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In München-Schwabing wird die 36-jährige Berenike von Rahnstedt ermordet aufgefunden. Der junge Kriminalhauptkommissar Korbinian Hilpert und sein Kollege Ludwig Waldleitner übernehmen die Ermittlungen. Die Liste der Verdächtigen ist lang, da die Ermordete als Schwabinger Künstlerin ein äußerst lockeres und teilweise ausschweifendes Leben führte. Das Ermittlerduo muss tief in die Münchner und vor allem die Schwabinger Szene - kurz nach den Schwabinger Krawallen - eintauchen.
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Seitenzahl: 295
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Gretel Mayer
Schwabing 62
Kriminalroman
Schwabinger Krawalle In der Trautenwolfstraße in München-Schwabing wird die 36-jährige Berenike von Rahnstedt ermordet aufgefunden. Der junge Kriminalhauptkommissar Korbinian Hilpert, der mit seiner Familie im selben Haus wie das Mordopfer lebt, übernimmt zusammen mit seinem Kollegen Ludwig Waldleitner den schwierigen Fall. Die komplizierten, vielschichtigen Ermittlungen führen in die unterschiedlichsten Richtungen. Die Tote war Künstlerin, Autorin und alleinerziehende Mutter und führte ein äußerst freigeistiges, lockeres und ausschweifendes Leben. So könnte Berenike von Rahnstedts konservative norddeutsche Familie, die sehr auf ihren Ruf bedacht ist, mit dem Mord zu tun haben. Doch auch der jugendliche Geliebte, der mit Berenike und ihrer Freundin Lou eine schwierige Ménage à trois eingegangen war, und der geheim gehaltene Vater ihres Sohnes, geraten unter Verdacht. Die Liste der Verdächtigen ist lang und das Ermittlerduo taucht tief in die Münchner und vor allem die Schwabinger Szene – kurz nach den Schwabinger Krawallen – ein.
Gretel Mayer, geboren 1949 in München, war als Fremdsprachensekretärin, Übersetzerin und jahrelang als Buchhändlerin tätig, bevor sie ihre Leidenschaft fürs Schreiben entdeckte. Obwohl ihr Lebensmittelpunkt schon seit Jahrzehnten in Unterfranken liegt, schlägt ihr Herz noch immer für das Alpenvorland und ihre Geburtsstadt München.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München)“
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Alfred Strobel / Süddeutsche Zeitung Photo
ISBN 978-3-8392-7840-6
»Ich darf nur lieben, aber niemals jemandem gehören!«
Aus den Tagebüchern der »Schwabinger Gräfin« Franziska Gräfin zu Reventlow (1871 – 1916)
Es ist doch Vormittag? Und Sommer? Warum wird es dann plötzlich immer dunkler; hat jemand die Läden geschlossen, die Vorhänge zugezogen? Das macht mir Angst! Ich will doch hinaus ins Licht, in die Sonne fliegen.
Ich weiß noch, wie ich mit Heinrich unten am Weiher gespielt habe; die Sonne brannte auf unsere Köpfe und Schultern, und wir trugen keine Hüte, so wie es uns Mama befohlen hatte. Kleine weiße Segelschiffe ließen wir auf dem Wasser schwimmen, und in der Ferne hörte man die Glocken der Walsroder Kirche 12 Uhr schlagen.
Da will ich wieder hin in diese Leichtigkeit eines Sommertages, ins unbeschwerte Spiel, ins vollkommene Kindheitsglück.
Doch ich kann mich nicht bewegen, und mein Kopf schmerzt dumpf und pochend. Meine Lider sind verkrustet und verklebt, meine Augen, so sehr ich mich auch bemühe, kann ich nicht öffnen.
Aber ich will doch alles sehen … vor allem meinen Bubi will ich sehen … wo ist er denn überhaupt? Hab ich ihm heute das Butterbrot für die Pause mitgegeben? Hat er seine Lederhose an oder die Knickerbocker? Ich weiß es nicht mehr.
Ein Sirren, ein tosendes Rauschen ist jetzt da in meinem Kopf, das mir solche Angst macht. Ich klebe fest am nassen Kissen. Hab ich denn so geweint?
Der große Manitu soll mir helfen; er hatte doch immer für alles eine Lösung. Er soll mich in seine starken Arme nehmen, mich wiegen und mir zuflüstern: »Es wird alles wieder gut, meine liebe, liebe Nike.«
Doch er ist nicht da; er kommt nicht, und ein Strudel reißt mich nach unten, immer weiter und immer tiefer. Ein schwarzer Schlund, in dem ich versinke, aus dem ich nicht mehr auftauchen kann. Ich hab solche Angst.
München-Schwabing Trautenwolfstraße
Was für hübsche schlanke Fesseln sie doch hat, immer noch genauso wie vor zehn Jahren, dachte sich Korbinian Hilpert, und ganz automatisch begannen seine Hände zärtlich von den Waden zu den Kniekehlen und dann langsam zu den Oberschenkeln seiner Frau zu wandern.
»Bini, lass das bitte«, rief Evi Hilpert mit gespielter Empörung; sie stand auf der höchsten Stufe einer Haushaltsleiter und war dabei, die neuen Wohnzimmervorhänge aufzuhängen.
»Du bringst mi ja ganz durchananda!«
Schuldbewusst ließ Korbinian seine Hände wieder nach unten gleiten und umfasste mit festem Griff ihre Waden.
»Ich halt dich ganz fest, es kann nix passieren.«
Nach einer guten Viertelstunde hingen die äußerst bunt gemusterten Vorhänge, und Evi und Korbinian saßen zufrieden auf ihrem ebenfalls neuen kakaofarbenen Wohnzimmersofa, das zudem ungeheuer weich und samtig war. Evi war begeistert.
»So schön is es g’wordn«, rief sie begeistert, und Korbinian, dem die Vorhänge eigentlich nie besonders wichtig gewesen waren und dem sie jetzt ehrlich gesagt etwas zu farbenfroh erschienen, freute sich nun doch aus vollem Herzen mit seiner Frau.
Seit fast einem halben Jahr, kurz nachdem er zum Kriminalhauptkommissar ernannt worden war, wohnten sie nun schon in der Trautenwolfstraße in Schwabing, und so langsam wurde es richtig wohnlich. Außer Ehebett, Kleiderschrank, Elsis Kinderbett und einigen wenigen Küchenmöbeln hatten sie nicht viel mitgebracht, als sie einzogen. Stück für Stück hatten sie nun, immer sobald wieder ein wenig Geld in der Kasse war, angeschafft.
Korbinian zog seine Frau an sich.
»Mir könnten ja den Kirschlikör von der Mama aufmachen, den du so gern magst und dann …« Er rückte noch ein wenig näher an sie heran, küsste zärtlich ihren Hals und streichelte behutsam ihren Brustansatz.
»Bini«, rief Evi warnend. »Komm ned auf dumme Gedanken, in a halbn Stund kommt d’ Elsi mit’m Wolferl.«
Korbinian gab sich geschlagen. Was hätte man doch in einer halben Stunde alles Schönes machen können, aber wenn Evi Nein sagte, war das nicht zu ändern. Das wusste er aus Erfahrung.
In einer halben Stunde würde Elsi, die siebenjährige Tochter der Hilperts, mit ihrem gleichaltrigen Spielgefährten Wolferl kommen, und sie würden gemeinsam mit den Kindern zu Abend essen. Wolferl, von seiner Mama Berenike, kurz Niki, grundsätzlich nur Bubi genannt, wohnte zwei Stockwerke tiefer in der Parterrewohnung, und sehr häufig musste dessen Mama gegen Abend zur Arbeit. So hatte es sich eingebürgert, dass Wolferl dann immer zu den Hilperts kam, bei ihnen zu Abend aß und oft auch bei ihnen übernachtete. Korbinian hegte leise Zweifel, was die Arbeit Nikis betraf, denn schon zweimal hatte er Berenike von Rahnstedt, so hieß sie mit vollem Namen, am späten Abend in einer Gruppe fröhlicher, lauter junger Leute aus einem Lokal kommen oder die Leopoldstraße entlangflanieren sehen.
Doch Evi Hilpert hielt auf Niki große Stücke. Die junge Nachbarin, die ganz offensichtlich ihren Bubi allein großzog, war immer äußerst hilfsbereit und ging mit den Kindern oft stundenlang im Englischen Garten spazieren. Außerdem hatte sie ein Händchen für Näharbeiten und Stoffe, und so war sowohl die Auswahl als auch die Anfertigung der Hilpert’schen Wohnzimmervorhänge Nikis Werk.
So farbenfroh und außergewöhnlich wie die Vorhänge war zumeist auch Nikis Erscheinung, und Korbinian würde ihr erstes Zusammentreffen mit Berenike von Rahnstedt nie vergessen. Anfang Januar, bei sehr winterlichen Temperaturen und starkem Schneetreiben, waren sie eingezogen, und schon als sie die ersten Kisten und Möbel ins Haus trugen, hatte sich die Tür der Parterrewohnung geöffnet und Niki, trotz der fortgeschrittenen Tageszeit in einen ziemlich offenherzigen, gelb und mohnrot geblümten seidenen Morgenmantel gehüllt, hatte sie begrüßt wie alte Bekannte.
»Die Kleine kann reinkommen und mit dem Bubi spielen«, hatte sie mit ihrer warmen dunklen Stimme gerufen, »und euch koch ich dann gleich einen starken Kaffee.«
Evi war sofort angetan von dieser Hilfsbereitschaft; Korbinian hingegen fühlte sich ein wenig überrumpelt und, wie es ihm zumeist bei schönen und zudem selbstbewussten Frauen ging, etwas verunsichert. Dieses Gefühl hatte er nun nach fast sechs Monaten, in denen er die junge Nachbarin recht gut kennengelernt hatte, bisweilen immer noch. Er war ein wenig beschämt darüber.
Evi, die wie Korbinian ja ein echtes »Landei« war, verhielt sich da wesentlich offener, hatte die deutlich sehr unkonventionell lebende extravagante Nachbarin gleich ins Herz geschlossen und wusste mittlerweile so einiges über sie.
Berenike Margaretha Gräfin von und zu Rahnstedt war etwa Mitte 30 und stammte von einem Gut in der südlichen Lüneburger Heide. Schlichter Landadel, wie sie immer zu sagen pflegte.
Berenike war noch keine 20, als sie sich von ihrer Familie lossagte.
»Mein Vater war ein Familientyrann und ein strammer Nazi noch dazu; meine Mutter eine Schönheit, aber eigentlich immer schwach und leidend«, so hatte Berenike berichtet, und im Zuge einer dramatischen, natürlich unglücklich endenden Liebesgeschichte zog sie damals nach München. Ohne familiäre Unterstützung schlug sie sich in München immer am Rande des Existenzminimums durch, hüpfte von einer Liebesbeziehung zur nächsten und – das beeindruckte Evi am meisten – begann zu schreiben. Sie schrieb Glossen, Essays und Artikel für verschiedene Münchner Blätter, arbeitete aber parallel dazu an einem großen Roman.
Doch bis zu dessen Vollendung würde es wohl noch so einige Zeit dauern, und ein Verlag war natürlich auch noch nicht gefunden. Was die Abstammung Wolferls, also ihres Bubis, betraf, hüllte sich Niki in Schweigen. Eine ganz komplizierte Sache, hatte sie nur einmal kurz zu Evi gesagt.
Die Kinder, die blondlockige, ständig plappernde fröhliche Elsi und der fast gleichaltrige wesentlich ernstere Wolferl, der manchmal derart klug und erwachsen daherredete, dass man richtig erschrak, saßen nun gemeinsam am Küchentisch der Hilperts, aßen Leberwurstbrote und tranken Apfelsaft.
»Ist die Mama schon zur Arbeit, Wolferl?«, konnte Korbinian sich nicht verkneifen nachzufragen.
»Nein, sie ruht schon seit heut Mittag«, antwortete Wolferl sehr vornehm.
»Mir ham sie garned wach kriagt«, ergänzte Elsi.
Alkohol, Tabletten, ging es Korbinian sofort durch den Kopf, der es im Nachhinein etwas verantwortungslos von Niki fand, die Kinder so ganz sich selbst zu überlassen.
»Heute früh hat sie mir noch ein Pausenbrot gemacht, aber als ich aus der Schule kam, hat sie schon geschlafen«, berichtete Wolferl. »Ich hab dann ein hartes Ei und eine Essiggurke gegessen.«
»Vielleicht ist sie krank, ich schau nachher mal nach ihr«, meinte Evi besorgt.
Doch über einigen Runden Mensch ärgere dich nicht, die ausschließlich die Kinder gewannen, einigen Seiten Vorlesen aus dem derzeitigen Lieblingsbuch Babar der Elefant und dem anschließenden sich wie immer lange hinziehenden Zubettgehritual – Wolferl schlief wie so oft auf einer Matratze neben Elsis Bett – vergaßen die Hilperts vollkommen, noch einmal nach Niki zu schauen.
München-Schwabing Trautenwolfstraße
Am nächsten Morgen, wie immer war die Familie Hilpert viel zu spät dran, lief Wolferl dann nach unten, um seinen Schulranzen zu holen. Kurze Zeit später – Korbinian machte sich gerade im Flur ausgehfertig – stand Wolferl wieder vor der Tür. Seine Augen waren noch dunkler als sonst, und seine Stimme zitterte.
»Ich kann die Mama nicht aufwecken. Sie rührt sich nicht, obwohl ich sie ein paar Mal ganz fest gestupst habe.«
*
Polizeipräsidium München Ettstraße
Ludwig Waldleitner, von seinen besten Freunden kurz Lucki genannt, öffnete das Fenster der Abteilung Mord I im Polizeipräsidium an der Ettstraße und spähte nach draußen. Elvira Hutschler, die Sekretärin vom Diebstahl, ging gerade wiegenden Schrittes in Richtung Eingang; sie trug ein eng anliegendes zitronengelbes Kostüm und blickte nach oben. Ludwig konnte sich gerade noch ins Zimmer zurückziehen und hoffte, dass sie ihn nicht gesehen hatte. Seit der letzten Weihnachtsfeier ging er ihr aus dem Weg; nach zu viel Punsch und Glühwein waren sie sich nähergekommen, und das bedauerte Ludwig bis heute.
Dass ich einfach immer wieder meine Finger nicht von den Frauen lassen kann, dachte er sich. Ich müsste es doch langsam lernen, ich bin schließlich ein verheirateter Mann mit Kind, verdammt noch mal!
Doch auch die Verbindung mit Sonja, seiner jetzigen Frau, war ja aus solch einem heißen, aber eigentlich als kurz und unverbindlich gedachten Verhältnis entstanden. Doch ruckzuck war Sonja schwanger geworden, man beschloss zu heiraten, und innerhalb kürzester Zeit hatte Ludwig für Frau und Kind zu sorgen.
Das begonnene Jurastudium hängte er an den Nagel und ging zur Polizei, was durch seinen Onkel, den früheren Polizeipräsidenten, um einiges erleichtert wurde. Die Ehe mit Sonja bedauerte er zuweilen, nicht aber, dass er Polizist geworden war! Seit nun über einem Jahr war er in der Abteilung Mord I bei seinem alten Kollegen und Freund Korbinian Hilpert tätig. Ihn kannte er schon aus dessen Anfangszeiten im Präsidium, als Ludwig dort ebenfalls auf Fürsprache seines Onkels eine Schnupperzeit vor seinem Studium absolviert hatte. Und gerade auf diesen Korbinian wartete er nun und sorgte sich, denn es war eigentlich überhaupt nicht dessen Art, sich zu verspäten.
In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen, und Alma Mader, die Sekretärin der Abteilungen Mord I und II, stürzte herein. Alma Mader, groß gewachsen und korpulent, war wohl um die 50 Jahre alt, doch niemand im Präsidium wusste das so genau. Sie hatte ein Talent zu großen Auftritten, und ihr großer Busen bebte, als sie mit eindeutig theatralischem Tonfall verkündete:
»Unklarer Todesfall, könnte Mord oder Totschlag sein, in der Trautenwolfstraße!«
»Was?« Ludwig stutzte.
»Das ist doch beim Korbinian!«
»Ja.« Alma Mader stand ähnlich einer Wagnerwalküre breit und riesig im Türrahmen.
»In seinem Haus! Eine gewisse Berenike von Rahnstedt, 36 Jahre alt, Künstlerin und Schriftstellerin!«
Hatte ihre Stimme bei der Nennung des Berufs der Toten nicht einen leicht abfälligen Unterton? Alma Mader war nämlich trotz ihres außergewöhnlichen Vornamens und ihres theatralischen Gehabes eine gestandene Münchnerin und pflegte zumeist absolut kleinbürgerliche Ansichten.
Schwabinger Künstlerflitscherl, wolltest du wohl eigentlich sagen, dachte Ludwig bei sich, hielt aber den Mund, denn mit der gewichtigen Alma Mader durfte man es sich keineswegs verderben.
»Ist die Kremser schon dort?«, fragte er.
Patrizia Kremser war die neue Chefin der Gerichtsmedizin, Nachfolgerin des legendären Lippl, der über Jahrzehnte hinweg in absolut zuverlässiger, doch etwas absonderlicher Art seinen Dienst verrichtet hatte. Ein Zweizentnermann, immer mit wallendem schwarzem Mantel über dem Medizinerkittel, mit einem eindeutigen Hang zum Alkohol und zu sonderbarer altertümlicher Ausdrucksweise.
Patrizia Kremser war das schiere Gegenteil von Lippl; klein und äußerst zierlich, eine runde Nickelbrille im hübschen, doch stets ernsthaft blickenden Gesicht, war sie ein Ausbund an Sachlichkeit und Zuverlässigkeit. Es ging das Gerücht, dass sie einen hohen Schemel benutzen musste, um die Sezierung der ihr Anvertrauten richtig durchführen zu können.
»Ich fahr sofort hin«, sagte Ludwig, und bevor er danach fragen konnte, meinte die Mader, dass schon ein Wagen für ihn bereitstünde.
*
München-Schwabing Trautenwolfstraße
Bereits wenige Minuten später fuhr Ludwig in einem taubengrauen Borgward nach Schwabing. Es war später Vormittag, und auf der Münchner Leopoldstraße, die ja eindeutig von der abendlichen und nächtlichen Aktivität ihrer Passanten lebte, war es noch sehr ruhig. Vor dem Haus in der Trautenwolfstraße standen zwei Streifenpolizisten, und aus dem Fenster seiner Wohnung im zweiten Stock winkte Korbinian. Bereits aus dieser Entfernung bemerkte Ludwig, dass Korbinians gesunde Gesichtsfarbe – Voralpenlandbräune nannte Ludwig sie immer scherzhaft – einer fahlen Blässe gewichen war. Alt schaut er plötzlich aus, dachte Ludwig erschrocken.
Auch ihm wich die Farbe aus dem Gesicht, als er wenig später im Wohnzimmer der Familie Hilpert stand. Auf dem neuen kakaofarbenen Sofa saß tränenüberströmt Evi Hilpert mit zwei Kindern. Elsi, die Tochter, schluchzte laut und verzweifelt, aber der kleine dunkelhaarige Bub neben ihr vergoss absolut lautlos Tränen aus seinen großen schwarzen Augen. Starr, aufrecht und wie abwesend saß er da und schien die Tröstungsversuche Evis und ihrer Tochter überhaupt nicht wahrzunehmen.
»Wolfgang von Rahnstedt, der Sohn der Toten«, raunte ihm Korbinian zu.
»Er hat sie heute Morgen gefunden … und wir sind schuld dran … wir hätten schon gestern nach ihr schauen sollen! Sie ist schon seit fast 24 Stunden tot, meint die Kremser.«
Gemeinsam stiegen Korbinian und Ludwig die Treppe hinunter zur Wohnung der Toten. Unter der Tür begegneten sie Patrizia Kremser. Sie trug den üblichen schlichten weißen Arztkittel, der ihr aber, wie Ludwig bemerkte, hervorragend stand, und, so klein und zierlich sie war, schleppte sie schwer an ihrem mächtigen Arztkoffer.
»Die Schönheit, meine Herren, ist Frau von Rahnstedt auch in dieser misslichen Lage noch erhalten geblieben«, sagte sie, und sowohl Korbinian als auch Ludwig waren erstaunt über diese emotionale Aussage, die so gar nicht zu der sonst so nüchternen, und geschäftsmäßigen Kremser passte.
»Alles Weitere nach der Obduktion. Ich werde diese umgehend durchführen und melde mich dann«, fuhr sie gleich wieder wie gewohnt mit strenger Stimme fort. Sie muss wohl so sein, dachte Korbinian bei sich. Als erste Frau in der Rechtsmedizin in dieser Position kann sie sich keinerlei Ausrutscher erlauben.
Korbinian und Ludwig betraten die Wohnung, an deren Eingangstür ein wohl selbst gefertigtes Schild hing, auf dem zwei recht geschickte Zeichnungen die Nike von Samothrake und den kleinen Wolfgang Amadeus Mozart zeigten, die durch ein Herz miteinander verbunden waren. Darunter stand in zierlicher, aber schwungvoller Schrift »Niki und Wolferl von Rahnstedt«.
Ludwig, der den großbürgerlich gediegenen Wohnstil seines Elternhauses, die oft gesichtslosen und manchmal auch äußerst geschmacklosen Wohnungen von Kollegen und seine eigene, hauptsächlich von Sonjas puppigem Geschmack dominierte Behausung kannte, hatte so etwas wie die Rahnstedt’sche Wohnung noch nie gesehen. Eine gelungene Mischung aus lässiger Eleganz, überbordender Dekoration und Chaos, eine typische Schwabinger Künstlerwohnung eben. Man konnte die Funktion der einzelnen, oft durch Tüllstoffe und Seidendraperien voneinander getrennten Räume kaum erkennen. In einer Ecke stand ein schlichter Kohleofen, auf dem wohl auch gekocht worden war, daneben ein wackliges Schränkchen mit einigen Tellern und Töpfen. In der Ecke daneben befand sich wohl Wolferls Reich, eine Art buntes Matratzenlager, das übersät war mit Spielzeug und Malutensilien. Im nächsten Raum wurde der Blick sofort auf einen wunderschönen alten Sekretär mit kostbarer Intarsienarbeit gelenkt, auf dem sich Papiere und Bücher stapelten. Auch einige im Raum verteilte Tischchen waren überhäuft mit Büchern, Papieren und vollen Aschenbechern. An einer Wand neben dem Fenster hing ein großes Gemälde, das in wilden Farben und ziemlich verzerrt zwei Frauen zeigte, die eng aneinandergeschmiegt und sich umarmend auf einem Sofa saßen. Ludwig konnte die Signatur »L.B.« und die Jahreszahl »1961« ausmachen.
Gegenüber auf dem großen Bett lag auf dunkelroter Seidenbettwäsche Berenike von Rahnstedt und schien zu schlafen. Lediglich der süßliche, Ludwig und Korbinian mittlerweile wohlbekannte Geruch des Todes und, wenn man näher an die Tote herantrat, ein nicht sehr großer Blutfleck, der von den dichten Locken Berenikes fast verdeckt wurde, wiesen darauf hin, dass die Frau eindeutig tot war. Patrizia Kremser hatte ein weißes Laken teilweise über die Tote gebreitet, das Ludwig nun zögerlich und äußerst behutsam anhob. Berenike von Rahnstedt war vollkommen nackt, und Ludwig, der auch in dieser Situation seinen taxierenden Männerblick nicht ganz abstellen konnte, stellte fest, dass sie außerordentlich schön und wohlproportioniert war. Er bemerkte jedoch auch, dass Korbinian neben ihm mit dieser Nacktheit Schwierigkeiten hatte und es ihm Probleme bereitete, sich der Toten zu nähern.
Dieser kurze stille Augenblick allein mit der toten Berenike war jedoch rasch vorbei, als die Männer der Spurensicherung und der Polizeifotograf auftauchten und man durch das Fenster, an das zahllose Kinderzeichnungen geklebt waren, draußen vor dem Haus den Leichenwagen vorfahren sah.
»Jetzt seids ma absolut im Weg da«, raunzte Franz, der Chef der Spurensicherung, und Korbinian und Ludwig räumten das Feld. Ohne sich groß darüber abzustimmen, setzten sie sich auf die Fensterbank eines der Treppenhausfenster und blickten hinaus auf die sonst so ruhige Trautenwolfstraße und ein kleines Stück blauen Münchner Sommerhimmel. Keiner von beiden hatte Lust, wieder in die Verzweiflung, die oben in der Hilpert’schen Wohnung sicher noch herrschte, zurückzukehren.
»Eigentlich wollten wir ja am kommenden Wochenende heim an den Chiemsee fahren«, meinte Korbinian, doch seiner Stimme war anzumerken, dass er nach diesem Geschehnis daran wohl nicht mehr glaubte. Der Chiemsee war für Evi und Korbinian immer noch das Daheim; dort waren sie auf die Welt gekommen und aufgewachsen, dort lebten ihre Familien und dort, am Ufer des Sees, hatten sie sich bei einer Sonnwendfeier auch kennengelernt.
»Während wir die Ergebnisse der Obduktion und der Spurensicherung abwarten, können wir uns ja schon mal um Lebensumstände und Umfeld der Toten kümmern«, meinte Ludwig und hatte plötzlich wahnsinnige Lust auf eine Roth-Händle. Während seiner Studentenjahre war er leidenschaftlicher Raucher dieses recht heftigen Krauts gewesen und so richtig hatte er sich die Raucherei eigentlich erst abgewöhnt, als sein kleiner Benjamin auf die Welt gekommen war.
Korbinian starrte aus dem Fenster und wirkte vollkommen abwesend. Das Bild der nackten Berenike hatte sich in sein Gehirn eingebrannt, und die erotischen Gefühle, die trotz der schrecklichen Umstände in ihm aufgestiegen waren, beschämten ihn sehr. Vielleicht, so überlegte er, bin ich ihr auch wegen dieser Gefühle zu Lebzeiten immer ein wenig aus dem Weg gegangen, und er erinnerte sich plötzlich sehr deutlich an einen Traum, in dem er mit Berenike in sehr eindeutige lustvolle Handlungen verwickelt gewesen war. Scham stieg in ihm hoch.
»Ich muss noch mal hinaufgehen und nachschauen«, sagte er mit brüchiger Stimme zu Ludwig. »Ich hoff, dass der Bub vorübergehend bei uns bleiben kann und nicht gleich die Fürsorge auftaucht. Ich komm dann nach ins Amt.«
*
Polizeipräsidium München Ettstraße
Eine halbe Stunde später saß Ludwig wieder an seinem Schreibtisch in der Ettstraße, doch die angenehme Ruhe, die morgens noch in den Morddezernaten geherrscht hatte, war verschwunden, und es herrschte rege Betriebsamkeit. Die Kollegen von Mord II, Pacherl und Pachmayer, wegen ihrer ähnlichen Namen und ihrer sehr unterschiedlichen Körpergröße im ganzen Amt nur Pat und Patachon genannt, waren intensiv mit einem Prostituiertenmord beschäftigt.
Gott sei Dank haben sie damit genügend zu tun und halten sich hoffentlich ganz aus unseren Ermittlungen heraus, dachte Ludwig bei sich. Denn sehr häufig brandete ein keineswegs sehr edler Wettstreit zwischen beiden Abteilungen auf, wenn ein neuer Fall zur Lösung anstand. Alma Mader hatte zusammen mit einer leider inzwischen erkalteten Leberkässemmel bereits einen kurzen Lebenslauf der Toten auf den Schreibtisch gelegt.
Berenike Margaretha von Rahnstedt, geboren 21. August 1926 auf Gut Rahnstedt bei Walsrode/Niedersachsen.
Eltern: Gottfried von Rahnstedt, Ökonom; Elisabetha von Rahnstedt, geborene von Ladenburg.
Geschwister: Heinrich von Rahnstedt, geboren 1925; Sophia Mathilde von Rahnstedt, geboren 1928.
B.v.R. wächst auf Gut Rahnstedt auf und wird zusammen mit ihren Geschwistern von Hauslehrern erzogen. 1943/44 besucht B.v.R. die Töchter- und Haushaltsschule in Eschede, bricht diese aber frühzeitig ab.
Gut Rahnstedt wird 1944 durch einen Bombenangriff beschädigt und die Familie auf einen nahegelegenen Bauernhof evakuiert. Der Bruder Heinrich fällt 1945 in den letzten Kriegstagen. 1946 kehrt die Familie auf ihr Gut zurück.
Seit 1947 ist B.v.R. in München gemeldet. Einer regelmäßigen Arbeit geht sie nicht nach. Berufsbezeichnung: Künstlerin, Journalistin, Schriftstellerin.
8. Juni 1955 Geburt des Sohnes Wolfgang Heinrich. Vater unbekannt.
Mehrere Anzeigen unter anderem wegen Ladendiebstahls und Erregung öffentlichen Ärgernisses (Unzucht).
Letztes Delikt: Im Zuge der Studentenunruhen auf der Leopoldstraße am 22. Juni 62 wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt kurzfristig festgenommen.
Beide Eltern verstorben, der Wohnort der Schwester Sophia wird noch ermittelt.
Weitere Angaben folgen.
Mittlerweile war auch Korbinian eingetroffen und berichtete, dass Wolferl vorübergehend noch bei ihnen bleiben könne, bis eine endgültige Entscheidung über seinen weiteren Verbleib getroffen sei. Die Situation zu Hause habe sich ein wenig entspannt, die Kinder würden Plastilin kneten, und Evi habe eine warme Suppe für sie gekocht. Wolferl würde nicht mehr weinen, habe aber seit dem Morgen noch kein Wort gesprochen. Sehr belastend für den Buben sei, dass die Wohnung Rahnstedt versiegelt worden sei und er nicht an seine Sachen komme.
»Da müssen wir mit der Spurensicherung reden«, meinte Ludwig, und er hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen, da trat der Spurensicherungs-Franz ein, um kurzen Bericht zu erstatten.
»Also, Kollegen. Horchts her! In der spurensicherungstechnisch sehr schwer zu behandelnden Wohnung wurde eine große Menge von Fingerabdrücken gefunden. Dürfte sehr schwierig werden, da auch nur einen Teil davon zuzuordnen. Gefunden wurden weiterhin verstreut über die gesamte Wohnung hochprozentiger Alkohol in jeder Form, Medikamente sowohl zum Aufputschen als auch zur Beruhigung in großen Mengen – muss noch genauer untersucht werden – und auch Hanfblätter und -samen sowie eine kleine Menge Kokain.
Die Kollegin Edeltraud hat sich die Unmengen an Literatur, Zeitschriften, Briefwechsel und die Manuskripte und Aufzeichnungen der Toten vorgenommen, sie wird das sichten und anschließend euch vorlegen. Das war alles ein ziemlicher Verhau. Was ich euch jetzt schon zur Auswertung geben kann, sind das Adressbücherl der Toten und ein kleines Notizbuch.
So, das wär’s jetzt mal vorerst. Ich muss dann fort, meine Schwiegermutter wird heute 70!«
»Irgendwo müssen wir anfangen! Du das Adressbücherl, ich das Notizbuch, was meinst, Lucki?«, fragte Korbinian und warf Ludwig ungefragt das kleine dunkelblaue Büchlein zu; dann vertiefte er sich in das etwas größere Buch, das in roten Samt eingebunden war. Auf dem Umschlag war wiederum die Nike von Samothrake, die kopflose geflügelte Schönheit, abgebildet, und darunter stand in zierlicher schwungvoller Schrift »Notizen, Gedanken, Überlegungen/Berenike von Rahnstedt«. Sofort stachen Korbinian ein paar Einträge auf den ersten Seiten ins Auge.
23. September 1954
Ich bin fürwahr die Nike, die Kopflose, die Geflügelte. Brauch den Kopf nur zuweilen, hab selten mit ihm entschieden, sondern zumeist aus dem Bauch heraus. Aber Flügel zum Abheben, die brauch ich, zum ins Weite Fliegen und in ferne Länder und in meine Traumwelten voller Abenteuer und voller Lust.
Fliegen übers Menschengetriebe da unten, schnell hinabtauchen dorthin, aber auch rasch wieder aufsteigen und davonfliegen! Nicht festsitzen im Zwang, im Gefängnis der Konventionen, nein, frei sein!
18. Juli 1955
Bubi, mein Wolferl, mein ganzes Glück. Seinen kleinen Lockenkopf an meiner Schulter, sein kleiner Mund, der meine Brüste sucht! Schwer sind sie, schmerzend und pochend, doch die Lust, wenn er schmatzend an ihnen saugt, ist unvorstellbar groß, größer als alle Lust zuvor.
24. Dezember 1955
Martin hat mir Geld geschickt. Ich hoffe, dass er nichts dafür erwartet. Er hat in Berlin den Preis der Gruppe 47 für eine Erzählung bekommen und ist nun in aller Munde.
Es ging nicht anders. M. will ich niemals
bitten. Es war ganz zufällig sein Samen, der in mir aufgegangen ist. In letzter Minute Weihnachtsgeschenke für Bubi und für die Freunde gekauft.
»Ja, manchmal war’s früher schon einfacher, als wir noch einen richtigen Chef gehabt haben«, murmelte Ludwig vor sich hin. »Der hat halt seine Anweisungen gegeben, und das hat dann gegolten!«
Seit eineinhalb Jahren, seit Siegfried Breitner, ein Ettstraßenurgestein, in den Ruhestand gegangen war, waren die beiden Abteilungen Mord I und II ohne Vorgesetzten. Heftige interne Querelen und Sparmaßnahmen hatten dazu geführt, dass bis jetzt noch niemand Neues ernannt worden war.
Wäre doch so einfach, dachte sich Ludwig. Sie sollen den Korbinian zum Chef machen, das wär einfach das Allerbeste. Der hat das Zeug zum Vorgesetzten, ohne Zweifel, aber weil er noch nicht genügend Dienstjahre auf dem Buckel hat, wird gezaudert und gezögert.
Dann vertiefte auch er sich in seine Lektüre, bewunderte ebenfalls die zierliche, aber ausdrucksstarke Schrift Berenikes und war nicht erstaunt darüber, dass das Büchlein schier überquoll von Adressen. Die Tote war eine äußerst kontaktfreudige, umtriebige Frau gewesen.
*
München-Schwabing Hohenzollernstraße
Evi Hilpert war mit den Kindern unterwegs zum Bäcker Wimmer in der Hohenzollernstraße. Sie hatte ihnen versprochen, dass sie sich etwas Süßes aussuchen dürften. Evi fühlte sich erschöpft und angeschlagen. Es war äußerst anstrengend mit den Kindern; der immer wieder schluchzenden Elsi und dem vollkommen in sich gekehrten Wolferl, der, seit er vom Tod seiner Mutter erfahren hatte, noch kein Wort gesprochen und noch keinen Bissen gegessen hatte. Warum hab ich vergessen, noch einmal nach ihr zu schauen, fragte sich Evi zum wiederholten Male, und die Vorstellung, dass die Kinder am gestrigen Nachmittag neben einer Toten gespielt hatten, ließ sie frösteln und Übelkeit in ihr aufsteigen.
»Ägidius Trautenwolf, Münchner Glasmaler, 15. Jahrhundert«, sagte Wolferl plötzlich und deutete auf das Straßenschild. Evi blieb wie angewurzelt stehen, und Elsi klatschte begeistert in die Hände.
»Wolferl, du redst ja wieder«, rief sie begeistert.
Wolferl blickte beide verwundert an.
»Hat mir die Mama gesagt«, flüsterte er. »Wo ist sie denn jetzt, die Mama?«
Evi beugte sich zu ihm herunter und hatte große Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten.
»Es geht ihr gut, Wolferl. In ein paar Tagen gehen wir auf den Friedhof und verabschieden uns von ihr. Da hat sie’s gut und ihre Ruhe.«
»Die Mama will aber keine Ruhe! Nichts ist schlimmer als ein eingeschlafener Arsch, das hat sie immer gesagt«, rief Wolferl empört.
Was mach ich nur, was sag ich ihm denn jetzt, überlegte Evi verzweifelt. Doch in diesem Moment riss sich Wolferl von ihr los und stürzte auf eine rotlockige Frau zu, die ihnen auf der Leopoldstraße entgegenkam und trotz des sommerlichen Wetters einen weißen, schon etwas abgeschabten Pelzmantel trug. Die Frau, die etwa in Evis Alter war, breitete die Arme aus.
»Bubi, mei Schatzerl«, rief sie und umarmte ihn heftig.
»Lou«, rief Wolferl schluchzend. »Die Mama soll nicht zur Ruhe gehen!«
Lou drückte ihn an sich und wiegte ihn in ihren Armen wie einen Säugling.
»Doch, doch, mein Bubi«, meinte sie mit zitternder Stimme. »Diese Rua, woaßt, is a ganz besonders schöne. So wia a ganz besonders guada Mittagsschlaf, nur halt länga.«
Wolferl schien sich ein wenig zu beruhigen, und die rothaarige Frau begrüßte Evi und Elsi. Als sie näher herantrat, fiel Eva ein, dass sie diese Lou doch schon ein- oder zweimal gesehen hatte. Einmal an Fasching in einem eng anliegenden Katzenkostüm – mit einer Gruppe ebenfalls maskierter Freunde hatte sie Niki damals abgeholt – und einmal bei einem Spaziergang im Englischen Garten.
»I hab’s grad erst erfahrn«, sagte Lou. »I war draußen in Schäftlarn bei meina Mutta.«
Es hat sich also schon herumgesprochen, dachte sich Evi. Schwabing ist doch wie ein Dorf. Lou begleitete Evi und die Kinder zum Bäcker Wimmer in der Hohenzollernstraße und war sichtlich bemüht, sich vor den Kindern nichts anmerken zu lassen. Doch ihre Augen waren tränennass, unter ihren zahllosen Sommersprossen war sie sehr blass, und ständig hielt sie mit zitternden Händen krampfhaft ihren Pelzmantel zusammen. Einmal jedoch gelang ihr das doch nicht so ganz, und Evi konnte sehen, dass sie unter dem Pelz eine abgewetzte blaue Latzhose trug, die zahllose Farbspritzer aufwies.
In einer kleinen Grünanlage nahe der Hohenzollernstraße setzten sich beide Frauen auf eine Bank.
»Wenn du eine so gute Freundin von der Niki bist, musst du dich mit der Polizei in Verbindung setzen. Die sind sicher für jeden Hinweis dankbar«, meinte Evi.
»Ach woaßt, die Polizei … damit hob i liaba nix zum tun«, meinte Lou und holte eine lange Zigarettenspitze aus ihrer Tasche. Sie hielt einen Moment inne und schaute Evi an.
»I woaß scho, dass dei Mo Polizist is, nix für unguat.«
Lou stammte aus einem Bauernhof bei Schäftlarn. Sie war um einige Jahre jünger als Niki, und ebenfalls aus der Enge des Elternhauses ausgebrochen und nach München gegangen. Dort hatte sie zuerst als Kindermädchen gearbeitet, mit einer Menge jüngerer Geschwister kannte sie sich ja bestens mit Kleinkindern aus, dann war sie mit einigen Schwabinger Künstlern bekannt geworden und hatte die Malerei für sich entdeckt. Sie studierte an der Kunstakademie, hatte dort aber bis jetzt noch keinen Abschluss gemacht. Seit einigen Jahren gehörte sie einer äußerst spektakulären Münchner Künstlervereinigung, der Gruppe SPUR, an, die immer wieder durch ihre Werke und Publikationen starkes Aufsehen erregte und schon mehrfach mit der Polizei aneinandergeraten war.
»Letztes Joa san sechs Ausgaben von unsera Zeitschrift wega Anstiftung zum Aufruhr und wega Gotteslästerung beschlagnahmt worn, und zurzeit laft a Prozess gega uns«, berichtete Lou. »Mir stehn ständig unter Beobachtung, die Polizei steht sozusagen vor unsere Kammerlfenster.«
Evi wusste zu diesen Ausführungen nicht viel zu sagen, denn das war eine Welt, die ihr gänzlich unbekannt war. Einmal Landei, immer Landei, dachte sie, aber ich bin ja recht zufrieden damit.
Niki und Lou hatten sich Mitte der 50er-Jahre kennengelernt und waren sofort enge Freundinnen geworden.
»Mir is es ned guat ganga in der Zeit«, erzählte Lou, »und sie hod si so rührend um mi kümmert. Ich glaub, ohne sie wär i nimma auf d’ Fiaß komma. Sie is mei beste Freindin bis heut. Mir ham immer zammg’halten und ham uns gegenseitig ausg’holfn Als sie oamoi a größeres Honorar kriagt hod, hods mir an Satz wunderbare teure Pastellkreiden g’schenkt. I hob zwischndurch aufn Wolferl aufpasst und für die zwoa wos kocht. Und Klamotten hamma ständig tauscht. Sie hat ja so an ganz b’sondern Stil g’habt und immer aus a boa Stofffetzen wos Herrlichs zaubert.«
»Ja, mir hat sie erst meine Wohnzimmervorhänge genäht«, berichtete Evi, und dann konnten beide Frauen, während die Kinder mit ihren Zuckerschnecken auf der Wiese herumsprangen, nicht anders als dazusitzen und bitterlich zu weinen.
»Ich bitt dich sehr, dich mit meinem Mann und seinem Kollegen in Verbindung zu setzen«, bat Evi Lou zum Abschied noch einmal. »Ich kann dir garantieren, dass die beiden vollkommen unvoreingenommen sind und von anderen Sachen gar nichts wissen wollen.«
Lou versprach, darüber nachzudenken.
»Bubi«, Lou winkte ihn zu sich. »Du konnst imma gern vorbeikomma. Bring doch dei Freindin mit, ihr könnts malen bei mir, sovui und solang ihr wollts!«
Dann trat sie spontan auf Evi zu und umarmte sie herzlich. Eine leichte Mischung aus Terpentin, einem herben Parfüm und Zigarettenrauch stieg ins Evis Nase.
Als Evi mit den Kindern wieder zurück in Richtung Trautenwolfstraße ging, trat ihnen auf Höhe der Bäckerei Wimmer Franzl Wimmer, der Inhaber der Bäckerei, in den Weg.
»Ich hab g’hört, was bei euch im Haus passiert is«, sagte er. »Ich hab sie ja auch kennt, die Frau von Rahnstedt. Aber darüber wollt ich mit Ihnen eigentlich nicht reden. Hams an Moment Zeit, oder is jetzt schlecht?«
Während die Kinder wider alle Vernunft noch mal eine Zuckerschnecke bekamen, folgte Evi dem Franzl Wimmer in ein winziges, nicht sehr ordentliches Büro hinter der Backstube.
»Sie ham mir doch mal erzählt, dass Sie lang in einer Bäckerei g’arbeit ham, Frau Hilpert«, begann Franzl und ruckelte etwas verlegen auf seinem Stuhl hin und her. »Es is so … i suchat jemand … für’n Verkauf und a fürs Büro.«
Evis Herz klopfte. Als sie vor sieben Jahren nach München gezogen war, war ihr nicht nur der Abschied von den Eltern, den Geschwistern und vom Chiemgau schwergefallen, nein, auch der Abschied von ihrer langjährigen Arbeitsstelle, der Bäckerei Bucher in Chieming, bei der sie gelernt und danach noch einige Jahre gearbeitet hatte, war sehr hart für sie gewesen. Sie hatte ihren Beruf geliebt, den Geruch der frischen Semmeln, das Gespräch mit den Kunden, den süßen Duft der Prinzregententorte, für die der Bucher berühmt war; all das war wunderbar gewesen, und nicht einmal das frühe Aufstehen hatte ihr besondere Schwierigkeiten bereitet.
»Aber Herr Wimmer, ich hab doch Mann und Kind«, wandte Evi ein. »Da hab ich keine Zeit zum Arbeiten.«
»Ach«, Franzl Wimmer winkte ab, »des wär ja nur für a paar Stund die Woch. Die Theres schafft’s nimmer alloa, und mei Frau … Sie wissen ja … mir ham vier Kinder! Bitte überlegen Sie’s sich. Sie machen mir so an netten und patenten Eindruck.«
Manchmal, dachte sich Evi auf dem Heimweg, passiert wochenlang gar nichts und dann plötzlich so viel auf einmal.
*
Polizeipräsidium Ettstraße
»Herr Doktor Baumeister«, rief Korbinian etwas aufgebracht ins Telefon. »Sie müssen doch so ungefähr wissen, wann Ihre Frau zurückkommt. Sie stehen doch sicher zwischendurch mit ihr in Verbindung!«
Nach kurzer Zeit legte er entnervt auf und stöhnte.
»Dieser Doktor Baumeister, ich glaub’s einfach nicht! Seine Frau Sophia, die Schwester der von Rahnstedt, ist zurzeit in Bad Reichenhall zur Kur. Erschöpfung, angeschlagenes Nervenkostüm und so fort. Sie ist seit über zwei Wochen weg, und es ist ihm nicht bekannt, wann sie wiederkommt.«
»Du, so was soll’s geben«, erwiderte Ludwig trocken. »Nicht alle Leut führen eine so vorbildliche Ehe wie du. Die sind vielleicht recht froh, wenn sie nichts voneinander hören!«
Korbinian schüttelte den Kopf. Es war für ihn schon unvorstellbar, überhaupt so lang von seiner Evi getrennt zu sein. Und wenn, dann würde man sich doch schreiben und zwischendurch telefonieren, wann immer es möglich war.