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Der Legende nach soll selbst Cäsar sich nicht getraut haben, ihn zu betreten: den sagenumwobenen Schwarzwald. Kriminalhauptkommissar Johann Briamonte weiß, warum er seine Heimat verlassen hat, aber nicht genau, warum er zurückkehrt. Auch die Wiedersehensfreude seiner Mutter hält sich in Grenzen, als Briamonte unangekündigt vor ihrer Tür steht und ihr eröffnet, einen renovierungsbedürftigen Hof ganz in der Nähe seines Elternhauses gekauft zu haben. Noch ehe die Bauarbeiten beginnen, wird Briamonte zu seinem ersten Fall gerufen: Gianrico Masiero, Kellner im Hotel Zum Roten Fuchsen in Menzenschwand, wurde unweit eines Hochsitzes durch einen Kopfschuss getötet. Wer hatte es auf den jungen Mann abgesehen? Und was hat den Italiener überhaupt in die hinterste Ecke des Schwarzwalds verschlagen? Briamonte und seine Kollegen vom Kriminalkommissariat in Waldshut-Tiengen nehmen die Ermittlungen auf. Jäger gibt es einige zwischen St. Blasien und Feldberg, aber keine der registrierten Waffen ist geeignet, einen derart präzisen Schuss aus einer solchen Entfernung abzugeben. Und dann verschwindet auch noch eine junge Frau aus der Ukraine, auch sie Aushilfe im Hotel Zum Roten Fuchsen …
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Seitenzahl: 254
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Claudia Bardelang
Der erste Fall für Johann Briamonte
Kriminalroman
Kampa
Er hat es nicht bei sich! Außer sich vor Zorn, durchsuchte er sein Opfer, dann richtete er sich schwer atmend wieder auf. Den Schlüssel steckte er ein. Wenn er ohne zurückkam, war sein Leben keinen Pfifferling mehr wert. Er musste also suchen. Wütend versetzte er seinem Opfer einen Tritt. Es wäre ganz leicht, hatten sie gesagt. Ein leichter Job, hatten sie versichert … von wegen! Er hatte ihn erst aufspüren müssen, den verdammten Verräter, und im abgelegensten Winkel dieses verdammten dunklen Scheißwaldes war es ihm endlich gelungen! Er lachte hämisch. Aber jetzt musste er noch dieses verfluchte Ding finden, sonst konnte er nicht zurück! Mittlerweile war es fast ganz dunkel, eine Amsel schlug Alarm, und in der Ferne waren die Glöckchen der Ziegen zu hören, als er ins Auto stieg und über den Waldweg wieder verschwand, den er gekommen war.
Endlich war er da. Briamonte bog nach Menzenschwand ab, in Richtung Vorderdorf, und kurbelte das Fenster des Sprinters herunter. Vertrauter Geruch der herbstlichen Wiesen und Wälder am frühen Abend. Lange nicht mehr gefühlte Euphorie machte sich breit, als er langsam durchs Dorf fuhr, die ewig lange Straße bis ins Hinterdorf, wo ganz hinten links sein Haus stand. Briamonte stellte den Kastenwagen vor dem verfallenen Gartenzaun ab, kletterte steifbeinig vom Sitz, ließ seinen Hund heraus, der auf dem fahrersitz saß, und stand dann entgeistert vor seinem neuen Zuhause. Der Hund markierte gleich das Gartentor. Als er die Tür endlich aufhatte und auch im Inneren des Hauses gesehen hatte, was er sich für zweihundertfünfzigtausend Euro angeschafft hatte – ein Kleinod im Südschwarzwald, dreihundert Jahre alt, romantisch, Liebhaberobjekt –, dämmerte ihm, dass er spätestens nach der Beschreibung »Liebhaberobjekt« hätte aussteigen müssen, oder aber einen Fachmann zu Rate ziehen sollen. Hätte er sich denken können, dass es bei einem solchen Schnäppchen nicht nur einen Haken gab. Seufzend zog er die Tür wieder ins Schloss, rief den Hund, wendete und fuhr ein paar Straßen weiter.
»Hallo Mama! Überraschung!«
Nur einen knappen Kilometer Luftlinie entfernt saß der Mann bereits seit zwei Stunden auf dem Hochsitz und wartete auf ein Stück Schwarzwild. Der aufgehende Mond beleuchtete schwach die leichten Nebelschleier über den modrig feuchten Wiesen, und es war empfindlich kalt. Totenstille. Kein Blätterrascheln, kein Kauz, kein Wild, nur das leichte Plätschern des Krunkelbachs. »Gopfedori, was isch hüt los!« Er war genervt. Keine Entspannung heute, Dauergrübeln und Rückenschmerzen, und dann noch kein Jagdglück. Doch plötzlich hörte er das typische Rascheln sich nähernder Wildschweine, unten in der Senke, in der ein Bach verlief. Endlich! Er hob das Fernglas mit Nachtsichtgerät – da seid ihr ja! Blödes Viechzeug! – zielte nur kurz und schoss. Der Knall zerriss die Stille. Geräusche einer flüchtenden Rotte. Grantig kletterte er vom Hochsitz, knipste die Taschenlampe an und stapfte in Richtung der erlegten Sau. Der Lichtstrahl tanzte durch die hereinbrechende Dunkelheit, und nach zehn Minuten wurde er fündig.
»Jesses Maari!«
Im Lichtkegel lag kein Wildschwein, sondern die Leiche eines jungen Mannes. War das da ein Einschussloch auf seiner Stirn? »Mischt! Verdammter Mischt!« Erschrocken, erkannte er auch, wer da vor ihm im feuchten Gras lag: Gianrico irgendwas! Sein eigener Kellner, sein Sargnagel, ein junger Italiener, der seit einem halben Jahr bei ihnen arbeitete und seiner Jüngsten den Hof gemacht hatte! Dem er erst gestern gedroht hatte, ihn zu erschießen, wenn er die Finger nicht von seiner Tochter ließe, und so viel Deutsch hatte der Spaghetti verstanden. »Herrgottsakramenter! Was suecht jetz dä do?!« Was jetzt? Er zog sein Taschentuch hervor, nahm die Kappe ab, wischte sich umständlich die Stirn und sah sich verstohlen um. Die Polizei konnte er unmöglich rufen. Die würden sofort denken, er hätte ihn absichtlich erschossen. Und seine Tochter erst! Nein, ausgeschlossen, er würde ihn hier liegen lassen und so schnell wie möglich seine Büchse entsorgen. Fluchend stapfte er zu seinem Auto zurück und fuhr auf abgelegenen Wegen tief in den Wald, um seine Waffe in einem alten Abflussrohr zu verstecken.
Kriminalhauptkommissar Briamonte musste feststellen, dass die Wiedersehensfreude seiner Mutter nicht so groß war, wie er erhofft hatte.
»Johann?! Wo kommst du denn her? Was machst du hier? Wo ist Anne? Du hast einen Hund??«
»Darf ich reinkommen?«
»Äh, ja, natürlich … Aber nimm bitte den Hund an die Leine. Der Kater ist alt geworden.«
Sie war offenbar im Begriff auszugehen. So hatte er sie noch nie gesehen. Im kleinen Schwarzen, mit eleganten Schuhen und hochgesteckten Haaren. Die Musterung ihres Sohnes entging ihr nicht: »Orgelkonzert im Dom«, erklärte sie gerade, als jemand die Treppe herunterkam: »Schatz, hast du meine Fliege gesehen?«
»Johann, darf ich dir meinen Lebensgefährten vorstellen: Georg, das ist mein Sohn …«
Ein Mann im Leben seiner Mutter? Warum hatte sie das nie erwähnt?
»Wo wohnst du? Im Fuchsen?«, fragte sie und legte ihren Mantel an.
»Äh, eigentlich dachte ich, ich könnte hier …«
»Oje, Johann, warum hast du nicht angerufen? Wir haben erst letzte Woche dein altes Zimmer geräumt, weil wir das Bad erweitern wollen.«
»Äh …« Briamonte verstummte. Erst die verrottete Bruchbude und jetzt das.
»Aber du kannst auf der Couch schlafen, wenn du magst. Du weißt noch, wo Bettwäsche und Handtücher sind? Wir müssen los … Wir reden morgen, ja?«
Als sie weg waren, stand Briamonte in der offenen Haustür und starrte in die anbrechende Nacht.
»Magst du noch einen Kaffee?«
»Ja, gerne …«
Sie schenkte ihm ein und betrachtete verstohlen die grau werdenden Schläfen und den verbitterten Zug um den Mund ihres Sohnes. Er sah seinem Vater ähnlicher denn je. Es war sonnenklar, dass etwas passiert sein musste, und sie seufzte innerlich. Er hatte sich immer schwergetan im Leben. Als das »Italienerkind« hatte er immer eine Sonderstellung gehabt im Dorf, so wie sie, die gegen den Widerstand der Eltern ihre große Liebe geheiratet hatte, einen jungen Mann aus St. Blasien, der aus einer Familie stammte, deren Ururgroßväter einst als Gastarbeiter zum Bau der Höllentalbahn aus Italien gekommen und geblieben waren. Hundertzwanzig Jahre hier, und immer noch »die Italiener«.
Sein Vater kam bei einem Arbeitsunfall ums Leben, da war Johann gerade eingeschult worden. Das ohnehin schon ruhige Kind wurde noch ruhiger, beinahe unsichtbar, ängstlich und zu einer Herausforderung für seine Schulkameraden. Während der gesamten Grundschuljahre verbrachte er seine Zeit lieber zu Hause als draußen, er las und bastelte an seinen ferngesteuerten Autos herum, statt mit den anderen Kindern in Feld, Wald und Wiesen zu spielen. Als er dann aufs Gymnasium nach Waldshut ging und nicht wie seine Schulkameraden auf die weiterführende Schule in St. Blasien, hatte er gar keine Berührungspunkte mehr. Er war endgültig der Sonderling, der Streber, da halfen auch der Musikverein und die Bergwachtjugend nichts mehr. Und gleich nach dem Abitur hatte er endgültig Ade gesagt: erst zum Jura-Studium in Freiburg, dann auf der Polizeihochschule in Villingen-Schwenningen und schließlich in Frankfurt am Main. Dass ausgerechnet der scheue und zurückhaltende Junge ein Kriminalbeamter geworden war, der sich auf organisierte Kriminalität spezialisiert hatte, war kaum zu glauben. Aus dem schmächtigen Kind war ein großer, markanter Mann geworden, den keiner mehr erkannte, wenn er auf seinen seltenen Stippvisiten seine Mutter besuchen kam.
»Was ist passiert?«, fragte sie und stellte die Kaffeekanne wieder ab. »Es ist doch etwas passiert?«
Briamonte drehte die Kaffeetasse in seiner Hand. Am liebsten wäre er aufgestanden und gegangen. Er war so frustriert, dass er tatsächlich einen Kloß im Hals hatte.
»Du und Anne, ihr habt euch getrennt?«, fragte sie vorsichtig.
»Ja.«
»Das tut mir aufrichtig leid! Wann? Gerade erst?«
»Nein. Schon vor einem Jahr.«
»Was?! Du hast mir nichts erzählt!«
»Ja, nein, also … tut mir leid.«
Jetzt musterte sie ihn noch genauer: »Sohn, du weißt, wenn du etwas auf dem Herzen hast, kannst du es mir sagen. Egal was. Nicht, dass du mir je erzählt hättest, was dich beschäftigt, aber vielleicht magst du es ja jetzt tun?«
Ihr leicht ironischer Unterton entlockte ihm ungewollt ein Lächeln: »Ich bin kein guter Sohn, stimmt’s?«
»Wenn du mit ›gut‹ meinst, ein Sohn, der regelmäßig seine arme alte Mutter anruft, sie hin und wieder besucht, sie ansonsten im Großen und Ganzen an seinem Leben teilhaben lässt und darüber hinaus ab und zu fragt, wie es ihr so geht – nein, bist du nicht.«
Briamonte grinste schief und in dem Moment ließ der schlafende Hund deutlich vernehmbar einen fahren.
»Vielleicht fängst du mit deinem furzenden Hund an?«, fragte sie launig, obwohl ihr nicht zum Scherzen war: »Wo hast du den her?«
»Aus dem Tierheim.«
»Du hast dich nie für Tiere interessiert …«
»Jetzt schon.«
»Wie heißt er?«
»Keine Ahnung. Hund.«
»Du schaffst dir einen Hund an und gibst ihm keinen Namen?! Das ist traurig!«
»Es gibt Schlimmeres, Mama, glaub’s mir.«
Briamonte spürte, dass er noch nicht für eine ausführliche Lebensbeichte bereit war. Er stellte seine Tasse ab und stand auf: »Danke für den Kaffee. Sag, darf ich ein paar Tage bleiben? Ich habe ein Haus gekauft und kann noch nicht drin wohnen …«
»Du hast ein Haus gekauft?!«, fragte sie überrascht. »Wo?«
»Hier ums Eck. Hinterdorfstraße …«
»Wirklich? Welches? Als Ferienhaus?«
»Nein, ich werde da wohnen … Ich erzähl’s dir später, ja? Jetzt geht’s nicht.«
Er erhob sich, rief seinen schlafenden Hund und ließ seine irritierte Mutter stehen.
Im Frühstücksraum des Hotels Zum Roten Fuchsen saßen um dieselbe Zeit die Gäste beim Frühstück und machten Pläne für den Tag. Es war fast wie jeden Tag, aber nur fast.
»Heute ist er auch nicht da.«
»Vielleicht hat er gekündigt?«
»Nein, sicher nicht!«
»Was macht dich so sicher?«
»Die Kleine. Hast du nicht bemerkt, wie sie sich ansehen? Die sind verliebt. Aber heute hat sie verweinte Augen.«
»Was du alles bemerkst …«, spöttelte Mantovani und köpfte sein Frühstücksei.
»Jaaa«, erwiderte sie gedehnt, »zum Glück, denn du test nie im Leben bemerkt, wie anbetungswürdig ich dich finde …«
Das junge italienische Paar war seit einer Woche Gast im Hotel und versuchte Arbeit und Langeweile unter einen Hut zu bringen. Caterina Mantovani hatte einen ersten Job als Kunsthistorikerin und recherchierte für einen Artikel über die Malerbrüder Winterhalter, während ihr Ehemann Salvatore Mantovani, der Urlaub genommen hatte, um seine Frau zu begleiten, sich in der Zwischenzeit so gut es ging beschäftigte. Dumm für ihn, dass es in dem kleinen Ort ein kleines Museum über die sogenannten Fürstenmaler gab, das von einer ebenso umtriebigen wie sympathischen Direktorin geleitet wurde, mit der sich seine Frau auf Anhieb blendend verstanden hatte und mit der sie nun von morgens bis abends zusammensaß und den unendlichen Anekdoten und Geschichten lauschte – mithilfe eines Übersetzerprogramms, das so seine Mühe mit dem hiesigen Dialekt hatte. Mantovani fühlte sich überflüssig, und nach zwei Tagen ostentativen Gelangweiltseins, das seine Frau geflissentlich übersah, hatte er sich aufgerafft und begonnen, das Tal und die Umgebung zu erkunden. Zu Fuß, per Fahrrad und dann noch – provokante Krönung – per Gleitschirm, was eine mittlere Ehekrise heraufbeschwor.
»Mantovani!!! Sei matto? Bist du verrückt? Un parapendio?!«
»Warum nicht? Ein Tandemflug.«
»Das ist gefährlich!«
»Ist es nicht …«
»Du hast Höhenangst!«
»Zeit, sie zu überwinden …«
»Du bist ein Angsthase.«
»Jetzt nicht mehr.«
»Mantovani, ich lasse mich scheiden!«
»Ich sterbe vor Langeweile!«
»Uffa! Mantovani, du hast doch die letzten Tage Spaß gehabt?«
»Jaaa, alleine und verlassen im Wald …«
»Das ist nicht fair. Das ist mein erster Job, und ich muss den machen! Ich habe dich nicht gebeten mitzukommen, im Gegenteil: Du hättest ja zu Hause bleiben können.«
Da hatte sie recht. Er hatte aber unbedingt mitkommen wollen, um den sagenumwobenen Schwarzwald zu sehen. La Silva Negra, den schwarzen Wald, den sich, der Legende nach, selbst Cäsar nicht zu betreten getraut hatte. Mantovani hatte, wie es seine Art war, im Vorfeld alles gründlich recherchiert, was das Internet über den Schwarzwald hergab: die geologische Entstehungsgeschichte, die typischen Landschaften, die Besiedelung, die Forst- und Weidewirtschaft, das Schwarzwaldhaus, die Bedeutung der Klöster, die althergebrachten Berufe, die Glasbläserei, die Kuckucksuhr, den Bollenhut, die Schwarzwälder Kirschtorte und nicht zuletzt die zahlreichen touristischen Angebote. Nur die Winterhalter-Brüder hatte er ausgelassen. »Das ist mein Job!«, hatte ihm seine Frau entschieden verkündet. »Alles andere ja, die beiden nein!« Und so hatte er sie bombardiert mit Informationen, bis sie schließlich nachgegeben hatte – also gut, er solle halt mitkommen, aber sie werde keine Zeit für ihn haben, das müsse ihm klar sein!
Das Frühstück war genau nach Mantovanis Geschmack, und er langte ordentlich zu: »Vielleicht hat er sie verlassen …« Der abwesende Kellner, ein junger Landsmann, mit dem sie am Abend ihrer Ankunft so nett geplaudert hatten, war gestern schon Gesprächsthema gewesen.
»Das glaube ich nicht, so verliebt wie die beiden waren.«
»Sind …«
»Sind?«
»Du hast in der Vergangenheitsform gesprochen, aber die beiden sind verliebt.«
»Stimmt, es sei denn, ihr Vater hat ihn erschossen … Hast du kürzlich sein Gesicht gesehen? Mamma mia! Che furore … was für ein Zorn! Der war nicht begeistert von dem jungen Glück.«
Mantovani lächelte und legte seine Hand auf ihre: »Zum Glück hat dein Vater nichts gegen mich gehabt. Der hätte mich sicher erschossen.«
Briamonte wütete wie ein Berserker. In hohem Bogen flogen Bretter, rostige Werkzeuge, kaputte Stühle, modrige Matratzen und Berge verrotteter Schindeln in den Vorgarten. Nachdem er seinen ersten Impuls, gleich nach Frankfurt zurückzukehren, unterdrückt hatte, war er in den nächsten Baumarkt gefahren und hatte sich mit Arbeitskleidung, Stahlkappenschuhen, einem Brecheisen, einer Axt, einer Campinglampe und einem Gaskocher nebst Campinggeschirr ausgerüstet. Das wäre doch gelacht!
Das Haus war in einem erbärmlichen Zustand. Es war ein typisches Schwarzwaldhaus, ein Eindachhof mit tief gezogenem Walmdach und einer grasbewachsenen Rampe in die Scheune. Das Dach war zum Teil eingestürzt, die Hauswände waren mit dunkel verwitterten Schindeln bedeckt, aber es hatte »Potenzial«, wie es so schön hieß. Es stand seit über zwanzig Jahren leer, und er würde ihm jetzt wieder Leben einhauchen. Ja, verdammt! Und er würde eines Tages mit dem eigenen Traktor in die Scheune hochfahren, so hatte er sich das vorgestellt, in den schlaflosen Nächten in Frankfurt. Am Montag würde der Container kommen, und gegen Ende der kommenden Woche hoffte er, das ganze Haus entrümpelt zu haben. Er musste vollkommen den Verstand verloren haben! Aber er spürte, dass ihm die körperliche Arbeit guttat, so gut wie das Boxtraining, an dem er in Frankfurt regelmäßig teilgenommen hatte. Er entspannte sich zunehmend, und je mehr er schwitzte, desto deutlicher sah er wieder seinen Zukunftsplan vor sich. Der Schutthaufen wuchs an, und der Hund buddelte im Garten tiefe Gräben.
Um die Mittagszeit beobachtete er, wie mehrere Polizei- und ein Krankenwagen ins Tal fuhren. Gott sei Dank ging ihn das nichts an, sein Dienst begann erst in drei Wochen. Am zweiten November. Die Zeit hatte er sich gegönnt. Doch am frühen Nachmittag läutete sein Telefon.
Eineinhalb Stunden später saß er im Büro des Staatsanwalts in Waldshut-Tiengen und lauschte, zusammen mit seinem künftigen neuen Chef und einem Kollegen, widerstrebend den Informationen über seinen neuen Fall. Die Obduktion hatte noch nicht begonnen, da der Tote noch auf dem Weg ins rechtsmedizinische Institut nach Freiburg war, aber die Tatsache, dass die Leiche einen Durchschuss im Kopf aufwies, ließ den Staatsanwalt keine Zeit verlieren und bereits jetzt eine Sonderkommission bilden, um den offensichtlich fremdverschuldeten Tod des jungen Mannes rasch aufzuklären. Suizid konnte aufgrund der Auffindesituation ausgeschlossen werden. Briamontes Laune war unterirdisch: »Wer hat noch mal die Leiche gefunden?«
»Ein Wanderer.«
»Haben wir die Personalien?«
»Ja.«
»Gibt es einen ersten Hinweis auf den Todeszeitpunkt?«
»Der Rechtsmediziner meint, ohne Gewähr natürlich, dass er mindestens seit gestern Abend dort gelegen hat. Näheres nach der Obduktion.«
»Sie sagten ein Kopfschuss?« Briamonte, den die durchwachte Nacht einholte, hatte Mühe, sich zu konzentrieren.
»Ja.« Der Kollege reichte ihm ein Foto, das gerade gebracht wurde.
»Weiß man schon, wer er ist?«
»Nein. Er hatte keine Papiere bei sich.«
Briamonte betrachtete den Toten. Ein junger Mann, circa fünfundzwanzig bis dreißig Jahre alt, kurze, gut geschnittene dunkle Haare, gepflegter, kurzer Bart. Ein südländischer Typ. Das Einschussloch war klein, sauber und mitten auf der Stirn. Briamonte musste sofort an einen Scharfschützen denken, behielt aber den Gedanken für sich.
»Wie war er gekleidet? War er ein Wanderer?«
Der Kollege nahm die Kamera: »Ich habe die Fotos vom Tatort noch nicht alle ausgedruckt. Sehen Sie hier …«
Briamonte klickte am kleinen Bildschirm die Fotos durch. Nackte Knöchel in weißen Turnschuhen, Jeans, olivgrüner Parka und ein schwarzes Kapuzensweatshirt. Wie ein Wanderer sah er nicht aus. Ein Einheimischer? Er gab die Kamera zurück: »Wir sollten einen Aufruf ins Lokalblatt setzen. Vielleicht kennt ihn jemand? Oder vielleicht gibt es Zeugen?« Briamonte schob seinen Stuhl zurück: »Ich werde mich in der Zwischenzeit etwas umhören. Mit wem werde ich an diesem Fall arbeiten?«
»Kollege Schopferer hier wird vor Ort alles recherchieren und in die Wege leiten, was Sie ihm auftragen, und Frau Polizeioberkommissarin Precht wird sie vor Ort unterstützen.«
»Und wo ist sie?«
»Auf dem Weg.« Er machte eine unbestimmte Handbewegung. »Sie können schon ein paar Fotoabzüge mitnehmen. Die Spurensicherung ist noch immer vor Ort. Kollege Schopferer wird Sie über alles andere auf dem Laufenden halten.«
Briamontes Miene nötigte ihn zu ein paar aufmunternden Worten: »Ich weiß Ihren Kaltstart zu schätzen, Briamonte! Ich lasse Ihnen einen vorläufigen Dienstausweis ausstellen, Ihre Dienstwaffe können Sie jedoch gleich mitnehmen … Waidmanns Heil!«, dröhnte er kumpelhaft und hieb Briamonte auf die Schulter.
»Waidmanns Dank«, sagte er und dachte: Oh Mann!
Es war bereits dunkel, als er aus Waldshut zurückfuhr, über Höchenschwand, Häusern und St. Blasien – ein Vorgeschmack auf seinen künftigen täglichen Weg von der Arbeit. Vor neunzehn Uhr wäre er nicht zurück, aber er könnte immerhin noch die Hotels und Pensionen abklappern. Vielleicht war der Tote ja doch ein Tourist?
Da er noch nichts gegessen hatte, beschloss er, Arbeit und Leibeswohl zu verbinden und parkte vorm Roten Fuchsen. Das Rehragout dort war köstlich, glaubte er sich zu erinnern, und wurde stets vom Chef persönlich erlegt. Der Seniorwirt des Gasthofs bejagte den hinteren Bezirk von dreien, was er noch von früher wusste, als er sich, als Sechzehnjähriger, für die älteste Tochter der Wirtsleute interessiert hatte. Um ein Haar hätte er den Jagdschein gemacht, um ihr zu imponieren, aber er scheiterte an seiner unüberwindbaren Schüchternheit. So erfuhr die junge Schöne nie, wie glühend sie von ihm verehrt wurde.
Das Restaurant war gut besucht an diesem Samstagabend. Briamonte sah sich um.
»Guten Abend. Haben Sie noch einen Tisch für mich?« Er stellte fest, dass sein ehemaliger Schwarm ihn nicht erkannte, aber durchaus interessiert musterte.
»Eine Person?«
»Ja.«
Sie blätterte in dem Belegungskalender. »Einen freien Tisch habe ich leider nicht mehr, aber vielleicht wollen Sie sich dazusetzen?«
»Gerne.«
»Bitte hier entlang.«
Sie platzierte ihn an einen Tisch, an dem ein junges Paar saß, das schon beim Dessert war. Briamonte grüßte freundlich und stellte erfreut fest, dass die beiden Italiener waren. Er bestellte das Rehragout, dazu ein alkoholfreies Bier, und war kurz darauf in ein angeregtes Gespräch mit den beiden vertieft. Sie kamen aus Mailand und waren in erster Linie beruflich hier. Sie schrieb für ein Kunstmagazin über die beiden Winterhalter Brüder, die hier im Ort geboren und aufgewachsen waren – als »einfache Bauernsöhne«, wie sie mit ehrfürchtiger Bewunderung betonte. Zwar wäre auch Italien nicht arm an künstlerischen Talenten, die aus einfachsten Verhältnissen stammten, aber der Schwarzwald, so ein düsterer Ort und ganz anders als die lichtdurchfluteten, lieblichen Landschaften Italiens! Un miracolo! Briamonte hatte keinen Schimmer von den berühmten Brüdern seines Heimatortes, wie er freimütig zugab. Von einem Museum, das im alten Schulhaus untergebracht war, hatte er ebenfalls noch nie etwas gehört, aber er hatte dem Dorf ja auch vor zwanzig Jahren den Rücken gekehrt.
»Sie sprechen hervorragend Italienisch! Come mai? Wie kommt das?«
»Mein Vater war Italiener.«
»Wirklich? Woher?«
»Von hier. Er ist hier aufgewachsen, na ja, ganz in der Nähe, in St. Blasien. Seine Vorfahren sind vor hundertzwanzig Jahren aus dem Trentino gekommen und geblieben.«
»Er spricht noch immer Italienisch?«
»Nein, er lebt nicht mehr, schon lange nicht mehr, aber ja, er hat mit mir Italienisch gesprochen, doch meine Kenntnisse habe ich erst letztes Jahr wieder aufgefrischt. War nicht mehr allzu viel übrig.«
Das Bier kam, und er prostete den beiden zu: »Salute!«
Das Essen verlief in angenehmer Plauderei, und Caterina Mantovani erzählte von Elisabeth Kaiser, der Direktorin des besagten Museums. Briamonte war amüsiert von ihrem Temperament. Sie war eine bildschöne, üppige Brünette, mit langem lockigem Haar und ansteckendem Lachen, und er bemerkte, wie verliebt der junge Mann seine Frau ansah. Die beiden wirkten frisch verheiratet, und Briamonte spürte einen schmerzhaften Stich. Er und Anne hätten – von der Trennung einmal abgesehen – auch längst verheiratet sein können, aber er konnte sich nicht erinnern, dass er sie je so verliebt angesehen hatte wie dieser junge Italiener seine hübsche Frau. Vermutlich mit ein Grund, warum sie sich vor einem Jahr getrennt hatten, nach beinahe acht Jahren Beziehung. Einvernehmlich zwar, und ohne große Emotionen, aber Briamonte mäanderte seitdem im freien Raum herum, auf der Suche nach seinem Leben und seinen Träumen. Er wurde bald vierzig, und was hatte er erreicht bisher? Er hatte immer gekämpft, immer geackert und gerackert, aber erst nach der Trennung war ihm aufgefallen, dass er versäumt hatte zu leben. Zu genießen, zu lieben, albern zu sein und zu träumen. Es war nett gewesen mit Anne, ruhig, unaufgeregt, zuverlässig, aber keine Schmetterlinge. Jeden Freitagabend essen gehen, wenn es sein Dienstplan zuließ, und einmal im Jahr Badeurlaub in der Karibik oder in einem anderen exotischen Reiseland. Brav und spießig, obwohl Anne neun Jahre jünger war und erst kürzlich ihr Studium abgeschlossen hatte. Nach der Trennung fühlte er sich zunächst erleichtert, verfiel aber bald in blinden Aktionismus, mit zu viel Arbeit, viel zu viel Sport, diversen sen und gefühlt hundert Dates. Nach einem Jahr hatte er schließlich schlapp gemacht und war von seinem Vorgesetzten in die Zwangspause und zur psychologischen Beratung geschickt worden. Da hatte er sich, das erste Mal überhaupt, mit sich selbst und seinen ganz eigenen Bedürfnissen auseinandersetzen müssen. Und in dem Zusammenhang hatte er herausgefunden, dass er sich, tief im Innersten, nach seinem Heimatdorf zurücksehnte, nach der Geborgenheit des Dorfes, einer sinnvollen Arbeit, die ihn nicht zerfleischte, einfachem Landleben und einem eigenen Haus. Und dass er sich nach einer liebevollen Partnerin auf Augenhöhe sehnte, das wurde ihm in diesem Moment auch wieder bewusst.
Er räusperte sich. Zeit, an die Arbeit zu denken! Briamonte gab ein Zeichen, dass er zum Bezahlen nach vorne kommen würde, und verabschiedete sich: »È stato un vero piacere conoscervi! Es war wirklich ein Vergnügen, Sie beide kennengelernt zu haben! Ich hoffe, wir sehen uns wieder! Wie lange werden Sie bleiben?«
Vorne an der Theke war er wieder ganz der Polizist. Nachdem er bezahlt hatte, holte er das Konterfei des Opfers hervor, das ein Kollege in Waldshut netterweise mit Photoshop bearbeitet hatte, sodass man das Loch in der Stirn nicht sah. Dennoch war unschwer zu erkennen, dass der Mensch auf dem Bild nicht schlief, sondern tot war.
»Eine Sache noch. Darf ich Ihnen etwas zeigen? Kennen Sie zufällig diesen Mann?« Er hielt ihr den Ausdruck hin.
Sie wurde weiß, wie die Wand.
»Sie kennen ihn also?«
»Darf ich fragen, wer Sie sind?«
»Ich bin von der Polizei, mein Name ist …«
»Papa! Kommst du mal?«
Der Gerufene kam durch die Küchentüre, und Briamonte beobachtete genau seine Reaktion – die seiner Tochter fiel ja eindeutig aus. Er trocknete erst die Hände ab, bevor er den Ausdruck in die Hand nahm. Es war sonnenklar, dass er überlegte, ob er den Mann kannte oder nicht, dieser Fuchs! »Ja. Den kenn ich. Des isch unser Kellner. Gianrico Wasweißichdenn … Wa isch mit dem?«
»Seit wann arbeitet er bei Ihnen?«
»Traudel, kunsch du mol?«, rief er nach seiner Frau. »Die kann ihne meh sage …«, sprachs und schickte sich an, in die Küche zu verschwinden, als Briamonte eine Nuance lauter wurde: »Herr Mayer, ich bin noch nicht fertig …«
»Wa denn no?!«
»Wollen Sie denn nicht wissen, warum ich mit einem Foto Ihres Kellners hier stehe?«
»Sie werres mir sowieso gli sage.«
»Er ist tot, Herr Mayer. Erschossen. Nicht weit von hier im Tal. Fällt Ihnen dazu etwas ein?«
»Wänn Sie mich froge, ob ich dä Kerli erschosse ha?« Er reckte provozierend das Kinn.
»Das werde ich, Herr Mayer, das werde ich. Alles zu seiner Zeit.«
In dem Augenblick kam die Chefin, und der Alte nutzte die Gelegenheit zu verschwinden.
»Frau Mayer, ich bin Kriminalhauptkommissar Briamonte und habe ein paar Fragen zu Ihrem toten Kellner.«
Sie erbleichte, genau wie die Tochter: »Ist er tot?!«
»Ja. Das tut mir leid. Sie scheinen ihn sehr geschätzt zu haben, Sie und Ihre Tochter?«
»Äh … ja.«
»Wie heißt er genau?«
»Gianrico Masiero.«
»Hatte er heute frei?«
»Nein.«
»Dann hätte er heute Dienst?«
»Äh, ja.«
»Haben Sie ihn nicht vermisst?«
»Doch schon …«
»Was haben Sie gedacht, wo er ist?« Die Frage schien sie in Verlegenheit zu bringen, aber eine Antwort erhielt er nicht. »Wie lange arbeitet er schon bei Ihnen?«
»Ich kann Ihnen die Unterlagen holen, wenn Sie wollen, ich bin gleich zurück.«
Briamonte merkte, dass die Gäste tuschelten.
»Hier, bitte. Das sind seine Unterlagen.« Sie hielt ihm einen schmalen Ordner hin, und Briamonte blätterte ihn durch. Ein Lebenslauf und etliche Empfehlungsschreiben von verschiedenen Hotels in der Schweiz. Der Tote stammte offenbar aus Bozen.
»Darf ich das mitnehmen?«
»Ja, sicher.«
»Wo wohnte er?«
»Hier im Haus. Wir haben vier Zimmer für Hausangestellte.«
»Dürfte ich bitte sein Zimmer sehen?«
Die Chefin bejahte und ging vor. Briamonte bereute, dass er vorhin so viel gegessen hatte, und ächzte hinter ihr das Treppenhaus hoch.
Sie schloss die Türe auf und machte Licht: »Hier, bitte. Ich lasse Sie allein. Wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie mich, ja?«
Briamonte sah sich um. Schlicht, aber nett eingerichtet. Viel Holz, Dielenboden mit Flickenteppich, ein Einzelbett, ein großer Einbauschrank und zwei Sessel um ein Beistelltischchen. Rot-grün karierte Vorhänge und reproduzierte Schwarzwaldgemälde. Außer einer Jeans, einem Pullover und einem T-Shirt lagen keine persönlichen Gegenstände herum. Kein Buch, kein Foto, kein Computer. Im Schrank fand er neben Unterwäsche eine Jeans und drei Trachtenhemden sowie Hosenträger und zwei verschiedene Halstücher. Man legte Wert auf Tradition in diesem Haus, weshalb alle Angestellten und selbstverständlich auch die Eigentümerfamilie stets in Schwarzwälder Dirndln respektive Trachtenhemden unterwegs waren. Nachdem Briamonte den Inhalt des Schranks inspiziert hatte, stieß er mit dem Ellbogen die Tür zum Bad auf. Auch dort nichts Spektakuläres: Rasierer, Zahnbürste, Zahnpasta, Deo, Duschgel und Kamm. Das musste sich die Spurensicherung genauer ansehen.
Als er wieder herunterkam, erwartete ihn die Chefin an der Rezeption.
»Waren Sie zufrieden mit Ihrem Mitarbeiter?«
»Ja. Sicher. Sehr.«
»Sprach er gut Deutsch?«
»Äh, er machte einen Kurs …«
»Wie kam er zu Ihnen? Haben Sie inseriert?«
»Nein. Er stand im Frühjahr vor der Tür und fragte nach, ob wir Arbeit für ihn hätten.«
»Und Sie hatten Arbeit?«
»Ja, sicher. Sonst hätten wir ihn nicht angestellt.«
»Haben Sie ihn gefragt, warum er ausgerechnet nach Menzenschwand wollte, wo er doch …«, Briamonte schlug den Ordner auf, »zuletzt in Lugano in einem Grandhotel gearbeitet hat? Der höhere Lohn kann es ja nicht gewesen sein?« Briamonte betrachtete sie fragend, und sie wurde unsicher:
»Äh, nein, das habe ich nicht gefragt. Ich meine, seine Referenzen waren hervorragend … Haben wir etwas falsch gemacht?«
Briamonte winkte ab: »Nein, nein, reine Neugierde. Ist Ihnen je etwas aufgefallen?«
»Aufgefallen? Inwiefern?«
»Hatte er merkwürdige Angewohnheiten? Seltsame Freunde? Besondere Wünsche bei den Arbeitszeiten? Hatten Sie Streit?« Bei seiner letzten Frage merkte er ein leichtes Zögern.
»Nein, nein, gar nichts. Er war ein zurückhaltender, fleißiger, angenehmer junger Mann. Die Gäste und Mitarbeiter mochten ihn. Nie hatte er Streit mit irgendjemandem. Wirklich! Es tut mir sehr leid, dass er tot ist, und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wer einen Grund gehabt haben könnte, ihn zu töten.«
Briamonte nickte und notierte seine Telefonnummer auf die Rückseite eines alten Kassenzettels, den er aus der Jackentasche gefischt hatte. »Falls Ihnen noch etwas einfallen sollte, rufen Sie mich bitte an. Und gehen Sie nicht in sein Zimmer und fassen Sie nichts an! Informieren Sie bitte auch Ihr Personal. Die Spurensicherung wird morgen vorbeikommen, danach können Sie das Zimmer wieder betreten. Danke! Gute Nacht!«
Dann machte er sich auf den Weg zum Tatort.
Als Briamonte weg war, eilte die Seniorwirtin ins Zimmer ihrer jüngsten Tochter. Die Älteste war schon da und wiegte die weinende Schwester im Arm. Sie setzte sich neben die beiden aufs Bett und nahm die kalten, schlaffen Hände ihrer Tochter in ihre. Ihr Hals war so eng, dass sie nichts sagen konnte. Aber für das, was passiert war, gab es ohnehin keine Worte des Trostes. Das arme Mädchen hatte seine große Liebe verloren, wie könnte sie sie trösten? Sie wechselte einen Blick mit ihrer Ältesten und stand dann auf, um ein großes Glas Cognac zu holen, den sie der Jüngsten dann in kleinen Schlucken einflößte, bis sie in einen unruhigen Schlaf fiel. Sie deckte sie zu, dimmte die Nachttischlampe und wandte sich zum Gehen.
»Komm jetzt. Ich werde nachher noch mal nach ihr sehen.«
»Mama, glaubst du, dass er …«
»Kind! Das darfst du nicht einmal denken!«
»Aber er hat doch …«
»Ja, ich hab’s auch gehört, aber das hatte nichts zu bedeuten! Er hatte einen zu viel intus, und du kennst ihn ja, wie er manchmal ist.«
Ja, sie kannte ihn, aber so hasserfüllt hatte sie ihn nie erlebt. Und sie war froh, dass sie nicht in der Haut ihrer Schwester steckte.
Weit nach Mitternacht saß Briamonte mit Hund und Kater auf der Couch. In der Rechten einen schottischen Single-Malt-Whisky, aus einer der rund zwanzig verschiedenen Flaschen, die er im Wohnzimmer entdeckt hatte, und in der Linken sein Smartphone. Er hörte sich die Sprachmemos noch einmal an, die er am Tatort gemacht hatte: Opfer stehend erschossen – große Entfernung – Austrittswunde am Hinterkopf – Kollege will keine voreiligen Aussagen machen, aber Distanz für eine Jagdwaffe ungewöhnlich weit – Scharfschützengewehr? – Schusslinie reicht an den Waldrand oben am Rabenfelsen – Spurensuche geht morgen früh weiter – Kugelriss am Tatort, wird noch gesucht – Schweißspuren gefunden – vermutlich Wildschwein: Haarschnitt, Blut und Pansenreste – Jäger ausfindig machen, der zuletzt dort gejagt hat – Hochsitz hundert Meter Luftlinie vom ort – Zeuge!? – zwei unterschiedliche Fußspuren, abgesehen von denen des Opfers, einmal groß, einmal kleiner – zwei unterschiedliche Reifenspuren – Revierförster befragen, Revieraufteilungen der Jäger, Hochsitzbelegungen – Landratsamt, registrierte Waffen durchgehen nach geeigneter Waffe – Zeugenaufrufe veröffentlichen.