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Alles ist weiß, die Luft kalt und klar, es riecht nach Neuschnee und Holzfeuer. So hat Johann Briamonte sich den ersten Winter im eigenen Schwarzwaldhaus vorgestellt. Doch der Start ins neue Jahr ist für den Kriminalhauptkommissar alles andere als leicht: Von seinen ehemaligen Frankfurter Kollegen erfährt Briamonte, dass man ihm nach dem Leben trachtet: Er steht ganz oben auf der Abschussliste seines Intimfeinds Dimitar Hristov von der bulgarischen Mafia. Außerdem quartiert sich unangekündigt Briamontes äußerst attraktive und erfolgreiche ExFreundin bei ihm ein, was seiner Partnerin gar nicht passt. Und dann steckt er schneller als gedacht in seinem neuen Fall: In Dachsberg ist ein Mann gestorben. Schwer krank, hätte Josef Wenk ohnehin nur noch wenige Wochen zu leben gehabt. Doch dann geht ein anonymer Hinweis beim Kommissariat Waldshut-Tiengen ein: Die Todesursache war keine natürliche. Musste der alte Wenk sterben, weil er bei den Stammtischrunden im Auerhahn den erstklassig gelegenen Familienhof verspielt hat? Und Briamonte muss sich die Frage stellen, wem er sich anvertrauen kann.
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Seitenzahl: 287
Claudia Bardelang
Der dritte Fall für Johann Briamonte
Kriminalroman
Kampa
Für Evi und Walter
Das Licht war anders.
Die Geräusche auch. Gedämpft.
Briamonte richtete sich auf und setzte die nackten Füße auf die eiskalten Bodendielen.
Von unten hörte er, wie die Klappe des Kachelofens geöffnet wurde und das Rumpeln großer Holzscheite, die in den Brennraum flogen. Kristina war schon aufgestanden.
Briamonte trat ans Fenster und öffnete es. Pulvriger Neuschnee rieselte von den Fenstersprossen auf seine Füße, und er roch den ganz eigenen Geruch nach Neuschnee und Holzfeuer. Alles war weiß, der braune Matsch im Garten unter einer makellosen Decke verschwunden. Es schneite immer noch, und die Stille, die sich mit dem Schnee auf die Landschaft herabgesenkt hatte, war allumfassend. Jedes Geräusch wurde verschluckt. Diese friedliche Lautlosigkeit hatte er seit zwanzig Jahren nicht mehr »gehört«. In Frankfurt waren die Winter nasskalt, matschig und schmutzig gewesen, friedlich schon gar nicht. In dem Moment hörte er die Haustür und dann den Hund, der übermütig kläffend um die Ecke in den Garten gesprungen kam, nach den Schneeflocken schnappte und sich wälzte, beäugt von den beiden Ziegen, die abwartend in der Stalltür standen.
Briamonte schloss lächelnd das Fenster. Genau so hatte er sich das vorgestellt, den ersten Winter im eigenen Haus. Er stieg die knarrende, steile Treppe hinunter in die Stube und folgte dem Kaffeeduft in die Küche, wo Kristina eben einen Espresso in zwei Tassen goss. Die beiden halbwüchsigen Kater lagen, sich putzend, auf dem Flickenteppich beim Ofen.
Briamonte verharrte einen Augenblick im Türrahmen und betrachtete die friedliche Szene. Er war so ein Glückspilz!
Als hätte sie seinen Blick gespürt, drehte sie sich um: »Guten Morgen, mein Finsterling … wie hast du geschlafen? Hast du den Schnee gesehen?«
Briamonte ließ seinen Blick über ihre lachenden Augen, ihr langes Haar, den dicken Wollpullover über dem karierten Flanellpyjama und die Strohschuhe wandern, die sie von seiner Mutter zu Weihnachten bekommen hatte. Er nahm ihr das Kännchen aus der Hand, stellte es auf den Herd zurück und umarmte sie fest, ohne auf ihre Frage zu antworten.
Nach dem Frühstück sah er nach den Ziegen, warf ein paar Schneebälle für den Hund, schleppte drei Körbe Holzscheite ins Haus und ging dann mit der Schneeschaufel vor die Tür, während der graue Himmel Stunde um Stunde große Schneeflocken lautlos herabrieseln ließ.
In Dachsberg, wenige Kilometer entfernt, saß an diesem Sonntagmorgen die Familie Wenk am Frühstückstisch. Bettina Wenk, fürsorgliche Gattin und Mutter, guillotinierte mit zusammengekniffenem Mund ihr Frühstücksei – ihr Mann Jochen las Zeitung, die beiden Söhne Lukas und Noah daddelten am Handy. Der Platz ihres Schwiegervaters war schon verwaist, wie immer hatte er eine Riesensauerei hinterlassen.
»Warum darf Opa schon gehen und wir nicht?«, fragte Lukas, der Ältere von beiden, maulig. »Ich bin auch fertig!«
»Weil sich das nicht gehört!«, erwiderte seine Mutter giftiger, als sie wollte. »Abgesehen davon … ist es so viel verlangt, wenigstens am Sonntag gemeinsam zu frühstücken? Ohne Diskussionen?!«
»Aber Opa geht das gemeinsame Frühstück hart am Arsch vorbei!«, wandte Noah ein. »Mir übrigens auch! Wir reden ja sowieso nicht miteinander, also was soll das dann?«
»Noah! Jochen! Sag doch du auch mal was!«
Jochen Wenk faltete seufzend die Zeitung zusammen. »Lass sie doch gehen«, meinte er friedfertig und wandte sich an seine beiden feixenden Söhne: »Aber ihr nehmt euch die Schneeschaufel und den Besen, dann schippt ihr den Hof und Mamas Auto frei. Sie muss nachher zur Arbeit.«
»Aber Papa!«
»Keine Widerrede!«
Als die beiden Jungen abgezogen waren, blieben die Eheleute schweigend am Tisch zurück. Die alte Schwarzwälder Standuhr tickte laut in die Stille, und der Kachelofen bullerte.
»Warum fällst du mir immer in den Rücken?!«
»Bettina! Nicht das schon wieder! Sie sind Teenager und haben nun mal keine Lust mehr, mit ihren Eltern gemeinsam zu frühstücken.«
»Ich hab auch auf viele Dinge keine Lust und muss sie trotzdem machen! Und dein Vater …«
»Bettina! Bitte lass es! Das führt zu nichts!«
»Warum lässt du ihm sein Verhalten durchgehen? Ich verstehe das nicht!«
»Du vergisst, dass wir unter seinem Dach leben.«
»Nein«, sie lachte freudlos auf, »wie könnte ich das vergessen, wo ich doch jeden Tag daran erinnert werde! Aber das entbindet ihn nicht von einem Minimum an Anstand und Rücksichtnahme! Und überhaupt … wann fragst du ihn noch mal, ob er dir den Hof überschreibt? Mach ihm klar, dass wir dann keine Erbschaftssteuer zahlen müssten und endlich umbauen und Ferienwohnungen vermieten könnten, so wie alle anderen hier im Dorf!«
»Bettina!« Er atmete einmal tief ein und wieder aus. »Ich hab dir gesagt, ich frage ihn, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist!«
»Und wann ist der richtige Zeitpunkt? Du weißt, wie krank er ist! Jochen …«, sie kam um den Tisch herum, setzte sich neben ihren Mann und legte ihre Hand bittend auf seinen Arm. »Ich kann nicht mehr! Meine Batterien sind leer … Noch sind wir jung genug, um uns selbstständig zu machen! Das haben wir doch schon so oft durchgesprochen!«
»Du hast das durchgesprochen!«
»Das ist nicht fair!«, wehrte sie sich. »Du bist bei Engelmann auch nicht mehr zufrieden, das hast du selbst …«
»Ja, aber das heißt doch nicht, dass ich gleich meine sichere Existenz aufgebe und mich auf ein unkalkulierbares Wagnis wie eine Familienpension einlasse! Das habe ich dir schon hundertmal gesagt! Können wir mit dem Thema nicht aufhören? Ich frage ihn, wenn die Zeit da ist. Punkt! Ende der Diskussion!«
Bettina Wenk schloss resigniert die Augen. Sie hatte es so satt! Sie wohnten mietfrei auf dem großen Hof, was ihnen einen gewissen finanziellen Spielraum ließ, aber sie haderte seit Langem mit ihrem Job bei einem ambulanten Pflegedienst, der ihr schwere Arbeit zu den unmöglichsten Zeiten abverlangte, ganz zu schweigen von den Bedingungen, die von Jahr zu Jahr mühsamer wurden: Viel zu wenig Zeit für ein freundliches Gespräch und etwas menschliche Zuwendung, fordernde Angehörige und demente, teils bösartige Patienten. Deshalb träumte sie von einer Familienpension mit Fahrradverleih und einem kleinen Café. Der Schwarzwald war zu jeder Jahreszeit so attraktiv, dass es sicherlich kein Problem wäre, die Ferienwohnungen gewinnbringend zu vermieten. Vielleicht könnte man auch die Stallungen wieder instand setzen lassen und ein paar Tiere anschaffen – Urlaub auf dem Bauernhof – oder Übernachtungen im Heu anbieten, wie es einige andere Höfe bereits machten. Ideen hatte sie viele, die sich sicher realisieren ließen – der Hof ihres Schwiegervaters war riesig und hatte eine einzigartige Lage, auf einer Hochebene, inmitten von Weiden und Streuobstwiesen, mit unverstelltem Blick auf die Alpen. Die rund zehn Hektar Land wären sicherlich ebenfalls gut nutzbar, vielleicht als Weideland, als Standort für ein paar Campingfässer oder auch Wohnmobile. Mit dem Hof als Sicherheit wäre die Bank bereit, einen Kredit zu gewähren, mit dem sich der Umbau realisieren ließe. Das hatte sie schon in Erfahrung gebracht. Jochen war gelernter Zimmermann und konnte viel selbst machen, sie hatte ein Händchen für Einrichtung. Aber warum nur mauerte der Alte so vehement? Sie selbst hatte erst kürzlich einen neuen Vorstoß gewagt und versucht, ihrem Schwiegervater ihre Geschäftsidee schmackhaft zu machen, aber sie war übel abgeblitzt. Zugegeben, ihr Verhältnis war nie gut gewesen, aber hatte er sie derart beleidigen müssen? Was war schlimm daran, etwas aus seinem Leben machen zu wollen? Für ihn würde sich doch gar nicht viel ändern?
Nachdem ihr Mann die Stube verlassen hatte, begann sie den Tisch abzuräumen. Selbst das blieb immer an ihr hängen, obwohl sie voll berufstätig war. Sie war so frustriert und wütend, dass ihr die Tränen kamen. Wie war es so weit gekommen, dass sie so sehr in der Sackgasse gelandet war? Mit einem Job, der ihr keinen Spaß machte und sie restlos auslaugte, einem antriebslosen Ehemann, zwei aufmüpfigen, faulen Söhnen, die sich wie Paschas aufführten, und einem bösartigen Schwiegervater? Und jetzt auch noch der Winter, vor dem sie sich immer grauste: miese Straßenverhältnisse, tief verschneite Zufahrtswege und vereiste Windschutzscheiben. Eine der Tassen rutschte ihr aus der Hand und zersprang in unzählige Scherben, die in alle Ecken schlitterten. Verdammt! Schluss damit!
Nach dem Mittagessen saß Briamonte im noch provisorischen Büro und versuchte, sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass er morgen wieder zur Arbeit musste. Die drei Monate unbezahlten Urlaubs waren wie im Flug vergangen, und er verspürte wenig Lust darauf, wieder nach Waldshut-Tiengen zu fahren und seinen Polizistenalltag wiederaufzunehmen. Der Plan, sein Haus fertig zu machen, war zwar einigermaßen aufgegangen, aber in puncto beruflicher Zukunft war er nicht wirklich weitergekommen. Immerhin hatte er etliche Listen mit Für und Wider erstellt und so manchen Nachmittag damit verbracht, mit Kristina alle möglichen Optionen durchzusprechen, aber er war – ganz Meister der Prokrastination, wie ihn Kristina spöttisch nannte – immer wieder ausgewichen, wenn es ans Eingemachte ging, und hatte lieber an den Fliesen im Gästebad und der Küche weitergewerkelt, weshalb er letzte Woche verkündet hatte, dass er doch Polizist bleiben würde. Kristina hatte ihm einen Blick zugeworfen, den er lieber nicht hatte interpretieren wollen, und war kommentarlos im Garten zu den Ziegen verschwunden.
Seufzend räumte er seinen Schreibtisch auf, sah dem Tanz der Schneeflocken vor dem Fenster zu, heftete alte Rechnungen ab und spitzte einen Stift nach dem anderen, latent unzufrieden mit sich selbst. Zu seiner Unlust kam noch dazu, dass sein engster Mitarbeiter, Nepomuk Schopferer, bald seinerseits drei Monate weg sein würde. Elternzeit. Ein Fakt, der Briamonte zusätzlich schlechte Laune verursachte, obwohl er seinem Kollegen und dessen Frau von Herzen das neue Glück gönnte. Er drehte die Kurbel der Spitzmaschine und lauschte dem raspelnden Geräusch, als das Telefon klingelte. Ein Kollege aus Frankfurt, mit dem er immer noch in Kontakt stand.
»Kalle, altes Haus! Ein gutes Neues wünsche ich! Was gibt’s? Wann kommst du uns endlich besuchen?«
Doch Kriminalhauptkommissar Karl Neumann war nicht nach Plaudern. Er hatte schlechte Neuigkeiten. Briamontes Gesicht verdüsterte sich so rasch, wie es sich aufgehellt hatte, während er dem Kollegen lauschte. »Verdammt! … Und du denkst wirklich, dass ich der Nächste sein könnte?!«
Nachdem er aufgelegt hatte, starrte er wie versteinert auf die wirbelnden Flocken vor dem Fenster. Seine Eingeweide waren verknotet. Ein Richter war heute Vormittag vor seinem Haus in Wiesbaden erschossen worden, der Täter war flüchtig. Das Pikante daran: Es war genau der Richter, der vergangene Woche Petar Hristov wegen zweifachen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt hatte. Der Petar Hristov, den er noch höchstpersönlich dem Haftrichter vorgeführt hatte, bevor er seine Siebensachen gepackt hatte und nach Menzenschwand verschwunden war. Hristov, einziger Sohn von Briamontes Intimfeind, dem gebürtigen Bulgaren Dimitar Hristov, Geschäftsmann und Clan-Chef. Dem hochintelligenten, hochkriminellen und absolut skrupellosen Mann, dem Briamonte in all den Jahren intensivster Ermittlungen nichts hatte nachweisen können, weshalb Briamonte sich letztendlich auf dessen Sohn konzentriert hatte, der weniger schlau zu Werke ging. Mit Erfolg. Lebenslänglich und anschließende Sicherheitsverwahrung, wegen der Schwere der Tat und der nachgewiesenen psychischen Störung des jungen Mannes. Revision abgelehnt. Ein schwerer Schlag für den Alten, der siegesgewiss verkündet hatte, dass der Freispruch seines Sohnes so sicher sei wie das Amen in der Kirche. Da hatte sich der treu sorgende Papa wohl geirrt. Gottlob gab es noch Zeugen, die sich nicht einschüchtern oder bezahlen ließen, dachte Briamonte einen Moment lang beeindruckt, doch jetzt war der Richter tot, und sowohl gegen die Zeugen als auch gegen ihn hatte es eine ernst zu nehmende Drohung gegeben, wie ein V-Mann dem Kollegen Neumann berichtet hatte. Briamonte stand wohl nun offiziell auf der Abschussliste des auf Rache sinnenden Vaters. Drohungen waren in seinem vorherigen Leben beinahe an der Tagesordnung gewesen, als Leiter des Fachkommissariats für deliktübergreifende, organisierte Kriminalität, aber diese Sache war etwas anderes. Briamonte schnaufte. Dass sich Petar Hristov, der kleine Dummkopf, auch umbringen musste! Ausgerechnet! Briamonte atmete gegen den harten Klumpen in seinem Magen an und rieb sich das verspannte Genick. Die ganze Sache hatte er erfolgreich verdrängt. So eine Scheiße! Dass diese Drohung ernst zu nehmen war, daran zweifelte Briamonte keine Sekunde. Und jetzt?! Er wusste, was das zu bedeuten hatte. Hristov wurde zwar abgehört und rund um die Uhr vom MEK überwacht, doch er machte sich nichts vor. Die Maßnahmen waren gegen ein Kaliber wie Hristov kaum mehr als eine Alibiveranstaltung und störten den Alten vermutlich nur geringfügig in der Ausübung seiner kriminellen Geschäfte. Um vor Hristovs Schergen ganz sicher zu sein, müsste er sich umgehend versetzen lassen und im Idealfall noch eine neue Identität annehmen. Zwar würde er auch Personenschutz bekommen, aber wie lange? So ein Mist! Er konnte doch nicht alles stehen und liegen lassen? Nicht jetzt! Jetzt, wo er anfing, sich heimisch und wohl zu fühlen! Und Kristina?! Würde sie so ein Zeugenschutzprogramm überhaupt mitmachen, nach allem, was letztes Jahr passiert war? Jetzt, wo sie den Polizeidienst quittiert und eine neue Aufgabe gefunden hatte? Aber was gab es für eine Alternative? Er musste dringend mit jemandem reden, bevor er Kristina einweihen konnte. Aber mit wem?
Als Briamonte am späten Nachmittag zum dritten Mal den Weg von der Haustüre zum Gartentor und den Gehweg an der Straße freischaufelte, war er so in Gedanken versunken, dass er den Wagen erst bemerkte, als er unmittelbar neben ihm haltmachte. Ein mattschwarzer Geländewagen mit Stern und Frankfurter Kennzeichen. Er erschrak zu Tode und wollte gerade über den Zaun in Deckung springen, als er erkannte, wer ausstieg.
»Anne?!« Vor Erleichterung bekam er weiche Knie.
»Hallo, Joe«, gurrte sie und küsste ihn sanft auf beide Wangen. »Gut siehst du aus!«
»Was machst du hier?« Briamonte war überrascht. Mit ihr hatte er nicht gerechnet. »Woher weißt du, wo ich wohne?«
»Ich war bei deiner Mutter.«
»Aha.« Er musterte sie ungeniert. Sie sah gut aus, seriös, die blonden Haare deutlich kürzer als früher.
»Willst du mich nicht hereinbitten?«
»Äh … ich … wir …« Er geriet tatsächlich ins Stottern, während Gismo, von der unbekannten Stimme angelockt, ans Gartentor kam und deutlich vernehmlich knurrte. »Gismo! Aus!«
Briamonte ging voraus und klopfte sich die Stiefel an der Haustür ab: »Kristina! Wir haben Besuch …« Dann nahm er Anne die Daunenjacke ab und hängte sie an die improvisierte Garderobe in der Diele.
»Das also ist dein Haus …« Sie sah sich neugierig um. »Interessant …«
Briamonte fühlte sich merkwürdig befangen. Er führte Anne in die Stube, wo er sie bat, Platz zu nehmen.
»Kristina?«
»Ich bin oben …«
»Kommst du mal runter? Wir haben Besuch …« Er verwies Gismo scharf auf seinen Platz, der ihnen leise knurrend gefolgt war, und versuchte sein Unbehagen zu überspielen: »Magst du etwas trinken? Einen Tee?«
»Gerne einen Grüntee, wenn du so etwas hast.« Sie sagte absichtlich du und nicht ihr, doch Briamonte war zu verwirrt, um das zu bemerken. In dem Augenblick kam Kristina die Treppe herunter.
»Kristina, das ist Anne …«
Kristina erfasste in einem Augenblick die merkwürdige Stimmung, und ihr strahlendes Lächeln erstarb: »Ach …«
»Du weißt … meine …«
»Ich weiß. Deine Ex-Freundin. Hallo, Anne.« Sie hielt ihr unterkühlt die Hand hin, woraufhin Anne sich erhob und Kristina übertrieben überschwänglich umarmte: »Du bist also Kristina! Freut mich, dich kennenzulernen!«
Kristina wand sich aus der ungebetenen Umarmung und drehte sich dann zu Briamonte um: »Hilfst du mir einen Moment in der Küche?«
Sie verließen die Stube, und während der Wasserkocher rauschte, fauchte sie: »Was will sie hier?«
»Äh … uns besuchen …«
»Das glaubst du?«
»Natürlich! Was sonst?«
»Das kann ich dir sagen … die gute Dame führt etwas im Schilde!«
»Kristina! Jetzt aber!« Briamonte lachte belustigt. »Du hast sie genau zwei Minuten gesehen! Was sollte sie im Schilde führen?«
»Ich kenne diese Sorte Frauen nur zu gut! Du vergisst, dass ich Polizistin bin, außer Dienst zwar, mein Instinkt aber nicht. Sie ist hier, weil sie dich zurückhaben will!«
»Denkst du nicht, dass du ein bisschen übertreibst?« Briamonte legte versöhnlich seinen Arm um sie: »Erstens bist du meine große und einzige Liebe, und zweitens sind Anne und ich seit über zwei Jahren getrennt. Sie interessiert mich überhaupt nicht mehr.«
»Aber du interessierst sie!«
»Komm schon! Du siehst Gespenster! Lass uns gemeinsam Tee trinken, ein bisschen plaudern, und dann wird sie sich wieder auf den Heimweg machen. Wir beide werden dann wie geplant Essen gehen und später ausprobieren, wie sich das Schaffell vor dem Kachelofen anfühlt. Was meinst du?« Er hob vielsagend die Augenbrauen, und sie lenkte ein: »Also gut! Ich werde die vollendete Gastgeberin sein. Versprochen. Aber wehe …«
Die nächste Stunde war dann eine ziemlich verkrampfte Veranstaltung. Während es draußen stockdunkel wurde, redete Anne ohne Unterlass. Sie erzählte, dass sie im Sommer das zweite Staatsexamen mit summa cum laude abgeschlossen habe, Junior-Partnerin in einer renommierten Kanzlei in Frankfurt geworden sei, in Kronau eine schöne Wohnung habe und – erinnerst du dich noch an unsere kleine Strandhütte auf den Seychellen? – mittlerweile für den Hochsee-Segelschein büffelte. Als sie alles losgeworden war, lächelte sie Kristina an. »Und was machst du so?«
Kristina, die die ganze Zeit stumm in einem der Sessel gesessen und die leere Tasse in den Händen gedreht hatte, hätte ihr am liebsten geantwortet, dass sie sich mit ihrem Kaschmir-Twinset, ihrer Kelly Bag und ihrem ganzen »Ich bin ja so toll und so wichtig«-Getue zum Teufel scheren solle, aber sie machte gute Miene zum bösen Spiel und erwiderte: »Ich habe vor drei Monaten den Polizeidienst quittiert und fange morgen ein Freiwilliges Soziales Jahr beim Förster an. Ganz und gar langweilig und ganz und gar uncool.« Sie warf Briamonte einen ungeduldigen Blick zu – es reicht jetzt, mach, dass sie geht – und versuchte, sich ihre Irritation nicht anmerken zu lassen. Diese unglaublich perfekte Frau und ihr aufgesetzt freundliches Gehabe ließen sie einen unheimlichen Moment lang an sich selbst und an ihrer Beziehung zweifeln. Sie stand wie neben sich und betrachtete sich von außen. Wie gut kannte sie diesen Mann, der mit so einer acht Jahre lang liiert gewesen war?! Die ganze Situation war merkwürdig. Und unangenehm! Sie musste das Teekränzchen beenden, und zwar sofort! Kristina erhob sich abrupt aus ihrem Sessel: »Ich will nicht unhöflich sein, aber Johann … du weißt, dass wir bald …« Sie tippte auf ihr Handgelenk und sah ihn eindringlich an.
»Ach ja, du hast recht … Wie spät ist es?«
Anne verstand den Wink und erhob sich. »Ich will nicht weiter stören, das war ja auch ein ziemlich spontaner Überfall … Aber Joe, du kennst nicht zufällig ein nettes Hotel oder eine Pension, wo ich noch ein Zimmer bekommen könnte? Es ist alles ausgebucht, damit habe ich nicht gerechnet. Und bei dem Wetter will ich nicht mehr nach Hause fahren …«
Kristina entgleisten die Gesichtszüge, aber ihr warnender Blick kam zu spät.
»Wenn du möchtest, kannst du heute Nacht hierbleiben. Das Sofa kann man ausklappen … Vielleicht magst du ja auch mit uns essen gehen? Wir haben im Roten Fuchsen reserviert. Den kennst du doch auch noch!«
Während sie das Haus verließen, bedachte Kristina Briamonte mit einem vernichtenden Blick, aber er zuckte nur ratlos die Schultern, der so viel sagte wie: Was soll ich machen? Es ist dunkel und schneit wie verrückt.
Zur selben Zeit, als Briamonte mit Kristina und Anne das Haus verließ, fuhr Bettina Wenk zu ihrer letzten Patientin von heute. Es schneite noch immer stark. Sie versuchte angestrengt, durch die tanzenden Flocken im Lichtkegel der Scheinwerfer hindurch die orangeroten Schneestangen nicht aus den Augen zu verlieren, die den Fahrbahnrand markierten. Das Lenkrad fest umklammert, pflügte sie mit ihrem kleinen Suzuki Allrad Jeep die kleine Straße zu dem Hof hoch.
Heute Abend war auch die Tochter ihrer Patientin da, Steffi Allgeier, die Wirtin des Dorfgasthofs, mit der sie befreundet war.
»Steffi! Schön dich zu sehen! Ist was mit deiner Mutter?«
»Nein, nein, alles wie immer. Vielleicht hast du nachher noch Lust auf einen Grog? Ich warte in der Küche.«
Nachdem sie die Seniorin versorgt und ins Bett gebracht hatte, kam sie in die Küche und ließ sich mit einem Seufzer auf die Eckbank fallen. Sie merkte sofort, dass ihre Freundin etwas auf dem Herzen hatte, und sah sie fragend an.
»Ich muss dir etwas sagen, was du sicher gerne wüsstest …«, fing Steffi an, stellte zwei dampfende Becher hin und zog sich einen Stuhl heran. Bettina Wenk seufzte. Oje, was kam jetzt?!
»Du weißt doch sicher, dass dein Schwiegervater jeden Abend bei uns im Auerhahn sitzt …«, fing ihre Freundin an, während Bettina Wenk mit gerunzelten Augenbrauen lauschte. Ihr Schwiegervater also.
»Jaaa«, antwortete sie gedehnt, »was ist mit ihm?«
»Also, ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, ich belausche meine Gäste ja nicht, aber ich fürchte, dass die Herrenrunde in letzter Zeit um Geld spielt …«
»Poker, ich weiß.«
»Ja. Und bis vor Kurzem ging es, soviel ich mitbekommen habe, nur um Kleckerbeträge …« Sie machte eine kurze Pause, nahm einen Schluck Grog und beugte sich dann eindringlich vor. »Aber seit der Schätzle immer häufiger mit dabei ist, hab ich mittlerweile den Verdacht, dass die beiden irgendetwas am Laufen haben. Dein Schwiegervater und der Schätzle.«
»Was meinst du mit ›am Laufen‹?«
»Na ja … irgendetwas, was Ungutes … Ich sag ja, es ist nur ein Gefühl, aber ich weiß von Jürgen, dass es der Schätzle schon lange auf euren Hof abgesehen hat. Ich denke, du solltest das wissen, für den Fall, dass der Alte alles verkaufen will …«
»Wie lange geht das schon so?«
Steffi musste kurz überlegen. »Also, das ging schon kurz nach Silvester los … etwa drei bis vier Wochen …«
Bettina Wenk wurde flau. Volker Schätzle, einst ihr jugendlicher Verehrer, heute skrupelloser Immobilienmakler und erfolgreicher Geschäftsmann. Das verhieß nichts Gutes. Wenn der so Vielbeschäftigte sich wochenlang zu der Stammtischrunde zum Kartenspielen gesellte, tat er das sicher nicht aus bloßer Menschenfreundlichkeit oder um sich die Zeit zu vertreiben.
»Was soll ich tun?«
»Das kann ich dir nicht sagen, du kennst deinen Schwiegervater am besten. Ich dachte nur, ich sag’s dir. Wäre doch zu blöd, wenn der Alte den Hof verticken oder gar verzocken würde, oder? Dann könntet ihr euch eure Umbaupläne endgültig abschminken …«
Aufgewühlt fuhr Bettina Wenk anschließend nach Hause. Als sie in die Einfahrt einbog, wusste sie gar nicht, wie sie hergekommen war. Es schneite noch immer. Große Flocken umwirbelten das Licht der Straßenlaterne. Im Vorhäuschen klopfte sie die Schuhe aus und hängte erschöpft Jacke, Schal und Mütze an die Garderobe. In der Küche brannte Licht. Nanu? Sonntagabends war sie immer alleine. Ihr Mann und die Söhne waren bei der Probe des Musikvereins, und ihr Schwiegervater war jeden Abend im Auerhahn.
»Ach du?!«
»Hm …« Ihr Schwiegervater saß am Küchentisch, vor sich den großen Topf mit dem Rest der Suppe von gestern. Wieso war er nicht im Wirtshaus? Und warum zur Hölle konnte er sich keinen Teller nehmen, wie normale, zivilisierte Menschen auch?!
»Du bist nicht im Auerhahn?«
»Wie du siehst, bin ich hier …«, erwiderte er ätzend. »Darf ich nicht?«
Angewidert betrachtete sie den alten Mann, der, mit aufgestützten Ellbogen und weit heruntergebeugtem Kopf, unappetitlich laut schlürfend die Suppe aß. Sein zu langes Haar klebte ungewaschen am Kopf, das Hemd mit dem speckigen Kragen war weit aufgeknöpft und gab den Blick auf seine knochige, gelblichfahle Hühnerbrust unter dem Unterhemd frei. Die schmutzstarrenden Hosenträger hingen rechts und links an den abgeschabten Cordhosen herunter, während seine Füße in schmutzigen Clogs aus Gummi steckten. Er sah aus und roch wie ein Penner. Heiße Wut wallte in ihr auf. Wieso schaffte es der alte Widerling nicht, ein Minimum an Körperpflege zu betreiben, Herrgott noch mal? Er lebte doch nicht alleine hier! Ein klein bisschen Rücksicht wäre doch nicht zu viel verlangt?! Frische Hemden und neue Hosen hatte er verdammt noch mal genug! Gekauft, gewaschen und gebügelt von ihr höchstpersönlich!
»Was glotzt du so?« Er blickte auf, und ein Stück Suppennudel hing an seinem stoppeligen Kinn.
Plötzlich hakte etwas bei ihr aus. »Was hast du mit Volker Schätzle zu schaffen?«, fragte sie laut.
Der alte Mann tat, als hätte er sie nicht gehört, und beugte sich wieder über den Topf: »Das geht dich einen Scheiß an!«
»Wie bitte?!«
»Du hast mich schon gehört …«
»Wie redest du mit mir?!«
»So, wie es mir passt, und so, wie du es verdienst, du Schlampe!« Das letzte Wort war nur gemurmelt, aber sie hatte verstanden. Mit einem Schritt war sie hinter ihm und drückte seinen Kopf in die Suppe.
Er wehrte sich erstaunlich heftig, aber sie war stark. Mit aller Kraft hielt sie ihn unten, bis er mit seiner rechten Hand ihren Arm zu fassen bekam und sie ihn loslassen musste. Mit einem grässlichen Geräusch atmete er ein, um im nächsten Augenblick, entsetzlich hustend und in akuter Atemnot, wild um sich schlagend zu Boden zu gehen. Der Stuhl fiel um, und der Topf krachte scheppernd auf den Steinboden. Seine Schwiegertochter beobachtete vor Grauen geschüttelt und fasziniert zugleich den Todeskampf des alten Mannes, der endlos lang dauerte, wobei er unerträglich röchelte und sich heftig wand. Bis er schließlich still wurde. Schwer atmend betrachtete sie die blauviolette, grauenhaft verzerrte und so sehr verhasste Fratze des Alten, bevor sie die Küche verließ, um sich ein Bad einzulassen. Einen Moment lang überlegte sie, wie sie es am besten anstellen sollte, damit nicht ihre Söhne den Großvater entdecken würden, dann hatte sie die Lösung: Fünf Minuten in der Wanne sollten genügen. Dann könnte sie ihren toten Schwiegervater ›finden‹, ›Erste Hilfe‹ leisten und schließlich vollkommen aufgelöst den Notruf wählen.
Das Abendessen im »Füchsle« war für Kristina genau so, wie sie befürchtet hatte. Natürlich wurde Anne von den Wirtsleuten wiedererkannt und freundlich begrüßt, und natürlich bestritt sie die ganze Unterhaltung mit Anekdoten aus den gemeinsamen acht Jahren mit Kommissar Briamonte, der in Frankfurt so ein angesehenes ›hohes Tier‹ gewesen war. Ob es ihm nichts ausmache, hier im letzten Kuhdorf in der Bedeutungslosigkeit verschwunden zu sein? Ob er seine Pläne, eines Tages Polizeipräsident zu werden, wirklich aufgegeben habe? Kristina schwieg die meiste Zeit über und beobachtete ihren Lebensgefährten, der sich von einer ihr ganz und gar unbekannten Seite zeigte. Briamonte fühlte sich auch nicht besonders wohl, aber er war außerstande, den Redefluss seiner Ex-Partnerin zu stoppen – und noch weniger in der Lage zu erkennen, dass Kristina kurz davor war, aufzustehen und zu gehen.
Wenig später, zu Hause, war es nicht besser. Nach einem abschließenden Whisky vor dem Kachelofen musste Gismo in den Hausflur weichen, weil er nicht aufhörte, sich feindselig zu gebärden. Briamonte richtete das Bettsofa her und erklärte Anne, wo sie sich duschen und Zähne putzen könne.
Als sie weit nach Mitternacht endlich im Bett waren, drehte sich Briamonte zu Kristina um, aber sie wendete sich ab und löschte wortlos das Licht.
»Morgen früh ist sie weg, versprochen«, flüsterte er. »Gute Nacht!« Und während er, dank der überraschenden Ablenkung und einem doppelten Whisky, keinen Augenblick mehr an seinen morgigen ersten Tag, geschweige denn an den Mord an dem Richter dachte und sofort in tiefen Schlaf fiel, machte Kristina kein Auge zu. Was zum Teufel war das heute? Wieso fühlte sie sich so hundsmiserabel? War sie so eifersüchtig? Vertraute sie ihrem Partner so wenig? Weder noch, wie sie fand, aber sie spürte – sie wusste –, dass dieser ach so spontane Besuch ein abgekartetes Spiel war. Dass diese Juristen-Barbie gekommen war, um ihre Chancen auf eine glückliche Wiedervereinigung mit Kommissar-Ken zu checken. Dabei gebärdete sie sich so siegesgewiss, dass Kristina tatsächlich unsicher wurde. Beim Thema Frankfurt hatte er stets abgeblockt, dieser Teil seines Lebens sei passé, Vergangenheit, endgültig abgehakt. Sowohl Job als auch Beziehung, kaum der Rede wert, darüber ein Wort zu verlieren. Nur das Jetzt zähle, und das sei sie. Und das Haus. War das so? Oder machte er sich etwas vor? Oder machte sie sich etwas vor? Konnte der Karrieremann, der er offenbar gewesen war, auf Dauer tatsächlich zufrieden sein, mit einem Wald- und Wiesenposten im hintersten Winkel des Schwarzwalds? Mit einer ehemaligen Polizistin in Karohemd und Jeans, die nie eine Uni von innen gesehen hatte? Da waren sie wieder, die Selbstzweifel, vor denen ihre Therapeutin sie gewarnt hatte. Mit drückendem Magen versuchte sie, die destruktiven Gedanken wegzuatmen, wie sie es gelernt hatte. Das Schlimme an der ganzen Sache war, dass Ken alias Briamonte nicht kapierte, was da vor sich ging und diesem scheinheiligen Weibsstück noch in die Hand gespielt hatte. Hier zu übernachten – eine ungeheuerliche Frechheit! Als ob sie nicht irgendwo am Schluchsee noch ein Zimmer bekommen hätte. Mit ihrem Panzer hätte sie auch im winterlichen Sibirien keine Schwierigkeiten gehabt! Und überhaupt … wieso hatte sie sich nicht um ein Zimmer bemüht, bevor sie gekommen war?! Kristina war so unglücklich, dass sie sich am liebsten mitten in der Nacht angezogen hätte und zu ihrer Mutter gefahren wäre. Aber ihren Herzensmann allein lassen, mit dieser berechnenden Kuh? Besser nicht! Der Schlange war alles zuzutrauen! Und vielleicht spekulierte Anne sogar darauf, dass sie frustriert das Feld räumte?
Irgendwann in den frühen Morgenstunden schlief sie doch noch ein, während Briamonte nichts ahnend schlief wie ein Murmeltier.
Auf dem Wenk-Hof war es gespenstisch still. Der RTW war schon kurz nach der Ankunft wieder weggefahren, und der Leichenwagen hatte eben den Hof verlassen. Die Familie saß geschockt und bleich um den Küchentisch, während der diensthabende Arzt, der die Leichenschau gemacht hatte, den Tod durch Ersticken infolge einer Aspiration eines Fremdkörpers dokumentierte und unterzeichnete.
»Mein aufrichtiges Beileid! Soll ich Ihnen noch ein Beruhigungsmittel dalassen, Frau Wenk?«
»Nein, danke, das ist nicht nötig. Sagen Sie … Wird mein Schwiegervater obduziert werden?«
»Das halte ich nicht für nötig, der Fall ist ganz klar. Ihr Schwiegervater hat sich offenbar an einer der Suppeneinlagen verschluckt. Aber wenn Sie das wünschen …«
»Meinst du nicht, dass das eine gute Idee wäre, Jochen? Ich meine … nur zur Sicherheit?«
»Nein. Das muss man ihm jetzt nicht auch noch antun. Was geschieht jetzt mit ihm?«, fragte Jochen Wenk sichtlich mitgenommen.
»Nun, das müssen Sie mit dem zuständigen Bestattungsinstitut besprechen. Möglicherweise hat Ihr Vater in seinem Testament festgehalten, wie und wo er bestattet werden möchte … Nun denn, wenn Sie keine Fragen mehr haben, mache ich mich jetzt auf den Heimweg.« Der Arzt erhob sich und gab jedem die Hand. »Noch einmal mein aufrichtiges Beileid! Auf Wiedersehen!«
»Jungs, ihr solltet euch langsam fürs Bett fertig machen. Morgen geht die Schule wieder los.« Bettina Wenk erhob sich schwerfällig, räumte den Topf weg und wischte die Suppenreste von Tisch und Boden.
»Mama! Papa! Können wir morgen nicht zu Hause bleiben? Bitte! Immerhin ist Großvater gerade gestorben!«
Bevor ihr Mann etwas sagen konnte, schüttelte sie energisch den Kopf. Beide Söhne waren schulisch nicht gerade Leuchten, abgesehen davon machte der Älteste im Sommer seinen Werkrealschulabschluss und konnte sich keine Fehlzeiten mehr leisten. »Nein! Ihr geht. Das mit Opa ist ganz furchtbar, aber kein Grund, in der Schule zu fehlen. Gerade du, Lukas, solltest dich langsam auf den Abschluss konzentrieren!«
»Musst du immer so streng sein?«, fragte Jochen, als die beiden motzend abgezogen waren, »immerhin haben sie gerade ihren Großvater verloren!«
»Ja, das muss ich, weil du so ein Weichei bist!«
»Bettina!«
»Ist doch wahr! Immer bleibt alles an mir hängen, und jetzt finde ich auch noch deinen toten Vater! Es war schrecklich! Ich konnte ihm nicht mehr helfen!«
»Komm schon, ist ja gut … Ich sehe ja, wie du dich abrackerst …« Er hob hilflos die Schultern und erhob sich dann, um aus dem Buffet eine Flasche Kirschwasser zu nehmen. »Nimmst du auch einen?«
»Ja. Danke.«
So saßen sie bis weit nach Mitternacht, tranken Schnaps und redeten über Josef Wenk, der einst wohl ein netter Mensch und liebevoller Vater gewesen war. Früher, als seine Frau Anneliese noch lebte. Und Bettina brachte es tatsächlich fertig, die eine oder andere Träne zu vergießen und ihrem Mann in die Augen zu schauen, wohl wissend, dass sie vor nicht einmal drei Stunden seinen Vater getötet hatte.
Am nächsten Morgen hing im Buser Hof noch immer der Haussegen schief. Kristina stieg vollkommen übernächtigt die steile Treppe hinunter und versuchte, nicht zum Bettsofa zu schauen, von dem die beiden Kater eben heruntersprangen und ihr mit hocherhobenen Schwänzchen in die Küche vorauseilten. Abtrünnige kleine Mistviecher! Sie schmuste überschwänglich mit dem beleidigten Gismo, fütterte ihn und die Katzen und machte dann mit maximaler Lärmentwicklung das Frühstück. Es verlief dann ähnlich katastrophal wie der gestrige Abend. Anne, ausgeruht und frisch, lachte über den finster dreinschauenden Briamonte – »Joe, du warst schon immer ein Morgenmuffel, haha, aber du siehst dabei so un-wi-der-steh-lich aus!« – und Kristina dachte: Großer Gott! Joe?!! Unwiderstehlich?! Ich bring sie um, die blöde Kuh! Kurz vor sieben musste sie schließlich wohl oder übel aus dem Haus, ihr erster Arbeitstag mit Niklas Dannecker, dem Förster. Briamonte begleitete sie bis vors Gartentor und nahm zum Abschied unbeholfen ihre Hand, weil sie sich nicht küssen lassen wollte. »Hab einen schönen ersten Tag, mein Liebstes! Pass auf dich auf, ja?!«
»Wenn ich nach Hause komme, ist sie weg!«
»Das ist sie! Versprochen! Gleich nachher wird sie fahren!«
Kristinas Tag war anstrengender als erwartet, ein vollkommenes Kontrastprogramm zu ihrem bisherigen Berufsleben als Polizistin. Nachdem sie den Jeep des Försters bei den Wasserfällen abgestellt hatten, stapften sie durch tief verschneite Waldwege bergan, um die Futterstellen des Damwilds zu kontrollieren und aufzufüllen. Ihre Schritte knirschten laut in der Stille, und Erinnerungen an winterliche Sonntagsspaziergänge kamen ihr in den Sinn. Der Vater weit ausschreitend, das Fernglas umgehängt, Pareys Vogelbuch in der rechten Jackentasche, ohne Rücksicht auf die Mutter und die beiden Mädchen, die mit seinen Riesenschritten nicht mithalten konnten. Die Pausen auf verschneiten Holzbeigen, mit lauwarmem, nach Plastikflasche schmeckendem Pfefferminztee, Landjäger und Bauernbrot, dazu braun gewordene, glitschige Apfelschnitze in eiskalten Kinderfingern. Sie schüttelte sich.
»Alles in Ordnung?« Dannecker drehte sich zu ihr um.
»Ja, ja. Mir kamen gerade die Winterspaziergänge meiner Kinderzeit in den Sinn. Keine allzu angenehmen Veranstaltungen.«
»Wirklich? Warum nicht, wenn ich das fragen darf?«
»Mein Vater war … speziell …«, antwortete sie ausweichend.
»Im Sinne von …?« Dannecker wollte es genau wissen und musterte die groß gewachsene junge Frau, die so anders war als die vielen jungen Leute, die er schon ausgebildet hatte. Sie hatte ganz offensichtlich einen kultivierten Hintergrund, war klug, wach und interessiert, jedoch alles mit einer gewissen Zurückhaltung. Ehemalige Polizistin, wie er wusste.
»Er war ein ziemlicher Pedant. Hatte immer recht.«
»Sie sprechen in der Vergangenheitsform. Ist er gestorben?«
Jetzt musste sie lachen. »Hab ich das echt gesagt? Nein, er ist gesund und munter. Nur habe ich nicht mehr allzu viel Kontakt.« Seit ich nach dem Abi verkündet habe, Polizistin werden zu wollen, hätte sie beinahe noch angefügt, aber sie ließ es bleiben.
Dannecker sah sie prüfend an und verkniff sich weitere Fragen. »Wollen wir weiter? Geht’s noch?«