Schwarz vor Augen - Fredrik Skagen - E-Book

Schwarz vor Augen E-Book

Fredrik Skagen

4,6

  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

"Fredrik Skagen ist ein skandinavischer John le Carré." - Dagbladet. Was geschieht, wenn man ohne Vorwarnung am helllichten Tag sein Gedächtnis verliert? Der Held, dem das in diesem Roman widerfährt, verschafft sich mithilfe von gefährlichen Freunden eine neue Existenz. Gleichzeitig such ein ganzes Land nach dem Mann, der in ein spektakuläres Verbrechen verstrickt sein soll. Fredrik Skagen, Norwegens erfolgreicher Autor von Psychothrillern, inszeniert eine raffinierte, spannende und höchst glaubhafte Suche nach den Hintergründen eines ungesühnten Verbrechens. Es gilt, einen skandinavischen Meisterautor zu entdecken. AUTORENPORTRÄT Fredrik Skagen, 1936 geboren, zählt zu den erfolgreichsten Spannungsautoren Skandinaviens. Seine Romanen und Kinderbücher wurden vielfach preisgekrönt. REZENSION "Fredrik Skagen ist in Skandinavien längst kein Unbekannter mehr und Schwarz vor Augen beweist eindrücklich, dass der Autor sein Handwerk bestens versteht. Routiniert steckt Skagen den Rahmen seiner Handlung ab, baut gekonnt Spannungsbögen auf und zieht seine Leser mehr und mehr in die Geschichte hinein, bis zum überraschend logischen Schluss. Dabei hat der Jazz-Liebhaber und Verehrer von John Le Carré sein Vergnügen mit musikalischen Verweisen und Anspielungen auf bekannte Vorbilder und Kollegen, von Joseph Hayes bis Scott Turow. Dass die Handlung manchmal ein wenig an Plausibilität vermissen lässt, verzeiht man gern bei soviel offenkundigem Spaß an der Sache." -Peter Schneck --- DAS BUCH Kein Schrecken ist größer als der Schrecken vor sich selbst: Von einem Moment auf den anderen verliert die Hauptperson von Fredrik Skagens spannendem Roman sein Gedächtnis und jede Erinnerung an seine Vergangenheit, seine Familie, seine Freunde. Nur die bedrückende Ahnung eines schrecklichen Ereignisses ist ihm geblieben, eine unklare Vision von einer toten Frau, dem Messer in ihrem Bauch und von seinen eigenen Händen, voller Blut. Was aber macht er hier, in London, ohne Papiere, ohne Geld und ohne Zuflucht? Während sich für den Mann ohne Gedächtnis die Schatten der Vergangenheit nur nach und nach aus der Gegenwart schälen, versucht Linda Blix aufgeregt, ihren Mann Steinar zu finden, der offensichtlich nach einem Nervenzusammenbruch orientierungslos in der britischen Metropole herumirrt. Das norwegische Ehepaar hat schlimme Zeiten hinter sich, denn Steinar wurde beschuldigt, seine Geliebte umgebracht zu haben, weil sie vorgab, ein Kind von ihm zu erwarten. Trotz seines Freispruchs vor Gericht verfolgen ihn die Medien weiterhin als Täter und er flüchtete mit seiner Frau nach England. Schon beginnt auch Linda an ihm zu zweifeln, und für Steinar wird die Suche nach seiner Vergangenheit und seiner Erinnerung zur verzweifelten Suche nach dem wirklichen Täter und dem Beweis für seine Unschuld. --- Ein Mann steht am helllichten Tag völlig orientierungslos auf der Straße einer fremden Stadt in einem fremden Land. Er weiß nicht, wo er hinsoll. Sein Leben ist mit einem Schlag wie ein weißes Blatt Papier. Es beginnt die qualvolle und gefährliche Suche nach seiner Erinnerung und nach seiner Vergangenheit, denn schon bald wird ihm zumindest eines klar: Eine furchtbare Tat und die Angst danach müssen der Auslöser für die totale Amnesie sein. Kehrt mit seinem Gedächtnis auch der Albtraum zurück? Will er sich überhaupt erinnern, oder soll er sich in die Anonymität eines neuen Lebens flüchten? Während die Polizei und die Medien eines ganzen Landes nach ihm fahnden, beschließ er, um sein verlorenes Leben zu kämpfen.

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Fred­rik Ska­gen

Schwarz vor Augen

 

 

Saga

Die Erinnerung folgt immerdem Ruf des Herzens

Antoine de Rivarol

Vielleicht geschieht es

genau in dem Moment, als er auf den Bürgersteig tritt und der Verkehrslärm und die schroffe Kälte der Luft ihm wie eine kompakte Wand entgegenschlagen. Die Situation an sich macht ihn nicht ratlos, denn er ist es gewohnt, sich auf Tatsachen und Erfahrung, seinen Instinkt und gesunden Menschenverstand zu verlassen, um im Alltag rasche und richtige Entscheidungen zu treffen. Dass einem das Leben manchen Streich spielen konnte, hatte er schon früher erfahren; deshalb begegnet er dieser Situation mit einer Art professionellem Gleichmut, jedenfalls am Anfang. Wenn er Schwierigkeiten hat, sich zu entscheiden – er ist stehen geblieben, festgefroren, wie ein Stillleben –, dann liegt es an der banalen Tatsache, dass er keine Ahnung hat, in welche Richtung er gehen soll.

Die Straße ist ihm vollkommen fremd. Er weiß nicht, wo er ist.

Diese plötzliche Erkenntnis wirkt zunächst abwegig, und seine erste Reaktion gehört vermutlich zu den ältesten der Menschheit: er hebt die Hand und kratzt sich am Kopf. Unter normalen Umständen hätte er die Irritation überwunden, seine Selbstsicherheit wiedergewonnen und eine Entscheidung getroffen. Aber was waren normale Umstände? Diese hier auf keinen Fall. Seine Hand senkt sich langsam, als wundere er sich über die Entdeckung, barhäuptig zu sein. Er kann sich vage daran erinnern, in einer Kneipe gesessen und Bier getrunken zu haben, während er auf irgendjemand wartete. Der Betreffende war ausgeblieben, und schließlich war er aufgestanden und hatte das Lokal verlassen. Vielleicht lag die Verwirrung bloß daran, dass er einen falschen Ausgang gewählt und damit auf eine unbekannte Straße geraten war.

Es bestand kein physisches Hindernis, sich aus dem Bann zu befreien und auf dem Absatz kehrtzumachen. Die Tür zum Pub liegt nicht einmal einen Meter von ihm entfernt. Er schiebt sie auf und geht hinein. Wenn er den Tisch fand, an dem er gesessen hat, würde er auch rekonstruieren können, warum er hier war und was er im Sinn hatte, als er sein Glas leerte und das Lokal verließ. Das ist die altbekannte, klassische Methode, die fast nie fehlschlägt: zum Ausgangspunkt einer Handlung zurückzukehren, um sich ihr Ziel ins Gedächtnis zu rufen.

Die meisten Männer im Pub tragen dunkle Anzüge, einzelne auch Jeans und Pullover. Er kann sich an kein Gesicht erinnern, doch er war wohl zu sehr mit seinem Bier und den eigenen Gedanken beschäftigt gewesen. In der schummrigen Ecke unter dem ausgeschalteten Fernseher sitzen dicht beieinander zwei junge Frauen. Unwillkürlich blicken sie zu ihm auf und schenken ihm ein pflichtschuldiges Lächeln, bevor sie die Köpfe wieder senken; wie zwei Nonnen, die beim Gebet gestört worden waren. Auf dem einzigen freien Tisch stehen ein leeres Bierglas, eine Tasse und ein Aschenbecher. Hier muss er gesessen haben, obwohl er sich momentan nicht daran erinnern kann. Er lässt sich auf einem der Stühle nieder und sitzt eine Weile zur Probe, dreht das Glas und lässt seinen Blick die Theke entlangschweifen, ist jedoch überzeugt davon, den Barkeeper nie zuvor gesehen zu haben. Er spürt, dass es in den Mundwinkeln und im linken Augenwinkel zu zucken beginnt. Auch die anderen Dinge kommen ihm unbekannt vor; es könnte sich um jeden x-beliebigen Pub handeln. Dennoch muss er hier gewesen sein. Was für eine lächerliche Situation! Er steht auf und geht entschlossen hinaus.

Doch der Boden schwankt unter ihm.

Als er bei kühler Witterung wieder auf dem Bürgersteig steht, dröhnt der Verkehr wie ein metallischer Wasserfall in seinen Ohren; vor seinen Augen scheinen Quecksilbertropfen hin und her zu rasen. Die Angst nimmt ernsthaft von ihm Besitz. Es hilft nichts, den Verstand zu bemühen, denn er kennt kein einziges Haus in dieser Straße. Nichts hat sich verändert seit vorhin, noch immer hat er keine Ahnung, wo er sich befindet, geschweige denn, aus welchem Grund er hier ist. Er geht nach rechts, aufs Geratewohl, entlang einer Häuserfront mit kleinen Läden. Es muss eine kühle Jahreszeit sein, denn die Leute sind warm angezogen. Er selbst ebenfalls. Anorak und Schal. Dunkelbraune, gefütterte Handschuhe. Die Temperatur liegt um null Grad.

Ganz ruhig. Es ist Winter. Du bist in einen Stadtteil geraten, den du nicht kennst. Kein Grund zur Verzweiflung. Bald wirst du wieder Herr der Lage sein. Dies ist nur ein momentaner Kurzschluss. Das kann jedem passieren, wann auch immer, wo auch immer.

Wo auch immer. Hier liegt das einfache, doch unheimliche Problem. An welchem Ort?

Ort, Hort, Sport, Wort ... Am Anfang war das Wort.

Er beginnt nach Wörtern zu suchen und findet rasch eine Antwort – auf den Schildern, über den Geschäften und in den Schaufenstern. Alle Wörter, die er liest, sind englisch. Vermutlich befindet er sich in Großbritannien, auch wenn er weder die Stadt noch den Anlass kennt, der ihn hierher geführt hat. Plötzlich packt ihn der Zorn. Diese Behandlung will er sich nicht gefallen lassen. Kaufte man zum Beispiel eine Ware, die nicht hielt, was sie versprach, hatte man allen Grund zur Reklamation und konnte bei einer Verbraucherschutzorganisation eine schriftliche Beschwerde einreichen. Es gab doch schließlich Grenzen, in welch brenzlige Situationen einen die Gesellschaft bringen konnte. Ein wohlbegründeter Protest war am Platz!

Im nächsten Augenblick, immer noch erregt, begreift er die Naivität seiner Überlegungen. Hier nutzte es nichts, auf erprobte Verhaltensmuster zurückzugreifen; die Situation ließ sich nicht beeinflussen. Diese Einsicht ist es wohl, die ihn langsam die Kontrolle über sich verlieren lässt. Seine Füße zittern bereits. Das Beben breitet sich im ganzen Körper aus, sodass er stehen bleiben und sich gegen die Mauer stützen muss, um nicht die Balance zu verlieren. Beinahe muss er sich übergeben, so übel ist ihm.

Komm zu dir. Unterdrück die Angst. Schließ die Augen. Denk nach.

Er versucht es. Wieder sieht er den Pub vor sich. Vor kurzem hatte er noch drinnen in der Wärme gesessen und ein Bier getrunken. Er hatte auf jemand gewartet, eine Person, die nicht zur verabredeten Zeit erschienen war. Darum hatte er das Lokal verlassen, verärgert. Mit welchem Ziel?

Er ist einer Ohnmacht nahe, hat Atemprobleme und spürt, wie der kalte Schweiß durch die Haut dringt und ihn von seiner Umgebung isoliert. Mit der freien Hand trocknet er sich die Stirn. Versucht sich zusammenzureißen, damit die Passanten nicht glauben, er lehne sich gegen die Wand, weil er krank oder betrunken sei. Er hasste es, unangenehm aufzufallen – und angeglotzt zu werden. Also: er hatte jemand treffen wollen. Einen Mann? Eine Frau? Ja, eine Frau, dessen ist er sich ziemlich sicher. War er mit ihr verheiratet? Sie hatte vermutlich Besorgungen machen wollen, und er hatte dankbar ihren Vorschlag angenommen, sich auszuruhen und im Pub auf sie zu warten.

Das war immerhin eine Möglichkeit. Er schluckt und die Übelkeit wird ein wenig schwächer.

Keine Sekunde glaubt er daran, zu träumen oder zu phantasieren. Träume konnten zwar sehr realistisch sein, waren jedoch immer von einer gewissen Verfremdung geprägt. Jetzt schien es sich schon eher um eine virtuelle Realität zu handeln, von der echten Wirklichkeit kaum zu unterscheiden, nur eine Nanosekunde vom eigenen Pulsschlag abweichend, ein so unbedeutend verzerrtes Spiegelbild, dass es mit dem Original praktisch identisch war. Die Erinnerung würde bald zurückkehren. Es bedurfte nur eines kleinen Rucks und er war wieder der Alte. Hinterher würden sie über die ganze Geschichte lachen. Vermutlich war er bloß überarbeitet. Oder das Bier war nicht in Ordnung gewesen. Er macht ein paar willkürliche Schritte und bleibt vor dem Schaufenster eines Uhrmachers stehen. Geschieht es schon jetzt? Er versucht, sich über seine Handlung Rechenschaft abzulegen.

Habe ich angehalten oder bin ich angehalten worden?

Alle ausgestellten Uhren zeigen dieselbe Zeit: 2.33. Seine eigene Armbanduhr auch.

Vermutlich hatten sie zusammen zu Mittag gegessen, er und die Frau, mit der er vielleicht verheiratet war. Während er versucht, sich daran zu erinnern, was sie gegessen hatten, wird die Übelkeit von einem unangenehmen, bohrenden Schmerz hinter den Schläfen abgelöst. Je mehr er sich zu konzentrieren versucht, desto unerträglicher wird er. Es hilft, die Uhren zu betrachten; damit kann er alle Gedanken verdrängen. Im Fenster befinden sich Uhren aller Größen und Formen, von gediegenen Wanduhren bis hin zu kleinen, ausgeklügelten Damenaccessoires, die so elegant sind, dass das Zifferblatt ohne Zahlen auskommt, alle dekoriert mit Weihnachtssternen und glitzernden Bändern. Er sieht auch verschiedene Wecker. Das wär’s! Aufzuwachen und auf einen Schlag die Orientierungslosigkeit überwunden zu haben. Er denkt an Raum und Zeit. Abstände maß man normalerweise in Metern, Kilometern und Meilen. Aber man konnte sie auch durch Zeitspannen ausdrücken, indem man zum Beispiel sagte, der Abstand zwischen A und B betrage zehn Minuten mit dem Zug. So hatte Einstein wohl gedacht. Und ein Humorist hatte es so formuliert: Die Zeit ist eine Erfindung der Natur, die verhindert, dass alles gleichzeitig geschieht.

Eine vernünftige und praktische Angelegenheit.

Aber was nun? Die Zeit lief weiter. Und er hatte nicht einmal rekonstruieren können, wann die Leere im Kopf eingetreten war und er in irgendeiner Form die Besinnung verloren haben musste. Vielleicht war es nicht geschehen, als er auf den Bürgersteig trat, sondern als er vom Tisch aufstand oder den letzten Schluck Bier trank. Oder noch früher, zum Beispiel als seine Frau den Pub verließ, um ihre Besorgungen zu machen. Falls er verheiratet war. Falls er überhaupt den Pub besucht hatte.

Er schließt die Augen – lange. Wenn er sie wieder öffnet, will er sich an einem Ort befinden, der ihm bekannt ist. Er beginnt, bis hundert zu zählen, schneller und schneller. Bildet sich ein, er könne den Verkehrslärm ignorieren. Achtundneunzig, neunundneunzig, hundert ... Ich komme! Er blinzelt. Starrt auf dieselben präzise tickenden Uhren. Schluckt, um den quälenden, hoch im Hals sitzenden Kloß loszuwerden. Das gelingt, doch erneut macht sich der Druck hinter den Schläfen bemerkbar. Etwas Grundsätzliches stimmt mit seinem Kopf nicht. Er hebt die Hand, fährt sich behutsam durch die Haare und sucht nach einer offenen Wunde, findet jedoch keine.

Hinter ihm gleitet ein roter Bus im dichten Strom der Fahrzeuge an ihm vorbei; er sieht ihn im Fenster. Ein Bus mit zwei Etagen. Ein Doppeldecker. Er sieht auch die Passanten, die Englisch sprechen – eine Sprache, die er ziemlich gut beherrscht, obwohl sie nicht seine Muttersprache ist. Die Wortfetzen, die er aufschnappt, kommen ihm wie Sprechblasen eines Comics vor, dessen Handlung er nicht versteht:

»Hab ich doch gesagt, lass mich in Ruhe.«

»Das werde ich Margaret erzählen.«

»Mir reicht’s.«

»Zum Angeln? Aber doch nicht kurz vor Weihnachten.«

Er begreift den Sinn jedes einzelnen Wortes und versucht sich an die erfreuliche Tatsache zu klammern, dass er nicht völlig den Verstand verloren hat, dass er die Sprache versteht, dass er zur Not in der Lage ist, mit anderen Menschen zu kommunizieren. Der nächste Schritt musste sein, sich nach Hilfe umzusehen, Kontakt mit einer Person aufzunehmen, die ihm eine so nützliche Auskunft erteilen konnte wie die, wo er sich eigentlich befand. Die ihm so präzise Koordinaten angeben konnte, dass es ihm möglich wurde, sich in die richtige Richtung zu bewegen, zurück zu der Wirklichkeit, die ihm vertraut war und in der er sich orientieren konnte. Er brauchte nur einen kleinen Wink, eine Ortsangabe, und das unangenehme Zittern würde verschwinden wie eine Pfütze an einem warmen Sommermorgen. Doch irgendetwas hielt ihn davon ab, jemand anzusprechen. Weil es ihm peinlich war?

Genau in diesem Moment zeigen alle Uhren im Fenster 2.37.

P.m., denkt er, post meridiem. Ein Winternachmittag, irgendwo auf den Britischen Inseln. Er setzt sich wieder in Bewegung, lässt Rolex, Certina, Swatch und Omega zurück. Schaudernd biegt er um die Ecke in eine kleine Straße mit niedrigeren Häusern, an deren schmalen Bürgersteigen zwei gelbe Streifen entlanglaufen. Er weiß, was die Streifen bedeuten: Parken verboten. Er weiß es, weil er schon früher in diesem Land gewesen ist. Gemeinsam mit der Frau, der er womöglich angehört.

Doch jeder Gedanke, jedes Aufschimmern einer möglichen Vergangenheit, das ihn auf die richtige Spur setzen könnte, führt nur zu einem neuen Vakuum in seinem Kopf und weiteren Schmerzen. Die Assoziationen sind wie Warnsignale, starke Halogenlampen, deren Licht blendet und ihm die Sicht nimmt. Zusammen mit dem Kopfschmerz machen sie jedes Forschen nach möglichen Erklärungen zunichte. Vermutlich wäre es das Klügste, auf dem Absatz kehrtzumachen und in der Hoffnung zum Pub zurückzugehen, dass die Erinnerung langsam wiederkehrt.

Dass er diesen einleuchtenden Gedanken nicht in die Tat umsetzt, liegt an der neuen Erfahrung, dass logische Schlussfolgerungen ein erhöhtes Unbehagen nach sich ziehen. Sobald er einfach weiterschreitet, ohne sich den Kopf zu zerbrechen, lässt der Druck von innen nach. Das fremde Terrain reduziert sich auf eine gleichgültige Straße, von der keine Bedrohung ausgeht. Der Körper fühlt sich leichter und momentan plagen ihn keine Sorgen. Er betrachtet seine Füße und beobachtet, wie sie ihn Schritt für Schritt vorwärts bringen.

Gehe ich oder werde ich gegangen?

Der Spiegel im kleinen Raum, in dem er steht und sich erleichtert, ist zersplittert. Er lässt es lange und wohlig laufen, vermutlich infolge des kürzlich konsumierten Bieres, denn der Strahl ist glasklar. Es gab nur eine Erklärung: Er hatte einfach einen kurzen Aussetzer gehabt. So etwas kam vor, das hatte er schon gehört. Jetzt war es nur notwendig, kühlen Kopf zu bewahren. Langsam würde sich der Körper erholen und der unerwarteten Situation anpassen. Oder umgekehrt: Er würde einsehen, dass dieser Zustand der normale war.

Zurück auf der Straße, würde er zu sich kommen und wieder ganz der Alte sein.

Er ist sich dessen so gewiss, dass er, nachdem er seine Hände unter dem glühend heißen Luftstrom eines Automaten getrocknet hat, optimistisch lächelnd auf die Straße tritt und den Evergreen Bye Bye Blackbird summt. Nach einer Weile gelangt er an einen Park, der durch ein schwarzes Eisengitter vom Bürgersteig abgegrenzt ist. Schon an der nächsten Ecke würde er sowohl die Kopfschmerzen als auch die unangenehme Übelkeit los sein, die Gegend wieder erkennen und seine Schritte in die richtige Richtung lenken.

Der Nebel, der ihn umgibt, lichtet sich langsam, jedoch nicht so sehr, wie er erwartet hatte. Ein merkwürdiges Wort kommt ihm in den Sinn: dribkcalB. Es bedeutet Amsel auf Englisch – rückwärts gelesen.

Wenn ihn etwas auf dieser Welt beschäftigte, dann war es Sprache. Sein ganzes Leben lang hat er sich mit Wörtern herumgeschlagen. Er weiß nicht, warum das so war, und will es im Moment auch nicht wissen.

Hinter dem Gitter, im Park, in einem Garten mit feuchten Winterbäumen und zerzausten Spatzen, gingen sicherlich ausgeglichene Menschen spazieren und führten vernünftige und verständige Gespräche. Er musste nur einen Eingang finden, dann konnte er sich unter die Leute mischen und jemand ansprechen, der alles unter Kontrolle hatte. Aber vielleicht wäre das gar nicht nötig, wenn schon in Kürze Klarheit anstelle von Chaos trat.

An der nächsten Kreuzung fällt sein Blick in der Ferne auf ein hohes Gebäude. Selbst auf die große Distanz, die mindestens einen Kilometer beträgt, kann er die eisblauen Buchstaben an der Front lesen: Earls Court. Und zum ersten Mal, seit er aus dem Pub gekommen war, hat er eine Assoziation, die ihm keine Kopfschmerzen bereitet. Er denkt an eine große Messe. Eine, an der er teilgenommen hat oder teilnehmen soll. Während er weitergeht, werden die Buchstaben von anderen Fassaden verdeckt, doch er glaubt, in etwa die Richtung beibehalten zu können. Wenn er das Haus mit dem Schriftzug erreichte, würde er sich auch über seine Bedeutung klar werden und wieder zu sich kommen. Ganz bestimmt!

Kurz darauf beginnt es eiskalt zu regnen. Er hat keinen Schirm dabei. Auf der anderen Seite der breiten Straße entdeckt er ein Café und eine Toreinfahrt. Ebenso instinktiv wie gedankenlos geht er schneller – gefährlich schnell. Das Nächste, das er hört, ist das schrille Quietschen von Autoreifen, das ein Ende findet, als die dreckige Stoßstange eines Lieferwagens, der eine Vollbremsung macht, gegen sein linkes Knie stößt. Der Fahrer springt hinaus in den Platzregen und fuchtelt mit den Armen.

»Hey, du hast sie wohl nicht alle!«

»Entschuldigung.«

»Sind hier etwa Zebrastreifen?«

»Nein, tut mir leid.«

Das Englisch fällt ihm schwer, logischerweise. Sorry hat er gesagt. Pardon me.

»Du hättest hinüber sein können, du Vollidiot! Wäre wirklich nicht meine Schuld gewesen.«

»Nein, natürlich nicht.«

Er fühlt sich einer solchen Situation nicht gewachsen, und als die Autos hinter dem Lieferwagen anfangen zu hupen, spürt er, wie sich seine Füße wieder in Bewegung setzen.

»Ja, komm schon, schieb deinen Arsch von der Straße!«, gellt es in seinen Ohren, doch er kann sich nicht vorstellen, dass der Mann hinter ihm herläuft, weil sein stehender Wagen ein Verkehrschaos auslösen würde. »Könntest dich ruhig bedanken, dass ich dein verdammtes Leben gerettet habe!«

Sein Ziel ist immer noch dasselbe: der Bürgersteig auf der anderen Seite der Straßen. Kurzatmig, aber unversehrt steht er im trockenen, ruhigen Dunkel der überdachten Einfahrt, steckt eine Hand in die Jackentasche und stellt fest, dass er noch ein bisschen Kleingeld besitzt. Mehr als genug für eine Tasse Kaffee. Dass er das einschätzen kann, überrascht ihn nicht im Geringsten. Und wenn er immer noch zittert, hat das nichts mit dem haarscharf vermiedenen Unfall zu tun. Er zittert, weil er nicht herausfinden kann, was mit ihm geschehen ist. Ein ebenso peinliches wie lächerliches und verwirrendes Gefühl. Die Lücke in seinem Gedächtnis ist undurchdringlich, dicht und schwarz wie Pech.

Kurz darauf sitzt er im Anorak an einem kühlen Fensterplatz vor einem Plastiktisch und betrachtet die Regentropfen, die auf dem Asphalt unzählige kleine Explosionen verursachen. Seine Hand zittert so stark, dass der Kaffee überschwappt. Er verbrennt sich die Lippen und neue Wellen der Übelkeit breiten sich in ihm aus.

Ganz ruhig, alter Junge. So haben wir gerne miteinander geredet, als wir uns ... getroffen haben, aber wo? Sei nicht so verflucht ängstlich. Gerade eben, kurz bevor es zu schütten anfing, war ich drauf und dran, den roten Faden zu finden. Ein bisschen konzentrierte Entspannung und alles fällt mir wieder ein.

Konnte man sich konzentriert entspannen?

Das Paradoxon interessiert ihn. Doch sobald er darüber nachdenkt, ob es sich womöglich um ein berufsbedingtes Interesse an sprachlichen und semantischen Problemen handelte, werden die Schmerzen hinter seinen Schläfen so unerträglich, dass er sich nach vorne beugen und die Hände gegen sie pressen muss. Es tut so weh, dass er ein Stöhnen nicht vermeiden kann, obwohl ihm das Geräusch höchst peinlich ist.

Die Frau hinter der Theke, deren Kleid ebenso in die Jahre gekommen war wie sie selbst, hatte sein Verhalten offenbar bemerkt, denn sie tritt vorsichtig an seinen Tisch und fragt mit mütterlichem Ton: »Geht es Ihnen nicht gut?«

Er weiß nicht, was er antworten soll. Im Grunde ist er ja nicht krank – gesund allerdings auch nicht. »Wie heißt diese Straße?«, stößt er hervor. Seine Stimme klingt gepresst, vor allem wegen der Kopfschmerzen.

»Gloucester Road.«

»Und die Stadt?«

»Ach du meine Güte. Soll ich einen Arzt rufen?«

»War nur ein Scherz.«

»Früher einmal war dies ein eigenes Dorf«, sagt sie leise, während ihr Blick sich verklärt. »Kensington.«

Da fällt ihm ein, dass die Stadt London heißt und dass er aus Gründen, die im Dunkeln liegen, mit seiner Frau hier ist. Ein warmes Prickeln erfüllt sein Zwerchfell und die Kopfschmerzen nehmen ab. Jetzt musste er nur noch herausbekommen, wo sie sich befindet. Sobald er das wusste, konnten sie den Gang der Ereignisse rekonstruieren. Vielleicht ließ sich dann auch feststellen, wann die Erinnerungslücke eingetreten war. Er spürte, dass er eine Lösung nicht erzwingen konnte und dass sich früher oder später alles von selbst wieder einrenken würde, wenn er nur Geduld bewahrte.

In der anderen Jackentasche findet er einen Stadtplan, ein Feuerzeug und eine Zwanzigerschachtel Zigaretten der Marke Kent. Sie ist beinahe voll und nach den ersten Zügen beruhigen sich seine Nerven. Es gelingt ihm, ohne Widerwillen den Kaffee auszutrinken, sich langsam zu erheben, der Frau eine Münze zu geben und nach kurzem Zögern die richtigen Worte zu finden: »Reicht das?«

»Ja, danke. Und frohe Weihnachten!«

Gott sei Dank hatte es aufgehört zu regnen. Vor dem Café faltet er den Stadtplan auseinander. Er sucht im Register und findet die Gloucester Road. Dort. Dort ungefähr muss er sein. Vermutlich wohnten sie in einem Hotel in der Nähe. Die Hauptstraße hieß Cromwell Road. Benannt nach dem alten Schurken Oliver Cromwell. Sein vierter Sohn, Henry, soll in dieser Gegend gewohnt haben. Von diesem Detail ist er felsenfest überzeugt. Doch an den Namen des Hotels kann er sich nicht erinnern. Im Grunde genommen ist er ihm auch gleichgültig. Es gab angenehmere und entspannendere Dinge, mit denen man sich beschäftigen konnte, zum Beispiel mit Oliver Cromwells Familie. Er hebt den Kopf. Es ist etwas dunkler geworden und er friert. Seine Füße setzen sich wieder in Bewegung, so lautlos wie Insektenbeine.

Gehe ich oder werde ich gegangen?

Sie lächelte gespannt,

als sie die Tür des Black Lion öffnete. Der neue blaue Seidenschal lag in der Einkaufstasche von Past Times ganz oben. Er würde sicher seine Freude an ihm haben, auch wenn er erfuhr, dass er teurer war, als sie vermutet hatte. Sie hatten an einem Tisch hinter der Theke, in der Nähe des Fernsehers gesessen.

Er war nicht mehr da. Nur sein schwarzer Borsalino hing noch am Garderobenständer in der schummrigen Ecke. Vermutlich war er auf der Toilette. Sie nahm an ihrem Tisch Platz und knöpfte sich den Mantel auf. Warf einen Blick in die Tasche, packte den Schal aus und legte ihn sich um den Hals. Es fühlte sich an wie eine weiche Wolke. Sie angelte nach der Zigarettenschachtel in ihrer Handtasche. Der Barkeeper, ein untersetzter, älterer Mann mit stachelbeerfarbenen Augen, eilte geschäftig herbei und gab ihr Feuer.

»Can I help you, Madam?«

»I’m waiting for my husband.«

»Your husband? He left.«

Sie schaute ihn verwundert an.

»Walked away, five minutes ago.«

Zwei junge Frauen am Nebentisch, die vorhin nicht da gewesen waren, schauten zu ihr herüber. Sie legte die Zigarette im Aschenbecher ab und knöpfte ihren Mantel wieder zu. Stand auf, obwohl sie am liebsten sitzen geblieben wäre.

»Did he ... did he say anything?«

»A message? No, Madam.«

Sie nickte verdutzt, vergaß die Zigarette und strebte dem Ausgang zu. Auf dem Bürgersteig blieb sie stehen, warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und stellte fest, dass sie sich nur unwesentlich verspätet hatte. Wahrscheinlich war er ungeduldig geworden und zu Past Times zurückgegangen, um sie zu suchen. Doch er musste einen anderen Weg genommen haben, denn sie waren sich nicht begegnet. Sie begann zu laufen und hastete über die Straße in Richtung Kensington Street. Erreichte diese nach fünf Minuten und steckte keuchend den Kopf zur Tür des nach Textilien und Gewürzen duftenden Geschäfts hinein.

»My ... my husband ...«, stotterte sie. »Has he been here and asked for me?«

Die junge Verkäuferin, die ihr den Schal verkauft hatte, verneinte erstaunt.

Sie beeilte sich, zum Pub zurückzukehren, gleichermaßen über sich selbst und ihren Mann den Kopf schüttelnd. Die außerplanmäßige Reise, zwei Wochen London, war ihre Idee gewesen. Nach vier Tagen in der Großstadt hatten sie zum ersten Mal – er bei einem Bier und sie bei einem Cappuccino – über das geredet, was hinter ihnen lag. Bis zu diesem Zeitpunkt waren sie beide bemüht gewesen, alles Belastende und Unangenehme zu verdrängen. Hatten versucht, nach vorne zu blicken, sich zu entspannen und nach neuen Möglichkeiten zu suchen. Der Aufenthalt sollte ihm neue Kraft geben. Auch ihr. Doch die Vergangenheit lauerte wie ein latenter, gefährlicher Virus. Versehentlich hatte einer von ihnen das Tabuthema berührt. Sie glaubte, dass er es gewesen war, gegen seinen Willen. Eine scheinbar belanglose Assoziation hatte ausgereicht. Das Gespräch kreiste, wie üblich, um sein Schuldgefühl, obwohl er unschuldig war. Einmal mehr hatte sie ihn zu beruhigen versucht und ihm versichert, die Zeit heile alle Wunden. Sie wusste, wie banal sich das anhörte, doch am Ende hatte er sie betreten angelächelt und sich für seine Gereiztheit entschuldigt. Lächelnd entgegnete sie, er könne es wieder gutmachen, indem er zum Beispiel ein paar Pfund für den wundervollen, handbemalten Schal springen lasse, den sie vor einer Weile schon in den Händen gehalten, sich aus finanziellen Gründen aber verkniffen habe. Da hatte auch er gelächelt und ihr sein Portemonnaie in die Hand gedrückt. Ich spendiere. Lauf einfach los und kauf ihn dir, ich trinke inzwischen mein Bier. Es macht mir nichts aus, hier zu warten.

Der Barkeeper mit den gelbgrünen Augen nickte ihr zu, als sie wiederkam.

»You didn’t catch him?«

»No. But if he turns up, please tell him that I walked back to the hotel.«

»Shall do, Madam.«

Sie dachte an seinen Hut. Er hing immer noch am Garderobenständer. Sie nahm ihn herunter, legte ihn zuoberst in die Einkaufstasche und ging durch verwinkelte Gassen zur Cromwell Road zurück.

Als sie die großzügige, gelb gestrichene Lobby des Forum Hotel betrat, mit müden Füßen nach all dem Hin und Her, schaute sie sich sorgfältig um, bevor sie zu den Aufzügen ging. Sie wohnten in schwindelnder Höhe, im 24. Stock, und genossen beide die phantastische Aussicht. Oben angekommen, öffnete sie ihre Handtasche und suchte nach dem Kartenschlüssel. Wenn sie das Zimmer aufschloss, würde ihr gut aussehender Mann – der zehn Jahre älter war als sie – in einem der Sessel vor dem Fenster sitzen, in einer Zeitschrift blättern und sie nachsichtig anlächeln. Oder er wäre zerknirscht, reserviert, stumm, mürrisch, unglücklich, deprimiert. Wer konnte das wissen. Dann entdeckte sie sein Portemonnaie in ihrer Handtasche und erinnerte sich daran, dass der Kartenschlüssel darin war. Also konnte er nicht auf dem Zimmer sein.

Das erwies sich als richtig. Sie seufzte und bewunderte den blauen Schal im großen Spiegel, bevor sie mit den Füßen ihre Schuhe abstreifte und die Tür des Einbauschranks öffnete, den sie sich teilten. Den eingepackten Pullover, den sie bei Past Times von ihrem eigenen Geld gekauft hatte, legte sie auf der linken Seite unter das Tuch, während sie seinen Hut ganz oben auf der rechten Seite platzierte. Wenn er sich irgendwann hierher bequemte, wollte sie sich ihren Unmut nicht anmerken lassen. Vielleicht hatten sie sich bloß missverstanden. Es kam vor, dass sie seine Äußerungen nicht richtig auffasste. Vor allem in letzter Zeit, nach dem Freispruch.

Sie fröstelte, warf einen Blick auf die Armbanduhr und versuchte, an etwas anderes zu denken.

Er geht die großzügige

und lang gezogene Cromwell Road entlang. Hier und da sind die Bäume und Fassaden mit Glitter und Lichterketten geschmückt. Es ist Vorweihnachtszeit, doch die Ursache seines Besuchs in London nimmt seine Gedanken weniger in Anspruch als vor einer Stunde. Mitunter denkt er an etwas ganz anderes.

Er hat sich eine Ausgabe des Guardian gekauft, die er unter dem Arm trägt. Sie ist datiert vom 10. Dezember 1997, was ihn nicht wesentlich klüger macht. Mit einigen der wichtigsten Nachrichten, denen aus dem Ausland, kann er etwas anfangen. Der Börsencrash in Fernost gibt ihm das Gefühl, noch am Leben teilzunehmen, nicht völlig von jeder Kontinuität abgeschnitten zu sein. Die Nachrichten widmen sich Vorgängen, deren Hintergründe er kennt, schildern Entwicklungen, die erst kürzlich ihren Anfang nahmen. In der letzten Woche. Spätestens gestern. Er befand sich zwar am falschen Ort, aber die Zeit war richtig. Das beruhigte ihn. Ein Stück Normalität.

Er passiert ein von der Straße zurückgesetztes Hochhaus. Als er den großen Schriftzug liest – Forum Hotel –, macht sich erneut der Druck hinter den Schläfen bemerkbar, blitzartig und intensiv. Rasch geht er weiter.

Das hilft. Er geht und geht und geht. Die Füße bewegen sich von allein und bringen ihn schnell voran. Aber das Gebäude mit den noch größeren Buchstaben – Earls Court – findet er nicht wieder. Warum auch? Zunächst muss er sich selbst wiederfinden.

Das ist schon eine Art von Besessenheit geworden, weitaus wichtiger als die Beschäftigung mit der fremden Umgebung. Und gleichzeitig drängte ihn sonst nichts. Er verspürt weder Hunger noch Durst, die Übelkeit ist verschwunden. Er hat das Gefühl, stundenlang durch die Straßen laufen zu können, mit festen Schritten, ohne das Ziel zu kennen. Ein namenloser Drang, der alles andere als lästig ist, treibt ihn weiter. Vom Vakuum ist nur ein kümmerlicher Rest geblieben, der sich aus dem Kopf verabschiedet und in die Nähe des Zwerchfells verzogen hat. Er spürt ihn nur, wenn er zu tief Luft holt. Früher oder später würden die Karten aufgedeckt, hieß es gemeinhin in den abgedroschenen Artikeln, die ihn zu ärgern pflegten.

Er macht sich keine Gedanken darüber, dass die Dunkelheit, wie auf Samtpfoten, näher kommt.

Ein paar Häuserblocks weiter wird seine Aufmerksamkeit von einem U-Bahn-Eingang geweckt. Er kommt ihm bekannt vor, doch er weiß, dass die U-Bahn-Eingänge fast alle gleich aussehen. Gemeinsam mit vielen anderen Menschen gelangt er zu einer langen Reihe schwarzer Schleusen, die am ehesten an die Flügeltüren eines Saloons erinnern. Bevor er an der Reihe ist, steckt er eine Hand in die Jackentasche, zieht eine Fahrkarte heraus und steckt sie in einen Schlitz. Sie wird verschluckt, doch genauso schnell von einem anderen Schlitz wieder ausgespuckt. Die Flügeltüren gleiten auseinander, und als er seine Fahrkarte wieder hat, zwängt er sich rasch durch die Öffnung.

Während er auf der unendlich langen Rolltreppe steht, die polternd in die Tiefe fährt, wird ihm schlagartig klar, dass er diese U-Bahn wohl kaum zum ersten Mal benutzt, denn als er sich den Schleusen näherte, hatte er sich automatisch richtig verhalten. Er studiert die Fahrkarte.

London. Underground. 01Day Ticket. 10DMR 97.

Mit diesem Ticket konnte er einen ganzen Tag lang fahren, wohin er wollte. Er musste es früher am Tag gekauft haben. Das Netz der Tunnel, das kreuz und quer unter der Metropole verlief, war ihm vertraut. Die Erde unter ihm war genauso durchlöchert wie das Territorium eines Maulwurfs, ein ausgeklügeltes System, in dem Züge binnen weniger Minuten zehntausende von einem Punkt zum anderen beförderten. Hingegen ist ihm schleierhaft, was ihn eigentlich hierher getrieben hat. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als seiner Intuition zu vertrauen, sich darauf zu verlassen, dass Kräfte, die er nicht beeinflussen konnte, ihn schon an den richtigen Ort führten. Von einer bewussten Entscheidung konnte keine Rede sein, von einer Notwendigkeit schon gar nicht. Darum leistet er auch keinen Widerstand und fragt sich immer weniger, warum das so ist.

Eine Woge warmer Luft, durchmischt vom Geruch nach Urin und verbranntem Öl, schlägt den Reisenden am Fuß der Rolltreppe, an der die Tunnelröhre einen Knick macht, entgegen. Er folgt dem Strom, vorbei an grellen Werbeplakaten, über einen Boden, der mit rundlichen Flecken, die aussehen wie gelbliche Münzen, übersät ist: ein internationaler Kaugummifriedhof. Als der Tunnel sich teilt, liest er Eastbound und Westbound und schließt sich der Mehrheit an.

Auf dem Bahnsteig muss er nicht lange warten. Ein Zug braust heran, doch es gelingt ihm nicht, den Namen der Endstation am Kopf des Triebwagens zu lesen. Er macht es einfach wie alle anderen: drängt in den Zug, schlängelt sich zwischen Körpern beiderlei Geschlechts und aller Altersgruppen hindurch und greift sich eine der Halteschlaufen. Eine monotone, blecherne Stimme leiert eine vertraute Durchsage herunter; der Zug beschleunigt rasch, hinein ins Dunkel. Er riecht das Parfüm einer jungen Frau, die mit dem Rücken zu ihm steht, betrachtet ihre dichten schwarzen Locken und stellt sich die mokkafarbene Rundung ihrer Wangenknochen vor. Er sieht überhaupt viele Farbige. Die meisten sehen traurig, müde und verloren aus, doch einige lächeln nachdenklich in sich hinein, als erinnerten sie sich an eine heitere Episode aus ihrer Kindheit. Die fröhlichsten halten Plastiktüten und Weihnachtsgeschenke in der Hand. Es bereitet ihm Freude, die verschiedensten Typen zu beobachten, und obwohl er nicht weiß, wohin die Fahrt geht, fühlt er sich unter den Reisenden zu Hause. Vielleicht gerade deswegen, weil es Fremde waren, die ihn in Ruhe ließen und keine neugierigen Fragen stellten. Es war ein angenehmes Gefühl, inkognito unterwegs zu sein.

Als der Zug anhält, steigen viele aus. Er setzt sich auf einen der freien Plätze und genießt es, die Füße auszustrecken und den Rücken anzulehnen. Ihm gegenüber sitzt ein älterer Herr mit einer kleinformatigen Zeitung. Er trägt einen eleganten grauen Mantel und einen karierten Hut, ein echter Brite. Links von ihm: ein kurzgeschorener Kerl mit Walkman. Zur Rechten: eine Brünette, vertieft in ein Taschenbuch. Neben ihr: ein schlafender Mann, der etwas Indianisches an sich hat. Aufgrund der Fransenjacke oder der Adlernase unter den pechschwarzen Haaren? Winnetou oder der letzte Mohikaner, ohne Pfeil und Bogen.

Die Menschen sehen einander kaum an; allenfalls wenn diejenigen, die weder lesen noch schlafen, es satt haben, die Werbetexte über den Fenstern zu studieren. Ihre Blicke begegnen sich flüchtig, verändern ihren Ausdruck und schweifen weiter. Genau wie sein eigener Blick, nachdem er ein Gesicht eine Weile betrachtet hatte.

Der Zug rast von Station zu Station. Zwischenzeitlich füllt er sich wieder, bevor auf einen Schlag viele Leute aussteigen. Er steht auf und folgt ihnen, während er sich fragt, ob Winnetou womöglich verschlafen und seinen Zielort verpasst hat. Er geht verschiedene Gänge entlang. Dies musste eine Station sein, an der sich mindestens zwei Linien kreuzten. Er nimmt eine Rolltreppe nach oben, bevor er mit einer anderen wieder nach unten fährt und einen korpulenten Farbigen erblickt, der Altsaxophon spielt. Im offenen Instrumentenkoffer schimmern matt ein paar Münzen. Er bleibt einen Augenblick stehen und hört zu. Unglaublich, was der Kerl draufhat. Die Wiedergeburt von Bird. Doch dann fängt er erneut mit derselben Melodie an: Now’s The Time. Man drängt ihn weiter.

»Excuse me, Sir.«

Die Leute in diesem Land sind höflich.

Er findet keinen Ausgang, lässt sich durch das Labyrinth treiben und entscheidet sich schließlich für eine Richtung, die mit Northbound beschildert ist. Ein neuer Zug und neue Menschen. Ein grauer, nur spärlich besetzter Waggon, vielleicht weil es der letzte ist. Er spürt, dass sein Magen knurrt, dass er hungrig wird. Doch er hat keine Angst mehr. Braucht die Dinge einfach auf sich zukommen lassen. Vorläufig war er ein sorgloser Reisender.

Bei einer Station namens Hampstead steigt er aus, vermutlich weil ihm der Name bekannt vorkommt. Er schien mit einem Schriftsteller in Verbindung zu stehen. Schriftsteller. Das hörte sich vertraut an. Sprache, natürlich. Worte. Das Werkzeug eines Schriftstellers. War er selbst einer? Er glaubt es nicht, weil ihm dann sicher einige seiner Titel einfallen würden. Zum ersten Mal seit längerer Zeit spürt er wieder das leichte Zittern seines Körpers, die eigenartige Hilflosigkeit, die ihm verrät, dass er nicht die volle Kontrolle besitzt, dass ihm irgendetwas abhanden gekommen ist, ein Draht, so hauchdünn wie eine Glasfaser.

Vor einem Pub, glaubt er.

Ein Lift bringt die Reisenden an die Oberfläche. Als er auf die Straße tritt – nachdem er eine weitere Schleuse passiert und sein Ticket zurückerhalten hat –, ist der Himmel schwefelfarben. Der Ausgang befindet sich in einer Straßenkurve, und er entscheidet sich für die Richtung, die heller erleuchtet ist. Die Zeiger seiner Armbanduhr stehen auf 6.23.

P.m.

Now’s The Time.

Er sucht Zuflucht im erstbesten Lokal und hat es ganz und gar nicht schlecht getroffen. Die Gerichte stehen in roter Kreide auf einer schwarzen Tafel. Er bestellt Lammkoteletts mit Gemüse sowie einen Pint helles Bier. Die rothaarige Bedienung erinnert ihn an eine Frau, deren Name ihm entfallen ist.

Er lässt es sich schmecken. Das Bier ist kühl und erfrischend. Er trocknet sich den Mund und hat für einen Augenblick die Assoziation, die Leere in ihm sei ein verlassenes Zimmer ohne Gardinen. Die wenigen Möbel sind mit weißen Schonbezügen abgedeckt. Der Raum kommt ihm bekannt vor, obwohl er ihn noch nie gesehen hat. Als die Bedienung vorbeigeht, zeigt er auf sein Glas. Es dauert nicht lange, bevor ein frisches Bier mit Schaumkrone vor ihm steht. Als er die Hand in die Jackentasche steckt, sagt sie lächelnd, er könne an der Theke bezahlen, wenn er gehe. Typisch England, denkt er. Hier gab es keine allgemein gültigen Regeln, was die Zahlweise anging; alles war dem Zufall und dem Willen des jeweiligen Inhabers überlassen. Er blättert ein wenig im Guardian und schließt dann seine Augen. Wenn er sie wieder öffnete, würde er vielleicht zu sich kommen, vernünftig nachdenken und dorthin zurückkehren können, wo er hingehörte. Aber das Bedürfnis ist schwächer als zuvor. Inzwischen scheint es sich fast um ein Spiel, ein stets wiederkehrendes Ritual zu handeln.

Einst ging ich über See und Land, da traf ich einen alten Mann; er sagte so, er fragte so, wo bist du denn zu Hause? Ich bin zu Haus im Wörterland, im Wörterland, im Wörterland, und jeder Mensch, der schreiben kann, der ist zu Haus im Wörterland.

Langsam lässt er das Licht durch seine zusammengekniffenen Augen sickern, ist aber weiterhin nicht in der Lage, vernünftig und zusammenhängend nachzudenken. Doch er hat das Gefühl, der Sache näher zu kommen. Er trinkt einen Schluck, erinnert sich an die Zigaretten in seiner Jackentasche und zündet sich eine an.

»Hast du auch ’ne Kippe für mich, Süßer?«

Er fährt zusammen, schüttelt den Kopf, bietet ihr aber trotzdem eine an. Die Frau, die neben ihm Platz genommen hat, muss mindestens sechzig sein. Er findet sie ziemlich abstoßend: ihr Gesicht ist bleich, im Oberkiefer fehlen ein paar Zähne und mit ihren eingefallenen Wangen macht sie einen ausgehungerten Eindruck. Sie riecht nach Schimmel. Die Zigarette lässt sie rasch in ihrer Manteltasche verschwinden.

»Die ist für später.«

Er nickt bloß, mehr überrascht als verärgert. Die burgunderfarbene Bluse, die sie unter dem fleckigen Mantel trägt, erinnert ihn an geronnenes Blut. Doch ihr Blick lässt ihn nicht los. Die Augen sind anklagend, gierig und flehentlich zugleich, als sei er ihr letzter Ausweg. Er weiß, dass es im Gegensatz zu dem Land, aus dem er kommt, hier nichts Ungewöhnliches ist, wenn sich ein Fremder mit an den Tisch setzt, vorausgesetzt, es gibt noch einen freien Stuhl. Mitunter führte das zu interessanten Gesprächen, meist zu belanglosem Smalltalk.

Nichtsdestotrotz empfindet er das Auftreten der Frau als Zumutung. Vermutlich wollte sie mehr als eine Zigarette. Ein unverfrorenes Weib auf Kontaktsuche. Oder eine gewöhnliche Bettlerin, die ihre Tricks anwandte, um ihn auszunehmen. Ihre nächste Handlung verunsichert ihn, denn unvermittelt greift sie nach seinem Glas, nimmt einen langen Schluck und grinst vergnügt. Er weiß nicht recht, wie er sich verhalten soll, hört, dass um ihn herum getuschelt wird, während ein halbwüchsiger Junge zu kichern anfängt. Da eilt die Bedienung herbei, packt die Frau hart am Oberarm und zieht sie vom Stuhl.

»Verzieh dich, Suzy!«

Worauf Suzy faucht, sich losreißt und dem Ausgang entgegenwankt.

»Tut mir leid, Sir. Die ist wirklich eine Plage für uns«, entschuldigt sich die Bedienung. »Ich bringe Ihnen sofort ein neues Bier.«

Die Gäste an den umliegenden Tischen, die ihre Köpfe zusammengesteckt haben, nicken verständnisvoll in seine Richtung, und er lächelt dankbar zurück. Von jetzt an hat er seine Ruhe. Er ist froh darüber, bedauert aber, dass die Frau mit den eingefallenen Wangen nicht der Typ war, dem er sich hätte anvertrauen können. Er ist satt, fragt sich jedoch, was er jetzt tun soll. Das Bier und das gleichförmige Stimmengewirr haben ihn träge und schläfrig gemacht. Alles, wonach er sich sehnt, ist ein warmes Bett. Hier kann er zumindest nicht ewig sitzen bleiben. Er leert sein Glas, bevor er aufsteht, die Zeitung liegen lässt und seinen Anorak anzieht. Automatisch nach seinem Hut schaut, jedoch keinen erblickt. Dann hatte er wohl barhäuptig das Haus verlassen. Er geht langsam zur Theke, um zu bezahlen. Auf dem Weg tastet er in der Jackentasche vergeblich nach seiner Brieftasche. Der Barkeeper blickt ihn auf eine Weise an, als ahne er bereits, dass dieser Gast zu der Sorte gehört, die ihre Rechnung nicht begleichen kann. Eine Tür mit der Aufschrift Gents ist die Rettung.

Bevor er sich erleichtert, kramt er in jeder einzelnen Tasche seiner Kleidung. Das Portemonnaie ist verschwunden – gestohlen, verloren, vergessen. Das Einzige, was er findet, sind ein Stadtplan, eine Zigarettenschachtel sowie ein wenig Kleingeld, insgesamt ein Pfund und fünfzig Pence. Er schuldet dem Lokal mindestens zehn Pfund. Unter normalen Umständen hätte er selbstverständlich sein Portemonnaie dabei. Seine Brieftasche mit Banknoten und Kreditkarten.

Er war also völlig abgebrannt.

Doch nach einer Weile sagt er sich, er dürfe den Verlust nicht überbewerten, brauche nur zur Theke zurückzukehren und den Sachverhalt zu erklären. Er musste ihnen begreiflich machen, dass er das Geld zu Hause vergessen hatte und morgen wiederkäme, um seine Schulden zu begleichen. Im schlimmsten Fall würde er die Schmach auf sich nehmen und für ein paar Stunden als Küchenhilfe arbeiten. Aber das war wohl ausgeschlossen. Die freundliche Kellnerin hatte sicherlich längst bemerkt, dass er ein redlicher Kunde war, denn die Bedienung war ohne Fehl und Tadel gewesen. Da er von einem weiblichen Gast belästigt worden war, würde man ihm Glauben schenken, wenn er behauptete, die Brieftasche sei ihm gestohlen worden. Vielleicht hatte die freche und aufdringliche Suzy sie ja tatsächlich geklaut, als er für einen Moment die Augen schloss und sich das merkwürdige Zimmer mit den Schonbezügen über den Möbeln vorstellte. Er brauchte nur Namen und Adresse anzugeben, damit sie ihm ein Taxi riefen, das ihn nach Hause brachte. Die Bezahlung hatte keine Eile. Nach Hause?

Während er in das Urinal pinkelt, kehren die Schmerzen zurück, zum ersten Mal seit langem. Sein Kopf fühlt sich wie eine vorbereitete Sprengladung an. Ein bloßer Knopfdruck würde ausreichen, um ihn in das Universum zu schießen, hinaus in das schwarze Vakuum.

Ich muss den Pub wiederfinden, den mit der schummrigen Ecke in der Nähe des Fernsehers. Früher oder später wird sich jemand melden und nach mir fragen.

Doch im nächsten Augenblick hat er dieses Vorhaben bereits vergessen.

DribkcalB eyB eyB.

Mühsam gelingt es ihm, den Reißverschluss seiner Hose hochzuziehen. Dann wankt er zum Waschbecken und erblickt sein Gesicht, das ihn fragend anschaut, im Spiegel. Er ist sich nicht sicher, was er erwartet hatte, doch zumindest nicht dies:

Er sieht ein paar große braune Augen unter dunklen Brauen. Seine vollen Haare sind ebenfalls dunkel und nur an den Schläfen von feinen grauen Strähnen durchzogen. Eine kräftige, gerade Nase und die Andeutung einer Kinnspalte. Ein weicher, keltischer Typus, der in Großbritannien nicht weiter auffällt. Eine bürgerliche Erscheinung, alles in allem. Doch irgendetwas – gewisse unerwartete Begebenheiten – scheint ihn so erschüttert zu haben, dass sein ebenmäßiges Gesicht alle Klarheit verloren hat. In den dunklen Augen ist kein Funken Selbstsicherheit zu erkennen. Die Lippen wirken verschwommen, weil sie zittern, und das Zucken in einem Augenwinkel erschreckt ihn. Das Beunruhigendste ist jedoch seine krankhaft bleiche Gesichtsfarbe.

Er spürt, wie das Zittern sich im Körper ausbreitet, bis zur Kinnspitze wandert und die Wangen befällt. Seine eigenen? Schockiert muss er sich eingestehen, dass ihm sein Gesicht fremd ist. Er hat es nie zuvor gesehen. Es gehört einem anderen. Und mit dem Verlust der Brieftasche hat er auch den Beweis seiner Identität eingebüßt.

Er ist eine Nicht-Person.

Kam er nicht sofort an die Luft, würde er ohnmächtig werden. Er tritt vom Spiegel zurück, dreht sich abrupt um und entdeckt eine zweite Tür, die nicht ins Lokal führt. Ein grüner Schriftzug leuchtet über ihr: Emergency Exit. Sie ist verschlossen, doch der Schlüssel steckt im Schloss. Er dreht ihn herum und öffnet. Schließt hinter sich die Tür und befindet sich auf einem düsteren Parkplatz hinter dem Gebäude. Es ist völlig dunkel geworden. Zwischen den Autos stiehlt er sich davon und biegt mit schnellen Schritten in eine alleeartige Seitenstraße ein. Als er jemand rufen hört, beginnt er zu laufen, obwohl er vermutet, dass die Rufe nicht ihm gelten. Zum ersten Mal in seinem Leben – glaubt er – prellt er die Zeche. Entsetzlich peinlich war das, und er spürt, wie ihm die Röte ins Gesicht steigt.

Nicht leicht und federnd läuft er, sondern steif und verkrampft, und es dauert nicht lange, bis er nach Atem ringt. Seine Form ist auch nicht mehr die Beste, falls sie es je gewesen war. Er hastet einen dürftig beleuchteten Kiesweg entlang, der zu einem parkähnlichen Gelände führt. Hampstead Heath vermutlich. Es musste ziemlich groß sein und bot vielfältige Möglichkeiten, im Dunkeln das Weite zu suchen. Doch andererseits hat er immer noch das Gefühl, sich in einem Tunnel unter der Erde zu befinden, einem Korridor mit gewölbter Decke, an dessen Ende kein Licht zu erkennen war.

Schließlich muss er stehen bleiben, sich nach vorne beugen und die Arme auf die Schenkel stützen.

Zwischen den hohen Bäumen ist es kühl und feucht, doch vom angestrengten Laufen ist ihm warm geworden. Er richtet sich auf und lauscht seinem hämmernden Herzen. Wenn er verschnauft hatte, würde er geradeaus weitergehen, quer durch den Park hindurch. Einen Weg oder eine Straße auf der anderen Seite finden, nach einer U-Bahn-Station Ausschau halten und sich vom erstbesten Zug an einen gemütlicheren, helleren Ort bringen lassen, weit weg vom Lokal, dem er Geld schuldete. Hoffentlich erwischte er eine Linie, bevor die U-Bahn Feierabend machte. Doch noch war genug Zeit, mehrere Stunden. Er ist satt. Der Duft faulenden Grases brennt in seiner Nase.

Geld.

Warum ein schlechtes Gewissen haben? Eigentlich hatte er ja reinen Tisch machen, zur Bedienung gehen und versichern wollen, dass er morgen seine Schulden bezahlen würde:

Ich kann Ihnen meinen Namen und die Adresse geben. Nein, meinen Pass habe ich leider nicht dabei. Der ist mir zusammen mit meinem Portemonnaie abhanden gekommen. Gott weiß, wo ich ihn verloren habe, ha-ha.

Gefolgt von einem gewinnenden, entschuldigenden Lächeln.

Und Ihr Name war ...?

Er hätte zugeben müssen, dass er seinen Namen nicht kannte.

Er spürt einen leichten Stoß gegen sein Knie, fast so wie die Stoßstange des Lieferwagens vor einer Weile. Doch hier gab es keine Autos, kein Licht, keinen Verkehr, niemand außer ihm selbst. Was er berührt hatte, war das einzige Möbelstück, das man in freier Natur finden konnte: eine Parkbank. Er legt seine Hand auf die Armlehne, lässt sich schwer auf die Bank fallen, lehnt sich nach hinten und saugt begierig die feuchte Luft in die Lungen. Der Schmerz hinter den Schläfen lässt langsam nach; es kommt ihm vor, als würde er einen eitrigen Zahn loswerden. Er ist wieder allein, auf den abenteuerlichen Pfaden eines unbekannten Dschungels mit gleichmäßig verteilten Bänken unter dem dichten Blätterdach.

Wie ist es möglich, dass er sich plötzlich wie befreit fühlt, so unendlich erleichtert, obwohl er immer noch nicht weiß, warum er in London ist, was ihn hierher geführt hat? Im nächsten Augenblick bricht er in Tränen aus, doch wirklich unglücklich ist er nicht.

Als es auf sieben Uhr abends

zuging, nahm sie den Fahrstuhl zur gelbfarbenen Rezeption des großen Hotels hinunter. Mit klopfendem Herzen wandte sie sich an einen Angestellten hinter dem Tresen.

»My husband ... Something must have happened.«

»Do you want us to call the police, Madam?«

»Yes, please.«

Da der Angestellte Wert auf Diskretion legte und das Gespräch mit der Polizei auf dem Hotelzimmer stattfinden sollte, fuhr sie mit dem Lift wieder nach oben. Sie setzte sich auf die äußerste Stuhlkante ans Fenster und wartete. Lauschte ihrem Herzschlag, presste die Knie aneinander und rauchte zwei Zigaretten, während sie mit aller Macht versuchte, die zunehmende Angst zu kontrollieren. Der eintretende Polizist hatte Sommersprossen im Gesicht und eine Mütze in der Hand statt eines Helms auf dem Kopf. Er gab ihr die Hand und stellte sich als Sergeant Dave Orgill vor.

»Linda Blix.« Sie fügte hinzu, sie sei Norwegerin und habe ihren Mann nicht mehr gesehen, seit sie sich vor circa fünf Stunden im Pub Black Lion voneinander verabschiedet hätten. Womöglich sei ihm etwas zugestoßen.

»His name, Mrs. Blix?«

»Steinar ... Steinar Blix.«

Weil er nicht sicher war, wie man das schrieb, holte sie Steinars Pass, der auf dem Toilettentisch lag. Er notierte sich den Namen auf seinem Block und fügte das Geburtsdatum hinzu: 23. August 1947. Sie teilte ihm mit, dass sie aus gewissen Gründen im Besitz seiner Brieftasche und ihr Mann vermutlich ohne Geld und Legitimationsmöglichkeit unterwegs sei.

Dave Orgill nickte freundlich und machte sich Notizen; seine Gegenwart hatte etwas Beruhigendes. Er nahm die Sache ernst und ihr damit aus den Händen, zumindest für eine Weile. Nannte mindestens hundert gute Gründe, warum ihr Ehemann den Pub hätte verlassen können. Zunächst aber wolle er einen Rundruf an die Notaufnahmen der Krankenhäuser senden. Nachdem er das gesagt hatte, sprach er in sein Handy und buchstabierte den Namen Steinar Blix so, wie er im Pass stand. Er meinte, sie würden kurzfristig eine Nachricht erhalten, falls der Vermisste irgendwo eingeliefert worden sei.

Während sie warteten, erkundigte er sich ausführlich, wie das Wetter in Norwegen zu dieser Jahreszeit wäre, und Linda, die begriff, dass er sie beruhigen wollte, gab bereitwillig Auskunft. Als schließlich sein Handy piepte, erfuhren sie, dass alle Nachforschungen bislang erfolglos geblieben waren. Vielleicht war es das Beste, wenn sie ihn auf das Revier begleitete.

Der sommersprossige Sergeant fuhr sie zur unweit gelegenen Kensington Police Station, wo er von einer Kollegin in Zivil mit roten Zöpfen abgelöst wurde. Sie hieß Elizabeth Parkins, war in ihrem Alter – um die vierzig – und bot ihr eine Tasse Tee an. Warum waren sie nach London gekommen?

Teils aus beruflichem, teils aus privatem Interesse, erklärte Linda. Vor allem ihr Mann habe eine anstrengende Zeit hinter sich und dringend Urlaub benötigt. Am Vormittag seien sie zum zweiten Mal beim Earls Court auf der grossen Buchmesse gewesen. Steinar sei Übersetzer für englische Literatur. Anschließend hätten sie im Black Lion, gleich hinter der Cromwell Road, gegessen.

»No quarrel, Mrs. Blix?«

»No, no ...« Es müsse ihm etwas zugestoßen sein, erklärte sie. Oder ich habe versehentlich etwas gesagt, das für ihn das Fass zum Überlaufen brachte, dachte sie im Stillen. Ihre eigenen Personalien musste sie auch angeben: geboren am 17. April 1957, wohnhaft in Oslo, von Beruf Bankangestellte.

Telefone klingelten. Elizabeth Parkins führte mehrere Gespräche. Ein Constable kehrte mit Steinars Pass zurück und teilte mit, sein Foto sei an sämtliche Polizeistationen und Krankenhäuser Londons gefaxt worden. Viel mehr könnten sie im Moment nicht ausrichten. Linda bekam einige Valiumtabletten und wurde zum Hotel zurückgebracht, doch ihr verzweifelter Wunsch, Steinar möge in der Zwischenzeit zurückgekommen sein, erfüllte sich nicht. Es wurde eine schlaflose Nacht.

Gegen drei Uhr meinte sie ein Klopfen an der Tür zu hören.

Mein Liebster!