Schürt das Feuer - Dagmar Frederic - E-Book

Schürt das Feuer E-Book

Dagmar Frederic

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Beschreibung

In ihren Erinnerungen berichtet Dagmar Frederic von ihrer turbulenten Kindheit zwischen Kneipe, Zoo und Bühnenauftritten, über die prägende Kraft der Familie, über das Alter, dessen Jahre nur nach Arbeit zählen, über die Welt der großen Shows und ihre Kollegen, über Höhen und Tiefen und Enttäuschungen, über die Kraft der Harmonie aus dem Kreis der Lieben um sie, das Glück mit Tochter Maxie und die Erfüllung mit dem fünften Ehemann.

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Dagmar Frederic

SCHÜRT DAS FEUER

Erinnerungen und Gedanken

Schwarzkopf & Schwarzkopf

Für meine Liebsten:

Maxie und Klaus

VOR-WORTE

Die einzige wirkliche Katastrophe für mich ist, dass die Zeit so rennt. Nicht weil ich jetzt 60 werde – mein Gott, ich wäre nicht jünger, wenn’s mir nicht gefiele! Nein, es ist zehn Jahre her, als ich mich das letzte Mal darauf einließ, so komplex, so tief in mein Leben einzutauchen. Das ist nicht immer ein Vergnügen – nee nee –, man stößt auch geballt auf Fehler, auf Versäumnisse. Es ist aber auf der anderen Seite auch eine solche Freude und ein Staunen, wer mir alles begegnet ist, was ich alles erleben durfte! Eigentlich ist es fast zu viel für ein Leben, bis hierher steht unterm Strich nur Dankbarkeit. (Sicher werden meine Erinnerungen nicht bei Elke Heidenreich landen, aber das ist nicht wichtig.)

Vielleicht kann ja der eine oder der andere auftanken, sich Mut holen in der Erkenntnis: Auch bei mir ist so vieles nicht glatt gegangen, wenn es auch für manche so aussehen mag …

Nach einem Jahr intensiver Zusammenarbeit mit dem Kulturhaus in Ludwigsfelde nimmt mich der Technische Direktor in den Arm und sagt: »Danke für alles, mach’s gut. Dir wünsche ich, dass alle Dreißigjährigen so aussehen wie du!« – Was kann es für eine bessere Motivation geben, sich nicht nur in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft zu stürzen.

WIE ALLES BEGANN. DER SCHULZSCHE WIEDERAUFBAU:

EIN KIND, EINE GASTSTÄTTE UND NOCH EIN KIND

1945, vor sechzig Jahren. Fünf Tage vor meiner Geburt kamen die Russen nach Eberswalde. Wir waren im Keller. Ich wurde bei Fliegeralarm geboren. Meine Mutti war bei der Entbindung gerissen; der Arzt spritzte ihr versehentlich statt Narkosemittel Wasser und nähte sie bei vollem Bewusstsein. Er sagte: »Schrei hier nicht so rum, andere sterben!« Dies waren meine ersten Minuten auf dieser Welt. Aber ich bin ein Sonntagskind.

Die Russen, die Sieger, haben vergewaltigt, haben die Frauen fast umgebracht. Meine Mutti ist nur verschont geblieben, weil sie ihr frisches Baby vor sich gehalten hat und ein Offizier sich schützend vor sie stellte. Das hat sie mir ganz oft erzählt.

Ich habe eigentlich nur überlebt – vom 45er Jahrgang gibt es nicht so viele –, weil unser Bäcker in der Straße ein Schaf hatte. Pro Woche hat er uns eine große Tasse Milch gegeben. Durch die Schrecken bei der Geburt, während des Bombenangriffs und das Nähen ohne Narkose hatte meine Mutti selbst keine Milch. Sie hat die Schafsmilch so verdünnt, dass es für die ganze Woche reichte. Später, in Talkshows, habe ich aus dem Schaf eine Ziege gemacht – von wegen Meckern, das klingt besser, aber so richtig zickig bin ich gar nicht!?

Ich bin gezeugt worden, als mein Vater schwer verletzt von der Front auf Genesungsurlaub in Thüringen war. Meine Mami hat ihn dort besucht, voller Angst und Liebe ist sie von Gera zu Fuß nach Ohrdruf gelaufen. Und so, nicht ganz auf der Höhe, aber glücklich, dass sie einander wieder hatten, bin ich entstanden! – Ich habe mich manches Mal gefragt: Was wäre aus mir geworden, wenn mein Vater seine ganze Kraft gehabt hätte?

Was er im Krieg erlebt hat, muss schrecklich gewesen sein. Als Verletzter war er in der letzten Maschine, die den Stalingradkessel verließ. In diesem Fall hat ihm seine Schussverletzung das Leben gerettet.

Mit siebzehn war er freiwillig in den Krieg gezogen. Als meine Eltern im September 1944 heirateten, war er schon Leutnant. 1945, alles war eigentlich vorbei, alle waren in Eberswalde bei Bekannten im Keller, wollte er die Uniform nicht ausziehen. Als Brandbomben auf das Haus fielen, ist er hinausgelaufen zum Löschen. Da hat der Hausmeister meines Großvaters ihn erkannt und verpfiffen: »Der Schulz, der sitzt da unten im Luftschutzkeller in seiner Uniform!« Man kann von Glück reden, dass er nicht gleich standrechtlich erschossen wurde.

Sie nahmen ihn mit. Für vier Jahre kam er in russische Gefangenschaft, er hatte keine Chance, sich zu verabschieden. Wir haben erst ein halbes Jahr später erfahren, dass er überhaupt noch lebt. –

Mein Großvater hatte vor dem Krieg in Eberswalde, fünf Kilometer vom Zentrum entfernt, eine Gaststätte, mit vierundzwanzig Kellnern an Feiertagen. Dort spielten die großen Orchester wie das von Otto Kermbach. Als Anziehungspunkt für seine Gäste und als Hobby hatte er neben dem Lokal ein Wildgehege angelegt. Der Zug nach Stralsund hielt dort. Das Postauto aus Eberswalde brachte alle halbe Stunde neue Gäste. Man kann heute noch die Leute da fragen – Bruno Schulz war wer in Eberswalde. Seine Angestellten haben später noch geschwärmt, welch gutes Geld sie bei ihm für harte Arbeit verdient hatten. Meine Großeltern haben selbst rund um die Uhr gearbeitet; meinen Vater, geboren 1923, gaben sie zur Ausbildung und zur Beaufsichtigung in ein Internat, weil sie für ihn nicht genügend Zeit aufbringen konnten.

Die Nazis, also die »eigenen« Leute, haben, wenige Tage, bevor die Russen kamen, das Vaterhaus der Schulzens niedergebrannt.

Meine Großmutter Martha hatte in den letzten Kriegstagen ihre Heiligtümer – Schmuck und Porzellan und vieles mehr – mit ihren russischen und polnischen Fremdarbeiterinnen eingebuddelt. Da hatte sie den Falschen vertraut: Als Omi eine Woche später zum Versteck kam, war alles geklaut! Nun waren sie plötzlich die Ärmsten der Armen.

Mein Großvater, ebenfalls im Krieg, war dann zu allem Unglück auch noch eine ganze Zeit lang verschollen. Allein, ohne die Männer, haben meine Großmutter und meine Mutti – sie war Apothekenhelferin, Mutter und Ehefrau, nicht wissend, ob ihr Mann wiederkommt – in Spechthausen (nicht weit von Eberswalde) eine Gaststätte eröffnet.

Oma Martel war eine clevere Frau mit einer ungewöhnlichen Ausstrahlung. Sie hat, wie man so schön sagt, aus Sch… Bonbon gemacht. Hat immer für die ganze Familie gesorgt, sich aber auch intensiv um das Wohlbefinden ihrer Gäste gekümmert. Opa Bruno kam nach einem halben Jahr wieder, dann nach zwei Jahren Gerry, der Bruder meiner Mutti, er war in englischer Gefangenschaft. Ich dachte lange, Gerry sei mein Vater. Er brachte mir aus Afrika winzige Lederschuhchen mit, die ich lange gehütet habe.

Als dann 1949 mein Vater nach Hause kam, hatte er ein Problem. Mein Onkel konnte nichts dafür, dass ich ihn affenartig liebte, und mein Vati stand da: Sein Kind wollte nichts von ihm wissen. Mit ausgeschlagenen Zähnen, weggeschossenem Mittelfinger und einem schweren Rückenleiden, so kam er aus der Gefangenschaft. Er sah schrecklich aus. Ich war knapp vier Jahre alt, war eine wunderbare Zeit meines Lebens Mittelpunkt der Familie. Und plötzlich steht da ein Fremder, der behauptet, ich sei seine Tochter. Und die war eine, die schon ziemlich genau wusste, was sie wollte und was nicht! Das muss für ihn schlimmer gewesen sein als für mich. Meine Mutti war sicher sehr unglücklich in der Zeit – was aber bald ein Ende haben sollte: Am 11. August 1950 wurde mein Bruder Joachim geboren. Da war also plötzlich das Baby, das für alle ein großes Glück bedeutete – nur nicht für mich. Die Freunde meiner Eltern, drei, vier Familien – der Förster im Ort, mein Onkel mit meiner Tante, wir – bekamen zur gleichen Zeit Kinder; ich war die Älteste.

Wir hatten lange Riesenschwierigkeiten miteinander, mein Vater und ich. Mit uns hat es erst funktioniert, als ich schon denken konnte. Er sagte, so ab vierzehn sei es erträglich mit uns geworden. Viel später erst habe ich gelernt, wie ungerecht Kinder sein können. Immer wenn es nicht nach meinem Kopf ging, sagte ich: »Du bist nicht mein Vater.« Bis dahin hatten wir es uns sehr schwer gemacht. Später wurden wir ein Herz und eine Seele. – Aus der Zeit habe ich die Sucht, über alles zu reden.

Als für meinen Vater das Leben langsam wieder begann, machte er sich in der Gaststätte nützlich. Später war er bei der Transportpolizei. Das dauerte nicht lange, denn von Uniformen hatte er endgültig die Nase voll. Vati arbeitete als Nachtwächter, als Vertreter für Schuhe, als Holzfäller. Mit seiner kaufmännischen Ausbildung ließ sich zunächst nichts anfangen.

MEINE GROSSFAMILIE

Die Großeltern Weiß und die Großeltern Schulz, Onkel Gerry mit Tante Eka und zwei Töchtern, meine Eltern, mein Bruder Achim und ich – wir lebten alle zusammen in Spechthausen und waren immer füreinander da.

Meine Mutti, eine geborene Weiß, war nicht jüdisch, musste aber mehrmals ihren Ariernachweis erbringen. Sie hatte ein bisschen eine Hakennase, aber nur, weil sie mit ihrem großen Bruder immer auf den Fußballplatz musste. Dort hatte sie ein Ball getroffen und ihr das Näschen gebrochen. Komischerweise hatte Gerry auch so einen Haken. – Zu mir hat Dagmar Koller einmal gesagt, ich sei die schönste Jüdin, die sie kennt! Vererbt kann das nicht sein.

Großvater Weiß, der Vater meiner Mutti, war 1951/52 Bürgermeister in Bad Freienwalde. Ich habe keine Ahnung wie er dazu kam, eigentlich war er Buchdrucker. Mitte der 50er, ich war neun Jahre alt, ist er mit seiner Frau nach Essen gegangen. Der Springerverlag hatte dort eine seiner großen Druckereien.

So war er plötzlich aus Arbeitsgründen im Westen. Die beiden haben mir sehr gefehlt, aber ich konnte sie jedes Jahr in den Schulferien für vier bis sechs Wochen besuchen! Allein, mit einem Schild um den Hals, fuhr ich mit dem Zug von Berlin-Ostbahnhof nach Essen. Wenn ich wiederkam, sprach ich wie die Menschen dort und war sehr stolz darauf. Meine Omi Hete hat uns all die Jahre mit Paketen verwöhnt. Das Auspacken war immer ein Fest. Erst später wurde mir klar, wie viele Zentner diese liebe Frau in ihrem Leben für uns geschleppt hat.

In Spechthausen haben wir alle in einem Haus gewohnt. Oma Martha war der Leitwolf. Meine Mutti war eher zurückhaltend, hat sich immer gefügt, hoch geachtet von meiner Omi, weil sie sehr fleißig und zuverlässig war. Eine gute Frau für ihren Sohn und eine liebevolle Mutter für die beiden Gören.

Und mein Opa Bruno war sowieso der Beste! Er war gütig, großherzig, witzig und hat zum großen Ärger seiner Frau alle Kumpels an der Theke freigehalten. Mich hat er verwöhnt ohne Ende, ich war sein »Sonnenschein«. Wir beide gegen den Rest der Welt – auch schon mal gegen Omi.

Wie war sie böse, wenn ich ihre Butterstullen verschmäht habe und stattdessen zu meiner Freundin Elfriede ging, um bei ihr mit großem Genuss Margarinestullen zu futtern! Dabei hat es Omi bestimmt nur gut gemeint, wir hatten immer genug zu essen und den »Fuffziger« mehr, den man braucht, um sich keine Sorgen zu machen. Bei ihr habe ich auch zu genießen gelernt. Jedes Frühstück war ein kleines Fest. Jeden Sonntag um zehn haben wir »Onkel Tobias vom RIAS ist da« gehört und Häppchen gegessen: eins mit Wurst, eins mit Käse, eins mit Marmelade und so weiter. Frühstück ist bei mir bis heute eine heilige Handlung. Wann immer ich aufstehe – ein Kerzchen auf dem Tisch, ein Blümchen … Frühstück muss sein. Mami hat ihre Gemütlichkeit erst nachmittags zelebriert. Mit Kaffee und Kuchen und dazu eine Zigarette. Das war ihre Genusszeit. Auch das liebe ich bis heute – nur den Kuchen habe ich mir irgendwann abgewöhnt.

Oma Martel war kein Knuddelmensch. Sie war eine totale Respektsperson. Wenn ich, auch später noch, »Großmutter« zu ihr sagte, wurde sie fuchsteufelswild. Für mich bedeutete jedoch die Anrede »Großmutter« Hochachtung und Respekt; sie war ihrer Ausstrahlung geschuldet. Sie war abends die Letzte und morgens die Erste. Kam in einen Raum und war präsent.

Ich bin mit vielen schönen Liedern groß geworden. Martha Schulz war nicht nur ausgesprochen kommunikativ, sondern auch sehr musikalisch. Sie sang zum Beispiel hinreißend Es steht ein Soldat am Wolgastrand. Das Talent hat sie über ihren Sohn offensichtlich an mich vererbt. Auch Vati hatte als Kind eine sehr schöne Stimme und musste schon mal für ein Eis mit dem Orchester Otto Kermbach Grün ist die Heide singen. Durch die schrecklichen Erlebnisse in Krieg und Gefangenschaft war ihm leider die Stimme abhanden gekommen. Ich habe ihn nie singen hören.

Als ich zehn war, schenkte Omi mir ein Akkordeon. Darauf lernte ich fleißig und spielte und sang im großen Saal der Gaststätte schon mal auf Weihnachtsfeiern und Parteiversammlungen. Das allergrößte Erlebnis war jedoch, dass ich jedes Jahr am Heiligen Abend in der Kirche Vom Himmel hoch, da komm ich her singen durfte.

Das begann, als ich zehn Jahre alt war. Meine Eltern haben mir, obwohl sie nicht in der Kirche waren, gestattet, zum Religionsunterricht zu gehen. Ich war eine eifrige Zuhörerin; die Bibelgeschichten, die ich wie Märchen verschlungen habe, waren für mich sehr spannend. Herr Pfarrer Söder war eine Institution, ich war von ihm fasziniert. Es gab gar keinen Zweifel daran, dass ich mit vierzehn Jahren eingesegnet werden würde. Auch in meinem Elternhaus liefen die gedanklichen Vorbereitungen in diese Richtung. Nun gab es in dieser Zeit extreme Bemühungen, Menschen mit christlichem Glauben das Leben schwer zu machen. Sie wurden in vielen Bereichen ausgegrenzt, ihnen wurden viele Steine in den Weg gelegt. Die Kinder hatten es schwerer, das Abitur zu machen und zu studieren. Ähnlich ging es dem Nachwuchs aus Familien, die beruflich selbstständig waren, oder von Intellektuellen. Arbeiter und Bauern wurden dagegen bevorzugt. Wer also mit vierzehn Jahren eingesegnet wurde, hatte ganz schlechte Karten. Wer in die Jugendstunde ging und die Jugendweihe erhielt, war deutlich besser dran.

Man konnte zwar beides haben, aber für die meisten gläubigen Menschen erübrigte sich das von selbst. Bei uns zu Hause hingegen wurde diese Möglichkeit beraten und für gut befunden: Ich wollte eingesegnet werden und der Schule, der Öffentlichkeit wegen gleichzeitig die Jugendweihe erhalten. Und ich wollte die mittlere Reife erreichen, also zehn Jahre in die Schule gehen. Freudig überbrachte ich »meinem« verehrten Pfarrer die Nachricht. Seine Begeisterung hielt sich nicht nur in Grenzen, im Gegenteil: Er war schockiert und bat sich Bedenkzeit aus. Ich war ziemlich ungläubig und verwundert. In der nächsten Christenlehrstunde sagte er mir vor allen anderen, er könne es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, mich unter diesen Umständen einzusegnen. Ich war tief enttäuscht von ihm, vom Leben, verstand gar nichts. Lange Zeit hatte ich daran zu knabbern, es war meine erste große menschliche Enttäuschung. Heute allerdings denke ich manchmal: Es hat mir viel Geld erspart. Ich brauche keinen Ort, um mich mit »meinem« lieben Gott zu unterhalten. Ich gehöre zu denen, die nicht nur bitten, wenn sie in Not sind; ich bedanke mich auch, wenn es mir gut geht, wenn ich eine schwere oder gefährliche Situation überstanden habe.

An die Heiligen Abende in der kleinen Kirche in Spechthausen erinnere ich mich allerdings trotzdem bis heute sehr gern. Ich bekam zwar keinen Applaus, konnte mich aber jedes Jahr über ein neues Kleid freuen. Ganz schön eitel schon damals … – Niemand wäre aber auf die Idee gekommen, dass daraus ein Beruf werden könnte. Am nächsten Tag habe ich mich wieder gemeinsam mit der Familie um das Wohl der Gäste gekümmert. In jeder schulfreien Minute musste ich Mayonnaise rühren, Buletten braten und Kartoffelsalat anrichten. Und es hat mir Spaß gemacht!

In unserer Kneipe habe ich sehr viel gelernt, von Menschen und über Menschen. »Kneipe« sage ich immer mit großer Ehrfurcht, es war eine mit gescheuerten Holztischen, so richtig Dorf mit Stammtisch. Die Leute von dort haben mich viele Jahre begleitet, mit Briefen und Anrufen, als ich in die weite Welt – nach Berlin – ging, und später auch. Es war eine gute Gemeinschaft. –

Unglaublich, wie die Zeit vergeht! Jetzt, 45 Jahre später, muss ich oft an meine Schulzeit denken, gerade auch, wenn es um Pisa-Studien geht und Deutschlands Bildungsmisere und um die Frage: Wer ist schuld – die Eltern oder doch die Lehrer? Ich bin weit davon entfernt zu sagen, früher sei alles besser gewesen – aber anders war es schon. Die eigenen Kinder sagen sogar: Bei euch war alles einfacher, die Anforderungen nicht so hoch. Das mag in einigen Fällen stimmen, aber jede Generation hatte und hat ihre eigenen Herausforderungen. Mir geht es auch mehr um die äußeren Bedingungen. – Undenkbar wären damals gewesen: die heutige Disziplin während des Unterrichts, Lehrer, die sich in den Pausen zurückhalten müssen aus Angst, selbst in eine Schlägerei verwickelt zu werden, Raucherecken, Knutschecken; es gab auch noch keine Handys oder Gameboys als Unterrichtsbeschäftigung. Die Pädagogen waren schon Respektspersonen – gut, der eine mehr, der andere weniger ... Ich kann mich noch erinnern, dass es schon für »Tuscheln im Wiederholungsfall« Strafen gab. Wir fanden das natürlich blöd, aber geschadet hat es anscheinend nicht. Undenkbar auch, dass der, der vorne stand, nicht zu Wort kam.

Ich erinnere mich daran, selbst mal eine Strafe eingesteckt zu haben: Dagmar Schulz, also icke, war nie Klassenbeste, kam immer gleich nach den ersten dreien (das ist bis heute übrigens so geblieben). Meine Lieblingsfächer waren Deutsch, Geschichte und – Staatsbürgerkunde. Das war ein Fach, in dem Politik eine große Rolle spielte, in dem man frei reden musste, wenn man konnte, also rundum informiert über aktuelle internationale Ereignisse in Gesellschaft und Politik zum Unterricht kommen sollte. Es war natürlich klar, dass die Informationen nur der »Aktuellen Kamera« entnommen werden durften, unserer Tagesschau. In meiner Familie wurde immer schon auf allen Kanälen geschaut (nicht etwa weil wir Widerstandskämpfer waren, wir waren einfach nur sehr interessiert). Nun war ich wieder einmal mit der Zeitungsschau dran, zehn Minuten lang, zu Beginn der Stunde. Bei solchen Gelegenheiten holte ich mir immer meine besten Zensuren. An diesem Morgen aber haben mir die berühmten Teufelchen, die im Detail sitzen, einen verhängnisvollen Streich gespielt. Ich erzählte locker über die großen und kleinen Ereignisse und gebrauchte doch tatsächlich die Worte: »Hinter dem Eisernen Vorhang« – oh je! Das konnte ich nicht aus den DDR-Medien haben, das war eine Formulierung des »Klassenfeinds«! Atemlose Stille. Mein Lehrer – auch noch Herr Schulz, auch noch Schuldirektor – wechselte die Farbe. Es gab Ärger; aus dieser Situation hat mich mein Vati gerettet. Er wurde geladen, und nach einem Verweis an meine Adresse wurde nicht mehr darüber geredet. Meine Mittlere Reife war nicht ernsthaft gefährdet ...

Obwohl ich mich in der Schule mit allen gut verstanden habe, ist es bis heute nie zu einem Klassentreffen gekommen. Eine echte Freundschaft ist nicht geblieben. Die sollte erst später wachsen.

EIN TIERISCHER FAMILIENBETRIEB

Mitte der fünfziger Jahre bekam mein Vater das Angebot seines Lebens: Die Stadt Eberswalde fragte ihn, ob er das Werk seines Vaters fortsetzen und auf dem Gelände der einstigen elterlichen Gaststätte einen Wildpark errichten wolle. Die Stadt hatte sich an das Terrain erinnert, das inzwischen ein Urwald war. Günter Schulz sagte zu und ging ans Werk, zusammen mit meinem Großvater. Damit begann natürlich die Auseinandersetzung der Generationen, weil die Jungen ja nie auf die Alten hören wollen.

Jeden Tag sind die beiden von Spechthausen nach Eberswalde, meist zu Fuß. Aus den Aufzeichnungen meines Vatis konnte ich später sehen, wie sehr er seinen alten Herrn akzeptiert hat, wie wichtig seine Erfahrungen für ihn waren. Vati entwarf als Autodidakt Pläne für Häuser und Gehege, befasste sich mit Tierhaltung und Tierpflege und musste lernen, Menschen anzuleiten. Vom Walzwerk Finow, dem Kranbau Eberswalde, dem Reichsbahnausbesserungswerk und vielen kleineren Betrieben, wo er als Bittsteller vorsprach, kam Hilfe. Seine ersten Mitstreiter waren ein Einarmiger, einer mit Glasauge und ein Mann, der an der Schilddrüse operiert war. Der mit dem Glasauge, Otto Steinke, konnte einfach alles. Noch heute kann man sich an den von ihm gemauerten Feldsteinwänden erfreuen.

In Erinnerung geblieben ist mir die große Solidarität der Eberswalder. Damals gab es das Nationale Aufbauwerk, unter dessen Dach Bürger, die sonst ihrer Arbeit nachgingen, am Wochenende Nützliches für ihre Stadt schufen.

Die Eberswalder bauten also ihren Wildpark. Bis zu hundert Personen waren an jedem Wochenende da. Sie hoben unter der Anleitung meines Vaters Gräben aus, schnitten Holz, setzten Zäune, gossen Fundamente. Mutti und ich kochten Kaffee und schmierten Stullen. Täglich liefen wir von Spechthausen nach Eberswalde, was gruselig war, denn der Weg führte durch den Wald, in dem sich eine Funkstation der Sowjetarmee, der »Freunde«, befand. An die Angst meiner Eltern, bis alle wieder zu Hause waren, erinnere ich mich noch gut. Sie hatten wohl ihre Erfahrungen. Was für ein stolzes Gefühl, als am 14. September 1958 der Wildpark Eberswalde eröffnet wurde! Mit einem schwarzen Pony, einem Fuchs, einem Reh und einem Rothirsch. Aber dann ging die Arbeit erst richtig los. Es wurde der nächste Familienbetrieb. An der Kasse saßen abwechselnd Mami, Oma, Opa und ich; mein Bruder war noch zu jung – der hatte es gut. (Im Kassenhäuschen habe ich übrigens auch meinen allerersten Kuss bekommen …)

Die Leute waren ganz stolz auf ihren Park. Er beherbergte, wie vorgesehen, nur einheimische Tiere. Mit jedem Jahr wurde er großzügiger, es kamen immer mehr Bewohner hinzu. In Anerkennung seiner Leistung wurde mein Vati von Professor Heinrich Dathe, dem Chef aller Tiergärtner, zum Tierparkdirektor ernannt. Immer mehr wuchs bei ihm der Wunsch, entgegen der Absprache Affen zu haben, also Exoten. Der Professor war strikt dagegen. Er wollte, dass Günter Schulz sich mit seinem vorbildlichen Heimattiergarten, den er als »Kleinod« bezeichnete, begnügt. Sicher steckte dahinter auch ein wenig Konkurrenzdenken, denn Eberswalde hatte sich zu einem Anziehungspunkt vor den Toren Berlins entwickelt.

Meine Eltern hatten sehr guten Kontakt zum Professor. Er mochte Mami und mich ganz besonders. Da schnappte mein Vater eines Tages »seine Frauen«, und wir fuhren nach Berlin ins Büro von Dathe, um ihn zu becircen. – Nach langen Diskussionen wurden Schulz seine Affen genehmigt …

Der Professor hat später oft und gerne auf allen möglichen Tagungen erzählt, was dieser Schulz für ein Kerl ist: Wenn der mit seinen schönen Frauen anrückt, dann will er bestimmt was!

Vati musste nun immer öfter Interviews geben, veröffentlichte zahlreiche Artikel und über viele Jahre jeden Monat ein Heimatheft. Er wurde sogar in den Rat der Stadt gewählt.

Sein Erfolg – er war als Tierparkchef und Ratsmitglied sehr populär in Eberswalde – hatte für mich allerdings auch Nachteile. Ich wurde streng gehalten zu Hause, durfte kaum ausgehen. Wenn ich an irgendeiner Ecke mit Jungs stand, wussten meine Eltern das schon, bevor ich zu Hause eintrudelte. Meinem Vater war es aber in dem Alter ganz ähnlich ergangen, und mir ist es eigentlich, wenn ich zurückschaue, ganz gut bekommen.

ICH SINGE UND BIN DER GLÜCKLICHSTE MENSCH DER WELT

Nach der zehnten Klasse habe ich eine Lehre als Apothekenhelferin in der Eberswalder Hirschapotheke begonnen. Meine Mutti hatte zwanzig Jahre vorher beim gleichen Chef, Franz Becker, gelernt. Er war 78 Jahre alt, als ich anfing, und ein strenger Lehrmeister. Er kannte mich von klein auf, und so hatte ich einen Stein im Brett, stand unter seiner besonderen Fürsorge.

Ich durfte Dinge tun, die einer Helferin gar nicht zustanden. Unter seiner Aufsicht habe ich Zäpfchengießen, Salbenrühren und Pillendrehen gelernt. Hatte er besonders gute Laune, spendierte er einen Selbstgebrannten. Für Franz, wie wir ihn heimlich nannten, war Disziplin eine heilige Kuh. Sogar wir Lehrlinge mussten uns untereinander siezen, getreu dem Motto: Es sagt sich nicht so leicht »Sie Ochse« wie »Du Ochse«. Wenn ich mein Lehrlingsgehalt bekam, im Monat 140 Mark, sind wir in die Eisdiele gegangen und haben uns Schwarzwälder Kirschtorte, Kaffee und Eis geleistet.

*

Ich war siebzehneinhalb, kurz vor achtzehn, und hatte meinen ersten richtigen Freund – Reinhardt. Meine Eltern kannten ihn, er war ein gut aussehender, sehr netter junger Mann, nur hatten wir kaum eine unbeobachtete Minute miteinander. Dann kam der berühmte Erste Mai; wir hatten anderes vor, als zum Bärbel-Wachholz-Konzert zu gehen, zu dem wir uns zu Hause verabschiedet hatten:

Wir schlichen auf sein Zimmer, es war mein »erstes Mal« – und das am Kampftag der Werktätigen.

Als ich nach Hause kam, gab es erst mal gleich ein paar hinter die Ohren, und ich dachte: Es hat uns doch niemand gesehen, das können die gar nicht wissen, oder sieht man es mir etwa an?! – Die Katastrophe erklärte sich schnell: Bärbel Wachholz war zwar in ihrem weißen Tatra zum Auftritt angereist, aber es regnete. Sie streckte nur die Hand aus dem Auto und sagte: »Ich trete hier nicht auf!« Die Autotür schloss sich, und weg war sie. Das wussten meine Eltern natürlich bereits, aber sie fragten mich scheinheilig nach dem Konzert. Ich sagte natürlich: »Ja, war toll«, und – baff! – hatte ich eine.

Der junge Mann hatte Anstand; obwohl dieser Tag ohne Folgen blieb, heiratete er mich. Er hat später in Stralsund die Offiziersschule besucht, und so könnte ich fast sagen: »Mein Erster, das war ein Matrose.«

Während dieser Zeit bin ich zwischen Lehre, Schule und Zuhause mit dem Fahrrad gependelt, was nicht bei jedem Wetter angenehm war. Die Familie hatte wie gesagt im Wildpark zu tun, Mami war an der Kasse, so blieben für mich oft die Hausarbeiten: Saubermachen, Backen, Kochen. Das hatte für später einen großen Vorteil, ich musste keine Haushaltsschule besuchen. Dank meiner Mutti und der Situation geschuldet bin ich eine ziemlich gute Hausfrau geworden.

Nach der Lehre suchte ich mir in der »Stadt« ein Zimmer. An freien Tagen und an den Wochenenden habe ich aber immer gerne meine Beine unter den elterlichen Tisch gesteckt.

*

Eines Tages, wie im Märchen, traf der Direktor der Musikschule den Direktor des Tierparks: »Du hast doch mal erzählt, deine Tochter könne drei Töne singen. Wir haben eine Lehrerin, die nicht ausgelastet ist, schick sie doch mal vorbei.« Ich trabte brav in die Schule, sang Sah ein Knab ein Röslein stehn und Suliko, Stalins Lieblingslied, vor.

Frau Rosenberg aus Berlin – eine sehr schöne, ganz kleine, elegante Jüdin mit gefärbten Haaren – unterrichtete mich fortan. Sie war mein erster Kontakt zur großen weiten Welt. Nach Jahren, viel später, als ich schon »die Frederic« war, hat sie mir erzählt, was sie am Anfang dachte: Niedlich ist sie ja, wenn die nun auch noch singen könnte … Wieder einmal war ich meinem Herrgott dankbar: Wenn ich das damals gewusst hätte – ich wäre doch nie wieder hingegangen! Sie gab sich aber sehr viel Mühe mit mir, wollte aus mir einen Mozartsopran machen. Hat mich mit Schubertliedern, großen Arien und Volksliedern bekannt gemacht und hätte zu gern gesehen, dass ich Gesang studiere. Mit meiner Bauernschläue aber dachte ich schon damals: Wer kann mir garantieren, dass aus einem Gesangsstudium wirklich etwas wird? – und habe es gelassen.

Da kam dann wieder das Glückskind ins Spiel. Eberswalde leistete sich wie viele andere Städte ein Unterhaltungsorchester. Der Boss war Max Reichelt. Er war es, der Bärbel Wachholz, Marion Velten, Britt Kersten entdeckte. Ich durfte bei ihm auch ohne Berufsausweis singen, wie eine Operettendiva: Meine Lippen, die küssen so heiß und das Vilja-Lied zum Beispiel; und das mit sechzehn – es muss sehr erotisch gewesen sein.

Pro Konzert bekam ich 25 Mark. Fünf bis sieben Konzerte gaben wir im Monat. Das war für einen Lehrling ein gutes Zubrot. Nebenbei nahm ich weiterhin Gesangsunterricht, nun bei Fräulein Grünert. Eine junge Frau, gehbehindert, die mir sehr imponierte; sie hatte einen wundervollen Mezzosopran. Wir hatten ein Konzert in Finowfurt, das ist ganz in der Nähe von Eberswalde. Engagiert war Peter Wieland, damals schon sehr bekannt: ein studierter Opernsänger, der in Neustrelitz am Theater seine Wurzeln hatte.

Zu dieser Zeit war das Genre Musical gerade aus Amerika nach Deutschland rübergeschwappt. Er unterrichtete dieses Fach als Erster an der Musikhochschule »Hanns Eisler« in Berlin. Als ich sang, stand er an der Seite und sagte anschließend: »Die kann was, hat eine gute Ausstrahlung, ist spielfreudig, sie sollte Musical singen.«

So kam es, dass ich an jedem freien Tag zum Unterricht nach Berlin zu ihm fuhr. Er brachte mir nicht nur das Singen bei, sondern ich musste auch das Laufen neu erlernen – wenn ich zu ihm kam, stolperte ich fast vor Aufregung.

Nach Feierabend in Berlin – das war eine tolle Schule. 1965 war dann die Berufsausweisprüfung, auch Sänger und Musiker mussten sie praktisch wie Lehrlinge ablegen, um auftreten zu dürfen. Ein Studium war nicht notwendig, es zählte die Leistung. Peter hatte mich so weit vorbereitet, dass ich ein Spiritual und einen Gershwin gesungen habe. Ich bin durchgefallen, bekam aber eine Auftrittsgenehmigung für ein halbes Jahr. Es gibt noch eine Bandaufzeichnung – ich sang wirklich scheußlich, aber das gebe ich natürlich erst heute zu. Die Kommission konnte meine Stimme nicht einordnen.

Seitdem habe ich schriftlich, dass ich mich für den Beruf als Schlagersängerin nicht eigne. Ich sollte Gesang studieren mit meinem schönen Sopran … Aber das hörte ich ja nicht zum ersten Mal.

Wie witzig das Leben ist – dreißig Jahre später saß ich dann selbst in einer solchen Prüfungskommission. Die Kollegen sagten: »Wenn du da bist, wird nicht so viel Unsinn geredet, da wissen wir, woran wir sind.« Das war ein schöner Zirkelschluss.

EIN HIMMLISCHER IRRTUM FÜHRT NACH BERLIN

Peter bereitete mich auf die nächste Gesangsprüfung vor. 1966 bestand die Kommission aus Bärbel Wachholz, Helga Brauer, Fred Frohberg, Wolfgang E. Struck, Direktor, und Hans Stäcker, Musikalischer Leiter des Friedrichstadtpalastes. Das war die gesamte Creme der Unterhaltungskunst.