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Christine von Brühl

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Beschreibung

Aufstieg und Fall – und Neuanfang: die Geschichte der Familie von Brühl und ihres Schwanenporzellans Christine von Brühl, Nachfahrin des Politikers Heinrich von Brühl (1700–1763), erzählt vom wechselvollen Schicksal ihrer Familie. Am Beginn stehen Heinrichs märchenhafte Karriere am Dresdner Hof und sein beispielloser Niedergang. Die Geschichte ist dabei aufs engste mit dem Brühlschen Schwanenservice verbunden. Es stammt aus der Manufaktur Meissen und war das erste Porzellan von derart gestalterischer Pracht. Seine Fragilität ist von höchster Symbolkraft: Nach Kriegen und Flucht sind heute von ursprünglich 2000 wertvollen Exponaten nur noch wenige hundert erhalten. Dank Frieden und Mauerfall ist der Familie die Übertragung ihrer tradierten Werte in zeitgemäße Formen gelungen. »Die Geschichte des Meissener Schwanenservice zeigt, wie meine Familie dank der Wiedervereinigung ihren Frieden mit der Vergangenheit machen konnte.« Christine von Brühl

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Über das Buch

Aufstieg und Fall – und Neuanfang: die Geschichte der Familie von Brühl und ihres Schwanenporzellans

Christine von Brühl, Nachfahrin des Politikers Heinrich von Brühl (1700–1763), erzählt vom wechselvollen Schicksal ihrer Familie. Am Beginn stehen Heinrichs märchenhafte Karriere am Dresdner Hof und sein beispielloser Niedergang. Die Geschichte ist dabei aufs engste mit dem Brühlschen Schwanenservice verbunden. Es stammt aus der Manufaktur Meissen und war das erste Porzellan von derart gestalterischer Pracht. Seine Fragilität ist von höchster Symbolkraft: Nach Kriegen und Flucht sind heute von ursprünglich 2000 wertvollen Exponaten nur noch wenige hundert erhalten. Dank Frieden und Mauerfall ist der Familie die Übertragung ihrer tradierten Werte in zeitgemäße Formen gelungen.

»Die Geschichte des Meissener Schwanenservice zeigt, wie meine Familie dank der Wiedervereinigung ihren Frieden mit der Vergangenheit machen konnte.« Christine von Brühl

Über Christine von Brühl

Christine von Brühl, geboren 1962, studierte Slawistik, Geschichte und Philosophie in Lublin, Heidelberg und Wien. Nach Stationen bei DIE ZEIT, Sächsische Zeitung und Das Magazin lebt sie heute als freischaffende Autorin in Berlin. Bei atb lieferbar ist ihre Biographie »Die preußische Madonna. Auf den Spuren der Königin Luise«. Zuletzt erschien »Anmut im märkischen Sand. Die Frauen der Hohenzollern«.

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Christine von Brühl

Schwäne in Weiß und Gold

Geschichte einer Familie

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Newsletter

Vorwort

Brühls an sächsischen Höfen

Brühl polarisiert

Gangloffsömmern

Weißenfels

Leipzig

Dresden

Leidenschaft für Porzellan

Allianz mit Preußen

Das Zeithainer Lustlager

Geheimrat Augusts II.

Ein Service für den Premier

Des Königs Schnitzel

Premierminister Augusts III.

Hochzeit mit Marianne Kolowrat-Krakowsky

Heinrich und Mariannes Kinder

Porzellanmanufaktur Meissen

Das Brühlsche Schwanenservice

Majoratsherr von Pförten

Krieg mit Preußen

Brühls an preußischen Höfen

Ende des augusteischen Zeitalters

Heinrichs Tochter Maria Amalie

Heinrichs Ältester Alois Friedrich

Heinrichs Zweitgeborener Charles Adolph

Heinrichs Enkelin Marie von Clausewitz

Heinrichs Drittgeborener Albert Christian Heinrich

Heinrichs Jüngster Hans Moritz

Das Seifersdorfer Tal

Heinrichs Enkel Karl

Familienleben in Pförten

Rückzug in die Niederlausitz

Heinrichs Enkel Friedrich August Adalbert

Heinrichs Urenkel Friedrich-Stephan

Urgroßvater Friedrich-Franz

Schloss und Park Pförten

Großvater Georg

Das Schwanenservice kommt ins Museum

Industrialisierung und Kaiserzeit

Glück in der Ferne

Urgroßonkel Franz und Alfred

Großonkel Vincenz

Allenstein

Gut Bansen

Schneidemühl

Krieg und Flucht

Zurück nach Gangloffsömmern

Flucht nach Westfalen

Die Seifersdorfer Brühls

Verlust und Zerstörung

Resilienz

Ostpreußisches Landesmuseum Lüneburg

Diplomat der Bundesrepublik

Suche nach dem Schwanenservice

Großvaters Tod

Gesandter in Warschau

Botschafter in Wien

Spurensuche und Identitätsfindung

Die Dresdner Porzellansammlung

Die Thal-Freunde

Schloss Nischwitz

Forst

Brody (Pförten)

Schwanenservice 2000

Porzellan-Stiftung Meissen

Der Tafelaufsatz

Das Schwanenservice wird ausgestellt

Nachwort

Anmerkungen

Bibliographie

Bildteil

Bildnachweis

Dank

Impressum

Für meinen Neffen Nikolaus, der im frühjugendlichen Alter neben mir im Auto saß und – obwohl weit nach der Wende geboren und in Bayern aufgewachsen – das Radio spontan lauter drehte, als plötzlich von Dresden die Rede war. Er wusste, dass sein Vorfahre väterlicherseits dort die Brühlsche Terrasse hatte errichten lassen und sein Großvater mütterlicherseits beim Bombenangriff auf diese Stadt 1945 einen Teil seiner Familie verlor. Er fühlte sich angesprochen.

Vorwort

Zerbrechlich wie Porzellan

Wenn bei uns zu Hause, als ich noch ein Kind war, meine Geschwister und ich um den Mittagstisch saßen, verständigten sich meine Eltern oft auf Französisch. Sie wollten, dass wir nicht verstehen, worüber sie sich unterhielten. Meist waren es wohl organisatorische Fragen, die sie zu besprechen hatten. Vielleicht ging es auch um Geschenke, die sie uns zu Weihnachten oder zum Geburtstag besorgen wollten. Oder sie sprachen über Menschen, die wir gut kannten, von denen wir aber manches nicht erfahren sollten.

Französisch war die Sprache der Erwachsenen, der Menschen, die klüger waren als wir Kinder. Wir wuchsen damit auf und zweifelten nicht an der Notwendigkeit dieser Geheimsprache. Als wir älter geworden waren, versuchten wir selbst, sie zu erwerben.

Wenn mein Vater einen Wutanfall hatte, war das ähnlich. Ich verstand dann auch kein Wort von dem, was er sagte. Er schrie und tobte, sein Gesicht wurde puterrot, der Mund ging schnell auf und zu. Mit der flachen Hand schlug er auf den Tisch, so hart, dass die Tassen und Teller klirrten, aber ich bekam Angst. Am liebsten hätte ich mich in ein Mauseloch verkrochen.

Voller Sorge schaute ich dann zu dem Glasschrank mit den kostbaren Porzellanskulpturen meiner Mutter. Ich fürchtete, sie könnten bei dem Lärm in tausend Stücke zerspringen. Fein bemalte Vögel befanden sich in dem Schrank, zarte Figurinen, farbige Messerbänkchen und Zierschalen. Meine Eltern hatten sie zur Hochzeit geschenkt bekommen. Was fehlte, waren Schalen oder Teller vom »Service aux cygnes«, dem berühmten Brühlschen Schwanenservice. Mein Vater war geflohen. Seine Familie hatte alles verloren.

»Immer macht ihr alles kaputt«, schrie mein Vater, wenn der Staubsauger nicht funktionierte, »Was für eine Schlamperei«, wenn Unordnung entstanden war. »Bringt mir keinen Peppelkram«, brüllte er, wenn wir vor der Abreise in die Sommerferien noch eine Plastiktüte mit Schuhen im Kofferraum des Autos verstauen wollten. Besonders wütend wurde er, wenn meine Mutter keine Antwort gab. Lauthals schrie er ihren Namen durch das ganze Haus. Sie rannte durch die vielen Zimmer und suchte die letzten Siebensachen vor der Abreise zusammen.

Wenn mein Vater wütend war, konnte er brüllen wie ein Stier, so laut, dass alle Nachbarn ihn hörten. Selbst Arbeitskollegen kannten seine cholerischen Anfälle. Sie witzelten darüber und bezogen sie auf seinen Nachnamen.

Für uns Kinder war das weniger komisch. Wir verfielen in eine Art Schockstarre und hofften, dass der Sturm bald vorübergehe. Ein weiser Freund, den ich um Rat fragte, selbst ein Mensch, dessen Familie im Zweiten Weltkrieg hatte fliehen müssen, erklärte mir: Wenn ein Mann, der einen Familienbesitz mit Wald und Feld und Landwirtschaft zu übernehmen hatte, erwachsen geworden war, musste er laut und vernehmlich sprechen können, so laut, dass seine Stimme über den ganzen Hof schallte, wenn sich seine Mitarbeiter dort morgens versammelt hatten, um seine Anweisungen entgegenzunehmen. Wem die Stimme zu solch einem Auftritt fehle, wer Angst habe oder als Heranwachsender nachdrücklich verunsichert worden sei, fange aus Verzweiflung an zu brüllen, sagte mein alter Freund mit einem leisen Lächeln. In der Tat war mein Vater der Älteste in seiner Herkunftsfamilie.

Reisen, Aufbrüche, Umzüge machten ihn besonders nervös. Sortieren, ordnen, packen waren ihm Tortur, den Kofferraum sinnreich befüllen und um Himmels willen nichts zurücklassen – all dies muss ihm Todesangst bereitet haben. Er empfand Kontrollverlust und reagierte mit Panik. Seine Wut war Ausdruck von Hilflosigkeit. Wenn er zu allem Überfluss mit der eigenen Familie verreiste, seiner unübersehbar großen Kinderschar, regte er sich besonders auf. Dann wurde die Abreise zu einer echten Herausforderung. Er schien solche Fahrten zu hassen. Am liebsten wäre er zu Hause geblieben, doch zu allem Überfluss war er Diplomat geworden. Sein ganzes Leben bestand aus Umzügen.

Viele Jahre später, er war alt geworden, rief er mich eines Tages aufgebracht zu seinem Auto. Erneut stand eine Abreise bevor, und wieder einmal galt es, Koffer, Taschen, Schachteln, Hüte im Kofferraum zu verstauen. Verzweifelt stand er, gestützt auf seinen braunen Gehstock, hinter dem Wagen und wies auf das Chaos, das sich darin befand. »Kannst du mir bitte helfen?«, fragte er mit leiser Stimme.

Brühls an sächsischen Höfen

Meissen findet die Rezeptur des Weißen Goldes 1344–1733

Brühl polarisiert

Die Geschichte meiner Familie geht zurück auf Heinrich Graf von Brühl (1700–1763), erst Page und später Minister am Hof des sächsischen Kurfürsten August II. (1670–1733), genannt »der Starke«, und seines Sohnes Friedrich August II. (1696–1763), bezeichnet als August III., beide während ihrer Regierungszeit gleichzeitig Könige in Polen. Hoch geschätzter Diplomat und Staatenlenker einerseits, verhasst und verleumdet wegen seiner dauerhaften Nähe zur Macht andererseits, polarisierte Brühl jahrhundertelang die Ansichten. Priesen die einen seine klugen Strategien im Dienst Sachsens, neideten die anderen ihm seine Karriere und bezeichneten ihn als intrigant und unaufrichtig. Lobte man auf der einen Seite sein Repräsentationsvermögen und seine kostbaren Kunstsammlungen, mokierte man sich auf der anderen über seine Verschwendungssucht und gab ihm die Schuld an der finanziellen Misere des Landes. In Vergessenheit geriet er nicht: Die nach ihm benannte Brühlsche Terrasse, Reminiszenz seines Anwesens in unmittelbarer Nähe der kurfürstlich-königlichen Residenz, dominiert bis heute die Stadtkulisse von Dresden.

Heinrich Graf von Brühl (1700–1763), gemalt um 1730 von Louis de Silvestre

Insbesondere der Unwille Friedrichs II. von Preußen (1712–1786) gegen Brühl bestimmte das Bild, das sich Historiker wie Kulturwissenschaftler später machten. Ausgerechnet auf die von ihm geprägte preußische Geschichtsschreibung berief sich die Mehrzahl der Beobachter jener Epoche und erklärte den Minister zu einer unliebsamen Figur. So stellte der ungarische Historiker Aladár von Boroviczény 1930 in seiner Biographie erstaunt fest: »Bei der Durchsicht der sehr umfangreichen Literatur über den Grafen Brühl begegnete ich zu meiner Überraschung bloß abfälligen Urteilen über den Mann, der soviel für sein Vaterland geleistet hatte, wie kaum je ein Mensch vor ihm. Und als ich an die unmittelbaren Quellen kam, fand ich nicht eine einzige historisch begründete Tatsache, welche das landläufig ungünstige Urteil über den sächsischen Premierminister rechtfertigte.«1

Nicht nur die Geschichtsschreibung folgte der preußischen Sicht auf das augusteische Zeitalter, auch der polnische Autor Ignacy Kraszewski (1812–1887) beschrieb den sächsischen Hof in seiner Sachsentrilogie Gräfin Cosel (1873), Brühl (1874) und Aus dem Siebenjährigen Krieg (1875) als Hort der Intrige und des Verrats. Die beiden Kurfürsten und Könige hätten Sachsen und damit auch Polen durch Unachtsamkeit und Misswirtschaft dauerhaft in den Ruin getrieben. Brühl sei ihnen dabei ein williger Helfer gewesen. Dank geschickter Ränkespiele und Betrügereien habe er sich das Amt des ersten Ministers erschlichen. Konkurrenten wie Minister Alexander Józef Sułkowski (1695–1762) oder den Hofbeamten Christian Heinrich von Watzdorf (1698–1747) habe er kurzerhand verbannen oder umbringen lassen.

Dabei war es wohl kaum Kraszewskis Absicht, Friedrich II. auf ein Podest zu heben, ausgerechnet den Mann, der mitverantwortlich für die Teilung Polens war. Der Romancier beschrieb diese Zeit vielmehr aus der Haltung eines Patrioten, der die Herrschaft der sächsischen Kurfürsten in seinem Land im Rückblick – seine Werke erschienen fast hundert Jahre später – kritisch sah. Naturgemäß hielt er sich dabei nicht fortlaufend an historische Fakten, vieles in seinen drei Büchern ist frei erfunden, aber sie lesen sich leicht und fanden rasch Verbreitung. Damit erreichte die einseitige Sichtweise ein breites Publikum und verankerte sich nachdrücklich in der allgemeinen Wahrnehmung.

Als ein Jahrhundert später DDR-Granden das Thema aufgriffen und eine sechsteilige Fernsehserie auf der Basis der Romane Kraszewskis produzierten, fühlte sich die Mehrheit in ihrer Ansicht bestätigt. Dabei war auch diesem Regime keinesfalls daran gelegen, die Privatkampagne Friedrichs II. gegen einen einzelnen sächsischen Höfling fortzusetzen. Genauso wenig hatten sie die Absicht, Polen gegenüber Sachsen oder gar der DDR aufzuwerten. Diesmal galt es, die Zeiten absolutistischer Prachtentfaltung zu verurteilen und die Vorzüge des Arbeiter-und-Bauern-Staats zu propagieren. Auch dazu eignete sich Brühl ausgezeichnet. Dargestellt als intriganter und aalglatter Vertreter seines Standes, der sich seine Stellung bei Hofe zunutze macht, um die Staatskasse an sich zu reißen und sich persönlich zu bereichern, spielte er eine eindrucksvolle Rolle in dem sechsteiligen Film Sachsens Glanz und Preußens Gloria. Die sorgenvolle Frage des Kurfürsten an seinen Untergebenen: »Brühl, habe ich noch Geld?«, die in dem Film mehrfach wiederholt wird, dazu die herausragende Figur des Schauspielers Rolf Hoppe, der den sächsischen Herrscher als nachgiebigen, sentimentalen König mimte, prägte sich den Zuschauern unauslöschlich ein.

1983/84 mit landesweit bekannten Darstellern in prächtigen Kostümen gedreht, mit Pferden, Kutschen und Reitern, an unterschiedlichsten Schauplätzen, auch außerhalb der DDR, wurde der Mehrteiler 1985 und 1987 erstmals ausgestrahlt und dann unzählige Male wiederholt. Auch an finanziellen Ausgaben wurde nicht gespart: Die Serie kostete laut der Sendung Umschau im Mitteldeutschen Rundfunk 21 Millionen DDR-Mark. Kaum ein Bewohner Sachsens oder Liebhaber der sächsischen Geschichte, der den Streifen nicht gesehen hätte.

Erst im 21. Jahrhundert wendete sich das Blatt allmählich. Unter dem Motto »Was vom Glanze übrig blieb« begab sich der Journalist Jens Jungmann nach der politischen Wende in Europa auf Spurensuche und brachte viele bislang unbekannte Details über den Film ans Licht. Direktoren und Experten der Museen der Staatlichen Kunstsammlungen zu Dresden, des Sächsischen Hauptstaatsarchivs, der Schlösser und Gärten Sachsens, des Königlichen Schlosses in Warschau und des Wawel in Krakau standen ihm dabei hilfreich zur Seite. So gelang es ihm, an unzähligen Beispielen herauszuarbeiten, wie fehlerhaft die Darstellung der sächsischen Geschichte in der Filmserie war. Seine Recherchen fanden Eingang in zwei mehrteilige Artikelserien in der Chemnitzer Morgenpost und der Dresdner Morgenpost, die sich Einzelheiten und Hintergründen der Verfilmung widmeten. Wieder war das Interesse immens: Die Serien brachten den Zeitungen ein Auflagenplus von 25 Prozent.

Auch in der Wissenschaft war man seit der Wendejahre bemüht, ein differenzierteres Bild von Brühl und dem augusteischen Zeitalter zu zeichnen. Der Leipziger Historiker Walter Fellmann veröffentlichte 1989 eine Biographie über den Minister, die ihn als loyalen Untergebenen seiner Kurfürsten und als begabten Politiker seiner Zeit darstellte. Im Vorwort zur vierten Auflage schreibt er: »Einige Leser haben in meinen Aufzeichnungen das Stichwort ›Brühlsches System‹ vermißt, inzwischen als eine Art geflügeltes Wort verwendet. Ein ›Brühlsches System‹ im eigentlichen Sinne des Wortes hat es jedoch nie gegeben. Im spätabsolutistischen Sachsen sah sich der Herrscher als vom Gottesgnadentum beseelt: er war das Land, sein Wille Gesetz. Zur Schaffung eines ›Systems‹ war selbst der einflußreichste Minister außerstande. Zum ›Systemgründer‹ avancierte Brühl durch Zuschreibung von Macht, die er nie besaß. Daß noch heute die Auffassung vertreten wird, er sei seit dem Sturz Sułkowskis 1738 ›für ein Vierteljahrhundert der unumschränkte Herrscher in Kursachsen‹ gewesen […], verwundert schon. Der Kurfürst in seiner Gruft kann darob keinen Widerspruch einlegen. Seit Ausbruch des Siebenjährigen Krieges 1756 herrschte in Sachsen meist der Preußenkönig Friedrich II., jedenfalls nicht der nach Polen vertriebene und 1763 erst zurückgekehrte Brühl, aber auch in dem auf 18 Jahre zu reduzierenden ›Vierteljahrhundert‹ war er nicht der ›unumschränkte Herrscher‹.«2

Etwa zur selben Zeit nahm sich die Vogtländer Historikerin Dagmar Vogel der Sache Brühl an und durchforstete mit unendlichem Fleiß über Jahre die Archive. Der erste Band ihrer Biographie – erschienen im Jahr 2003 – umfasst beinahe siebenhundert Seiten und beschreibt doch nur wenig mehr als die erste Hälfte von Brühls Leben. Schier unendlich ist die Zahl der Details, die sie gesammelt hat. Eindrücklich widerlegte sie diverse Informationen, die offenbar nie genau überprüft worden waren, so den Ort seiner Geburt – er kam nicht in Gangloffsömmern, sondern in Weißenfels zur Welt – oder die Behauptung, er habe allein durch die Organisation der Heeresschau und der Festlichkeiten rund um das Zeithainer Lustlager (1730) die allumfassende Aufmerksamkeit des Königs auf sich gelenkt: »Die Akten liefern kaum Anhaltspunkte für eine Mitwirkung Brühls an der Ausrichtung des Zeithainer Lagers. Am 14. Januar 1730 übermittelte er dem Kammer-Kollegium einen Befehl Augusts II., der das benötigte Holz für die Zeithainer Bauten sowie Fourage für die Pferde betraf.«3 Nach Vogels Erkenntnissen muss man sich ernsthaft fragen, wie steil Heinrichs Karriere wirklich gewesen ist. Auch Fellmanns Untersuchungen zeigen, wie lang Brühls berufliche Entwicklung gedauert hat.

Bahnbrechend schließlich war eine internationale Tagung zu dem Thema, die dank eines relativ unspektakulären Aufrufs im Internet, eines informellen »call for papers«, im März 2014 in Dresden zustande kam. Eingeladen hatten die Wissenschaftlerinnen Ute Koch von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und Cristina Ruggero von der Bibliotheca Hertziana in Rom. Zwei Tage lang diskutierten Forscher aus den Niederlanden, Polen, Deutschland und Italien intensiv über die Ereignisse im augusteischen Zeitalter. In einem umfangreichen Band publizierten die beiden Frauen später sämtliche Beiträge und Erkenntnisse dieser Tagung. Das Ergebnis war beeindruckend. Die Vorträge hoben samt und sonders die kulturelle und politische Bedeutung Sachsens im 18. Jahrhundert hervor und beschrieben Brühl als Mäzen seines Landes und Förderer seiner Vorgesetzten inmitten eines penibel entwickelten Netzwerkes von Kunstkennern und -händlern, das sich über ganz Europa erstreckte.

In seiner Publikation Architektur und Kunst in der Ära des sächsischen Ministers Heinrich Graf von Brühl (1738–1763), erschienen 2014 im Jan Thorbecke Verlag Ostfildern, konnte der Danziger Kunsthistoriker Tomasz Torbus die neuen Erkenntnisse bekräftigen. Gemeinsam mit Markus Hörsch und weiteren Experten dokumentierte er anhand von zahlreichen hervorragend reproduzierten Abbildungen, historischen Stadtplänen und Architekturskizzen vorurteilsfrei das kulturelle Engagement Heinrichs und verwies auf unmittelbare Parallelen zwischen der polnischen und sächsischen Geschichte, die sich aus der Zeit seines Wirkens ergaben.

Einen ähnlichen Ansatz verfolgte das sächsische Landesamt für Denkmalkunde in seiner im April 2020 veröffentlichten Publikation Heinrich Graf von Brühl (1700–1763). Bauherr und Mäzen. Im Vorwort schreibt Landeskonservator Alf Furkert, Brühl habe sich »während der sächsisch-polnischen Personalunion eine herausragende Stellung in der höfischen Hierarchie erarbeitet«. Allein die Wahl des Verbes zeigt, dass hier eine Neubewertung vorgenommen wurde. Sachsen (und Polen), möchte man meinen, hatte(n) sich nach all den Jahren endlich zur Wehr gesetzt. Durch eine Veränderung der Perspektive von Krieg auf Frieden, von Machtentfaltung auf Kulturförderung, von Systemkritik auf vorurteilslose Betrachtung der handelnden Personen hatte sich alles verändert. In seinem Tagungsbeitrag Wie die Schrift Friedrich den Großen zu einem Gewinner und Heinrich von Brühl zu einem Verlierer der Geschichte machte4 dokumentierte der Historiker Jürgen Luh anschaulich, dass der Preußenkönig eine regelrechte publizistische Kampagne gegen Brühl führte. »Über Heinrich von Brühl wollte Friedrich – um seine eigenen Wort zu zitieren – ›Gift ausschütten‹.«5 Und Historiker Frank Metasch entkräftete in seinem Vortrag die Behauptung, Heinrich habe Sachsen in den Ruin gestürzt: »Der sächsische Premierminister hat im Bereich der Finanzen und Schulden keinesfalls die allgemeine Entwicklung verschlafen. Wie insbesondere die kontroversen Diskussionen auf dem Landtag von 1749 zeigen, wurden ernsthafte Auswege aus der finanziellen Misere gesucht.«6 Sachsen habe ferner, so Metasch, mit seiner Entwicklung zum Absolutismus im 18. Jahrhundert keineswegs allein dagestanden: »Hervorzuheben sind insbesondere der Hof und das Militär, der innere Ausbau des Staates und der Verwaltung sowie die gestiegenen außenpolitischen und repräsentativen Anforderungen im Zuge des dynastischen Aufstiegs der Wettiner zu polnischen Königen. All dies führte zu einer kontinuierlichen Steigerung der Ausgaben, ohne dass die Einnahmen des Staates im gleichen Maße mithielten. Eine solche Entwicklung bildete jedoch kein sächsisches Alleinstellungsmerkmal.«7

Damit war der Weg frei für breiter angelegte Forschungen. Insbesondere die Entwicklung von Sachsens Kultur und Kunstfertigkeit im europäischen Rahmen hatten die beiden Wissenschaftlerinnen in ihren Fokus genommen, denn die Leidenschaft für Kunst, die Entscheidung, die persönliche Macht des jeweiligen Herrschers in künstlerischer Prachtentfaltung zu manifestieren, die seit dem 16. Jahrhundert über Jahrzehnte am sächsischen Hof dominierte, zog eine konsequente Förderung von Künstlern und ihren individuellen Fertigkeiten nach sich. Ob Maler, Zeichner oder Bildhauer, Porzelliner oder Goldschmiede, Holzschnitzer oder Tischler, Vergolder, Diamantenschleifer oder Kupferstecher, nicht zu vergessen Komponisten, Schauspieler und Musikinterpreten – sie alle fanden hier Liebhaber und Abnehmer ihrer Werke, konnten sich entfalten und sukzessive weiterentwickeln. Der Hof und sein gesamtes Umfeld unterstützten sie darin.

Das alles zu finanzieren kostete seinen Preis, aber es maß diesen Fertigkeiten spezifische Bedeutung und Wertschätzung bei. Dadurch entstand Raum zu kreativer Gestaltung, der in der Folge seine ganz eigene Dynamik entwickelte. Die Künstler inspirierten sich gegenseitig und suchten nach immer neuen Techniken und Materialien, um ihre Ideen und Visionen zu verwirklichen. In der vollendeten Herstellung ihrer Werke und im Zusammenspiel unterschiedlicher Fähigkeiten entstanden innovative Gesamtkunstwerke von weitreichender Wirkung. Sie standen für das Kurfürstentum als Ganzes, strahlten über die Grenzen Sachsens hinaus und verliehen ihm Ansehen und Bedeutung.

Dank Heinrichs Persönlichkeit und Stellung waren er und seine Familie – seine Brüder, Kinder und Nachfahren – zwangsläufig an dieser Entwicklung in Sachsen beteiligt. Sie unterstützten sie aus vollem Herzen, einerseits aus Loyalität und Diensteifer, andererseits aus innerer Überzeugung. Ihre Ergebnisse, seien es einzelne Kunstwerke oder Anwesen oder auch die Kultur des Umgangs, Bildung und Erziehung, wurden gepflegt und respektiert, die Verantwortung dafür Teil der eigenen Geschichte, die das Handeln einzelner Familienmitglieder bis in die Neuzeit prägte.

Gangloffsömmern

Die Ursprünge der Grafen von Brühl weisen zurück bis ins 14. Jahrhundert. Wie viele Familien, die in die Geschichte Sachsens eingegangen sind, stammten sie aus einer der benachbarten Regionen. 1344 erstmals urkundlich erwähnt, zählten sie zu den Uradelsgeschlechtern Thüringens. Ihre Wirkungsstätte hatte sich auf Gangloffsömmern konzentriert, heute in Mitteldeutschland gelegen, also in einer Gegend, die sich sowohl durch die Nähe zum südlichen Harz und der Goldenen Aue mit ihren fruchtbaren Obstwiesen als auch zu Eisenach und Erfurt mit ihren Kultur- und Handelszentren auszeichnet, dem sogenannten Thüringer Becken. Dagmar Vogel beschreibt die Entwicklung der Familie als unauffällig, traditionsgemäß, dabei nicht glücklos. »Aus dem Hof- bzw. Verwaltungsdienst der Landgrafen von Thüringen und Markgrafen von Meißen hervorgegangen, erscheinen ihre Vertreter ein Jahrhundert später als begüterte Grundherren auf Wenigentennstedt, einem Ort nahe Gangloffsömmern, der im Dreißigjährigen Krieg zerstört, danach nicht wieder aufgebaut wurde. 1474 erfolgte die erstmalige Belehnung der Brüder Heinrich, Friederich und Hans von Brü(h)l mit Besitz in Gangloffsömmern, Schönstedt und Schwerstedt durch Herzog Wilhelm zu Sachsen.«8

Demnach seien Brühls 1500 erstmals in direkte Verbindung zu den albertinischen Herzögen von Wettin in Dresden getreten. In diesem Jahr habe Georg der Bärtige (1471–1539), Herzog von Sachsen, ein Gut an Elisabeth Brühl zum Preis von tausend Gulden verkauft. Sie und ihr Sohn gaben im Folgejahr gegen zweihundert Gulden Land und Höfe an Erfurter Bürger weiter und bauten ihr Einflussgebiet systematisch aus. Bis ins 17. Jahrhundert erwarben sie Güter unter anderem in Grüningen, Ober- und Niedertopfstedt, Großballhausen, Lutzensömmern, Gebesee, Baumersroda. Mit diesem Grundbesitz in einem Radius von zwanzig Kilometern um Gangloffsömmern dürften sie zu den bedeutendsten Grundherren der Gegend gezählt haben.

Mit dem Umfang ihres Anwesens wuchsen auch die Verantwortlichkeiten der Familie. Seit 1663 übte sie das Kirchenpatronat aus. 1677 wurde ihr die Kanzleischriftsässigkeit über Gangloffsömmern sowie Ober- und Niedertopfstedt verliehen. Seit 1687 besaß sie in Niedertopfstedt ein Freigut. Der Erwerb der Schriftsässigkeit ermöglichte ihr die Selbstverwaltung der zu ihrem Besitz gehörenden Orte. Sie war allein dem Landesherrn zur Rechenschaft verpflichtet.

Anfang des 17. Jahrhunderts verfügte Kurfürst Johann Georg I. von Sachsen (1585–1656) in seinem Testament, dass zuzüglich Kursachsens mit seiner Residenzstadt Dresden, das traditionell der jeweils Älteste in der Familie erbte, drei herzogliche Sekundogenituren für die nachgeborenen Söhne gegründet würden: Weißenfels, Zeitz und Merseburg, alles Orte, die sich weit westlich oder nordwestlich Dresdens befanden. Damit rückte der sächsische Hof unwillkürlich näher an das Brühlsche Anwesen, denn Weißenfels befindet sich nur hundert Kilometer östlich von Gangloffsömmern. Zwar musste in der hübschen Saalestadt erst ein neues Schloss errichtet werden, Neu-Augustusburg, denn die Schweden hatten die alte Burganlage im Dreißigjährigen Krieg verwüstet, doch 1680 konnte Johann Adolf von Sachsen-Weißenfels (1649–1697) seine neue Residenz in aller Form und Herrschaftlichkeit beziehen.

Weißenfels

Der Vater Heinrichs, Hans Moritz von Brühl (1665 bis 1727), war Nachgeborener in seiner Familie und sah seine Bestimmung in der Erfüllung höfischer Ämter. Er sprach in Weißenfels vor, fand beim Herzog Anstellung, wurde 1690 zum Kammerjunker bestallt und erhielt die Aufgabe, den Hof bei Jagden sowie auf Reisen zu begleiten. Dafür erhielt er Kostgeld und eine zusätzliche Bezahlung von zweihundert Talern für Kleidung, Besoldung und Hufbeschlag.

Gesichert durch dieses Hofamt, sah er sich kurze Zeit später in der Lage, eine Familie zu gründen. Am 11. September 1692 heiratetet Hans Moritz feierlich auf Schloss Freyburg an der Unstrut Erdmuthe Sophie von der Heydte (1669–1702). Der Kupferstich in der Leipziger Universitätsbibliothek, der von ihr überliefert ist, zeigt eine schmale Frau mit hoch aufgekämmten Locken und einem entschlossenen Kinn. Sie stammte ähnlich wie er aus einer unauffälligen adligen Familie aus der Gegend um Chemnitz. Ihr Vater war Georg Peter von der Heydte (1628–1672), ein kursächsischer wie schwedischer Oberst sowie brandenburgisch-kulmbacher Hofmarschall, ihre Mutter Johanna Magdalena von Reibold (*1643).

Innerhalb weniger Jahre gebar Erdmuthe fünf Kinder, eine Tochter, Johanne Eleonore (1697–1739), und drei Söhne: Hans Moritz (1693–1755), Johann Adolph (1695–1742) und Friedrich Wilhelm (1699–1760). Ähnlich wie ihr Vater erlangten sie später alle respektable Hofämter, zwei von ihnen dauerhaft am Dresdner Hof. Am 13. August 1700 schließlich kam Heinrich zur Welt, der Jüngste, und wurde zwei Tage später, laut Vogel ebenfalls in Weißenfels, vom protestantischen Oberhofprediger Johann August Olearius (1644–1711) getauft.

1694 starb Hans Moritz’ Vater, und da sein ältester Bruder seit der Schlacht von Fleury (1680) als vermisst galt, musste er zusätzlich die Verantwortung für den elterlichen Besitz übernehmen. Dennoch blieb er dem Weißenfelser Hof verpflichtet und bezog ein Haus in der Schützenstraße 2, am Fuß des Schlosses. Dort war auf Wunsch des Herzogs ein neuer Stadtteil für die Hofbediensteten entstanden, die »Zeitzer Vorstadt«. Die Häuser entsprachen den neuesten Bauanforderungen und waren durch keinerlei Hypotheken belastet. Als besonders angenehm sollen die Bewohner die gepflasterte Straße empfunden haben, die das Schloss mit der Vorstadt verband.9

In diesem Haus in der Weißenfelser Schützenstraße wuchs Heinrich mit seinen Geschwistern auf, als Sohn eines gewöhnlichen Hofbeamten, der über die Jahre allmählich Karriere machte. Am 4. September 1696 wurde Hans Moritz zum Hof- und Justizrat ernannt, 1705 zum Hofmarschall, schließlich zum Geheimen Rat, 1719 zum Wirklichen Hof- und Justizrat und 1720 zum Oberhofmarschall. Als das Haus zu klein geworden war, zog die Familie in ein dreigeschossiges Domizil in der Nikolaistraße.

1702 starb plötzlich Erdmuthe, Hans Moritz’ geliebte Ehefrau, und die herzogliche Familie nahm nachdrücklich Anteil am Schicksal ihres treuen Hofmarschalls. Erdmuthe war nur 32 Jahre alt geworden, lediglich zehn Jahre waren die beiden verheiratet gewesen, und Hans Moritz musste nun sehen, wer sich um seine minderjährigen Kinder kümmern könnte. Die Älteste war beim Tod der Mutter gerade einmal fünf, Heinrich keine zwei Jahre alt.

Zunächst sprang Schwiegermutter Heydte ein, und erst nach acht Jahren, am 14. Dezember 1710, heiratete Brühl ein zweites Mal. In Sophie Hippolyta von Rahna (gest. 1731) fanden die Kinder eine liebenswürdige Ersatzmutter. Gleichzeitig nahm sich der Hof der fünf Halbwaisen an. 1664 hatte der Herzog in Weißenfels das »Gymnasium illustre Augusteum« gegründet, das sich mit so bedeutenden Lehrern wie Christian Weise (1642–1708) und Johannes Riemer (1648–1714) bald zu einer namhaften Bildungsanstalt im deutschsprachigen protestantischen Raum entwickelte. Als die Jungen das achte Lebensjahr erreicht hatten, bereitete sie der herzogliche Pagenmeister auf den Besuch dieses Gymnasiums vor. Der Tag begann ab dann auch für Heinrich in aller Herrgottsfrühe. Auf eine Andacht um fünf Uhr folgte Unterricht in den Fächern Religion, Mathematik, Heraldik (Wappenkunde), Geographie und Geschichte. Nachmittags war Zeit für sportliche Übungen wie Fechten, Ballspiel oder Tanz. Ab 16 Uhr erhielten die jungen Pagen Sprachunterricht und lernten Französisch, Italienisch und Latein. Wer sich durch gute Leistungen auszeichnete, wurde zum Examen zugelassen und nach dessen erfolgreichem Abschluss in den Kreis der Kammer- oder Silberpagen aufgenommen, die beim Herzog, seiner Frau oder anderen höhergestellten Mitgliedern der herzoglichen Familie ihren Dienst taten. Während die Kammerdiener für das privat-persönliche Umfeld ihrer Vorgesetzten zuständig waren, kamen die Silberpagen bei Tisch zum Einsatz.

1697 starb Herzog Johann Adolf, und die Sekundogenitur ging an seinen Sohn Johann Georg (1677–1712) über, verheiratet mit Friederike Elisabeth von Sachsen-Eisenach (1669–1730). Da es an männlichen Nachkommen mangelte, erbten sie danach seine Brüder, erst Christian (1682–1736) und dann Johann Adolf II. (1685 bis 1746). Hans Moritz wurde von dem Erben jeweils in seinen Ämtern bestätigt und verblieb am Weißenfelser Hof.

Die Herzöge bewiesen als engagierte Mitglieder der »Fruchtbringenden Gesellschaft« ihre Vorliebe für Literatur. Der Ausbau des Schlosses zu einer herrschaftlichen Residenz mit Komödiensaal und Theater, Kavaliershäusern und barockem Lustgarten, nicht zuletzt die höfischen Jagdgesellschaften, die dort regelmäßig stattfanden, zeigten ferner ihr Streben nach Kunst- und Prachtentfaltung im Sinne absolutistischer Selbstdarstellung. Sie suchten darin Dresden und vergleichbaren Höfen ihrer Zeit nachzueifern. Allein wirtschaftlich waren sie nicht sonderlich erfolgreich. Sie häuften Schulden an, durch die ihre Angestellten erheblich in Mitleidenschaft gezogen wurden. Wiederholt konnte der Herzog Hans Moritz sein Gehalt nicht auszahlen.

Im September 1706 rückten infolge des Nordischen Krieges die Schweden in Sachsen ein. Noch saßen den Landesbewohnern die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges im Nacken, und fluchtartig verließ der Hof Weißenfels Richtung Bad Ems. Zwar gelang es schon wenige Wochen später, mit Karl XII. in Altranstädt Frieden zu schließen, doch im Gegenzug fouragierten die Besatzungssoldaten rücksichtslos. Die Weißenfelser Bürger mussten Fleisch, Brot, Speck und Bier in umfangreichem Maß liefern sowie Futter für die Pferde. Eine Missernte verschlimmerte die Versorgungslage 1707 noch weiter, und die Landesbewohner nahmen Kredite auf, um den Forderungen der Schweden Folge leisten zu können. Erst Ende August zogen die Feinde endlich ab, der Hof kehrte nach Weißenfels zurück und versuchte wieder, landesherrliche Pracht zu verbreiten, doch der Herzog war nicht imstande, seine Ansprüche auf die finanziell schwierige Situation der Sekundogenitur abzustimmen. Als das Land nach seinem Tod 1746 an den Kurfürsten zurückfiel, war es tief verschuldet.

Die Nähe zur Hochkultur, die prächtige Schloss- und Parkanlage und die eleganten Bürgerhäuser prägen die Stadt bis heute. Hier lebten der Komponist und Musiker Heinrich Schütz (1585–1672), der Schriftsteller Novalis (1772–1801) und, nicht zu vergessen, die Erzählerin Louise von François (1817–1893). Johann Sebastian Bach (1685–1750) komponierte für Herzog Christian die Jagd- und die Schäferkantate und erlangte dadurch 1729 den Titel »Fürstlich sächsisch-weißenfelsischer Hofkapellmeister von Haus aus«. Weißenfels widmete den Künstlern Gedenkstätten und trug damit der Bedeutung ihrer Werke Rechnung. Mit dem Wiener Kongress fiel die Region 1815 an Preußen, aber das hielt ihre Weiterentwicklung keineswegs auf. Ab 1764 hatte man begonnen, hier Kohle zu fördern. Im 19. Jahrhundert hielt im Zuge der Industrialisierung insbesondere das Schuhhandwerk Einzug. Heute noch zeugt das Schuhmuseum in Schloss Weißenfels von dieser Zeit.

Leipzig

Ähnlich wie sein Vater und seine Brüder fiel Heinrich der herzoglichen Familie durch Hilfsbereitschaft und Zuverlässigkeit auf. Friederike Elisabeth, Herzogin an der Seite Johann Georgs, nahm sich seiner besonders an. Nach dem Tod ihres Mannes ließ sie sich eine neue Residenz in Langensalza bauen und zog bis zur Fertigstellung mit ihrem Hofstaat im Mai 1714 für vier Jahre nach Leipzig. Dorthin durfte sie der inzwischen 14-Jährige als ihr Page begleiten – eine große Veränderung für den Jungen. Zum ersten Mal verließ er sein Elternhaus und zog überdies in eine respektable Metropole. Leipzig zählte damals 21000 Einwohner und war Sachsens größte Stadt.

Höhepunkte des Jahres waren die Messen, zu denen Neujahr, Ostern und Michaelis Händler und Kaufleute aus Ost und West, Nord und Süd zusammenkamen. Die Leipziger wussten um ihre Bedeutung und nutzten die Möglichkeiten, die ihnen daraus erwuchsen. Die Bürgerschaft war selbstbewusst und weltoffen, widmete sich Bildung, Kunst und Wissenschaft und pflegte ein gesellschaftliches Miteinander auf höchstem Niveau. Nicht nur Kaufleute zog es in die Stadt, sondern auch Landesfürsten und ihre Höflinge. Nirgendwo ließ sich leichter antichambrieren als während der Leipziger Messen, um die eigenen Interessen zu befördern und die seiner Geschäftspartner oder politischen Gegenspieler frühzeitig herausfinden. Insbesondere August II., seit 1694 Kurfürst von Sachsen, machte sich das zunutze und reiste samt seiner Entourage zu Messezeiten regelmäßig an. Die Stadt wusste darauf zu reagieren und bereitetet ihm regelmäßig ein hochherrschaftliches Entrée. Die Herzoginwitwe von Weißenfels war bei solchen Gelegenheiten zugegen, hielt in Leipzig standesgemäß Hof, nahm an gesellschaftlichen Verpflichtungen teil, und so lernte Heinrich, dass es unter derlei Bedingungen zu seinen Pflichten gehörte, sich mehrfach am Tag umzukleiden und dauerhaft präsent zu sein. Sorgfältig gepudert und frisiert, stand er der Herzogin zur Seite, wenn sie seiner Anwesenheit bedurfte. Schlank und hoch gewachsen, wie er als junger Mann war, machte er dabei eine ausgezeichnete Figur: »An ihm war alles graziös liebenswürdig, leicht – mit einem Wort vollkommene Harmonie. Die mächtige Allongeperücke wich der Perücke ›à la regence‹. Die Kleidung änderte ihre Form. Die Rockschöße flatterten auseinander, ließen eng anliegende seidene Kniehosen und die Weste sichtbar werden. Und sie, auf die man fortan bei der Toilette allergrößte Sorgfalt verwendete, geriet zu einem Wunderwerk der Schneiderkunst. […] Der ›galant homme‹ war ein Gesellschaftsmensch – und Leipzig mit seinen Salons die hohe Schule des Weltbürgers. Dem jungen Brühl war dieses neue Ideal auf den Leib geschrieben!«10

Nach dem Umzug nach Langensalza kehrte Heinrich im November 1718 nach Weißenfels zurück und hätte, erfahren und gut ausgebildet, wie er jetzt war, seine Tätigkeit als Page dort mühelos fortsetzen können, doch die wirtschaftliche Lage war zu unsicher. Nicht nur dem Vater, auch seinen Brüdern war der Herzog inzwischen Gehälter schuldig geblieben, und sie mussten versuchen, an anderen Höfen unterzukommen.

Im Gefolge seines Landesherrn verkehrte Hans Moritz wiederholt in Dresden. August II. war der zuverlässige Oberhofmarschall aus Weißenfels längst aufgefallen, so dass es diesem nicht schwerfiel, seine Söhne am Dresdner Hof unterzubringen. Heinrichs ältester Bruder Hans Moritz diente eine Zeitlang in Kursachsen11 und stieg zum General der Kavallerie auf, wurde dann aber Statthalter der Deutschordensballei Thüringen. Johann Adolph, der Zweitälteste in der Familie, avancierte mit den Jahren zum Stallmeister und Reisemarschall am Dresdner Hof, und Friedrich Wilhelm wurde später Steuereinnehmer des Landes.

Auch Heinrichs Schwester Johanne Eleonore begleitete ihren Vater bisweilen auf seinen Fahrten nach Dresden, insbesondere zu größeren Festlichkeiten. Ähnlich wie ihre Brüder war sie in Weißenfels in das höfische Reglement eingeführt worden, nahm regelmäßig an Schlittenfahrten und Damen-Ringrennen teil und kannte sich mit den entsprechenden Gepflogenheiten aus.

Dresden

Am 16. April 1719 schließlich trat Heinrich seine Anstellung in Dresden an. Gemeinsam mit 15 weiteren Silberpagen übernahm er die Verantwortung für die kurfürstliche Tafel, sein Jahreseinkommen betrug 250 Taler.

Der Führungsstil Augusts II., seine Macht- und Prachtentfaltung übertraf alles, was Heinrich bislang erlebt hatte. Zu allem Überfluss geriet er mitten in die Vorbereitungen zur Hochzeit des kurfürstlichen Thronfolgers. August II. hatte beschlossen, ihn mit Maria Josepha von Österreich (1699–1757) zu verheiraten, ihr Vater, der Kaiser, hatte eingewilligt, und der sächsische Hof plante Festlichkeiten, die sowohl die anderen Kurfürsten als auch europäische Königreiche wie Russland oder Frankreich davon überzeugen sollten, dass sein Haus Wettin durchaus in der Lage war, selbst einen Kaiser zu stellen.

Mehr oder minder zufällig an die Macht gekommen, weil sein älterer Bruder an den Pocken gestorben war – einer Krankheit, die August II. selbst überstanden hatte –, war es dem ehrgeizigen Herrscher in der ersten Hälfte seiner Regierungszeit gelungen, die Folgen des Dreißigjährigen Krieges zu überwinden und Sachsen wieder zu einer wirtschaftlich und kulturell hoch entwickelten Region zu machen. Mit umfassenden Kunstsammlungen, reger Bautätigkeit und Musikförderung sowie prunkvollen Festlichkeiten und Jagden machte er weithin von sich reden. Dazu verhalfen ihm die Erträge aus Landwirtschaft und Bergbau, unter anderem Silber, sowie die große Dichte an Städten und Handelsmetropolen. Nach dem Ende des augusteischen Zeitalters war Sachsen zum viertgrößten Territorialstaat im Heiligen Römischen Reich angewachsen. Ausdruck seiner Bedeutung war ferner die Tatsache, dass es August II. gelungen war, 1697 die Krone Polen-Litauens zu erlangen.

Gleichzeitig hatte dieser Führungsstil seinen Preis, und so herrschte zwischen dem König und den Stände- und Städtevertretern seines Landes ein immerwährender Unfrieden. Er buhlte nicht nur mit anderen Kurfürsten um die kaiserliche Thronfolge, sondern sah sich auch an seinem eigenen Hof mit den Vertretern einzelner Machtpositionen des Landes konfrontiert. Darüber hinaus galt es, die Geschicke Polens im Auge zu behalten und auch dort die Interessen seiner Magnaten zu berücksichtigen. Ob sich der Hof in Dresden oder Warschau aufhielt, August II. war umgeben von Menschen, die um seine Nähe wetteiferten und versuchten, ihren Einfluss im Sinne des eigenen persönlichen, häufig rein wirtschaftlichen Nutzens geltend zu machen.

Hinzu kam die Mätressenwirtschaft Augusts II., die anhaltendes Intrigenspiel und Konkurrenzkämpfe zur Folge hatte, von der er jedoch kraft seines Selbstverständnisses als absolutistischer Herrscher keinesfalls lassen wollte: Das Verhältnis zu einer Frau, für die der Herrscher wirtschaftlich keine Verantwortung und deren Söhne keinerlei Anwartschaft auf die Thronfolge hatten, galt als Gipfel des Luxus und war Ausdruck von uneingeschränkter Macht.

Christiane Eberhardine Brandenburg-Bayreuth (1671–1727), die rechtmäßige Gattin des Kurfürsten, hatte sich schon wenige Jahre nach der Heirat vom Dresdner Hof zurückgezogen. Nach der Geburt des Thronfolgers lebte sie auf Schloss Pretsch an der Elbe, einige Tagesreisen von der Residenzstadt entfernt, was August II. mit Fassung trug. Allein die Erziehung Friedrich Augusts sorgte für Konflikte, denn Christiane hatte ihn zu einem Protestanten erzogen, während ihr Gatte für eine Konvertierung zum katholischen Glauben plädierte, um ihm und damit Sachsen den polnischen Königsthron zu erhalten. Nachdem der Kurprinz erwachsen geworden war, entzog ihn der Vater seiner Mutter und schickte ihn, ausgestattet mit entsprechend instruierten Erziehern, auf Kavalierstour nach Italien, Paris und Wien.

Leidenschaft für Porzellan

Gerne stellte sich August II. als Mann dar, der physisch über überdurchschnittliche Kraft verfügte. Als Beweis dafür galt ein Hufeisen, das er mit eigenen Händen zerbrochen haben soll. Andererseits war er Diabetiker und körperlich dadurch stark beeinträchtigt. Das üppige Speisen, für das er bekannt war, und die ausufernden Zechgelage müssen seiner Gesundheit immensen Schaden zugefügt haben. Er war alles, nur kein vernünftiger Charakter, zeichnete sich durch Selbstherrlichkeit und Ungeduld wie Feier- und Sinnesfreude aus, ja genau genommen durch eine haltlose Lebensgier.

Das zeigte sich geradezu bildhaft an seiner besonderen Vorliebe für Porzellan. Als er den sächsischen Thron bestieg, befanden sich nur wenige Einzelstücke aus dem kostbaren Material in den kurfürstlichen Sammlungen. 1590 hatte Ferdinand de Medici (1549–1609) Christian I. von Sachsen (1560–1591), dem Vater des eingangs erwähnten Johann Georg I., sechzehn Stücke aus der Ming-Dynastie geschenkt. Als August starb, war diese Sammlung auf 35798 Objekte angewachsen. Unzählige Werke erwarb er aus den Händen spezialisierter Händler auf der Leipziger Messe oder kaufte Privatsammlungen in ihrer Gesamtheit auf und ließ sie sich nach Dresden liefern. Ein ganzes Schloss, direkt an der Elbe und gleich gegenüber seiner königlichen Residenz, das sogenannte »Japanische Palais«, wollte er damit bestücken, Schauräume, ausgestattet mit verspiegelten Wänden, Lackpaneelen und kostbaren Stoffen, mit Konsolen und Sockeln für die Schätze und bis unter das Dach gefüllt mit Porzellan.

Besonders exquisit war die Sammlung an knie- und schulterhohen Tierfiguren, die eigens für dieses Anwesen in Auftrag gegeben wurden: Truthähne und Nashörner, Elefanten und Bären, Affen, Gemsen und ein Pfau mit prächtig gespreiztem Rad. Der Porzellankenner Edmund de Waal schreibt: »Er leidet, gesteht er in einem Brief, unter der maladie de porcelaine, der Porzellankrankheit. ›Wissen Sie denn nicht‹, meint er, ›dass es sich mit den Orangen wie mit dem Porzellan verhält, wen einmal diese Leidenschaft gepackt hat, der kann von beidem niemals mehr genug bekommen.‹ Bei seinem Tod besitzt er die größte Porzellansammlung der westlichen Welt. […] Er ist der Kaiser des Weiß.«12

Doch damit nicht genug: August II. wollte das kostbare Material selbst herstellen lassen, er wollte herausfinden, wie der außergewöhnliche Werkstoff gewonnen und was alles daraus entstehen könnte. Zu diesem Zweck versammelte er Spezialisten aus allen Regionen, Männer wie den Apotheker und Alchemisten Johann Friedrich Böttger (1682–1719) oder den Naturforscher Ehrenfried Walther von Tschirnhaus (1651–1708), die ihm das Arkanum ergründen sollten, die Kunst der Porzellanherstellung. »Es ist ein Geheimnis. Fünfhundert Jahre lang wusste im Westen niemand, wie Porzellan gemacht wird. Das Wort Arkanum, ein Mischmasch aus griechischen Konsonanten, ist dem Wort Arkadien angenehm nahe. Es muss, das fühle ich, irgendeine Verwandtschaft geben zwischen dem Urgeheimnis des weißen Porzellans und dem Versprechen in Erfüllung gegangener Sehnsucht, einer Art Arkadien.«13

Das Geheimnis zu ergründen war alles, nur nicht einfach. Das lag nicht zuletzt an Böttgers Charakter. Zuerst hatte der Apothekersohn versprochen, Gold herstellen zu können, ein Schwindel, wie sich bald herausstellte. Der König ließ ihm in Dresden ein kleines Laboratorium einrichten mit allem, was ein Alchemist benötigte, aber Böttger war damit nicht zufrieden. Er verlangte mehr: Materialien, Werkzeuge, Brennstoffe. Flehentlich habe er den König in seinen Briefen um Aufschub gebeten, heißt es, um mehr Freiheit, um Bücher und Zeitungen. Auch Freiberger Bier soll auf seiner Liste gestanden haben.14 Eine Goldformel fand er indessen nicht.

Böttger versuchte seinem Auftraggeber zu entkommen, entwich über die Landesgrenze, wurde festgenommen. Unter strengster Bewachung brachte man ihn mit seinem Labor 1705 in die Albrechtsburg nach Meißen, etwa 25 Kilometer die Elbe hinab. Noch heute stellt sie mit ihren Zinnen und Türmen den höchsten Punkt der Stadt dar, ragt majestätisch aus der Vielzahl an Häusern und Dächern, Gassen, Straßen und Mauern hervor. Gleichzeitig entsprach sie einer mittelalterlichen Befestigungsanlage. Keiner kam hier unbemerkt hinein oder heraus. Eindrücklich beschreibt de Waal die Strapazen, unter denen Tschirnhaus und Böttger dort arbeiten mussten: »Meißen ist die Hölle. Hölle bedeutet natürlich Feuer, und das heißt, dass die Hitze Übelkeit bereitet, einem von hinten in die Kniekehlen tritt, einen mitten im Satz fällt. Aber es sind die Dämpfe, welche die wahre Hölle ausmachen. Bevor man das Fauchen der Brennöfen, die Gerüche, Licht und Dunkel wahrnimmt, erwischen einen die Dämpfe.«15 Hinzu kamen der Kohlestaub, die Fülle an Menschen, die sich gleichzeitig in den Räumlichkeiten aufhielten, die Enge. »Es sind zu viele Männer für diese Räume. Fünf ›Berg- und Hüttenleute‹ aus Freiberg, die Böttger bei der schweren Arbeit des Mischens und Mahlens von Materialien und beim Befeuern der Brennöfen behilflich sind, ein Spezialist für deren Bau und Reparatur und jemand, der die Aufzeichnungen führt.«16 Trotz der extremen Bedingungen gelang es, einen Teil des Rätsels zu lösen. Die Gefäße, die August II. 1706 erstmals in Händen hielt, entsprachen dem chinesischen Vorbild und waren so hart, dass man sie polieren konnte. Böttger taufte sie Jaspisporzellan. Sie waren allerdings rot und ähnelten Steingut oder Tongefäßen, weshalb sie unter dem Begriff Böttgersteinzeug bekannt sind.

Der Apothekersohn hatte indes genug von der Goldsuche, schmiedete neue Fluchtpläne und wurde 1707 schließlich in ein umzäuntes Haus auf der Dresdner Jungfernbastei gesperrt, von dem eine Treppe direkt in die darunterliegende Befestigungsanlage führte. An dem geheimen Ort hatte sich Tschirnhaus inzwischen mit weiteren Gelehrten ein Universallaboratorium eingerichtet und seine Experimente kontinuierlich fortgesetzt.

In dieser Konstellation führte das jahrelange Streben nun endlich zum Erfolg. Wie einem Ofenprotokoll vom 15. Januar 1708 zu entnehmen, stieß die Forschergruppe hier nach dem Brand auf einen weißen, transluziden »Scherben«– das war die Geburtsstunde des europäischen Porzellans. Im Unterschied zu seinem chinesischen Vorbild bedarf es einer spezifischen Mischung an Erden und muss mehrfach gebrannt werden. Es wird daher als Hartporzellan bezeichnet.

Bis heute ist Sachsen berühmt dafür, dass hier das Arkanum gefunden wurde. Per Dekret und Siegel verordnete der König am 24. April 1708 die Einrichtung einer Porzellanmanufaktur in Meißen. 1710 gab er die Gründung offiziell bekannt und präsentierte 1713 stolz ihre ersten Ergebnisse auf der Leipziger Messe. Er war damit der erste europäische Herrscher, in dessen Land professionell und in Serie Porzellan hergestellt wurde. Der lebenshungrige König hatte eine neue Spezialität entwickelt, eine Technologie und Industrie, die ihn vor allen anderen auszeichneten.

Viele Höhepunkte dieser Art schmückten die Regentschaft Augusts II. Ein weiterer war die Hochzeit seines Sohns. Vier Wochen lang wurde gefeiert, 28 Tage mit Aufmärschen, Paraden, Theater- und Opernaufführungen gefüllt, mit Feuerwerk, Jagden und Bällen, gar nicht zu reden von den zahlreichen Konzerten und Banketten, die die Festlichkeiten begleiteten. Vier Millionen Taler ließ sich der Kurfürst das Spektakel kosten.

Schon die Anreise der Prinzessin am 2. September 1719 wurde prunkvoll inszeniert. Maria Josepha bestieg, von Wien kommend, in Pirna einen Bucintoro, Replik der reich vergoldeten venezianischen Staatsgaleere, und glitt in Begleitung von etwa hundert Gondeln elbabwärts Richtung Dresden. Kurz vor ihrem Ziel hatte August II. am Ufer feierlich Aufstellung genommen und erwartete, umgeben von polnischen Magnaten und Kavalieren, in einem Zelt aus gelbem Samt und Silbergalonen die Schwiegertochter. Er trug ein carmoisinrotes Samtgewand und eine Rautengarnitur, die sein Hofjuwelier Johann Melchior Dinglinger (1664–1731) eigens zu diesem Anlass gefertigt hatte. An den folgenden Tagen erschien er jeden Morgen in einer neuen Aufmachung mit jeweils dazu passendem Schmuck. Einmal präsentierte er sich im moosgrünen Samtkleid mit einer Garnitur aus Rubinen, anderntags in Weiß, geschmückt mit Smaragden. Beim »Türkischen Festin« trug er Diamanten zum ponceaufarbenen Gewand, beim »Berghäuer-Fest« schließlich krönten Achatsteine aus sächsischen Fundorten seine Erscheinung.