaschismus betrifft. Es wäre sicher von Interesse der Frage nachzugehen, welche Brüche bzw. Kontinuitäten gerade auch in nicht-kognitiven Bereichen festgestellt werden könnten. Die eigentliche Analyse, die im Vergleich zu den theoretischen Ausführungen und den Rahmenbedingungsausführungen knapp wirkt, hätte durchaus noch weiter ausgebaut werden können, obwohl ich sie grundsätzlich sehr überzeugend finde und gerade deshalb dazu gerne noch mehr gelesen und insbesondere gesehen hätte. Gerade in der letzten Hinsicht ist die Faszination der wenigen bildlichen Andeutungen geradezu hervorzuheben.
Roman Pfefferle ist es gelungen einen wichtigen Beitrag zum politischen Selbstverständnis Österreichs zu leisten. Es ist zu hoffen, dass er zur kollektiven Selbstreflexion gerade im Schulbereich, beitragen kann.
Einleitung
Politische Erziehung und Bildung produzieren politische Kultur. Ausgehend von dieser zugespitzten Feststellung versteht sich vorliegende Arbeit, die sich mit der schulischen politischen Sozialisation im Österreich der Zwischenkriegszeit beschäftigt, als Beitrag zur politischen Kulturforschung.
Die Politikwissenschaft bezeichnet mit dem Begriff politische Kultur die subjektive Dimension gesellschaftlicher Grundlagen der Politik oder politischer Systeme innerhalb bestimmter Perioden, worunter unterschiedliche politische Orientierungsmuster einer Bevölkerung oder ihrer Teilgruppen aber auch solche innerhalb politischer Eliten zu verstehen sind. Es geht also nicht um in Verfassungen festgeschriebene Regeln politischer Abläufe und Entscheidungsmechanismen, sondern um Orientierungen und Einstellungen gegenüber politischen Systemen, die insbesondere im Verlauf politischer Sozialisation erlernt werden. Diese können unterstützender oder ablehnender Natur sein und somit unterschiedlich zur Stabilität eines politischen Systems beitragen. Im Zentrum politischer Kulturforschung steht demnach die Fragestellung, ob die jeweils dominierenden politischen Verhaltensmuster zur Funktionsfähigkeit des entsprechenden politischen Systems beitragen oder diesem zuwiderlaufen.
Politisch-kulturelle Einstellungs- und Verhaltensmuster werden auf individueller Ebene erworben und können im Rahmen des politischen Prozesses in Form unterschiedlicher Partizipationsmuster kollektiv umgesetzt werden. Sie werden also zunächst in Kindheit und Jugend, aber auch im Erwachsenenleben, „erlernt“ und verinnerlicht. In diesem Prozess spielen sowohl Alltagserfahrungen mit dem jeweils aktuellen politischen System als auch das kollektive Gedächtnis einer Bevölkerung oder ihrer Teilgruppen eine prägende Rolle. Dementsprechend ist politische Kultur einerseits stets historisch bedingt und wird von einer Genreration an die nächste weitergegeben. Andererseits ist sie einem fortlaufendem Wandel unterzogen, der sich analog zum politischen Systemwandel vollzieht, diesem aber auch voraus- oder hinterhergelagert sein kann. Insbesondere dann, wenn ein altes durch ein neues politisches System ersetzt wird, wie es bei den Regimewechseln in der österreichischen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert der Fall war, wird auch ein politischer Kulturwandel innerhalb der Bevölkerung ausgelöst, der einer mentalen Auseinandersetzung mit den neuen politischen Verhältnissen gleichkommt.
Politisch kulturelle Phänomene können auf verschiedenste Art und Weise erforscht werden. Sie können einerseits mittels Meinungsforschung quantitativ erhoben und andererseits auf Basis von Beobachtung und Interpretation qualitativ beschrieben werden. Der Fokus bisheriger Forschung zur österreichischen politischen Kultur lag bisher verstärkt auf der Interpretation von Umfragedaten oder einer beschreibenden Analyse politisch-kultureller Stimmungslagen in unterschiedlichen Perioden österreichischer Geschichte. Da sich die Methode der Umfrageforschung für die Analyse historischer politischer Kultur aus nahe liegenden Gründen nicht eignet und auch die qualitative Beschreibung dahingehend kein umfassendes Bild liefern kann, wird in vorliegender Arbeit ein anderer Weg politischer Kulturforschung eingeschlagen.
Der Fokus wird diesbezüglich auf politische Sozialisation in der Schule als wichtiger Bereich der Herausbildung politischkultureller Muster auf individueller Ebene gelegt. Im Zuge dessen werden die Bedingungen und Inhalte schulischer „politischer Erziehung“ während der Periode der Ersten Republik sowie jener des Austrofaschismus einer genaueren Betrachtung unterzogen. Dies geschieht vorwiegend anhand der Analyse von Schulbüchern mit „politsch-bildenden“ Inhalten, die in diesem Zeitraum zum Einsatz kamen. Schulbücher bilden aus unterschiedlichen Gründen ein geeignetes Instrument historischer politischer Kulturforschung, das bisher zu wenig Beachtung fand. Einerseits sind Schulbücher seit jeher ein Politikum, insofern es den jeweiligen politischen Eliten ein Anliegen ist, Richtlinien für ihre Inhalte auszuhandeln und festzulegen und ihr Zustandekommen einem staatlichen Approbationsverfahren zu unterziehen. In diesem Sinn sind sie also stets Abbild und Funktionsgedächtnis einer bestimmten Elitenkultur und spiegeln jene Inhalte wider, die bewusst für die Weitergabe an die Schülerinnen und Schüler ausgewählt wurden. Zweitens haben Schulbücher die Eigenschaft von Massenmedien, indem ihren Inhalten im Prozess schulischer Bildung kaum zu entgehen ist.
Ihre Inhalte erzielen dadurch eine größtmögliche Breitenwirkung, was im Rückkehrschluss der Verbreitung bestimmter politisch-kultureller Muster innerhalb ganzer Bevölkerungen gleichkommt. Ergänzend dazu sind Schulbücher historisch bedeutsame Dokumente, die in ihre Zeit eingebettet waren und anhand derer sich schließlich die Mentalitätsgeschichte und der politische Kulturwandel eines Landes ablesen lassen.
Mit dem Ziel, die Schulbuchanalyse für das Feld der politischen Kulturforschung nutzbar zu machen, ist es eine Hauptaufgabe vorliegender Arbeit, einen diesbezüglichen Analyserahmen zu entwickeln. Dahingehend wird eine Herangehensweise vorgestellt, die es erlaubt, die vorgefundenen Schulbuchinhalte zu ordnen und zu kategorisieren, um so ihren Inhalten, Wertvorstellungen und Vermittlungstechniken auf den Grund gehen zu können. Anhand der vergleichenden Gegenüberstellung der auf diese Weise gewonnenen Ergebnisse aus unterschiedlichen Perioden österreichischer Geschichte lassen sich schließlich Aussagen über Wandel und Kontinuitäten politischkultureller Muster treffen. Darüber hinaus werden die in den Schulbüchern vermittelten Inhalte „politischer Erziehung“ zwischen 1918 und 1938 mit den politikwissenschaftlich bereits aufgearbeiteten allgemeinen Mustern politischer Kultur dieser Periode in Beziehung gesetzt.
Die zentralen Forschungsfragen, die im Rahmen dieses Buches behandelt werden, lauten daher: Von welchen Inhalten, Wertvorstellungen und Vermittlungstechniken waren die Schulbücher der politischen Erziehung während der Zwischenkriegszeit durchzogen und inwiefern waren diese bewusst auf die Einprägung politisch-kultureller Einstellungs- und Verhaltensweisen ausgerichtet? Inwiefern waren sie also Spiegel der vorherrschenden politischen Elitenkultur, die auf die Herausbildung bestimmter politischer Mentalitäten innerhalb der heranwachsenden Bevölkerung abzielte?
Angesichts des oben Beschriebenen und der formulierten Forschungsfragen lassen sich für die vorliegende Arbeit folgende Hypothesen aufstellen:
• Der Fortbestand politischer Systeme ist nicht zuletzt davon abhängig, dass heranwachsende Generationen eine diffuse Unterstützung für Strukturen, Funktionsweisen und Normen der entsprechenden politischen Ordnung entwickeln.
• „Politische Erziehung“ in der Schule ist seit jeher staatlich kontrolliert und wirkt auf Gesellschaft und Staat in Form von dort auf individueller Ebene erworbenen politischen Orientierungsmustern zurück.
• Schulbücher sind im Verlauf der Sozialisation verwendete Dokumente, die zur Herausbildung politisch-kultureller Orientierungsmuster innerhalb ihrer Leserschaft beitragen.
• Schulbücher mit „politisch-bildenden“ Inhalten eignen sich als Instrument politischer Kulturforschung, da sie als Bindeglied zwischen einer politischen Elitenkultur und jener der Bevölkerung Aussagen über den vertikal stattfindenden Kulturtransfer zulassen.
Zur Beantwortung der Forschungsfragen sowie zur Bearbeitung der formulierten Hypothesen gliedert sich vorliegende Arbeit in drei Teile: Im Zentrum des ersten Teils (Kapitel 1 und 2) steht die Bearbeitung theoretischer Konzepte. Kapitel 1 beinhaltet eine ausführliche Diskussion des Konzepts der politischen Kultur von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Im Zuge dessen wird auf das Ursprungskonzept sowie auf diverse Weiterentwicklungen und methodische Verfeinerungen eingegangen, die nicht zuletzt den methodischen Pluralismus als Königsweg politischer Kulturforschung hervorheben. Das 2. Kapitel widmet sich sodann dem Begriff der politischen Sozialisation. Im Zuge dessen wird der Frage nachgegangen, was einzelne Sozialisationsinstanzen – wie Familie, Gleichaltrigengruppen, Medien und insbesondere die Schule – zum Hineinwachsen junger Menschen in die „Welt der Politik“ beitragen und wie sich diese Prozesse im Verlauf der Zeit änderten.
Der zweite Teil widmet sich anschließend der Methode der Schulbuchforschung sowie der Entwicklung eines diesbezüglichen Analyserahmens für vorliegende Arbeit. Zunächst steht das Medium Schulbuch im Zentrum der Betrachtungen (Kapitel 3). Nach einer Begriffsdiskussion wird im Rahmen dessen auf unterschiedliche Felder und Methoden wissenschaftlicher Schulbuchforschung eingegangen und die Vielfältigkeit der Herangehensweisen demonstriert. Anschließend geht es darum herauszuarbeiten, warum sich Schulbücher für die Erforschung politischer Kultur eignen und inwiefern sie für diese nutzbar gemacht werden können. Es wird aufgezeigt, das es sich bei Schulbüchern um ein weitgehend verborgenes Kulturerbe handelt, dass seitens der Politikwissenschaft bisher zu wenig Beachtung fand. Diesen Umstand kritisierend wird in Kapitel 4 ein Analyserahmen vorgestellt, der eine Adaption der Schulbuchanalyse für das Feld politischer Kulturforschung ermöglicht und damit eine weitgehend neue methodische Herangehensweise in die Diskussion einbringt.
Im dritten Teil der Arbeit (Kapitel 5 und 6) wird die entwickelte Methode schließlich einem Praxistest unterzogen, indem sie zur Bearbeitung politisch-kultureller Phänomene während der Zeit der Ersten Republik sowie während jener des Austrofaschismus herangezogen wird. Im Zuge dessen werden zunächst die beiden politischen Systeme im Rahmen ihrer allgemeinen Politikgeschichte überblicksartig dargestellt, um auf diese Weise die Bruchhaftigkeit der Entwicklungen sowie jeweils vorherrschende Charakteristika herauszuarbeiten. In einem nächsten Schritt wird auf die Schulpolitik und hier insbesondere auf die Leitlinien und Grundsätze „politischer Erziehung“ in den Schulen eingegangen. Daran anschließend kommt die Methode der Schulbuchanalyse zur Anwendung, um den dominierenden Themen, Wertvorstellungen und Vermittlungskonzepten auf die Spur zu gehen, von denen die Lehrbücher beider Perioden durchzogen waren. Die gewonnenen Ergebnisse werden anschließend mit den allgemein beschriebenen Mustern politischer Kultur der jeweiligen Periode in Beziehung gesetzt. Im Zuge dessen lassen sich schließlich Rückschlüsse auf die Wechselwirkung zwischen der politischen Elitenkultur und jener der Bevölkerung ziehen und in diesem Sinn die vertikale Dimension des Kulturtransfers beleuchten. Abschließend werden die zentralen Ergebnisse der Arbeit in einem Resümee rekapituliert.
Teil I
1 Politische Kultur
1.1 Begriff
Der Begriff politische Kultur ist heute in zweierlei Bedeutung in Verwendung. Einerseits fand er Eingang in die politische Alltagssprache, andererseits bezeichnet er ein Konzept politikwissenschaftlicher Analyse.
In seiner alltagssprachlichen Bedeutung wird unter dem Begriff, analog zur Verwendung des Kulturbegriffs in anderen Bereichen (z.Bsp. Esskultur, Unternehmenskultur etc.), ein kultivierter politischer Stil verstanden. Er dient in diesem Zusammenhang zur Bezeichnung zwischenmenschlicher Umgangsformen im politischen Prozess und wird dementsprechend im Politiker- sowie Journalistensprachgebrauch meist wertend verwendet. So etwa dann, wenn Politiker einander einen Mangel an politischer Kultur unterstellen und damit auf ihr Unbehagen hinsichtlich des politischen Stils ihrer Kontrahenten hinweisen wollen.
Im Gegensatz dazu wurde der Begriff in der Politikwissenschaft für die Bezeichnung der subjektiven Dimension gesellschaftlicher Grundlagen der Politik oder politischer Systeme eingeführt, worunter unterschiedliche politische Orientierungsmuster einer Bevölkerung oder ihrer Teilgruppen aber auch solche innerhalb politischer Eliten zu verstehen sind. Politische Kultur ist in diesem Sinne keine kultivierte Umgangsform, die es zu erzeugen oder zu erhalten gilt, sondern meint die Existenz politischer Mentalitäten, die für eine bestimmte Zeit innerhalb eines bestimmten Territoriums charakteristisch sind. Es gibt daher nicht „die“ politische Kultur Österreichs, sondern immer nur bestimmte politische Kulturen innerhalb unterschiedlicher Perioden österreichischer Geschichte.
Im Folgenden soll der Entstehungsgeschichte und der Weiterentwicklung des komplexen Analysekonzepts politische Kultur mit dem Ziel auf den Grund gegangen werden, es für vorliegende Arbeit zu operationalisieren und somit nutzbar zu machen.
1.2 Ursprungskonzept der politischen Kultur
Das politikwissenschaftliche Konzept politische Kultur wurde bereits Mitte der fünfziger Jahre von Gabriel Almond (vgl. Almond 1956) vorgestellt und in weiterer Folge, gemeinsam mit Sydney Verba, zu einem Theorieentwurf verdichtet. In ihrer Pionierstudie „The Civic Culture“ (Almond/Verba 1963) stellen die beiden Autoren politische Kulturen in fünf Staaten vergleichend gegenüber, wobei ihre empirischen Erhebungen auf Umfragedaten beruhen. Die Motivation für die Etablierung des Konzepts der politischen Kultur kann darin gesehen werden, dass es für eine umfassende Analyse politischer Systeme nicht genügt, lediglich die jeweilige Rechtsverfassung beziehungsweise die institutionelle Architektur unterschiedlicher Regime zu untersuchen. Vielmehr ist es notwendig, auch subjektive Dimensionen wie politische Einstellungs- und Orientierungsmuster sowie Verhaltensweisen in einem bestimmten System über einen bestimmten Zeitraum zu erfassen, um zu einem vollständigen Bild zu gelangen. „The political culture of a society consists of the system of empirical beliefs, expressive symbols, and values which defines the situation in which political actions take place. It provides the subjective orientation to politics” (Pye/Verba 1965: 513).
Bezugnehmend auf das Ursrpungskonzept wird politische Kultur Mitte der 1980er Jahre von Almond schließlich in vierfacher Weise definiert (vgl. Almond, 1987: 29):
1. Politische Kultur bezieht sich auf das Muster subjektiver Orientierungen gegenüber Politik einer ganzen Nation oder ihrer Teilgruppen.
2. Politische Kultur hat kognitive, affektive und evaluative Bestandteile. Sie schließt Kenntnisse und Meinungen über politische Realität, Gefühle über Politik und politische Werthaltungen ein.
3. Inhalt politischer Kultur ist das Ergebnis von Kindheitssozialisation, Erziehung, Medieneinfluss und Erfahrungen im Erwachsenenleben mit den Leistungen von Regierung, Gesellschaft und Wirtschaft.
4. Politische Kultur beeinflusst die Struktur von Regierung und Politik und ihre Leistungen, schränkt sie ein, aber determiniert sie sicherlich nicht völlig. Die Kausalpfeile zwischen Kultur, Struktur und Regierungsleistungen weisen in beide Richtungen.
Politische Kultur bezeichnet also erstens bestimmte politische Orientierungsmuster innerhalb einer Gesamtgesellschaft oder ihrer territorialen sowie auch nicht-terrritorialen Teilgruppen, die für eine bestimmte Periode charakteristisch sind. Bei territorialen Teilgruppen kann es sich etwa um einzelne Gliedstaaten in föderalen Systemen bzw. um einzelne Regionen eines Landes handeln. So könnte für Österreich etwa die Existenz unterschiedlicher politischer Kulturen in den einzelnen Bundesländern angenommen werden. Unter nicht-territorialen Teilgruppen ist das Vorhandensein unterschiedlicher Subsysteme der Politik zu verstehen, die ebenfalls spezifische politischkulturelle Orientierungsmuster aufweisen können. Hierunter fallen beispielsweise das bürokratische System, das Mediensystem oder auch jenes der Wirtschaft (vgl. Gerlich/Pfefferle: 2006). Des Weiteren ist festzuhalten, dass es sich bei politischkulturellen Orientierungsmustern nicht um kurzfristige Einstellungsmomente im Hinblick auf das politische Tagesgeschehen handelt. Vielmehr handelt es sich um stabilisierte und bewusstseinsprägende Prädispositionen, die letztendlich individuelles und kollektives politisches Handeln beeinflussen können. Solche politisch-kulturelle Prädispositionen können in Meinungen (beliefs), Einstellungen (attidudes) und Werte (values) unterteilt werden, wobei Werte die intensivsten und Meinungen die oberflächlichsten Orientierungsmuster bezeichnen (vgl. Berg-Schlosser 1972: 33).
Zweitens wird im Ursprungskonzept politischer Kultur zwischen drei Arten von Orientierungen, nämlich der kognitiven, der affektiven und der evaluativen Ebene unterschieden. Unter der wissensmäßigen Ebene werden hier jene Orientierungen verstanden, die durch subjektive Kenntnisse über bestimmte Ereignisse, politische Prozesse und Institutionen oder auch bestimmte Themen geprägt sind. Die affektive Ebene bezeichnet die emotionalen Prädispositionen einer Person gegenüber bestimmten politischen Vorgängen oder Ereignissen und die evaluative Komponente beinhaltet schließlich die normativen und ethisch geprägten Einstellungen. Politisch-kulturelle Orientierungen beinhalten demnach Wissen über die politische Realität, Gefühle und Meinungen über Politik und politische Werthaltungen und Urteile. Des Weiteren lässt sich in diesem Zusammenhang zwischen den Objekten politischer Orientierungen unterscheiden, was sich entlang der klassischen Trias des Politikbegriffs durchführen lässt. Politische Orientierungsmuster können sich also auf das politische System als Ganzes (Systemkultur oder polity-culture), auf den politischen Prozess (Prozesskultur oder politics-culture) oder auch auf konkrete Politikfelder richten (Politikfeldkultur oder policy-culture). Politische Systemkultur beinhaltet Einstellungen gegenüber zentralen Strukturen des politischen Systems, gegenüber seinen Institutionen und Spielregeln aber auch hinsichtlich der Staats- und Regierungsform und der politischen Gemeinschaft. Demokratiebewusstsein oder auch Fragen der nationalen Identität sind etwa Orientierungsmuster im Rahmen der Systemkultur.
Politisch-kulturelle Orientierungen sind drittens nicht a priori vorhanden, sondern werden im Verlauf des Sozialisationsprozesses „erlernt“ und erworben. Sie sind somit das Produkt des individuellen und kollektiven Erlebens von Politik in unterschiedlichen Bereichen und Phasen politischer Sozialisation. Das „Erlernen“ politischer Kultur wird von unterschiedlichen Sozialisationsinstanzen wie Familie, Freundeskreise, Medien und Schule aber auch durch politische Alltagserfahrungen geprägt. Mit anderen Worten könnte man sagen: „Politische Sozialisation produziert Politische Kultur“ (Pelinka 2006: 226). Demnach hat politische Sozialisation unweigerlich die Aufgabe, politische Kultur herzustellen, zu tradieren und zu wandeln und ihre Untersuchung scheint nach Almond und Powell „eine der am meisten versprechenden Arten zu sein, um das Phänomen der politischen Stabilität und Entwicklung zu verstehen“ (Almond/ Powell 1966: 65). Die Formen und Bedingungen politischer Sozialisation und ihre Kontrolle sind daher in jedem politischen System eine zentrale Frage, auf die noch an späterer Stelle vorliegender Arbeit zurückgekommen wird, da sie das primäre Untersuchungsinteresse darstellen.
Der vierte Punkt legt schließlich nahe, dass es eine Wechselwirkung zwischen politischer Struktur von Regierung und Politik und politisch-kulturellen Orientierungen innerhalb der Bevölkerung gibt. Einerseits wird dies deutlich, da der Output eines politischen Systems, wie gerade angesprochen, auf verschiedensten Ebenen die politische Kultur der Bevölkerung so gesehen beeinflusst, indem er das „Erleben“ von Politik prägt. Dies geschieht indirekt über mediale Politikberichterstattung, aber auch durch die Schaffung bestimmter Spielregeln politischer Sozialisation. Generell kann angenommen werden, dass es in diesem Zusammenhang das Bestreben der jeweiligen politischen Eliten ist, die politisch-kulturellen Orientierungen der Bevölkerung dahingehend zu beeinflussen, dass diese systemunterstützend zutage treten. Denn diese wirken andererseits auf das politische System zurück und können allgemein gesprochen das „Funktionieren“ eines politischen Systems unterstützen oder behindern. Handlungsäußerungen politischkultureller Orientierungsmuster wären beispielsweise das Wahl- bzw. Nichtwahlverhalten bestimmter Bevölkerungsschichten oder aber auch politische Partizipation im Rahmen zivilgesellschaftlicher Bereiche. Im Zentrum politischer Kulturforschung steht demnach die Fragestellung, ob die jeweils dominierenden politischen Verhaltensmuster zur Funktions- und Leistungsfähigkeit des entsprechenden politischen Systems beitragen oder diesen zuwiderlaufen.
Als Ergebnis ihrer theoretischen Überlegungen und empirischen Befunde im Rahmen ihrer Pionierstudie „The Civic Culture“ entwickeln Almond und Verba schließlich eine Typologie politischer Kultur, indem sie zwischen drei Hauptformen differenzieren. Anlehnend an die Periodisierung Vormoderne, Frühmoderne und Moderne, wird zwischen einer „Parochial Political Culture“ (politische Kultur des Tribalismus), einer „Subject Political Culture“ (politische Kultur der Untertanen) und einer „Participant Political Culture“ (politische Kultur der Teilnehmenden) unterschieden (Almond/Verba 1963: 16–26; Pelinka 2006: 228).
Die politische Kultur des Tribalismus ist von Gruppen und Personen gekennzeichnet, die durch einen Mangel an politischen Orientierungsmustern sowohl auf kognitiver, affektiver als auch auf evaluativer Ebene charakterisiert sind und dementsprechend keine Beziehung zu dem sie betreffenden politischen System aufweisen. Die Untertanenkultur ist durch passive Orientierungsmuster der jeweiligen Bevölkerung bestimmt, die sich auf Leistungen und Vorschriften des betreffenden politischen Systems beziehen. „Untertanen“ beziehen ihre Orientierungen demnach lediglich auf den Output von „Politik“, ohne auf diesen, durch die Artikulation von entsprechendem Input, Einfluss zu nehmen. Im Rahmen einer Beteiligungskultur existieren schließlich sowohl Input- als auch Outputorientierungen gegenüber einem politischen System. Die „Teilnehmenden“ geben somit ihren Interessen Ausdruck, rekrutieren die politischen Herrschaftsträger aus den eigenen Reihen und versuchen so weit wie möglich auf den Output von Politik Einfluss zu nehmen. (vgl. Berg-Schlosser 1972: 49f; Plasser/Ulram 2002: 18). Diese drei Typen, die im Wesentlichen auf einer Bestimmung der Häufigkeit politsch-kultureller Orientierungen beruhen, und ihre diversen Mischformen, ermöglichen es nach Almond und Verba den „Entwicklungsstand“ politischer Kultur eines bestimmten Landes zu klassifizieren.
Einschränkend ist hier allerdings anzumerken, dass eine mögliche Entwicklung politischer Kultur entlang der beschriebenen Idealtypen nicht zwangsläufig mit der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung einhergehen muss. Obwohl ein gewisser Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Entwicklungsstufen und dem jeweiligen Typ politischer Kultur nicht von der Hand zu weisen ist, kann nicht von einer automatischen Entwicklung politischer Kultur entlang des gesellschaftlichen Fortschritts ausgegangen werden. Sie ist in diesem Sinn kein Überbauphänomen, das zwingend vom gesellschaftlichen Unterbau determiniert ist, sondern kann beispielsweise auch erst die Voraussetzungen für ökonomische und gesellschaftliche Weiterentwicklung darstellen. Gegen einen solchen einfachen Determinismus spricht auch die Existenz politischer Subkulturen, die höchst unterschiedliche Orientierungsmuster aufweisen können. So können sich etwa territoriale Subkulturen innerhalb unterschiedlicher Gliedstaaten oder Regionen aber auch nicht-territoriale Teilkulturen innerhalb bestimmter Bevölkerungsgruppierungen oder Subsysteme des Gesamtsystems stabilisieren, die verschiedene Typen politischer Kultur aufweisen. Während sich in einem Subsystem beispielsweise Orientierungsmuster einer Partizipationskultur etabliert haben, könnten in einem anderen im gleichen Zeitraum jene einer Untertanenkultur dominieren (vgl. Pelinka 2006: 228). Die Existenz politischer Subkulturen läuft daher einer homogenen Vorstellung von politischer Kultur zuwider und erhöht die Komplexität des Konzepts, dessen theoretische Weiterentwicklung hinsichtlich der Nutzbarmachung für die vorliegende Arbeit in weiterer Folge besprochen werden soll. Zunächst wird jedoch auf die am Ursprungskonzept geäußerte Kritik eingegangen.
1.3 Kritik am Ursprungskonzept
Schon bald nach seiner Genese waren das Ursprungskonzept politischer Kultur sowie die empirischen Arbeiten von Almond und Verba mit Kritik konfrontiert, die sich im Wesentlichen in zwei Richtungen untergliedern lässt.
Erstens wurden die normativen Orientierungen des Konzepts bemängelt, das ja eigentlich nur einen empirisch-analytischen Rahmen zur Verfügung stellen sollte. Almond und Verba legten ihrem Ansatz jedoch normative Implikationen einer vorbildlichen idealtypischen politischen Kultur zugrunde, die es zu erreichen beziehungsweise zu erhalten gelte. Diesen Idealtypus sahen sie im angloamerikanischen Gesellschafts- und Demokratiemodell verwirklicht, was sich auch daran äußert, dass in ihrer vergleichenden Studie jene politischen Systeme die besten Wertungen bekamen, welche dieses am ehesten repräsentierten. Dem vordergründig reinen Analyserahmen lagen also gewisse „hidden assumptions“ zugrunde (vgl. Eatwell 1997: 3), welche dem Ursprungskonzept den Vorwurf des ethnozentristischen Bias einbrachten. „Im Typus der ‚civic culture’ ist der normativ-wertende Bias der Arbeit von Almond und Verba festgeschrieben. In ethnozentristischer Art wird die angloamerikanische demokratische Praxis als Maßstab angelegt, werden de facto Großbritannien und die U.S.A. zu Musterdemokratien, an denen die anderen untersuchten Systeme gemessen werden. (Müller 1984: 29). Damit wurde angenommen, dass es weniger und höher entwickelte politische Kulturen und nicht nur unterschiedliche politische Kulturen in unterschiedlichen Ländern gibt. Diese normative Aufladung des Konzepts macht eine wertfreie Analyse politischer Kultur in unterschiedlichen politischen Systemen unmöglich, da sie auch alternative Modelle, wie etwa jenes der Konkordanzdemokratie ausschließt, und ist zu Recht kritisiert worden.
Ein zweiter Kritikpunkt betrifft die Frage, ob es sich bei politischer Kultur tatsächlich, wie von Almond und Verba angenommen, um eine unabhängige Variable, also um einen die politische Systemstabilität beeinflussenden Faktor handelt. Im Ursprungskonzept wird davon ausgegangen, dass politischkulturelle Orientierungen und Einstellungen letztendlich die abhängige Variable der Systemstabilität determinieren und die Kausalität vorwiegend in eine Richtung läuft. Genauso gut könnte aber auch das Gegenteil zutreffen; „it could be argued that it was more sensible to conclude that a civic culture was the product of an extended period of stable and good government and the specific nature of its structures“ (Eatwell 1997: 4). Es kann also davon ausgegangen werden, dass die Kausalpfeile in beide Richtungen weisen, dass politisch-kulturelle Muster also einerseits die Stabilität des politischen Systems beeinflussen, dass dessen Gestalt und Output aber andererseits auch auf die politische Kultur einwirken.
1.4 Weiterentwicklung des Konzepts
Obwohl die politische Kulturforschung seit der Entwicklung des Konzepts gewichtige Ergebnisse einbrachte und insbesondere seit 1989 angesichts des Entstehens neuer Demokratien in Europa eine Art Renaissance erfuhr, kam die Weiterentwicklung des Konzepts der politischen Kultur nur spärlich voran. Insbesondere die Schwammigkeit und Vielschichtigkeit des Konzepts machte es schwierig, es zu einer Theorie zu verdichten und veranlasste Max Kaase schon 1983 zu seiner vielzitierten Kritik mit dem Titel: „Sinn oder Unsinn des Konzepts politische Kultur für die vergleichende Politikforschung. Oder auch: Der Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln“ (Kaase 1983). Der Autor unterzieht das Konzept zwar einer umfassenden Kritik, plädiert aber im Endeffekt für eine vorsichtige Weiterführung des Ansatzes nach der Tradition von Almond und Verba.
Auch noch zwanzig Jahre später weist Berthold Löffler auf die, trotz des großen Reichtums an Erkenntnissen, mangelhafte theoretische Fundierung des Ansatzes hin und spitzt dies treffend zu: „Problematisch am Konzept der politischen Kultur ist, dass es gar kein Konzept der politischen Kultur gibt“ (Löffler 2003: 127). In seinen weiteren Ausführungen stellt der Autor fest, dass vielmehr jede Methode sowie theoretische Ansatz legitim zu sein scheint, sofern er nur Aussicht auf Erkenntnisgewinn verspreche. Er gibt weiter zu Bedenken, dass es ja vielleicht gerade dieses theorielose induktiv-empirische und pragmatischheuristische Herangehen in der politischen Kulturforschung sein könnte, das den Ansatz derart erfolgreich macht und reichhaltige Ergebnisse liefern lässt (vgl. ebd.). Auch hier soll das relativ breite Verständnis und die methodische Offenheit des Konzepts keineswegs als Nachteil begriffen werden, da jede methodische Herangehensweise letztendlich das Potential hat, neue Facetten politischer Kultur eines Landes zutage zu bringen.
In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Weiterentwicklung des Konzepts durch Karl Rohe von Bedeutung, der in seinen Arbeiten für ein umfassendes Verständnis von politischer Kultur eintritt. Anders als Almond und Verba, die Einstellungen und subjektive Orientierungen der Systemmitglieder gegenüber ihrem jeweiligen politischen System in den Mittelpunkt stellen, beinhaltet politische Kultur für Rohe Grundannahmen über die politische Welt, die erst die Basis für Einstellungs- und Orientierungsmuster bilden können. Diese Grundannahmen, die in anderen Worten auch als kognitiv-normative Landkarte der politischen Welt beschrieben werden können, sind dementsprechend auf einer grundlegenderen Ebene als Einstellungen und Orientierungen anzusiedeln und sie bezeichnen Vorstellungen darüber, was Politik eigentlich ist, sein kann oder sein soll (Rohe 2003: 111). Diese normative Komponente politischer Kultur wird nach Rohe durch jene von instrumentell–operativen Ideen ergänzt, die als zu Denk- und Handlungskonventionen verdichtetes Wissen darüber definiert werden können, wie Probleme innerhalb einer Gesellschaft angegangen werden. Solche Konventionen und Traditionen beruhen auf Erfahrungen aus der Vergangenheit, die sich entweder bewährt haben oder aber aufgrund ihrer Unzulänglichkeiten modifiziert wurden. Grundannahmen und instrumentell–operative Ideen oder Handlungskonventionen als Bestandteile politischer Kultur lassen sich schließlich als politische Ordnungsentwürfe begreifen, die zwar nicht, im Gegensatz zu geschriebenen Verfassungen, in voll artikulierter Form vorliegen, die aber sehr wohl durch verschiedene methodische Herangehensweisen rekonstruiert werden können (Rohe 2003: 112). In diesem Kontext wird auch die vergangenheitspolitische Dimension politischer Kultur bewusst: Aktuelle Ordnungsentwürfe politischer Kultur sind immer auch Produkt von historischen Politikerfahrungen, die teilweise nachwirken und am Leben erhalten werden, teilweise aber auch, insbesondere wenn sie der Kongruenz einer aktuellen politischen Kultur zuwiderlaufen, bewusst ausgeklammert werden. Gegenwärtige politsch–kulturelle Ordnungsentwürfe können dementsprechend nicht unter Beiseitelassung ihrer Vorgänger erforscht werden, wenn politische Kultur mehr ist, als aktuelle Einstellungen und Stimmungslagen. Oder anders ausgedrückt: „Wer über politische Kultur redet, kann deshalb über die ‚Großväter’ nicht schweigen, wenn er das Konzept nicht entwerten und seiner theoretischen Möglichkeiten berauben will“ (Rohe 2003: 113).
Obwohl diese theoretischen Überlegungen dem Ursprungskonzept politischer Kultur nicht grundsätzlich zuwiderlaufen, so könnten Almond und Verbas Typen politischer Kultur durchaus als unterschiedliche Ordnungsentwürfe bezeichnet werden, rücken sie ihre vergangenheitspolitische Dimension in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Nach Rohe genügt es demnach nicht, politische Kulturforschung als „Einstellungsforschung“ zu betreiben und auf Basis von Umfragedaten die politische Kultur eines Landes zu charakterisieren, wenngleich diese Methode eine gewisse Vormachtstellung erlangt hat. Die bloße Erhebung von Parteipräferenzen innerhalb einer Gesellschaft wäre also für Aussagen über die politische Kultur eines Landes nicht zielführend und gewänne erst durch die Kenntnis der dahinter liegenden Ordnungsentwürfe an Aussagekraft. Neben ihrer Tendenz lediglich „Momentaufnahmen“ politischer Einstellungen zu dokumentieren, weist Rohe auf eine weitere Unzulänglichkeit von Umfrageforschung hin. Da es sich bei politischer Kultur in weitem Maße um ein soziales und weniger um ein individuelles Phänomen handelt, ist die Abfrage individueller politischer Meinungen mit Vorsicht zu genießen, da sie wohl eher persönliche Sympathien und Antipathien gegenüber polischen Ereignissen, Themen oder Funktionsträgern als dahinter liegende kollektive Ordnungsentwürfe widerspiegeln. Darüber hinaus ist die Tendenz von sozial erwünschten Antworten in Befragungssituationen nicht zu vernachlässigen, die ein verfälschtes Einstellungsbild von Individuen zutage bringen können. Viel aufschlussreicher wäre es zu wissen, welche Tabus in bestimmten politisch-kulturellen Ordnungsentwürfen vorhanden sind, also welche die Themen sind, über die nicht gesprochen wird (vgl. Gerlich 1989: 10ff). Ein weiterer Punkt, der die Grenzen der Umfrageforschung als politische Kulturforschung aufzeigt, ist der Umstand, dass politische Grundannahmen oder der harte Kern politischer Kultur meist aus Selbstverständlichkeiten besteht, die den befragten Personen nicht unbedingt bewusst sind und daher nur schwer abgefragt werden können (vgl. Rohe 2003: 115). Solche „Selbstverständlichkeiten“, also teils halb- und unterbewusste Grundannahmen politischer Kultur werden eher im Vergleich der eigenen politischen Welt mit jener anderer politischer Systeme reflektiert und nicht in Meinungsumfragen geäußert.