Schurkenstraße 7 - Meike Haas - E-Book

Schurkenstraße 7 E-Book

Meike Haas

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In dieser Straße stimmt was nicht! Als Lina neu in die Schurkenstraße zieht, merkt sie gleich, dass hier etwas nicht stimmt. Das reizende Lächeln der Nachbarin ist eigentlich ein fieses Haifischgrinsen, und der angeblich so nette Edi Ebsbeck kann seine Finger beliebig verlängern und zu einem Schlüssel verformen. Wie gut, dass Lina den Jungen Wendelin trifft, der auch schon gemerkt hat, dass die Bewohner etwas im Schilde führen. Zusammen ersinnen die Kinder einen Plan.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 183

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Meike Haas

Schurkenstraße 7

Mit Bildern von Nikolai Renger

Die Stadt Würgelsheim an der Graus sucht für den Leiter der städtischen Kunstsammlung ein Einfamilienhaus mit Garten zum Kauf oder zur Miete

Diese Anzeige stand Mitte Mai in der Würgelsheimer Zeitung. Als Odilo Hurps, Immobilienmakler und mehrfacher Hausbesitzer, sie beim Frühstück las, sprang er vom Stuhl, boxte mit beiden Händen in die Luft, rannte einmal um den Tisch, hüpfte schließlich auf den Stuhl, trommelte sich dort mit den Fäusten auf die Brust und rief »Ja! Bald haben wir alle!«

Und das, obwohl Hurps sich normalerweise sehr bemühte, erwachsen, korrekt und zuverlässig zu wirken. Dafür hatte er extra sämtliche Verhaltensregeln aus sämtlichen Benimm-Büchern studiert. Er stützte niemals die Ellbogen auf den Tisch oder nahm das Messer in die linke Hand. Er trug nur maßgeschneiderte Anzüge, bei denen die Krawatte stets zum Einstecktüchlein passte, und bemühte sich, dass auch sein Gesicht immer einen freundlichen und vertrauenswürdigen Ausdruck zeigte.

Das klappte allerdings noch nicht so gut. Oft vergaß er, die Mundwinkel nach oben zu ziehen, und anstelle des verbindlichen Lächelns waren grimmig zusammengekniffene Lippen zu sehen. Manchmal rutschten ihm sogar Redewendungen heraus, die hier nicht wiederholt werden sollen.

Als Hurps an diesem Morgen etwa eine Minute in Siegerpose auf dem Stuhl verharrt hatte, dämmerte ihm, dass das gerade schon wieder ein schrecklich schlechtes Benehmen gewesen war. Zum Glück hatte ihn niemand beobachtet! Er kletterte schnell herunter, klopfte sich Hosen und Ärmel ab, als hätte er sich schmutzig gemacht, nahm die Zeitung zur Hand und steckte seine Nase wieder hinein.

Er las aber nicht. Nein, er schmiedete einen Plan.

Einen finsteren Plan.

Herr Hurps schmiedete oft finstere Pläne. Das war auch der Grund, warum er sich so bemühte, nach außen freundlich und rechtschaffen zu wirken. Niemand sollte auf die Idee kommen, was er in Wirklichkeit für Gedanken hatte.

Niemand.

Mit Ausnahme seiner Nachbarn natürlich. Seiner Nachbarn aus der Schurkenstraße…

Aribert Ubobom, 52, Gewichtheber, schüttelt gern die Hände seiner Fans.

Odilo Hurps, 42, Immobilienmakler, schmiedet schlimme Schurkenpläne.

Dr. Dietmar Kröchling, 57, Allgemeinarzt, ist vielseitig desinteressiert.

Edi Ebsbeck, 31, Pianist und Vanilla, 25, Arzthelferin. Er staunt oft über die eigene Feinfühligkeit. Sie antwortet mit Sätzen, die bedeutsam klingen (es aber nicht sind).

Helma und Erwin Geifermann, beide 68, Hausfrau und Rentner. Sie poliert, bügelt und fahndet nach Staubkörnern. Er tut, was sie sagt.

Madame Pompü, redet nie über ihr Alter, aber sonst sehr viel

Die Nachbarin

»Ich will aber nicht!« So tönte es am ersten Mittwoch der Sommerferien durch eine schmale Straße in einem hübschen Vorort von Hannover. Die Stimme drang aus dem Innern eines blauen Kleinwagens, der sich gerade in Bewegung setzte. Er zuckelte einem großen Umzugslaster hinterher, und zwar in Richtung Autobahn. »Keiner hat mich gefragt!«

Die Stimme gehörte Lina Schmidt. Lina war zehn Jahre alt, hatte fast genau 17 Sommersprossen auf der Nase, trug die dunkelblonden Haare in einem Pferdeschwanz und saß auf der Rückbank.

Halt, das war es eben: Lina saß nicht, sie war festgeklemmt. Eingepackt zwischen dem Rest-Mobiliar, das nicht mehr in den großen Umzugslaster gepasst hatte. Von rechts drückte eine Pappkiste, links schob sich ein Stuhlbein in ihre Seite. Auf Linas Schoß lag ein Sofapolster, ein kleiner Teppich, ein Beutel mit einzelnen Socken und schließlich– direkt vor ihrem Gesicht– ihre Bettdecke mit dem Sternenmuster.

Sie fühlte sich wie ein gefesselter Schwerverbrecher. Das lag nicht nur am Festgeklemmtsein. Viel schlimmer war, dass sie gegen ihren Willen in dieses Auto verfrachtet worden war. Dass sie in ein neues Haus gebracht wurde. Wie in ein Gefängnis. Das fand Lina unglaublich gemein!

Dabei hatte sie nichts verbrochen. Gar nichts. Was konnte denn sie dafür, dass ihr Vater eine neue Stelle angenommen hatte? Und dann noch in einer Stadt mit dem furchtbaren Namen Würgelsheim an der Graus?

»Papa hätte doch auch daheim am Museum bleiben können!«, rief sie nach vorne.

»Lina. In Würgelsheim wird er Direktor!«, antwortete die blonde Frau auf dem Beifahrersitz mit säuselnd sanfter Stimme. Sie hieß Katja Schmidt und war Linas Mutter. Katja sprach oft säuselnd und sanft.

Lina mochte das nicht. Sie hatte längst herausgefunden, dass diese sanfte Stimme nur eine Tarnung war, um möglichst unauffällig unangenehme Befehle zu geben.

»Na und?«

»Du musst das verstehen: Für ihn ist das eine einmalige Chance.«

»Für mich ist es eine einmalige Katastrophe!«

Lina drehte ihren Kopf zur Seite und wollte sauer aus dem Fenster schauen. Sie sah aber nur ein mittelbraunes Quadrat aus Holz. Das war die Unterseite des Hockers, dessen Bein ihr in die Seite stach. Auf der anderen Seite sah sie ein hellbraunes Rechteck aus Pappe. Das war der Umzugskarton.

Also schloss Lina die Augen und war im Dunkeln sauer.

Der Umzugslaster und das kleine blaue Auto tuckerten unterdessen weiter. Sie fuhren auf die Autobahn hinaufund 219 Kilometer später verließen sie sie wieder. Sie erreichten Würgelsheim, fuhren auf der Ringstraße um die Altstadt herum und näherten sich der Brücke über die Graus. Kurz danach wurde Lina seitlich gegen die Pappkiste gepresst. Offenbar hatte ihr Vater das Auto in eine Kurve gelenkt.

Sie öffnete die Augen und knurrte leise in die Sternendecke hinein: »Wo sind wir?«

»Schon fast da! Wir biegen gerade in die Schurkenstraße ein.«

»In die… was?« Es war das erste Mal, dass Lina den Namen hörte.

»In die Schurkenstraße.«

»Schurkenstraße?!«

»Genau: In die Schurkenstraße«, bestätigte ihre Mutter.

»Was ist denn das für ein Gruselname! Da will ja wohl keiner wohnen! Das ist schauderhaft und unheimlich und…!«

»Ach Lina! Schurken hat doch nichts mit Schurken im Sinne von Ganoven zu tun! Nein. Karl Friedrich Schurken war ein ganz berühmter Arzt und Wissenschaftler im 18.Jahrhundert.« Katja kannte bei fast jedem Straßennamen den dazugehörigen Menschen und seine Bedeutung, denn sie war nicht nur Linas Mutter, sondern auch Dozentin für Geschichte. Kurz blitzte in Lina die Frage auf, wo denn ihre Mutter jetzt arbeiten würde, wenn sie nicht mehr an der Universität in Hannover unterrichtete? Aber dann fand sie das sehr nebensächlich.

»Egal! Ich will nicht in die Schu…«

Zu spät. Wenn Linas Mutter einmal beim Thema Geschichte war, hörte sie so schnell nicht wieder auf: »Meines Wissens hat er bahnbrechende Dinge entwickelt. Ich glaube im Bereich der beweglichen Prothesen. Das sind künstliche Körperteile, weißt du? Naja, letztlich ist er dann im Kerker gelandet. Zu viel Erfolg ruft die Neider herbei. Das war damals schon so.«

Lina interessierte die Schurken-Geschichte nicht.

»Aber…«, begann sie noch einmal. Doch genau in diesem Moment rutschte sie nach vorne und musste in die Decke beißen. Ihr Vater hatte gebremst. Der Wagen hielt vor ihrem neuen Haus.

Vor der Schurkenstraße Nummer7.

Die Eltern stiegen aus. Lina blieb sitzen. Aus Protest.

Von draußen hörte sie die Stimme ihrer Mutter: »Hübsch, oder?«, und dann ein zufriedenes Grummeln. Das kam von ihrem Vater. Er redete nie viel (außer wenn er von seiner Arbeit erzählte), sondern beteiligte sich mit Seufz- und Räusperlauten an den Unterhaltungen der Familie. Linas Mutter war so daran gewöhnt, dass sie darauf antwortete wie auf einen normalen Satz: »Ja, find ich auch. Richtig schön!«

Lina schob die Sternendecke auf den frei gewordenen Beifahrersitz und zwängte sich selbst zwischen den Vordersitzen hindurch. Über den Fahrersitz kletterte sie ins Freie. Sie ging aber nicht zu ihren Eltern, die noch immer Hand in Hand in den Anblick des Hauses versunken waren. Sie schaute auch nicht den Möbelpackern zu, die jetzt gerade die Klappe des Umzugslasters öffneten, sondern stellte sich in die Straßenmitte und drehte den Kopf in alle Richtungen.

Sie würde schon etwas finden, das weder hübsch noch schön war! Etwas Schauderhaftes und Gruseliges. Etwas, das einen Rück-Umzug nach Hannover unbedingt notwendig machte. Und zwar auf der Stelle!

Links sah sie drei Häuser, rechts vier. Der Himmel spannte sich weit und blau über den Dächern. In den Gärten standen alte Bäume. Vögel sangen, Schmetterlinge flatterten und aus dem geöffneten Fenster der Nummer4 drang herrliche Klaviermusik.

Eigentlich gab es nichts zu meckern. Nichts Bestimmtes jedenfalls. Oder? Da raschelte etwas in der Hecke vor der Nummer4. Ein Tier?

Auf jeden Fall huschte da etwas hinter den Zweigen entlang. Was denn? Zwei Beine… genau: Menschenbeine in Pluderhosen! Und darüber? Kein Oberkörper? Sie kniff die Augen zusammen, aber da war die Gestalt schon in den Tiefen des großen Gartens verschwunden. Wahrscheinlich war es jemand mit einer Jacke in Tarngrün gewesen, dachte Lina.

Aber jetzt! Aus Haus Nummer4 trat eine Frau. Sie war seltsam! Ihre Haare schwebten, ja sie stiegen sogar langsam in die Höhe und bildeten wolkenhafte Muster.

Ach nein. Das war nur der Rauch der kleinen Pfeife, an der die Frau jetzt zog. Sie blies eine weitere Wolke in die Luft, schaute nicht zu Lina hinüber, sondern verschwand in die andere Richtung.

Gab es sonst noch etwas? Das Haus direkt nebenan war sehr, sehr sauber und ordentlich, der Rasen millimeterkurz gemäht und in den Blumenbeeten standen die Tulpen wie Soldaten beim Appell. Linas Blick wanderte weiter zum Haus schräg gegenüber. Ein ultramoderner Kasten aus Stahl und Glas, bei dem man in das spärlich möblierte Wohnzimmer hinein- und auf der anderen Seite wieder hinausschauen konnte.

»…ein Mädchen, appetitlich, appetitlich…«, hörte sie da eine Stimme hinter sich. Eine tiefe Stimme. Ein Mann, dachte Lina, und stellte sich automatisch einen langen Bart und düstere Augen vor.

»…wippender blonder Pferdeschwanz, etwas dünne Ärmchen. Neue Nachbarn, na mal sehen, wie lange die es aushalten. Hahaha…« Das Lachen klang wie ein gurgelnder Abfluss. Lina lief es kalt den Rücken herunter. Sie drehte sich um.

Auf der anderen Straßenseite sah sie ein niedriges Haus mit hexenhäuschenhaftem Fachwerk. Aus dem Fenster im Erdgeschoss schaute eine Frau. Hatte sie gesprochen?

Während Lina noch zweifelte, öffnete die Frau schon wieder ihren Mund und fragte mit derselben tiefen Männerstimme: »Und du gehörst dazu? Die Vorigen hatten auch ein Kind. War aber, glaube ich, ein Junge.«

Die Frau hatte sich ein rotsamtenes Polster aufs Fensterbrett gelegt und darauf breitete sich ihr Oberkörper so weich und füllig aus wie Schlagsahne auf einem Kuchen. Die Haare steckten in einem violetten Turban, der Mund war dunkelrot angemalt. Nase, Wangen und Kinn wölbten sich wie Kissen darum herum. Und die Augen schauten aus blauen Lidschattenfeldern aufmerksam– nein: neugierig– her.

Lina sagte erst mal nichts.

»Schüchtern? Na, das war der Vorige gar nicht. Der redete immer wie ein neunmalkluger Professor. Hatte etwa dein Alter. Komm doch mal her.« Sie hob ihre Hand. Mindestens zwei Ringe pro Finger steckten daran und der Zeigefinger machte lockende Bewegungen.

Lina wollte eigentlich nicht. Aber aus irgendeinem Grund machte sie trotzdem ein paar Schritte auf die seltsame Frau zu.

»Welcher Vorige?«, fragte sie und hörte, wie ihre Stimme zitterte.

»Na der Sohn der Familie, die zuletzt drin gewohnt hat. Wie hießen sie noch mal? Zöttel… Zockel… So ähnlich wie Zotteltier.« Beim Überlegen wölbte die Frau ihre rot geschminkten Lippen vor und zurück, sodass es aussah, als kämpften zwei dicke Würmer miteinander.

»Und wo sind die Zotteltiers jetzt?« Linas Stimme klang schon fester.

Die Frau lachte tief und gurgelnd. »Woher soll ich das wissen? Weg, davon. Hat ja noch nie jemand besonders lange in der Nummer sieben gewohnt.« Sie schnaubte und Lina wäre nicht überrascht gewesen, wenn eine Rauchwolke aus den Nüstern dieser Frau gestoben wäre.

»Warum?«

Wieder lachte die Frau. »Warum? Warum? Vielleicht hat der Ubobom sie aufgefressen, der dicke Knilch, haha…« Sie musste sich wegen ihres eigenen Gurgel-Lachens unterbrechen.

Was war ein Ubobom? Sollte Lina danach fragen? Und nach den anderen Leuten, die in der Nummer sieben gewohnt hatten? Sie schluckte und machte noch einen Schritt auf das Fenster zu.

»Was ist…« Lina überprüfte noch mal ihren Satz, dann entschloss sie sich: »Was ist ein Ubobom?«

Jetzt verschluckte sich die Frau beinahe an ihrem Lachen. In ihren Augen glitzerte es. So, als mache sie sich über Lina lustig. War das mit dem Ubobom ein Scherz gewesen?

»Ach Lina, du hast schon unsere Nachbarin kennengelernt! Das ist ja nett«, zerschnitt die helle, freundliche Stimme von Linas Mutter das Gespräch.

Auf einmal fühlte sich nichts mehr mulmig an. Es war, als hätte jemand in einen Luftballon gepikst. Oder das Licht angeknipst.

Linas Mutter streckte der Turban-Frau ihre Hand entgegen. »Schmidt«, sagte sie. »Familie Schmidt, wir sind die neuen Nachbarn. Es freut mich, Sie kennenzulernen.«

Die Frau lächelte zurück und ergriff die Hand. »Pompü mein Name. Madame Pompü.«

»Kommen Sie aus Frankreich?«

Madame Pompü lachte auf, wiegte stolz ihren Kopf hin und her und machte gleichzeitig eine abwehrende Handbewegung. Die verschiedenfarbigen Juwelen an ihren Fingern blitzten. »Nein, nein, nein, nicht gebürtig! Aber mein Gatte, genauer gesagt mein Gatte Nummer4, Gott hab ihn selig, er war aus Frankreich…«

»Interessant!«, bekundete Linas Mutter.

Madame Pompüs Augen leuchteten auf. Sie beugte sich weiter vor. »Jaja! Sehr interessant! Wissen Sie, ich habe schon sämtliche Länder dieser Welt bereist. Ich könnte Ihnen Sachen erzählen, das glauben Sie nicht.« Sie lächelte fein und holte dann tief Luft. »Zu meinem Bekanntenkreis gehörten ja auch viele Berühmtheiten und einmal…«

Das Gesicht von Linas Mutter verkrampfte sich und ihre Stimme klang plötzlich angestrengt. »Sicher, sicher, Sie haben viel zu erzählen.«

»…einmal, als ich in Paris…«

Linas Mutter wich einen Schritt zurück. »Ich glaube, wir müssen jetzt die Möbel ins Haus tragen.«

».. damals war das ja noch etwas ganz anderes. Die Lichter, die Musik, das Leben der Bohème…«

Katja packte Lina an der Hand. »Schön, dass wir so nette Nachbarn haben. Ich freue mich schon auf Ihre Geschichten.« Und– zack!– drehte sie sich um und zog Lina mit sich.

»Puuh! Die redet aber viel«, zischte sie leise.

»Mama, sie hat gesagt, dass…«

»Hör einfach nicht drauf.« Katja zog fester.

Lina stolperte hinterher und schaute dabei noch einmal zurück.

Madame Pompü zwinkerte ihr mit geheimnisvollem Lächeln zu. Dann schoben sich ihre Lippen auseinander. In den Mundwinkeln blitzte etwas auf, rechts und links. Zackig, spitz und gespensterweiß. Zwei Eckzähne wie von einem Vampir.

Also doch!

»Mama, die Frau…«

»Was soll mit ihr sein?« Katja klang gereizt.

»Sie hat…«

»Sie hat was? Teufelshörner? Einen Pferdehuf? Lina, diese Frau hat lediglich einen zu großen Mitteilungsdrang.«

Lina sah zurück. Die Frau schloss gerade das Fenster. Durch den kleiner werdenden Spalt lächelte sie Lina mit geschlossenem Mund zu. Höhnisch. So, als wolle sie sagen: »Niemand wird dir glauben!«

Der flüsternde Schrank

Der Rückumzugs-Plan war ganz schön danebengegangen. Das fand jedenfalls Lina, als sie später in ihrem neuen Zimmer kniete und Kleider in den Einbauschrank räumen musste. Da hatte sie etwas Gruseliges entdeckt, aber von einer Rückkehr nach Hannover war keine Rede. Ihre Eltern wollten ja nicht mal hören, was an Madame Pompü so furchterregend und schauderhaft war. Das einzige Ergebnis war, dass sie selbst jetzt so ein mulmiges Gefühl hatte!

Wütend pfefferte sie die Unterhosen ins mittlere Fach.

Sie brauchte einen neuen Plan. Und zwar schnell. Bevor diese schauderhafte Madame… Ja, was eigentlich? Bevor diese Grusellady sie aufgefuttert hatte?

Lina stieß ein böses Lachen aus, stopfte sämtliche Socken, Unterhemden und T-Shirts oben auf die Unterhöschen drauf und knallte die Schranktür zu. Fertig. Dann setzte sie sich mit verschränkten Armen auf den Boden und war sich sicher, dass es nicht mehr schlimmer kommen konnte.

Das war falsch. Es passierten noch eine ganze Reihe blöder Dinge an diesem Nachmittag.

Erst klemmte sich Lina den Finger ein, als sie versuchte, die zweite Schranktüre zu öffnen (anstelle eines Griffs hatte sie ein Loch, in das man seinen Finger stecken konnte, um die Tür aufzuziehen. Als Lina genau das versuchte, zwickte irgendetwas ganz schrecklich).

Dann musste sie zweiundzwanzigeinhalb Minuten vor dem Klo warten, weil die Möbelpacker mit dem Klavier im Gang feststeckten (und es war dringend!) und zu guter Letzt gab es noch ein schreckliches Abendessen (Käsebrote).

Man kann also gut verstehen, dass Lina an diesem Abend mit sehr schlechter Laune ins Bett ging. Als ihre Mutter zum Gute-Nacht-Sagen kam, grummelte Lina nur vor sich hin. Katja, die Grummeln ja von ihrem Mann gewohnt war, antwortete: »Genau. Das wird schon.«

»Es wird überhaupt nicht! Mir gefällt es hier nicht. Gibt es hier überhaupt andere Kinder?«

»Ach so, das ist es.« Katja seufzte verständnisvoll und setzte sich auf die Bettkante. »Ich weiß nicht, aber wir können Herrn Hurps fragen.«

»Herrn Hurps?«

»Den Mann, der uns das Haus verkauft hat. Er wohnt auch hier in der Straße.«

Ihre Mutter gab ihr einen Kuss, als sei jetzt alles geklärt, und ging. Lina drückte ihr Sternenkissen zu einem Paket zusammen und schob es sich unter die Wange. Ein neuer Plan musste her. Ein richtiger. Einer, der für Erwachsene taugte. Aber was bewegte Erwachsene dazu, umzuziehen? Dass es hier gruselig war, bemerkten sie ja offensichtlich nicht. Vielleicht…

Grrs.

…was war das für ein Geräusch?

Grschschrrrgrschrrr.

Das hörte sich an, als ob Finger über ein Holzbrett streiften.

Klippklack.

Und jetzt klapperte auch noch eine Schranktür. Lina setzte sich im Bett auf. Mondlicht fiel durchs Fenster und sie sah die Umrisse der Möbel. War da eine Maus? In dem Einbauschrank unter der Dachschräge?

Es scharrte lauter. Aber der Schrank war doch komplett leer gewesen, als Lina ihre Kleider eingeräumt hatte!

Wieder klapperte es. Das war nicht die große Schranktür, sondern die kleinere daneben. Die mit dem Loch, die sich nicht hatte öffnen lassen!

Sie klapperte nicht nur, sie wackelte auch. Das Klappern wurde stärker. Das Wackeln auch. Und jetzt– jetzt schwang sie auf!

Lina wagte nicht, Luft zu holen. Grau und schattenhaft sah sie die geöffnete Tür, die noch immer ein wenig hin- und herpendelte. Dahinter lag nur Dunkelheit. Schwarz. Dichtes, undurchdringliches Schwarz.

Jetzt bewegte sich etwas.

»Huch!«, schrie Lina.

»Pssst!«, kam es aus dem Schrank.

Lina schluckte.

»Pssst, du brauchst keine Angst zu haben. Aber rufe niemanden. Bitte!«

Die flüsternde Stimme klang nett. Nett und ein kleines bisschen heiser. Wie ein freundlicher Junge mit leichten Halsschmerzen. Also: Außerhalb des Schranks hätte Lina auf einen Jungen getippt. Aber so?

Wer bist du?, wollte Lina fragen. Aber ihre Kehle war zu trocken. Sie schluckte. Dann versuchte sie es noch mal: »Wwww… weee…«.

»Ich bin Wendelin. Ist Hurps weg?«

»Hurps? Wieso Hurps?«

Ein Räuspern ertönte und danach klang die Stimme nicht mehr heiser, sondern nur noch nett. »Aha. Du findest die Frage komisch. Daraus schließe ich, dass er weg ist. Gut. Dann komme ich jetzt. Erschrick nicht.«

Lina spähte gebannt zur Schranktür. Ihre Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt, sodass sie erkennen konnte, wie sich aus dem dunklen Hohlraum zwei Hände schoben. Sie umfassten den Türrahmen. Jetzt tauchte ein Kopf auf, ein Hals, ein Oberkörper… ein ganzer Junge!

Er stieg aus und kam auf Lina zu. Er war echt. Lina erkannte eine Stupsnase, einen breiten Mund und recht große Segelohren. Und jetzt, wo er näher kam, sah sie auch ein Blitzen in den Augen. Ein freundlich-freches Blitzen. Ein wohliges Gefühl stieg in Lina auf.

»Also«, unterbrach der Junge ihren Gedankengang. »Frage Nr.1: Bist du hier mit deinen Eltern eingezogen?«

»Was?«

»Ob du hier neu eingezogen bist?«, wiederholte er streng.

»Ja, klar.«

Er war jetzt bei ihr angekommen und blieb vor dem Bett stehen. »Gut. Und wer hat euch das Haus verkauft?«

Lina sah den Jungen verständnislos an. »Herr Hurps.«

Der Junge legte seine rechte Hand ans Kinn und rieb sich mit dem Zeigefinger über den Mund. Das sah aus wie bei einem Lehrer. »Aha. Das habe ich also richtig verstanden. Dann stimmt vermutlich meine Theorie B1…«

»Wovon redest du? Wer bist du überhaupt? Warum…«

»Hab ich doch schon gesagt. Wendelin. Wendelin Zötteler. Hörst du immer so schlecht zu?«

Zötteler! Lina bekam eine Gänsehaut. Das war doch der Junge, von dem diese Madame Pompadour– oder wie auch immer sie hieß– erzählt hatte. »Nein, aber…«

»Gut. Dann glaub ich das mal. Ich will schließlich mit dir zusammenarbeiten. Und eine Partnerin, die nicht gut zuhört, kann ich nicht gebrauchen.«

Lina fand, dass er ein bisschen viel bestimmen wollte. »Zusammenarbeiten? Da musst du mich doch erst einmal fragen!«

»Mach mal Platz«, antwortete er und schob die Decke am Fußende zur Seite.

»Hey!«

Wendelin verdrehte ungeduldig die Augen, so, als wolle er sagen: Wir haben hier wirklich Wichtigeres zu tun, als auf Höflichkeitsregeln zu achten. Also zog Lina die Knie an und Wendelin setzte sich aufs Bett. »Es ist so: Hier in dieser Straße stimmt etwas nicht!«

»Das hab ich auch schon gemerkt«, sagte Lina pampig.

Wendelin schien den bockigen Unterton nicht zu bemerken. Er setzte sich aufs Bett, beugte sich noch näher zu Lina und sah sie eindringlich an.

»Einige der Nachbarn beteiligen sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an kriminellen Handlungen.«

»Wie bitte?«

Er wollte noch näher kommen und stieß dabei mit dem Ellbogen an die Nachttischlampe. Sie rutschte über die Kante und fiel zu Boden.

Ein lautes Scheppern hallte durch das Haus. Erschrocken sahen sich Lina und Wendelin an.

Es war jetzt still. Viel stiller als vor dem Gerumpel, fand Lina. Sie biss sich auf die Lippen. Dann ertönte im Erdgeschoss ein Klacken. Die Schlafzimmertür? Beide lauschten.

»Lina?« Das war eindeutig Katja.

»Sag nichts!«, zischte Wendelin.

Wieder so ein Befehl!, dachte Lina und hatte gute Lust, einfach nicht zu folgen. Dann würde dieser besserwisserische Wendelin ja sehen, was passierte!

»Alles in Ordnung?«, kam es von unten.

»Bitte!« Wendelin klang jetzt nicht mehr besserwisserisch, sondern ängstlich.

Lina zögerte. Wenn sie ihren Eltern Bescheid sagte, würden sie wahrscheinlich dafür sorgen, dass dieser Wendelin dorthin kam, wo er eigentlich wohnte. Und das war ganz bestimmt nicht hier. Dann wäre sie wieder allein mit all den gruseligen Dingen, die sie keinem Erwachsenen erzählen konnte, weil kein Erwachsener ihr glaubte.

»Ich sage nichts– aber du hörst auf mit deinen Befehlen!«, flüsterte sie Wendelin zu.

Er nickte.

»Alles in Ordnung!«, rief Lina laut. »War nur die Nachttischlampe.«

Wendelin atmete hörbar auf.

»Dann schlaf schön«, rief Katja und die Tür unten wurde wieder zugezogen. Na also.