Schwarz ist die Gier - Claudia Bardelang - E-Book

Schwarz ist die Gier E-Book

Claudia Bardelang

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Beschreibung

Die renommierte Kunsthandlung Hellstein & Oehring, ansässig in der Freiburger Altstadt, hat zum Empfang in die prachtvolle Jugendstilvilla Ferrette in St. Blasien geladen. Die unbeschwerte Zusammenkunft endet jäh, als Julian Jeltsch, der Auszubildende der Kunsthandlung, zwei Stockwerke in die Tiefe stürzt. Oder gestoßen wurde? Jeltsch ist auf der Stelle tot, und er nimmt ein Geheimnis mit ins Grab: Wenige Wochen zuvor hat eine ältere Dame ihre Dachbodenfunde der Galerie vorgelegt. Solche Leute bringen selten etwas von Wert, und so traute der Galerist Martin Oehring seinen Augen nicht: eine Ölskizze zum »Turm der blauen Pferde« von Franz Marc aus dem Jahr 1913, ein Werk von unschätzbarem Wert. Kurzerhand entschied Oehring, die Kundin im Ungewissen zu lassen, und beauftragte stattdessen den unangepassten, aber überdurchschnittlich talentierten Jeltsch, unter dem Siegel der Verschwiegenheit eine Kopie anzufertigen … Und jener Jeltsch ist nun tot! Auch Hauptkommissar Briamonte ist auf dem Empfang zugegen. Statt die Renovierung seines Schwarzwaldhofes voranzutreiben, sich in der einstigen Heimat neu einzugewöhnen und den Sommer in seinem verwilderten Obstgarten zu genießen, muss er nun Licht in die dunklen Machenschaften des Galeristen bringen. Denn Jeltsch bleibt nicht der einzige Tote.

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1

Der Samstag begann wie alle Samstage.

Punkt zehn Uhr betrat Martin Oehring die Galerie in der Freiburger Altstadt, begleitet vom dezenten Bimmeln der Türglocke. Hinter der Ladentheke deaktivierte er die Alarmanlage, legte in der Küchennische hinter dem Samtvorhang die Tüte mit Croissants ab, schaltete die Kaffeemaschine an und legte eine CD ein. Heute Brahms, die 2. Sinfonie. Als er sich den ersten Kaffee herausließ, ertönte vorne die Glocke.

Eine ältere Dame, Typ pensionierte Kindergärtnerin. Er setzte sein verbindliches Lächeln auf: »Guten Morgen. Was kann ich für Sie tun?«

Sie sah sich um. »Ich weiß gar nicht, ob ich hier überhaupt richtig bin …« Unter dem Arm hatte sie eine Mappe und ein in Packpapier eingewickeltes Paket. Sicher eine Haushaltsauflösung. So kamen sie immer.

Der Inhalt der Mappe war unspektakulär. Ein paar Drucke, ein Kupferstich, ein paar ganz hübsche Aquarelle und ein Thoma, der noch ein paar Hundert Euro bringen könnte. Außer dem Thoma nichts von Wert. Er blätterte alles durch, und bevor er bedauernd die Schultern heben konnte, fiel sein Blick auf das Ölgemälde, das sie soeben auswickelte. »Und das hier noch. Es ist zwar nicht signiert, aber …«

Ihm blieb beinahe das Herz stehen, aber da sie sich im selben Moment nach dem heruntergefallenen Papier bückte, hatte er sich wieder unter Kontrolle, als sie sich wieder aufrichtete. »Ein Nachlass, nehme ich an?« Jetzt bloß nichts Falsches sagen.

»Ja. Von meiner Großtante. Das hier …«, sie zeigte auf das Ölgemälde, »hab ich in einem Schrankkoffer auf dem Dachboden gefunden. Es sieht ein bisschen aus wie die Poster bei meinem Hausarzt. Da hat sich wohl jemand als Franz Marc versucht. Es ist nicht wirklich mein Geschmack, aber vielleicht ist es doch wertvoll? Man hört ja immer wieder von so etwas.« Sie lachte verlegen.

»Sie denken an diese Fernsehsendung, Bares für Rares?« Er lächelte so verständnisvoll er konnte. »Sie haben vollkommen recht. Es kommt immer wieder vor, dass ein unverhoffter Schatz auftaucht, deshalb kann man nicht aufmerksam genug sein. Dieser Franz Marc hier …«, er betonte den Namen extra launig, »ist ganz dekorativ, aber ich will Ihnen keine allzu großen Hoffnungen machen. Sie sehen selbst, dass es nicht signiert ist, aber Sie haben ganz recht getan, zu uns zu kommen.« Er spürte, dass ihm der Schweiß ausbrach. »Wenn Sie mir die Bilder hierlassen wollen, kann ich Ihnen in ein paar Tagen mehr sagen … Keine Sorge, das wird Sie nichts kosten. Ein Service des Hauses.« Absoluter Blödsinn, aber er musste um jeden Preis verhindern, dass sie mit der Ölskizze wieder hinausspazierte. Er könnte sie ihr gleich abkaufen, aber dann würde sie vielleicht misstrauisch.

»Die Geschichte mit dem Schrankkoffer ist interessant. Darf ich fragen, ob dort noch mehr drin war?« Er wusste, dass er jetzt besser den Mund halten und die Kundin so schnell wie möglich hinauskomplimentieren sollte, aber es war, als würden die Worte ohne sein Zutun den Mund verlassen.

»Nur jede Menge Bücher, nichts Besonderes. Eine Handvoll alte Fotos und Briefe und dieses Bild. Leider keine Juwelen und Silberbesteck. Meine Tante hat mir mal erzählt, dass ihn ein früherer Sommergast ihrer Eltern während des Kriegs auf dem Dachboden deponiert hatte.«

»Das ist ja spannend. Weiß man, wer dieser Gast war und was aus ihm geworden ist?« Halt den Mund, Herrgott, und mach, dass sie geht!

»Wenn ich mich recht erinnere, war er wohl Jurist aus München. Ein distinguierter älterer Herr. Er ist jahrelang jeden Sommer nach St. Blasien gekommen. Da er seinen Koffer nie abgeholt hat, ist er vermutlich gestorben.«

»Ihre Großtante hat nicht zufällig versucht herauszufinden, was mit ihm geschehen ist? Oder den Koffer an seine Hinterbliebenen zu übergeben?« Um Himmels willen, sei ruhig! Sie wird sich fragen, warum du so viel Interesse zeigst!

»Doch, das hat sie in der Tat getan, vor langer Zeit schon, aber sie hat nichts herausfinden können. Sie ist davon ausgegangen, dass er verstorben ist, ohne Angehörige zu hinterlassen.«

»Das ist bedauerlich.« Endlich hatte er sich wieder unter Kontrolle, und er räusperte sich. »Nun, wie auch immer … Um auf Ihre Anfrage zurückzukommen: Wenn Sie mir ein paar Tage Zeit geben wollen, kann ich Ihnen sagen, was Sie für die Bilder noch bekommen könnten. Sie sollten, wie schon gesagt, keine allzu großen Erwartungen haben. Für den Thoma da wird es sicher noch eine Fangemeinde geben. Ich werde mich schlaumachen und Sie dann anrufen, einverstanden? Wenn Sie mir Ihren Namen, Ihre Adresse und eine Telefonnummer hierlassen wollen, unter der Sie erreichbar sind?«

Nachdem die alte Dame gegangen war, stützte er sich schwer auf den Tresen. Großer Gott! Franz Marc! Schon beim ersten Blick war er sicher, dass es sich um eine Ölskizze zum Turm der blauen Pferde handelte. Neunzehnhundertdreizehn. Franz Marcs Sujet rund um die Pferde waren das Thema seiner Dissertation gewesen. Großer Gott! Darauf hatte er sein Leben lang gewartet.

2

Um dieselbe Zeit befreite sich Kriminalhauptkommissar Briamonte aus seinem verdrehten Schlafsack und rappelte sich stöhnend von der Isomatte hoch. Er musste zusehen, dass der Boden endlich fertig wurde, damit er ein ordentliches Bett kaufen konnte. Er öffnete die Tür für den ungeduldigen Hund, der kläffend in den Garten davonjagte, und blinzelte freudig überrascht in die Frühlingssonne. Endlich! Nach einem unerwartet harten, langen und schneereichen Winter hatte es im Frühjahr wochenlang geregnet, bis alle und alles durchgeweicht, grau und zermürbt waren. Der Dauerregen und ein erneuter Schneefall mit Minusgraden, Ende April, hatte ihn, trotz aller Fortschritte der Handwerker, zweifeln lassen, ob er seinen dreihundert Jahre alten, renovierungsbedürftigen Schwarzwaldhof jemals wieder auf Vordermann bekäme. Erst gestern Abend war er kurz davor gewesen aufzugeben und vorübergehend wieder das Schlafsofa seiner Mutter zu beziehen. Doch der unerwartete Anblick seines von der Sonne angestrahlten verwilderten Gartens mit den blühenden Obstbäumen – wo kamen die Bienen auf einmal her? – hob augenblicklich seine Stimmung. Die umliegenden, zart grünenden Berghänge und der hohe blaue Himmel über den Wiesen und Weiden des Tals besänftigten seinen Groll, den er bis in die frühen Morgenstunden an dem Bodenaushub seiner künftigen Wohnstube ausgelassen hatte. Endlich Sonne! Endlich Frühling! Wurde auch Zeit, Anfang Mai!

3

Die Zeit wollte nicht vergehen, und er bediente mechanisch lächelnd die wenigen Kunden, die sich üblicherweise an einem Samstag blicken ließen. Natürlich, gnädige Frau … Wir liefern selbstverständlich gerne … Einen signierten Druck? … Für Ihren Herrn Vater? … Da würde ich Ihnen das hier empfehlen … Ja, die nächste Auktion ist im Herbst … Selbstverständlich lassen wir Ihnen einen Katalog zukommen … Wenn Sie mir freundlicherweise Ihre Visitenkarte dalassen würden? … Wir führen ausschließlich geprüfte Originale … Selbstredend, mein Herr …

Um sechzehn Uhr schloss er ab und eilte ins Lager, wo er das Bild von heute Morgen, sorgfältig verpackt, hinter dem Planschrank versteckt hatte. Glücklicherweise war sein Geschäftspartner übers Wochenende verreist, so konnte er in aller Ruhe das Bild untersuchen, recherchieren und nachdenken. Er hatte keinen Zweifel, dass es sich um ein Original handelte. Ehrfürchtig untersuchte er das knapp vierzig mal sechzig Zentimeter große Gemälde. Es roch nur ganz leicht muffig. Die Leinwand war auf der Rückseite nachgedunkelt und hatte ein paar Stockflecken, aber das Bild selbst war, bis auf einige altersbedingte Kratzspuren an den Kanten, unversehrt. Es gab keine Galerieaufkleber, was die Vermutung nahelegte, dass der frühere Eigentümer es direkt beim Künstler in Sindelsdorf erworben hatte. Wie viele von Marcs Werken war auch dieses nicht signiert. Er seufzte tief. Eine Ölstudie zum Turm der blauen Pferde, einem der berühmtesten und wichtigsten Werke Franz Marcs. Als entartet diffamiert und gestohlen von den Nazis, aus der Nationalgalerie in Berlin, verschollen seit neunzehnhundertfünfundvierzig. Die Skizze zeigte einen Ausschnitt aus der rechten oberen Hälfte. Vier Pferdeköpfe zu einer turmartigen Pferdearchitektur angeordnet, wie Christian von Holst im Ausstellungskatalog der Stuttgarter Staatsgalerie geschrieben hatte, den ruhigen Blick vom Betrachter aus nach links gewendet. Hieratische Ordnung. Tiefe Erkenntnisfähigkeit der Tiere. Kristalline Struktur der Körper. Geistiges Blau. Kathedralarchitektur. Die Pferde als Lichtbringer. Wohlbekannte Stichworte drängten aus weit entlegenen Hirnregionen nach vorne, während Oehring mit Herzklopfen das Bild betrachtete. Jeder Kunsthistoriker, der sich je mit der Kunst zur Zeit der Nazidiktatur beschäftigt hatte, sei es mit der so genannten entarteten Kunst oder aber mit Beutekunst beziehungsweise verschollenen Kunstwerken, hoffte insgeheim eines Tages eines der vielen verschwundenen Kunstwerke wiederzufinden. Oehring auch. Aber jetzt, wo dieser unwahrscheinliche Glücksfall eingetroffen war, er gewissermaßen den Lottojackpot geknackt hatte, wusste er nicht, was er damit tun sollte. Genau genommen war die Ölskizze kein verschollenes Gemälde. Es war nur eine Vorstudie zum eigentlichen Kunstwerk – allein das eine Sensation –, aber sie war weder ausgestellt gewesen noch gestohlen worden und daher nicht restitutionspflichtig. Deshalb war sie auch nicht im Archiv der verschollenen Kunstwerke der Universität Berlin aufgeführt. Niemand wusste, dass sie existierte. Nur er. Die aktuelle Eigentümerin hatte keine Ahnung, was für einen Schatz sie da gehoben hatte! Sollte er sie aufklären? Er hatte diese unsägliche Sendung noch erwähnt, auf der, medienwirksam aufgehübscht, mehr oder weniger wertvolle Dinge unter den Hammer kamen. Die Kunstwelt würde kopfstehen! Die Galerie Hellstein & Oehring würde mit einem Schlag ins Rampenlicht gezerrt werden. Aber je länger Oehring hin und her überlegte, desto klarer sah er: Das hier würde nicht unter den Hammer kommen, zumindest nicht unter diesen. Die Kundin würde es nicht erfahren. Mit dieser Entscheidung fühlte er sich, als hätte die Entdeckung dieses Kunstwerks seine ganz persönliche Büchse der Pandora geöffnet. Heraus kamen Habgier und unheilvolle Entschlossenheit. Beides Attribute, die er an sich bisher nicht gekannt hatte. Obwohl das Rauchen in den Räumen der Kunsthandlung strengstens untersagt war, zündete er sich eine Zigarette an und inhalierte gierig.

Eineinhalb Stunden später wusste er dann, was zu tun war.

4

Der Kaffee sprudelte aus dem kleinen Schraubkännchen, und Briamonte verbrannte sich fluchend die Finger an dem Gaskocher, als er draußen eine Autotür, das freudige Fiepen seines Hundes Gismo und kurz darauf Schritte im Gang hörte.

»Ich bin’s! Guten Morgen!«

»Kristina! Wie schön, dich zu sehen!«

Briamonte musste an sich halten, dass er sie nicht allzu stürmisch begrüßte. Polizeioberkommissarin Kristina Precht, seine Kollegin und die erste zarte Liebesgeschichte seit Langem. Wunderbar. Schwierig. Behutsam.

»Ich habe heute nichts Besseres zu tun und dachte mir, ich helfe dir ein bisschen … falls ich dich nicht störe …? Hier ist Frühstück …« Sie streckte ihm eine Tüte mit Gebäck entgegen und erwiderte scheu seine unbeholfene Umarmung.

Bloß nichts überstürzen! »Du störst mich nie! Im Gegenteil! Und ich könnte tatsächlich etwas Hilfe brauchen. Einen Kaffee für dich?«

Er beobachtete sie unauffällig, während sie ihren Kaffee trank und sich umsah. Ihr langes braunes Haar, das sie vermutlich vorhin erst gewaschen hatte, denn es war noch nicht ganz trocken; die großen schlanken Hände, die die Tasse umfassten, und die derben Stiefel, die so typisch für ihr burschikoses Auftreten waren. Dass sie spontan auftauchte, war ein Fortschritt. Seit sie sich kennengelernt hatten, letzten Herbst, kurz nachdem Briamonte nach Menzenschwand gezogen war, hatten sie sich regelmäßig getroffen, waren aber nie über einen gewissen Punkt hinausgekommen. Sie steckte mitten in der hässlichen Trennung von ihrem gewalttätigen Ehemann, inklusive Strafanzeige und medizinischer Gutachten, schwerer traumatisiert, als sie zugeben mochte, und seit Wochen krankgeschrieben. Er versuchte, sich in seinem neuen Job einzugewöhnen und schwierige Kindheitserinnerungen zu bewältigen.

»Lass mir ein wenig Zeit, ja?«, hatte sie nach ihrem ersten Date gebeten.

»Alle Zeit, die du brauchst …« Und er meinte es ernst, obwohl ihn dieser Schwebezustand höchst verunsicherte. Ihn, den großen, starken, beruflich entschlossenen und selbstsicheren Mann, der in Herzensangelegenheiten so wenig Erfahrung hatte und Frauen gegenüber oft hölzern, unbeholfen und abweisend wirkte. Seine Mutter, die um seine unsichtbaren inneren Schutzmauern wusste, ahnte, was ihn umtrieb, und versuchte ihm Zuversicht zu vermitteln: »Hab etwas Vertrauen. Wenn die Zeit da ist, wird alles gut. Wirst sehen.«

»Und wenn nicht? Wenn ich ihr am Ende doch zu … Ich weiß nicht. Zu wenig aktiv bin, zu zurückhaltend? So ein verständnisvoller Frauenversteher, den Frauen gerne als besten Freund haben, aber nicht als Partner?«

»Glaubst du, dass sie das von dir denkt?«

»Nein …«

»Na also … So wie du sie beschreibst, ist sie eine kluge und warmherzige Frau, die Gefühle für dich hat, aber eine schwierige Zeit durchmacht. Hab ein wenig Geduld. Vertrau auf dein Bauchgefühl und lass sie über deine Mauern klettern, wenn die Zeit da ist.«

Seine Mutter hat leicht reden.

Jetzt reichte ihm Kristina die leere Tasse: »Was lächelst du?«

»Ach, nichts. Ich dachte gerade an etwas, was meine Mutter kürzlich gesagt hat. Wollen wir? Kannst du mit Hacke und Schaufel umgehen?«

»Natürlich! Was genau soll das werden?« Sie machte eine ausholende Bewegung.

»Ich lege den Fußboden tiefer. Die Deckenbalken sind viel zu niedrig, aber ich kann sie ja nicht versetzen. Deshalb hab ich die alten Dielen herausgerissen und trage den Boden darunter ab, bis ich die passende Raumhöhe habe. Nachher lasse ich die Bretter durch die Schleifmaschine und verlege sie neu. Bin ich schlau oder sehr schlau?«

»Unter den Dielenbrettern war blanke Erde?!«

»Ja, sicher. Schmale Querlatten, und darauf die Dielenbretter …«

Nachdem sie eine Weile schweigend das Erdreich abgetragen und eimerweise nach draußen gebracht hatten, hielt sie kurz inne: »Gibt es eigentlich etwas Neues bezüglich der internen Untersuchung?«

»Seit gestern ist sie abgeschlossen. Ein halbes Jahr! Aber nun ist es amtlich: Ich habe korrekt gehandelt und bin ab sofort wieder ein Ritter ohne Fehl und Tadel.«

»Oh, wirklich? Das freut mich! Du bist sicher erleichtert.«

»Natürlich. Obwohl immer irgendwas zurückbleibt.«

»Meinst du? Das glaub ich nicht. Niemand hat an dir …«

»… gezweifelt, meinst du? Oh doch! Unser Oberindianer!«

»Johann!«

»Jaja, schon gut. Ich weiß. Er hat nur seine Pflicht getan«, lenkte Briamonte friedfertig ein, obwohl die interne Untersuchung, die sein Chef nach seinem ersten Fall gegen ihn eingeleitet hatte, beinahe dazu geführt hätte, dass er wieder nach Frankfurt zurückgekehrt wäre – knapp zwei Wochen nachdem er seine neue Stelle angetreten hatte.

»Du bist immer noch sauer auf ihn, stimmt’s?«

»Nein. Doch. Ja. Aber vergessen wir das. Ich bin reingewaschen und ich bin hiergeblieben. Das ist doch das Wichtigste, oder?«

»Das stimmt …« Sie wollte noch etwas hinzufügen, machte den Mund aber wieder zu.

5

»»Das da? Gleiches Format?«

»Können Sie das?«

»Natürlich kann ich das. Muss ja nicht mal eine Signatur fälschen. Ich brauche nur einen passenden bespannten Keilrahmen. Möglichst aus der gleichen Zeit.«

»Das habe ich bereits besorgt. Hat nicht hundertprozentig das gleiche Maß, das spielt aber keine Rolle.«

»Aha …«

»Können Sie den Auftrag zu Hause erledigen?«

»Sicher. Wenn ich alles mitnehmen kann, was ich brauche.«

»Können Sie. Leben Sie alleine?«

»Ja, wieso? Ist das wichtig?«

»Haben Sie Haustiere?«

»Nein. Haben Sie Angst, dass es kaputtgeht?«

»Natürlich. Das Bild gehört einem Kunden und darf auf keinen Fall beschädigt werden.«

»Was wollen Sie mit der Kopie? Sie haben doch nicht vor …«

»Es zu verkaufen? Natürlich nicht! Was denken Sie! Das wäre illegal!« Oehring lachte viel zu laut. Sein Gegenüber betrachtete ihn abschätzig, und er wischte sich mit seinem Stofftaschentuch die Stirn.

»Ist Ihnen nicht gut?«

»Doch, doch, unerwartet warm heute … und etwas zu viel Kaffee. War viel los, langer Samstag …«

In Gegenwart ihres Restaurator-Azubis Jeltsch fühlte sich Oehring immer etwas unwohl, keine Ahnung wieso. Der junge Mann hatte schon einige Lebenserfahrung, er war fast dreißig, mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein, lässiger Lebenseinstellung und tendenziell sperrigem Charakter. Aber mit begnadetem Talent, wie sein Ausbilder nie müde wurde zu betonen: »Schwieriger Bursche, aber was für ein Händchen!« Dutzende Male schon hatten sie ihn ermahnen müssen, pünktlich zu sein, die Aufträge auftragsgemäß fertigzustellen und seine Joints nicht im Innenhof der Werkstatt zu rauchen. Für seine beiden Chefs schien er leise Verachtung zu hegen, aber schlussendlich zählten die Ergebnisse. Und die waren, zugegeben, phänomenal.

»Ich zahle Ihnen tausend Euro, bar auf die Hand …«

Der junge Mann zog eine Augenbraue hoch: »Wieso fragen Sie nicht den großen Meister Hildebrand?«

»Weil Sie besser sind … Aber das muss unbedingt unter uns bleiben! Haben Sie verstanden? Ein Geschenk für meine Frau.«

Ein Lächeln huschte über das Gesicht des jungen Mannes. »Und dafür müssen die kleinen Kratzer und die Stockflecken auch drauf? Das ist doch gar nicht …«

»Doch! Natürlich ist das nötig! Das ist wichtig!« Oehring schwitzte wie ein Schwein.

»Das heißt, sie soll glauben, es wäre ein Original …«, präzisierte ihr Auszubildender süffisant und drehte sich seelenruhig eine Zigarette.

»Das Original ist leider nicht verkäuflich. Es ist ein schönes Bild und wird ein perfektes Geschenk zum Hochzeitstag sein.« Wieso rechtfertigte er sich überhaupt?

»Hochzeitstag … Aha.« Er glaubte seinem Chef kein Wort, aber das war auch egal. Ein Tausender, bar auf die Kralle, das käme ihm sehr gelegen. Wenn er so viel für diesen Möchtegern-Marc ausgeben wollte, war das seine Sache. Er ließ den Rauch in eleganten Kringeln aus seinem Mund entweichen und weidete sich an der Verlegenheit seines Arbeitgebers. Was für ein blöder Lackaffe, mit seinen hellblau gestreiften Hemden, seidenen Krawatten und dem aufgesetzten Lächeln. Immerhin konnte er sich durch seine Spießerattribute einen gewissen Wohlstand leisten, Porsche Carrera inklusive, das brave Schoßhündchen von Madame. Er lachte heiser.

»Heißt das, Sie machen es?«

»Natürlich mach ich es! Und ich schweige wie ein Grab! Keine Sorge! Indianerehrenwort!« Er hob zwei Finger.

»Wie lange brauchen Sie?«

»Drei Wochen. Ungefähr.«

»So lange?!«

»Natürlich! Was haben Sie denn gedacht. Allerdings, wenn ich Urlaub hätte, ginge es etwas schneller. Wann ist denn der Hochzeitstag?«

»Äh … In einem Monat. Melden Sie sich am Montag krank. Nehmen Sie aus der Werkstatt alles mit, was Sie brauchen … Und absolutes Stillschweigen! Niemand darf davon erfahren! Ist das klar?«

»Glasklar. Aber die Kohle will ich gleich …«

 

Nachdem der junge Mann mit dem Original und dem als Basis dienenden Stillleben unter dem Arm verschwunden war, hatte Oehring eine Art Panikattacke. Was, wenn der verrückte Vogel unterwegs jemanden traf, etwas trinken ging und das Paket irgendwo vergaß? Oder wenn er es zu Hause achtlos abstellte und versehentlich beschädigte? Oder gar selbst verkaufte? Sein Herz raste, und er lockerte hastig den Krawattenknoten. Jetzt hatte er etwas ins Rollen gebracht, was nicht mehr aufzuhalten war.

Wobei, das stimmte nicht ganz. Er könnte das Bild immer noch zurückgeben und niemand würde etwas erfahren. Der Besitz einer Kopie war nicht illegal. Vielleicht sollte er das Ganze überhaupt wieder abblasen und der Frau das Bild einfach abkaufen, dann gäbe es überhaupt keine Schwierigkeiten. Nur, was würde passieren, wenn irgendwann herauskäme, dass eine Ölstudie zum Turm der blauen Pferde aufgetaucht war? Nicht allen Kunstsammlern war zu trauen. Nicht alle genossen ihre Kunstwerke für sich selbst und um der Kunst willen, im stillen Kämmerlein sozusagen. Für viele war es der ultimative Beweis für ihren Kunstverstand und ihre Finanzkraft – Kunst als Statussymbol –, weshalb er nicht sicher sein konnte, dass das Bild nicht irgendwann im Rampenlicht der Öffentlichkeit landen würde. Was dann unweigerlich die eigentliche Besitzerin auf den Plan riefe, die sich, völlig zu Recht, übervorteilt fühlen musste. Nein. Es war die richtige Entscheidung, eine Kopie anfertigen zu lassen. Damit könnte das Original auftauchen, ohne Schaden anzurichten. Oehring klopfte das Herz bis zum Hals. Er stürzte ein Glas kaltes Wasser herunter, stützte sich auf den Waschbeckenrand und betrachtete sich im Spiegel. Jetzt bloß nicht durchdrehen. Er hatte lediglich eine Kopie verlangt. Zwar eine mit den beinahe exakten Maßen des Originals und Gebrauchsspuren inklusive, aber für den bedarf war es ja erlaubt. Er dürfte diese Kopie nur nicht verkaufen. Was ja auch gar nicht seine Intention war. Das hatte er auch deutlich gemacht, oder? Andererseits war klar, dass das kein normaler Auftrag war. Barzahlung und Stillschweigen waren nicht die üblichen Geschäftspraktiken von Hellstein & Oehring, da hatte ihr junger Azubi nicht ohne Grund die Ohren gespritzt. Das mit dem Hochzeitsgeschenk hatte er ihm nicht geglaubt. Hätte er sich denken können. Oehring atmete tief durch, straffte sich und fuhr sich mit nassen Händen durch das perfekt geschnittene silbergraue Haar. Es gab keinen Grund, jetzt die Nerven zu verlieren. Niemand konnte ihm eine kriminelle Handlung unterstellen. Die Frau wollte eine Schätzung für die Bilder ihrer verstorbenen Großtante, so etwas dauerte eine Weile. Dass er sie über die Anfertigung einer Kopie nicht informierte beziehungsweise um Erlaubnis fragte, war nicht ganz korrekt, aber per se noch keine strafbare Handlung. Erst wenn er der ahnungslosen Kundin die Kopie zurückgeben und das Original verkaufen würde, würde er sich strafbar machen. Aber so weit war es ja noch nicht gekommen. Das waren bisher lediglich hypothetische Gedankenkonstrukte. Sollte das Ganze auffliegen, wäre die Kopie tatsächlich ein Geschenk für seine Frau. Ganz einfach.

Oehring versuchte, in den Bauch zu atmen. Aber eines war nicht zu leugnen, er war auf dem besten Weg, ein Krimineller zu werden, er, der oberkorrekte Oberlangweiler. Er, dessen Leben bis jetzt in vollkommen geraden Bahnen verlaufen war. Die wohlbehütete Kindheit im betuchten Elternhaus, als spätes und einziges Kind, das Studium der Kunstgeschichte, die viel beachtete Dissertation, die Hochzeit mit einer attraktiven, erfolgreichen und vermögenden Frau und schließlich der Einstieg ins Berufsleben – erst als Mitarbeiter, dann als Geschäftspartner der namhaften Kunsthandlung Hellstein & Oehring. Eine Abfolge angenehmer Lebensabschnitte, die sich beinahe ohne sein Zutun aneinandergereiht hatten. Immer freundlich, immer verbindlich, immer zuverlässig – so hatte er sein bisheriges Leben verbracht. Diverse Flirts und eine kurze Affäre mit einer fast fünfundzwanzig Jahre jüngeren Studentin waren das einzige Aufbegehren gegen die Langeweile seiner sicheren Existenz und des beginnenden Alters. Er, dessen Wünsche stets erfüllt wurden, bevor er sie nur denken konnte, hatte das erste Mal etwas wirklich gewollt. In diesem Fall die Hingabe einer so jungen Frau, wobei er, als ausgesprochen gut aussehender Charmeur, schon immer die Bewunderung der Damenwelt genossen hatte. Die Heimlichkeit, die dieser Seitensprung mit sich gebracht hatte, war ein Nervenkitzel gewesen, den er als ausgesprochen erfrischend empfunden hatte, auch wenn er es bald mit der Angst zu tun bekommen und die Liaison beendet hatte. Seine Frau durfte das nie erfahren, denn eine Scheidung wäre für ihn ein finanzielles Debakel. In diesem Worst-Case-Szenario wäre sein ausgesprochen angenehmes Leben zu Ende. Seinen gehobenen Lebensstil, den er dank des Vermögens seiner Frau durchaus genoss, wollte er nämlich nicht missen. Von der gesellschaftlichen Ächtung in seinem Freundes- und Bekanntenkreis ganz abgesehen. Eine Frau wie Henriette verließ man nicht.

Aber ein unverhoffter Schatz wie diese Ölskizze von Franz Marc eröffnete ganz neue Perspektiven, und Oehring wusste, dass dieses Bild sein Leben verändern würde. Verbessern würde. Eineinhalb Millionen Taschengeld, für was auch immer. Mehr oder weniger. Er hatte extra nachgesehen. Das viel zitierte Sahnehäubchen. Ein paar Wochen durchhalten, das sollte doch zu machen sein.

In dem Moment klingelte sein Telefon, und er zuckte zusammen. Seine Frau.

»Liebling, wo bleibst du? Du hast doch das Essen bei den Ruloffs nicht vergessen?«

»Natürlich nicht, ich komme schon … Legst du mir den hellen Anzug heraus? Bis gleich, mein Schatz.«

6

Die nächsten beiden Wochen verbrachte Oehring in nervöser Überspanntheit, hin- und hergerissen zwischen euphorischen Höhenflügen und angstvollen Vorahnungen. Nach tagelangen Grübeleien und Überlegungen in alle Richtungen hatte er sich endgültig für den kriminellen Weg entschieden. Er würde diesen Fund weder publik machen noch einen regulären Verkauf arrangieren. Er würde die Ölstudie nicht zurückgeben. Er wollte sie besitzen, sich einen Moment lang dem köstlichen Besitzerstolz hingeben, und sie dann verkaufen. Hätte man ihn nach seinen Beweggründen gefragt – er hätte sie kaum plausibel darlegen können. Er war nicht angewiesen auf das Geld, Henriette erfüllte ihm alle Wünsche ohne Wenn und Aber. Es war mehr ein diffuses Verlangen nach einem Stück finanzieller Unabhängigkeit. Der Wunsch, seinem braven Spießerdasein einen gewissen Kick zu verleihen. Nicht, dass er damit je würde prahlen können. Aber schon das Wissen darum, dass er dieses jahrzehntelang verschwundene Bild erkannt und es einen Augenblick lang sogar besessen hatte, versetzte ihn in einen seligen Rauschzustand, auch wenn es gestohlen war. Den geeigneten Kunden hatte er bereits kontaktiert, die Weichen somit endgültig gestellt. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Aber da sich Oehrings kriminelle Energie – sein Seitensprung zählte nicht, der war höchstens moralisch fragwürdig – bisher lediglich auf rücksichtsloses Parken im absoluten Halteverbot und kleine Schwindeleien bezüglich seines Rauchverhaltens beschränkt hatte, brachte ihn sein geplantes Vorhaben und das geheime Wissen um dieses unbekannte Werk an die Grenzen seiner psychischen und physischen Belastbarkeit. Es kostete ihn unendlich viel Energie, seine Nervosität vor seinen Mitmenschen zu verbergen. Mehrere Male war er kurz davor gewesen, sich für ein paar Tage in das Wochenendhäuschen am Lago Maggiore zurückzuziehen. Allein die Angst, dass ihr Auszubildender unverhofft auftauchen könnte, während er nicht da war, hielt ihn davon ab. Hellstein und dem Werkstattchef hatte er erzählt, dass sich Jeltsch bei ihm krankgemeldet hätte. Ein schwerer Bandscheibenvorfall.

»Merkwürdig, ich hätte wetten können, dass ich ihn erst kürzlich beim Tanzbrunnen gesehen habe. Da habe ich mich wohl geirrt.«

»Sicher haben Sie ihn verwechselt. Er sagte mir erst gestern, dass er noch immer starke Schmerzen hätte und täglich zur ambulanten Reha ginge …« Oehring war ein schlechter Lügner, aber Hellstein war gerade mit der Gästeliste des bevorstehenden jährlich stattfindenden Sommerempfangs beschäftigt, weshalb er nur abwesend nickte. »Sagen Sie, Oehring, Ihre Schwiegermutter wird uns doch dieses Jahr mit ihrer Anwesenheit beehren?«

»Soviel ich weiß, ja. Meine Frau sagte, sie hätte noch in München zu tun, würde sich diesen Abend aber freihalten.«

Die Freifrau von Auersberg-Niedernburg war nicht die einzige hochwohlgeborene Dame auf der Gästeliste, aber mit Sicherheit die schillerndste. Unerhört extravagant, betörend charmant, unerschrocken schlagfertig und unermesslich reich, wusste sie jeder noch so faden Veranstaltung das gewisse Etwas zu verleihen. Genau das, was die Kunsthandlung Hellstein & Oehring nach einem etwas mauen Geschäftsjahr brauchen konnte. »Haben Sie Herrn Pfirter schon Bescheid gegeben, dass der Klavierstimmer morgen kommen will?«

»Das wollte ich eben tun …« Oehring griff zum Telefon, um den Eigentümer der Villa anzurufen, als es im selben Augenblick klingelte. »Ah, Frau Berner, schön Sie zu hören!« Die Alte schon wieder! Er straffte sich und flötete, so gut er konnte, die Mär des interessierten Kaufinteressenten, der leider kurzfristig verreisen musste, jedoch den Thoma unbedingt haben wolle. »Ja, ich verstehe Sie, das geht nun schon zwei Wochen … sicher, aber einer unserer Mitarbeiter ist erkrankt, weshalb es hier drunter und drüber geht … Haben Sie nur noch ein klitzekleines bisschen Geduld, ich melde mich, sobald ich mehr weiß … Sicher. Darf ich Ihnen in der Zwischenzeit eine Einladung zu unserem Sommerempfang zukommen lassen? In drei Wochen. In St. Blasien, Villa Ferrette … Das dachte ich mir, dass das ideal für Sie wäre … Schön, Frau Berner, ich melde mich, ja? Auf Wiederhören!«

»Wer war das?« Hellstein hatte den Kopf gehoben und betrachtete interessiert seinen Geschäftspartner, den das Telefonat sichtlich angestrengt hatte.

»Ach, nichts. Eine Dame, die glaubt, sie könne ein Vermögen mit dem Nachlass ihrer Großtante machen.«

»Und?«

»Nichts. Die üblichen Kupferstiche, Radierungen, Aquarelle und ein Thoma. Der könnte noch ein paar Hunderter bringen.«

»Sie haben ihn nicht angekauft?«

»Noch nicht.«

»Warum nicht? Haben Sie Zweifel an der Echtheit?«

»Nein, nein. Ich wollte einen Kunden kontaktieren, der möglicherweise Interesse hat …«

Die ungewohnten Ausflüchte seines sonst recht tüchtigen Partners ließen Hellstein aufhorchen. Er legte den Stift hin, setzte die Lesebrille ab und betrachtete prüfend sein Gegenüber. »Ist alles in Ordnung, Martin? Sie wirken in letzter Zeit etwas … angespannt.«

»Wirklich?« Oehring lachte bemüht. Du meine Güte, man merkte es ihm schon an! Er seufzte theatralisch und setzte ein bekümmertes Gesicht auf: »Wissen Sie … Ich wollte niemanden damit behelligen, aber …«

»Sind Sie krank?«

»Nein. Ja. Vielleicht.« Sein verlegenes Lachen war gar nicht mal so unecht, denn bei aller Redegewandtheit war bewusstes Lügen nicht seine stärkste Disziplin. »Ein Männerding … Sie wissen schon.«

»Oh.« Hellstein setzte seine Brille auf und wandte sich wieder seinen Unterlagen zu. Diese Art von Gesprächsthema war nichts, womit er sich beschäftigen wollte. »Wenn Sie ein paar Tage Urlaub brauchen …«

 

Während sich Martin Oehring zwei quälend lange Wochen um eine unauffällige Fassade mühte und ungeduldig auf die Kopie und besorgt auf das Original wartete, widmete Johann Briamonte jede dienstfreie Minute seinem Umbau und hatte die Dielenbretter aus der Stube endlich so weit fertig, dass sie dieses Wochenende neu verlegt werden konnten. Heute war ein Tag wie aus dem Bilderbuch, und Briamonte trank seinen Espresso das erste Mal im Freien. Federleichte Zirruswolken zogen über den blauen Himmel, die Sonne schien warm auf die blühende, summende Wildnis des Gartens, und der sachte Wind ließ die ersten Blättchen rascheln. Obwohl er hier aufgewachsen war, konnte er sich nicht erinnern, wie rasch hier oben die Jahreszeiten wechselten. Vor einem Monat erst hatte er fluchend den letzten Schnee geschippt, und jetzt, Ende Mai, war es schlagartig so warm, sonnig und lieblich geworden, dass er es sich kaum mehr vorstellen konnte. Aus den weit geöffneten Fenstern und Türen schallte The Incredible Jazz Guitar von Wes Montgomery, den Briamonte kürzlich für sich entdeckt hatte. Er lehnte sich zurück und betrachtete die ersten neuen Schindeln an der Fassade seines Hauses. Eine größere Aktion, die sich allerdings gelohnt hatte. Er war extra bis Muggenbrunn gefahren, um einen der letzten sogenannten Schnefler damit zu beauftragen. Der Mann hatte ihm geraten, lasierte Schindeln zu vernageln, damit das Haus nicht so »nackt« aussähe, bis das Holz mit den Jahren natürlich gealtert wäre. Außerdem wären sie so wetterfester. Sie waren nicht ganz so dunkel wie die alten und standen dem Haus sehr gut. Die Dachdeckerarbeiten waren gottlob Ende April fertig worden – trotz Dauerregen und Kälte. Die Dachdeckerfirma hatte ein riesiges Überdach über dem ganzen Haus errichtet, unter dem die brüchigen Dachziegel und das marode Dachgebälk abgetragen und neu aufgebaut werden konnten. Nicht ganz einfach für ihn, da das schmerzhafte Erinnerungen an den Unfalltod seines Vaters aufrührte, der als Dachdecker tödlich verunglückt war; aber er lenkte sich mit noch mehr Arbeit ab, und jetzt musste er nur noch die Fensterrahmen und Türen abschleifen und dunkelgrün streichen, dann wäre im Außenbereich alles erledigt. Innen sah es zu seinem großen Frust noch anders aus, aber Georg, der Lebensgefährte seiner Mutter, half ihm in jeder freien Minute und war unerschütterlich optimistisch. »Wenn der Boden in der Stube erst fertig ist und du ein ordentliches Bett hast, geht alles wie von selbst.« Auch heute hatte er sich für halb zehn angekündigt. Als der Hund winselte, stemmte sich Briamonte aus dem Gartenstuhl hoch und ging nach vorne.

Nachdem sie eine Stunde lang die frisch geschliffenen Dielenbretter auf die neu verlegte Lattung genagelt hatten, ließ Briamonte den Hammer sinken. »Darf ich dich mal was Privates fragen?«

»Sicher.«

»Als du noch berufstätig warst … hast du da je daran gedacht, etwas anderes zu machen?«

Georg richtete sich auf. »Was meinst du? Einen anderen Beruf?«

»Ja. So was in der Art.«

»Nein. Eigentlich nicht. Wieso fragst du? Denkst du daran?«

»Jein.«

»Wie meinst du das? Im Sinne von: ›Ich habe den falschen Beruf gewählt‹, oder eher: ›Ich möchte mir noch einen Lebenstraum erfüllen?‹«

»Na ja. Das weiß ich nicht so genau. Es ist nur … Ich spüre bei der Arbeit einen Überdruss, den ich bisher nicht kannte.«

»Seit du hier bist? Oder vorher schon? Bereust du es, dass du zurückgekommen bist?« Georg betrachtete den Sohn seiner Lebensgefährtin, der unter seiner abweisenden Schale offenbar einen unerwartet einfühlsamen Kern hatte.

»Nein. Bereuen nicht. Ein bisschen vielleicht. Hier ist alles so anders …«

»Nun ja. In Frankfurt warst du schon eine größere Nummer. Hier bist du nur ein normaler Kriminalhauptkommissar. Ist es das?«

»Nein. Im Gegenteil. Das empfinde ich als Erleichterung, obwohl ich das Gefühl nicht loswerde, dass ich meine Zeit mit Belanglosigkeiten vertue, während meine Kollegen in einem größeren Fall von Datenklau und Erpressung ermitteln. Es ist irgendwie so, ich weiß nicht …«

»Du bist hier unmittelbar mit deiner Kindheit konfrontiert, vergiss das nicht … In Frankfurt war alles weit weg. Deine Mutter hat mir ein wenig erzählt … Das ist sicher nicht einfach für dich.«

»Es geht.« Briamonte spielte mit dem Hammer. ›Nicht einfach‹ traf’s nicht ganz. Der Tod des Vaters war eine bis heute unverarbeitete Tragödie, die dazu geführt hatte, dass er nicht nur seine gesamte Kindheit und Jugend alleine zu Hause im Kinderzimmer verbracht und somit all das verpasst hatte, was eine Kindheit auf dem Land schön und ausgefüllt machte, sondern auch sein Herz gegen alle emotionalen Regungen gepanzert hatte, was ihm noch heute das Leben unendlich schwer machte. »Ich bin mir nur nicht sicher, ob das die viel zitierte Midlife-Crisis der Männer um die vierzig ist oder etwas anderes. Ich weiß nicht, ob ich warten soll, bis es vorbei ist, oder ob ich jetzt handeln müsste. Wobei mir tatsächlich nicht klar ist, in welche Richtung das Ganze gehen könnte. Beim Schnefler hatte ich das Gefühl, dass mir auch ein Handwerksberuf Spaß machen würde. Schreiner vielleicht. Aber mit vierzig noch einmal eine Ausbildung anfangen? Ich weiß nicht.« Er zuckte mit den Schultern. »Hattest du je eine Midlife-Crisis?«

»Ja und nein. Ich hatte eine ernste Lebenskrise, als meine Frau starb. Da waren meine Töchter gerade ausgeflogen, und ich fühlte mich lange Zeit ziellos und nutzlos. Aber das hatte mit meinem Beruf nichts zu tun. Im Gegenteil. Ich war immer sehr zufrieden mit meiner Wahl. Die habe ich nie bereut. Tust du es?«

»Schwer zu sagen. Ich habe es geliebt, Karriere zu machen. Wirklich. Verantwortung zu haben. Wichtig zu sein …«

»Und jetzt?«

»Jetzt merke ich, dass ich es leid bin, immer in die Abgründe der menschlichen Gesellschaft zu blicken. Es gibt so wenig wirklich schöne Dinge in meinem Beruf. Wichtige Dinge: ja. Schöne Dinge: nein. Das fällt mir hier erst auf. Ob das an meinem bevorstehenden Vierzigsten liegt, oder an der Schönheit und Ruhe hier, ich kann es nicht sagen.«

»Hm.«

»Ich ertappe mich in letzter Zeit dauernd dabei, dass ich mir ausrechne, ob und wie ich leben könnte, wenn ich mich vorzeitig pensionieren ließe. Mit dem Klotz hier am Bein allerdings müßige Gedankenspielereien.«

Georgs Blick wanderte prüfend über den grau gestichelten schwarzen Haarschopf, die ernsten dunklen Augen, die steile Stirnfalte, den ausgeprägten, etwas harten Zug um den Mund und den kräftigen Dreitagebart. Ein wirklich glücklicher Mann sah anders aus. »Sollte ich nur zuhören, oder willst du einen Rat von mir?«

»Beides.« Ein schiefes Grinsen huschte über Briamontes Gesicht.

»Wieso nimmst du nicht einen ausgedehnten unbezahlten Urlaub? Dann hättest du Zeit, dein Haus fertig zu machen und dir klar zu werden, was du mit den nächsten vierzig Jahren deines Lebens anfangen möchtest. Du bist noch jung genug, um etwas Neues zu beginnen. Oder deinen Beruf in einer anderen Form auszuüben. Oder eine Frau zu finden und eine Familie zu gründen. Oder beides zusammen. Oder aber du findest heraus, dass es doch das Größte ist, ein erfolgreicher Kriminalhauptkommissar zu sein.«

Briamonte nickte. »Ich werde darüber nachdenken. Danke. Magst du jetzt einen Kaffee?«

7

»»Schatz, bist du da oben?«

Oehring zuckte zusammen, wie es in letzter Zeit häufiger passierte. Zum Glück hatte er seinen Unmut rasch unter Kontrolle. Wer, wenn nicht er, sollte sonst auf dem Dachboden sein? »Du bist schon zurück? Was ist passiert? Hat Lydia eine Stimmbandlähmung erlitten?«, rief er deshalb scherzhaft.

Sein Frau lachte. »Nein. Sie hat einen wichtigen Termin vergessen und uns einfach sitzen gelassen. Im wahrsten Sinn des Wortes. Was suchst du eigentlich?«

»Ach, nichts Besonderes. Ich komme gleich runter. Gehen wir eine Kleinigkeit essen?«

»Gerne. Wohin?«

»Wie wäre es mit dem Schwarzen Raben? Dort waren wir schon länger nicht mehr.«

»Gute Idee.«

»Magst du einen Tisch reservieren? Ich bin gleich unten.«

Er legte die Papiere wieder in den Karton und schob ihn hinter den Kamin. Wieso kam seine Frau ausgerechnet jetzt zu früh nach Hause? Wo sie doch jeden Mittwochabend in trauter Damenrunde bei einer Freundin verbrachte. Bei Bridge, Champagner und Kanapees. BCC, wie er freundlich zu spötteln pflegte. Es war wie verhext. Ein halbes Dutzend vergebliche Anläufe hatte er unternommen, um ungestört auf dem Dachboden ihrer Villa die Unterlagen seiner Dissertation zu durchsuchen. Für den Verkauf des Bildes benötigte er eine einwandfreie Provenienz. Da zweifelsfrei belegt war, dass Wassily Kandinsky den Turm der blauen Pferde