Schwarze Kleider - Angela Neumann - E-Book

Schwarze Kleider E-Book

Angela Neumann

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Beschreibung

Spannende Story von Liebe und Verbrechen Ein Schuss aus dem Hinterhalt erschüttert das Frankfurter Bahnhofsmilieu. Als sich die Polizistin Eva dem attraktiven Verdächtigen nähert, gerät sie in Konflikt mit ihrem Kodex. Analog zu dieser ungleichen Konstellation gelangen auch die anderen Protagonisten zunehmend in innere Widersprüche. Hin- und hergerissen zwischen ihren Wünschen und Werten, geraten sie immer tiefer in ein Labyrinth aus Liebe und Verbrechen. In ihrem Kriminalroman entwirft die Autorin ein düsteres Figurenensemble, das auf die verschiedenste Weise untereinander verflochten ist.

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Ähnliche


Für C.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

1

Amelia hatte geduscht. Anschließend versuchte sie, eingehüllt in ein großes weißes Handtuch, im beschlagenen Spiegel über dem Waschbecken ihr Gesicht zu erkunden. Was sie sah, gefiel ihr nicht gut. Dass sie auf die fünfzig zuging, war unübersehbar, aber sie beschloss, dass sie sich nicht unterkriegen lassen würde. Sie zog ein sehr ausgeschnittenes schwarzes Kleid an. Es würde zu ihrem Lieblingsfilm passen. Zum Ausgehen war sie nicht motiviert, aber sie konnte auf dem Balkon ihrer Wohnung ein bisschen am Leben auf der Straße teilnehmen und nebenbei den Film verfolgen, den sie schon so oft gesehen hatte.

Das dunkle Kleid kontrastierte mit der weißen Fassade des Eckhauses in der Rat-Beil-Straße. Außerdem ließ es viel Haut sehen. Die Balkontür stand offen. Dem Kühlschrank entnahm sie eine Flasche Sekt. Um sie zu öffnen, stellte sie sie auf das Balkontischchen. Dann schenkte sie sich ein. Langsam floss die perlende Flüssigkeit in einen langstieligen Sektkelch. Es war Samstagabend. Aus der Nachbarschaft drangen keinerlei Geräusche zu ihr herüber. Nirgendwo schrie an diesem Abend ein Baby. Abgesehen von ihrem Film herrschte die Friedhofsruhe in der Straße.

„Verdi ist tot!“ Laut ertönte der Schrei. Amelia hatte die DVD, die wie immer in ihrer Abspielstation lag, in voller Lautstärke gestartet, ihr Lieblingsfilm. Sie konnte nicht genug davon bekommen. Besonders der Anfang des Films faszinierte sie jedes Mal aufs Neue.

An der Ampel hielt jetzt ein Cabriolet. Der Fahrer sah zu ihr herüber und lächelte. Einladend deutete er auf den freien Beifahrersitz. Amelia schüttelte den Kopf und zog sich in ihr Wohnzimmer zurück, stehend verfolgte sie einen Moment den Fortgang des Films, bevor sie ihn zurücklaufen ließ und erneut startete. „Verdi ist tot.“ Wieder erklang der laute klagende Ruf des Bajazzos.

Ihr honigblondes halblanges Haar war immer noch feucht, als sie wieder auf den Balkon trat. Auf der Straße hatte es inzwischen einen Tumult gegeben. Offenbar hatte der Fahrer des Cabrios gerade unerklärlicherweise Vollgas gegeben und war seinem Vordermann an der roten Ampel hinten reingerauscht. Beide Fahrzeuge schienen stark beschädigt zu sein, das eine war hinten und das andere vorne völlig eingedrückt. Amelia beobachtete die erregte Diskussion der beiden Unfallgegner und das Eintreffen der Polizei. Plötzlich sah sie, wie der Fahrer des Cabrios mit ausgestrecktem Arm auf sie wies. Kurz darauf trat eine Streifenpolizistin auf ihr Haus zu. Es klingelte. Mit leicht zitternden Händen öffnete Amelia die Tür, nachdem sie den Film gestoppt hatte. Die Beamtin fragte sie, was sie zu dem Unfall sagen könne. Amelia schüttelte stumm den Kopf, ihr Hals war wie zugeschnürt. Die Polizistin erklärte nun, dass der Unfallverursacher angegeben hatte, dass sie ihn durch lautes Schreien in Todesangst gebracht und durch wildes Gestikulieren abgelenkt habe. Sie habe massiv in den Straßenverkehr eingegriffen. Amelia traute ihren Ohren nicht. Ihr Erschrecken verwandelte sich in Zorn. „So eine Frechheit. Es war genau umgekehrt“, empörte sie sich. „Er hat zu mir rübergesehen und auf den leeren Beifahrersitz gezeigt. Daraufhin habe ich den Kopf geschüttelt und bin reingegangen.“ Die Streifenbeamtin machte sich eine Notiz und gab Amelia ihre Karte für den Fall, dass ihr später noch ein Detail dazu einfiele. Danach klingelte sie bei den Nachbarn neben ihr und in der ersten Etage. Die junge Diensthabende hatte jedoch kein Glück. Es öffnete ihr niemand. Danach verließ sie endlich das Haus. Amelia trat wieder auf den Balkon und sah, wie sich alle Blicke auf sie richteten. Hastig zog sie sich erneut zurück. Nach einem kurzen Zögern genehmigte sie sich einen großen Whisky und dann noch einen. Diesen Ärger konnte sie jetzt nicht gebrauchen. War es nicht schon schlimm genug, dass es ihrer Tochter schlecht ging? Dem zweiten Whisky folgte ein dritter. Amelia lag mittlerweile auf der Couch im Wohnzimmer.

Thalia war acht Jahre alt gewesen, als Peter immer wieder versuchte, Amelia zu einem weiteren Baby zu bewegen. Er hatte das Babyalter seiner Tochter verpasst, denn er war damals Bauleiter auf einer Großbaustelle in Australien, weil es immer schon sein Traum gewesen war, eine Weile dort zu leben. Eines Tages hatte er dieses sensationelle Angebot bekommen und spontan zugesagt. Amelia war damals hochschwanger. Wegen des Australienaufenthalts hatte Peter die Geburt seiner Tochter verpasst. Der Flug war einfach zu weit gewesen, um nur zur Geburt zurückzukommen. Danach musste die große Entfernung auch als Begründung für das Fehlen von Besuchen im ersten Lebensjahr herhalten. Schließlich war die Baustellenzeit beendet. Zurück in Frankfurt gewöhnte Peter sich mühsam daran, eine Familie zu haben. Amelia war sich sicher, dass er sie sofort nach seiner Australienzeit verlassen hätte, wenn Thalia nicht gewesen wäre. Tapfer hielt er einige Jahre durch.

Eines Tages war ihm die naheliegende Idee gekommen, dass sie ein zweites Kind haben sollten, um so richtig zusammenzuwachsen, zu einer richtigen Familie zu werden. Wieder und wieder hatte er versucht, Amelia davon zu überzeugen, wie schön es wäre, wenn Thalia noch eine kleine Schwester hätte. Er wäre dann bei der Geburt dabei und könnte das Neugeborene ins Leben begleiten. Es drängte Peter offenbar danach, seine Versäumnisse wiedergutmachen. Erst hatte Amelia zugestimmt. Doch irgendwann wurde ihre Panik vor einer weiteren Schwangerschaft immer größer. „Du kannst doch immer noch alles für Thalia tun. Sie braucht den Vater jetzt viel mehr als damals. Gib ihr deine ungeteilte Liebe und deine ganze Aufmerksamkeit.“ So oder so ähnlich hatte sich sie immer wieder geäußert.

Amelia verfiel wieder in eine tiefe Traurigkeit. Manchmal erlaubte sie sich jetzt den Gedanken, dass es doch schön gewesen wäre, noch eine eigene Tochter zu haben, auch wenn sich Peter trotzdem aus dem Staub gemacht hätte.

Schließlich war Peters Exfreundin in Frankfurt aufgetaucht, weil sie irgendwen besuchen wollte oder einen beruflichen Termin wahrnehmen musste. Amelia wusste es nicht mehr so genau. Bei dieser Gelegenheit hatte es ein Wiedersehen von Peter und Lisa, so hieß sie, gegeben. Natürlich hatte Lisa keinen Hehl aus ihrem Kinderwunsch gemacht. Kurz nach diesem Wiedersehen wollte er die Trennung. Zu dem Zeitpunkt ging es Thalia noch gut. Doch kurz nach Peters Auszug aus der gemeinsamen Wohnung wurde die Krankheit entdeckt. Thalias Leiden hielt Amelia davon ab, sich in eine hoffnungslose Trauer fallen zu lassen. Der Kinderarzt hatte endlich, nachdem Mutter und Tochter immer wieder wegen der unerklärlichen Müdigkeit der Tochter bei ihm gewesen waren, eine Blutuntersuchung angeordnet. Das Blutbild zeigte übermäßig viele weiße Blutkörperchen. Es war ein Schock gewesen. Amelia hatte geglaubt, dass Thalia sterben würde. Medikamentös war die myeloische Leukämie jedoch gut behandelbar gewesen. Für einige Jahre galt Thalia als geheilt. Dies hatte ein weitgehend normales Leben ermöglicht. Sie sollte sich jedoch nicht zu viel zumuten und ansteckenden Krankheiten aus dem Weg gehen.

Thalia, die schöne Tochter einer attraktiven Mutter, steckte nach einer übereilten Eheschließung in der Wiederversöhnungsphase mit ihrer ersten großen Liebe. Ihr Jugendfreund war mittlerweile im Rahmen seiner Facharztausbildung zu einem kompetenten Stationsarzt an der Frankfurter Uniklinik aufgestiegen. Sollte die Krankheit einen akuten Verlauf bekommen, meinte er, müsse man an eine Stammzellentransplantation denken. Amelia wusste ihre Tochter wieder gut bei Jan, dem jungen Arzt, aufgehoben. Manchmal dachte sie jedoch darüber nach, ob die vielen Gespräche über die Krankheit die Gefühle in der wiedergefundenen Jugendliebe nicht in den Hintergrund drängten, ob damals vielleicht sogar die Krankheit Jan dazu bewogen hatte, sich von Thalia zu trennen, weil er in seiner Beziehung nicht mit Krankheiten konfrontiert werden wollte. Vordergründig hatte er gesagt, dass man während eines Medizinstudiums keine Freundin glücklich machen könne. Und dann hatte er angefangen, sich nur noch sporadisch zu melden bis hin zur völligen Funkstille seinerseits.

Nach der langen Zeit ohne Freund hatte Thalia schließlich doch überraschend schnell den Inhaber einer europaweit agierenden Frankfurter Immobilienfirma geheiratet, der zehn Jahre älter war als sie. Die junge Frau, die sich bisher nicht schlecht mit Vorzimmertätigkeiten ernährt hatte, fing als Sekretärin ihres Mannes in dessen Firma an, wurde jedoch bald seine Partnerin. Sie hatte ein gutes Auftreten, war selten offenherzig gekleidet, hatte eine Vorliebe für leuchtende Farben, die sie jedoch ohne Muster und meistens für Hosenanzüge bevorzugte. Die Macht der Farbe milderte sie mit einem weißen T-Shirt oder einem weißen Rollkragenpullover, was ihr ein frisches Aussehen verlieh. Ihr Mann Fabian Farberger war sich sicher, dass auch dieses positive Aussehen neben ihrem liebenswürdigen Wesen dazu beitrug, dass seine Partnerin so gute Abschlüsse erzielte. Thalia wirkte fröhlich, offen und unverfänglich. Nie versuchte sie, potenzielle Kaufinteressenten zu überreden. Offen wies sie auch auf den einen oder anderen Makel hin und bot Bedenkzeit an. Mit einem feinen Lächeln auf den blassrosa geschminkten Lippen reichte sie ihren Kunden die Hand zum Abschied, die meistens mit einer Bemerkung „Ach warten Sie, ich habe mich bereits entschieden“ reagierten. Thalia verstärkte ihr Lächeln nicht, sondern fragte zurück: „Sind Sie sich sicher?“ Danach wurde der Vorvertrag unterschrieben.

Am ersten Hochzeitstag entführte Fabian Farberger seine Frau auf eine griechische Insel. Anschließend übertrug er ihr die Hälfte seiner Firma. Als weiteres Zeichen seiner Liebe schenkte er ihr einen nicht zu auffälligen schmalen Diamantring, den die junge Frau an der linken Hand trug. Das Schmuckstück über dem Ehering wäre ihr zu aufdringlich erschienen.

Thalia stand vor der Eingangstür eines ihrer Objekte in der Nähe des Opernplatzes und wartete auf den Interessenten, als sie Jan nach langen Jahren wiedersah. Er ging auf den Eingang der U-Bahn zu. Es war dieser typische Gang, an dem sie ihn aus einiger Entfernung sofort erkannt hatte. Ohne zu zögern, rannte sie los. „Jan, Jan, warte doch.“ Der junge Mann blieb stehen. Er lächelte nicht, schien sie aber sofort erkannt zu haben. Thalia trat langsamer auf ihn zu. „Warum hast du dich damals überhaupt nicht mehr gemeldet?“, hatte sie ihn spontan gefragt. „Ich wollte mich voll auf mein Studium konzentrieren, damit ich möglichst schnell Halbgott in Weiß werde. Hat Gott eine Freundin? Sicher nicht.“ Jan Jurak seufzte. „Es war ein Fehler, den ich bitter bereut habe“, fügte er leise hinzu und versuchte nun, den Blick seiner verlorenen Jugendliebe aufzufangen, nachdem er vorher eingehend seine Schuhspitzen betrachtet hatte. Damit nahm Thalias Ehekrise ihren Anfang.

Die Sonne war schon fast untergegangen. Im letzten Tageslicht hatte Amelia ihren Lieblingsfilm noch einmal von vorne laufen lassen. Sie trat mit vorsichtigen Schritten wieder auf den Balkon. Erst Sekt, dann Whisky und jetzt wieder Sekt. Ein Mann war auf der Straße stehen geblieben und lauschte der Filmsequenz. Jetzt sah er zu ihr herüber. Sie beugte sich über die Balkonbrüstung nach vorne und prostete ihm mit der entsprechenden Bewegung des Glases zu. „Sehr zum Wohl“, rief der Unbekannte. „Ein Glas Sekt würde ich jetzt auch gerne trinken.“

„Was ist, wollen Sie nicht hereinkommen und mittrinken? Beeilen Sie sich, die Flasche ist gleich leer. Dann können Sie den Film auch sehen.“ Amelia war schon beschwipst genug, um dieses Angebot zu machen. Der Mann trat tatsächlich auf die Haustür zu, und Amelia betätigte den Summer.

Zögernden Schrittes betrat er den Hausflur. An der geöffneten Wohnungstür blieb er stehen und deutete eine leichte Verbeugung an. „Joseph Schönfelder“, sagte er und streckte der Dame in Schwarz die Hand hin. „Amelia. Kommen Sie doch auf den Balkon. Ich bin gleich wieder da und hole schnell ein zweites Glas. Amelia hatte auch gleich eine weitere Flasche Sekt mitgebracht. Sie hatte Mühe, nichts fallen zu lassen, während ihr Besucher einen Moment lang im Stehen das Filmgeschehen verfolgte und neben sie auf den Balkon getreten war. Sie nahm sein dezentes Eau de Toilette wahr, welches bestimmt nicht billig gewesen war. Auch bemerkte sie ein hellblaues Einstecktuch in seinem grauen Jackett. Sein Blick fiel auf die Mauer des gegenüberliegenden Hauptfriedhofes. Hinter den Bäumen konnte man auch einige Gräber sehen. „Macht es Sie nicht traurig, so nahe am Friedhof zu wohnen? Jeden Tag die Friedhofmauer zu sehen?“, fragte er und wand sich seiner Gastgeberin zu. „Vielen Dank, dass Sie mich zu dem Sekt eingeladen haben.“ Seine Worte waren von einer leichten Verbeugung begleitet. Ein echter Kavalier, mutmaßte Amelia, die sich bemühte, wieder nüchtern zu werden. „Das ist gerne geschehen. Sie passen auf, dass ich nicht zu viel trinke. Nicht wegen der Gräber hinter der Mauer. Nein, es gibt Dinge, die mich gerade mehr belasten als der Anblick des Friedhofs. Mir gefällt die Nähe der Toten. Es passt zu meiner momentanen Gefühlslage.“ Amelia schüttelte unwillig den Kopf. Bevor ihr Gast etwas sagen konnte, konterte sie mit der Gegenfrage. „Und was ist mit Ihnen, irritiert Sie hier die Nachbarschaft der Gräber?“ Amelia verschüttete ein wenig Sekt beim Nachschenken.

„Nein, gar nicht. Ich war sogar gerade auf dem Friedhof. Mich hat der Besuch wie immer traurig gestimmt, aber Sie lenken mich ab.“ „Warum waren Sie da?“, fragte Amelia direkt und sah ihren Zufallsgast an. Joseph Schönfelder stockte. „Jeden Samstag besuche ich meine verstorbene Frau. Sie hatte Krebs.“ „Oh, das tut mir leid.“ Eine Pause entstand. „Meine Tochter hat auch Krebs.“ Amelia wusste gar nicht, warum sie damit herausgeplatzt war. Ihr Besucher ergriff ihre Hand. „Das möchte ich genauer wissen. Vielleicht darf ich Sie demnächst zu einem Abendessen entführen. Ich würde mich gerne für die spontane Einladung bedanken.“ „Ja gerne, dann müssen Sie mir auch von Ihrer Frau erzählen“, sagte Amelia und füllte erneut die Gläser. Amelias Überraschungsgast schaute auf seine echte Rolex. „Ich müsste leider gehen. Ich habe noch einen Mandanten, der nur jetzt Zeit hat.“ Joseph Schönfelder gab Amelia seine Karte. Rechtsanwalt und Notar las Amelia. Dann suchte sie nach einem Zettel und schrieb ihre Nummer auf. „Am besten ist es, wenn Sie vorher anrufen.“ Der Anwalt nickte. „Ich melde mich in den nächsten Tagen. Vielen Dank für den schönen Abend.“ Wieder deutete er eine Verbeugung an, bevor er ging. Von der Straße aus winkte er noch einmal.

Welch ein sympathischer, für sein Alter ganz gutaussehender Typ, dachte Amelia und musste lächeln. Ein Glas gönnte sie sich noch auf dem Balkon. Dann hatte sie die nötige Schwere, um sofort einzuschlafen. Für ein paar Stunden hatte sie ihre Sorge um Thalia vergessen, obwohl sie ihre Tochter in Gegenwart des Anwalts erwähnt hatte. Der Film lief jetzt ins Leere. Der Duft seines holzigen Eau de Toilette lag noch im Raum.

Amelia verbrachte den Sonntagnachmittag bei ihrer Tochter, für die sie am Vormittag Kuchen gebacken hatte. Sie hatte sich sehr anstrengen müssen, um trotz des Katers das Werk zu vollbringen. Eigentlich handelte es sich um einen gewöhnlichen Kuchen, Streuselkuchen vom Blech, den man aber nicht mehr so häufig in Cafés und Bäckereien fand. Amelia hatte für die Streusel Dinkelmehl benutzt, was dem Geschmack eine leicht nussige Note gab. Thalia lag beim Eintreffen ihrer Mutter auf der Couch. Obwohl es sommerlich warm war, hatte sie sich in eine Decke gehüllt. Sie war blass und sah matt aus. Amelia kochte Kaffee und deckte einen kleinen Tisch, der neben der Couch stand. In der Küche hatte sie sogar silberne Kuchengabeln gefunden. Weiter hinten im Raum stand der große Holztisch, an dem sich gewöhnlich das WG-Leben abspielte. Wie immer lagen Papiere auf dem Tisch und benutzte Kaffeetassen standen herum. Heute war niemand außer Thalia anwesend. Der Kaffeeduft und der Anblick des Kuchens riefen die Lebensgeister der jungen Frau auf den Plan. Sie warf die Decke zurück und setzte sich auf. Während Mutter und Tochter genüsslich den Kuchen verzehrten, erzählte die Tochter von ihrer neuen Beziehung zu Jan. „Er sagt, dass ich komplett aus der Wohnung mit Fabian ausziehen soll, um dauerhaft zu ihm in seine WG zu ziehen. Ich solle nicht mehr so viel arbeiten, könne mich mehr schonen, und er wolle mich in jeder freien Minute sehen. Auch hätten seine Mitbewohner ein Auge auf mich, wenn er im Krankenhaus arbeite.“ Amelia nickte zustimmend. „Das halte ich für eine sehr gute Idee. Und wenn es mit Jan ein Problem geben sollte, was ich keinesfalls hoffe, dann kommst du eben zu mir.“

Jetzt erzählte Amelia von ihrer Begegnung mit dem Anwalt, mit welchem sie spontan Sekt getrunken hatte. Thalia lachte. „Was für eine gute Idee für eine Anmache. Man stelle sich einfach auf den Balkon, nehme ein Sektglas in die Hand und drehe Musik auf oder lasse lautstark einen Film laufen. Mama, diese Idee solltest du dir patentieren lassen. Hat er dir auch gesagt, wie er heißt?“ Thalia blickte ihre Mutter erwartungsvoll an.

„Ja, natürlich. Er hat mir doch seine Karte gegeben. Er heißt, warte einmal …“ Amelia überlegte kurz. „Ja, Joseph Schönfelder.“ Jetzt legte ihre Tochter nachdenklich die glatte blasse Stirn in Falten. Sie seufzte. „Mama, das geht nicht. Du kannst ihn nicht treffen, wenn er anrufen sollte. Das ist der Anwalt, den Fabian mit der Vorbereitung der Scheidung beauftragt hat. Er ist offenbar ein gerissener Kerl und will dafür sorgen, dass Fabian mir keinen Cent Unterhalt zahlen muss und dass er auch sonst alle Vermögenswerte behält. Jedenfalls hat mir Fabian so etwas nach seinem Termin bei dem Anwalt gesagt. Er ist so wütend auf mich.“

„Was sagst du da?“ Amelia sah ihre Tochter schockiert an. „Natürlich werde ich ihn nicht wiedersehen. So ein Schuft. Aber wie klein die Welt ist. Vielleicht sollte ich mir den Balkonauftritt doch nicht patentieren lassen. Da ist nämlich noch etwas Unangenehmes passiert.“ Amelia erzählte die Sache von dem ungebremsten Auffahrunfall und ihrem vermeintlichen Eingriff in den Straßenverkehr.

Als Jan aus dem Fitnessstudio nach Hause kam, erhob sich Amelia. Sie umarmte ihre Tochter und begrüßte deren Jugendliebe erfreut. „Ich bin froh, dass du wieder für Thalia da bist.“ Jan stellte die schwarze Sporttasche auf den Boden vor der Couch, entnahm ihr ein Handdesinfektionsmittel und umfasste die Arme von Amelia. „Ich bin froh, wieder Teil ihres Lebens zu sein.“ Seine blonden Haare glänzten feucht.

Als Amelia nach Hause kam, blinkte ihr Anrufbeantworter. Joseph Schönfelder zeigte sich enttäuscht, dass er sie nicht persönlich antreffen konnte und kündigte sein Erscheinen für den morgigen Abend an. Er würde sie um 19 Uhr zum Essen abholen und hoffte, dass ihr die Uhrzeit passen würde. Amelia schluckte. Nein, sie würde nicht aufmachen.

Am Montagmorgen gab sie sich besonders viel Mühe mit der Auswahl ihrer Garderobe, obwohl sie in einem Krankenhaus als Arztsekretärin arbeitete und einen offenen weißen Kittel über ihrer Kleidung tragen konnte. Sie hatte sich für ein körperbetontes anschmiegsames weiches Kleid entschieden, dessen Musterung aus unregelmäßigen bunten Dreiecken bestand. Oberhalb des Saumes verlief ein braungrüner Bordürendruck. Ihre Handtasche enthielt eine Zahnbürste und ihr Eau de Toilette. Amelia legte es darauf an, erst kurz vor 19 Uhr nach Hause zu kommen. Natürlich lief sie dem Anwalt in die Arme, der bereits vor ihrem Haus parkte. „Ich kann nicht mitkommen“, sagte sie kurzatmig. „Warum denn nicht?“, fragte Schönfelder enttäuscht. „Lassen Sie uns wenigstens an der Ecke der Eckenheimer Landstraße einen Wein trinken und erklären Sie mir, was Ihre Überlegungen sind.“ Er blickte sie mit aufrichtigen blauen Augen an, eine Strähne seines dunkelgrauen Haares war ihm ins Gesicht gefallen. Amelia willigte ein. Die wenigen Meter gingen sie zu Fuß. „Arbeitest du immer so lange? Ich finde, dass wir uns trotz allem duzen könnten. Es redet sich dann leichter.“ Amelia sagte, dass sie darüber erst nachdenken müsse. Und ja, manchmal müsse sie lange arbeiten, manchmal noch länger. „Was machen Sie beruflich?“, fragte der Anwalt, als sie die Tür des Weinlokals erreicht hatten.

„Arztsekretärin. Manchmal gibt es eben besonders viele Arztbriefe zu schreiben.“ Die aparte Mittvierzigerin zog den Saum ihres kurzen Kleides nach unten, nachdem sie sich für den günstigsten Wein auf der Karte entschieden hatte. „Nur ein Glas“, murmelte sie. „Eigentlich wollte ich doch gar nicht hier sein und außerdem muss ich morgen früh wieder fit sein.“ „Warum wolltest du mich nicht wiedersehen?“, fragte der Anwalt und legte seine Hand auf ihre Hand, während er ihren Blick gefangen hielt. Amelia senkte die Augen. „Du vertrittst die gegnerische Partei.“ Sie erzählte von der Scheidung ihrer Tochter. Dass Fabian auf Anraten des Anwalts, nämlich aufgrund seines, Schönfelders Vorschlag, seiner kranken Frau keinerlei finanzielle Unterstützung gewähren sollte. Nur weil ihr zufälligerweise die verloren geglaubte Jugendliebe wieder über den Weg gelaufen sei. Aus einem Glas wurden schließlich drei, und Amelia schwankte leicht, als der Anwalt sie nach Hause brachte. Er hatte ihr versichert, dass er auf seinen Mandanten, was die finanzielle Regelung der Scheidung anging, ab sofort in gegenteiliger Hinsicht einwirken wolle. „Fabian hätte ich es nicht zugetraut, dass er überhaupt zu solchen Überlegungen fähig war“, seufzte Amelia. „Ich werde dich an deiner Wohnungstür verlassen“, sagte der Anwalt, während er Amelia auf dem kurzen Weg zu ihrem Haus unterhakte. Joseph Schönfelder half ihr beim Aufschließen. Nachdem hinter ihr die Wohnungstür ins Schloss gefallen war, schmierte Amelia sich ein Brot mit Pfälzer Leberwurst, zog das Kleid aus und ließ sich ins Bett fallen. Sie würde Thalia nichts von dem Treffen erzählen. Was sollte sie ihre Tochter unnötig aufregen. Das führte dahin, dass Amelia einen Abend später mit dem Anwalt essen ging. Sie hatten sich sehr gut unterhalten. Er kam anschließend mit in ihre Wohnung, aber im letzten Moment besann sich Amelia vor ihrer Schlafzimmertür. Das konnte sie ihrer Tochter nicht auch noch antun. Dafür gingen sie beim nächsten Treffen spazieren und kochten gemeinsam. Das alles geschah in einer Woche. Als Amelia am darauffolgenden Sonntag wieder ihre Tochter besuchte, die dieses Mal den Streuselkuchen gebacken hatte, wusste sie nicht, was sie auf die Frage, warum sie so glücklich aussehe, antworten sollte. Amelia zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht. Vielleicht freut es mich, dass ich eine Woche Islandurlaub gewonnen habe.“ Es war die erstbeste Lüge, die ihr eingefallen war. Thalia zuckte die Schultern und verdrehte die Augen. „Aber Mama, wie schön. Warum hast du mich nicht gleich angerufen?“ Amelia zog sarkastisch die Mundwinkel nach unten. „Du glaubst doch nicht etwa, dass ich dich allein lasse?“ „Aber natürlich fährst du. Du musst auch einmal raus. Jan ist doch hier und all seine Mitbewohner. Alle tragen mich auf Händen.“ Als sich Mutter und Tochter trennten, umarmten sie sich und Amelia rief noch unterwegs bei Joseph an, um ihm zu sagen, dass er mit ihr nach Island reisen müsse, und zwar bald. „Nichts lieber als das“, versprach er und bat sie, dass er sich um alles kümmern dürfe. Amelia war glücklich. In Gedanken fing sie bereits an, alles einzupacken. Wie das Wetter um diese Jahreszeit in Island sei, fragte sie sich.

2

Anfangs der Woche fuhr die Streifenpolizistin Eva Friedberger gegen Abend wieder vor dem Eckhaus in der Rat-Beil-Straße vor, um eine weitere Routinebefragung in Sachen Auffahrunfall mit Totalschaden durchzuführen. Schließlich ging es um eine Schadenssumme von ca. 40.000 Euro, die eine klare Feststellung der Schuldfrage für die Versicherungsleistungen erforderte. Sie hoffte, dass die meisten Bewohner der Immobilie wochentags abends anwesend waren. Vielleicht hatte man ihr am Samstagabend nicht geöffnet. Als sie sich anschickte, die Türklingelbeschriftungen zu lesen, löste sich gerade eine Person aus dem Hauseingang. Friedberger blickte auf. Sie erkannte den Mann. Es handelte sich um den Unfallverursacher. „Was machen Sie hier?“, fragte sie energisch. Der Fahrer des Cabrios mit Namen Normann Millet zog die Schultern hoch und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Ich kann mir schon denken, dass es bei der Schadenssumme ein bisschen Ärger geben wird und wollte doch die Dame vom Balkon bitten, dass sie bei der Wahrheit bleibt und zugibt, dass sie mich schwer abgelenkt hat. Leider ist sie nicht zu Hause.“

Eva Friedberger antwortete ihm, dass ein solcher Besuch bei der Dame nach Nötigung aussehe und dass er sie besser jetzt zu ihrer Dienststelle, die sich im Polizeipräsidium befinde, begleiten würde. Dabei sah sie ihn streng an. Erstmals fiel ihr auf, wie gut der Mann aussah. Wahrscheinlich war er höchstens Mitte dreißig. Eva konnte sich nicht mehr an das Geburtsdatum, das sie im Führerschein gesehen hatte, erinnern. Seine schwarzen Haare waren glatt zurückgekämmt. Er trug ein blaues Polohemd, das das Emblem eines Polospielers trug. Das Blau des Hemdes vertiefte das Blau seiner Augen.

3

Joseph Schönfelder erkundigte sich bei der isländischen Botschaft, wie man dort heiraten könne. Er hatte irgendwann einen Beitrag zu Hochzeiten nach einem altnordischen Brauch gesehen. Es sollte nur ein symbolischer Akt werden. Der Anwalt wollte diese charismatische Frau, die diesen einen Film so sehr liebte, unbedingt an sich binden. Eine standesamtliche Trauung könnte man später nachholen können, wenn die symbolische Verbindung zu dieser Person, die ihn mit einer Mischung aus Spontanität, Verzweiflung, Mutterliebe und körperlichen Reizen überschüttete, wie er sie in seinem Alter nicht noch einmal finden würde, hielt.

Eine germanische, heidnische Weltanschauung gilt in Island als eine anerkannte Religionsgemeinschaft. Auch Ausländern war es möglich, in Island nach diesem alten Ritus zu heiraten.

Joseph schwelgte in den Hochzeitsvorbereitungen. Sein Gepäck enthielt ein wunderschönes Hochzeitskleid, das er für Amelia ausgesucht hatte. Es war ein wahrer Traum in Weiß. Schulterfrei ging der Rock unter dem Satinoberteil nur gerade bis über die Knie, besaß aber eine unfassbare Tüllfülle. Auch schmale goldene Ringe hatte er gekauft und Brautschuhe. Er hoffte inständig, dass er die Maße seiner zukünftigen Frau richtig eingeschätzt hatte.

Am Abend vor dem Abflug war Amelia noch einmal bei Thalia gewesen und hatte alle WG-Mitbewohner gebeten, sehr gut auf ihre Tochter aufzupassen, die abgesehen von ihrer üblichen Blässe einen recht stabilen Eindruck machte. Jan hatte Dienst in der Klinik.

Der Flug ging am frühen Sonntagmorgen. Joseph Schönfelder hatte Amelia in einem Taxi abgeholt.

Die ersten drei Tage auf Island verliefen sehr unbeschwert und fröhlich. Amelia kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Immer wieder klatschte sie in die Hände und rief: „Sieh doch nur, wie schön.“ Dabei vergaß sie völlig die kühlen Temperaturen. Bereits nach der Ankunft hatte ihr Schönfelder in der Hotelboutique eine leichte weiße Felljacke geschenkt, denn Amelia war nicht über die zu erwartenden niedrigen Temperaturen informiert. Der Anwalt hatte sie im Hilton Hotel in Reykjavik einquartiert. Am Morgen des vierten Tages erschien Joseph Schönfelder in einem makellosen schwarzen Anzug und weißem Hemd zum Frühstück. Den Kragen hatte er offengelassen. Über dem Arm trug er einen leichten schwarzen Wollmantel. Amelia war sehr beeindruckt. „Was machen wir heute? Du bist so elegant. Ich denke, dass ich mir auch noch schnell etwas Eleganteres anziehen sollte.“ Joseph Schönfelder lächelte. „Das ist nicht nötig. Du siehst wie üblich völlig perfekt aus.“ „Schmeichler.“ Amelia machte ihm eine lange Nase. Sie brachen auf. Vor dem Hoteleingang wartete ein Mietwagen mit Chauffeur auf sie. Er nahm Joseph Schönfelder, den Mantel sowie die große schwarze Tasche, die aber ziemlich leicht schien, ab. „Wir machen später ein Picknick“, erklärte er lächelnd. „Und dafür hast du dich in deinen besten schwarzen Anzug gezwängt. Vielleicht ist es auch etwas kalt dafür.“ Amelia schüttelte ungläubig den Kopf. „Es gibt vorher noch einen anderen Programmpunkt. Lass dich überraschen.“

Sie fuhren ab. Der Wagen führte sie durch die wunderschöne raue isländische Landschaft, bis sie zu einem großen Wasserfall kamen, der von einem Felsvorsprung herabfiel, in dessen Nähe sich ein kleines rotes Holzhaus befand. „Geh da hinein und zieh dich um.“ Joseph gab der staunenden Amelia die Tasche in die Hand. Das Haus enthielt eine kleine gemütliche Bauernstube, ein Bad, ein Schlafzimmer und eine kleine Küche. Es wirkte wie ein Ferienhaus, war aber gut geheizt. Amelia ging in die Küche, stellte die Tasche auf den Tisch und öffnete sie. Der zusammengedrückte weiße Tüll entfaltete sich. Ungläubig zog sie das Kleid vollends heraus. Darunter fand sie die passende Wäsche und weiche weiße Satinpumps. Amelia atmete tief durch. Was sollte das werden? Er hatte sie nicht nach ihrer Geburtsurkunde oder dem Scheidungsurteil gefragt. Wie ferngelenkt zog sie sich aus und kleidete sich als Braut ein. Alles passte wie angegossen. Die Schuhe drückten ganz leicht, aber das spürte sie kaum. Ihrer Handtasche entnahm sie einen blutroten Lippenstift und ging in das Badzimmer. Kaum konnte sie sich von ihrem Spiegelbild trennen. Langsam trat sie schließlich vor die Tür. Die knappe weiße Felljacke, die sie offenließ, passte sehr gut zu dem Kleid. Bei ihrem Erscheinen ging Joseph in die Knie und küsste ihre Hand. Ihr Anblick betäubte auch ihn. Im Hintergrund wurde Amelia eines Mannes gewahr, der eine Art Geistlicher zu sein schien. Dieser trat auf das Paar zu und bat es, ihm zu folgen. Er führte sie hinter den Wasserfall. Dort befand sich ein Altar aus groben Steinen, auf dem eine weiße Spitzendecke lag und unzählige Kerzen brannten. Altnordische Klänge verschmolzen mit dem Tosen des Wasserfalls. Ihre Augen gewöhnten sich allmählich an das Dämmerlicht, das hinter dem gleißenden Weiß des Wassers lag, in welchen tausend Regenbogen glänzten. Das Paar hielt sich an den Händen und wurde des Chors der Elfen ansichtig, die in zerrissenen weißen Kleidern hinter dem Altar standen und sangen und spielten. „Lasst uns beginnen“, sagte der Geistliche in gebrochenem Deutsch und hob die Hände. „Tretet hinzu. Willst du, lieber Joseph, die mit dir hier erschienene Amelia zu deinem Weib nehmen und mit ihr leben, bis dass die Nornen aufhören zu singen? Wenn du es willst, so sage laut und vernehmlich Ja. Die Elfen werden es bezeugen und den Nornen weiterraunen.“ „Ja“, flüsterte Amelia kaum hörbar. „Noch einmal, ich kann dich nicht hören.“ Die Stimme des Priesters schwoll an, der Gesang der Elfen wurde lauter. „Ja, ich will.“ Fast schrie sie. Amelia bekam es mit der Angst zu tun. „Ich will es auch. Ich will sie immer ehren und umsorgen, in guten wie in schlechten Tagen.“ Ungefragt hatte Joseph sein Eheversprechen abgegeben, denn er hatte die Panik in den Augen seiner neuen Frau gesehen. Der Zeremonienmeister erhob beide Arme und sprach einen isländischen Fluch oder Segen. Kaum hatte er geendet, stieben die Elfen hinter dem Altar hervor und umringten das Paar in einer Weise, dass sie den Raum hinter dem Wasserfall verlassen mussten. Draußen vor der Höhle mussten sie blinzeln, um sich nun wieder an das helle Licht zu gewöhnen.

Ein junger Mann, leger gekleidet mit einer Kamera in der Hand, trat auf sie zu. Wieder wurde das Paar in Position gebracht. Eine Zeit lang wurden unzählige Fotos vor dem Wasserfall geschossen. Auch die Elfen gruppierten sich um die beiden Frischvermählten. Nachdem der Fotograf seine Tätigkeit eingestellt hatte, trat ein Oberkellner im Frack auf das Paar zu. „Madame Schönfelder et Monsieur Schönfelder, bitte folgen Sie mir. Es ist angerichtet.“ Eine weiße Serviette lag auf seinem Arm. Er trug eine Flasche Champagner in einem Kühlkelch. Mit gemäßen Schritten ging er dem Jubelpaar voraus an den Rand der Klippe. Dort lag ein weißes Tischtuch. Daneben loderte ein Feuerkorb und gab seine Wärme ab. „Setzen Sie sich, ich werde Ihre Gläser füllen und Sie danach Ihrem Glück überlassen. Der Chauffeur wartet im Haus.“

„Auf dein Wohl, Liebe meines Lebens.“ Sie stießen an. Nachdem Amelia ihr Glas ausgetrunken hatte, trat sie auf Joseph zu. „Du darfst die Braut jetzt küssen“, flüsterte sie.

„Nein, noch nicht. Nicht bevor du meinen Ring trägst. Ich frage dich noch einmal: Willst du meine Frau werden für die guten wie die schlechten Zeiten?“ Amelia nickte heftig, dann hielt sie inne. „Wir sind doch aber nicht richtig verheiratet?“

„Zunächst nicht. Wir können es jederzeit in Frankfurt nachholen, wenn uns unsere Verbindung, die der Gode geschlossen hat, trägt. Ich hoffe es sehr, dass es dazu kommen wird.“ „Wie heißt der Geistliche? Gode? Das klingt ein wenig wie Gott. Er war so streng, kein liebender Gott.“ „Trotzdem haben wir unsere Verbindung vor Gott geschlossen“, sagte der Anwalt. Amelia traten die Tränen in die Augen. „Jetzt darf ich dich küssen, bevor ich dir den Ring als äußeres Zeichen unserer Verbindung geben werde.“ Joseph Schönfelder küsste seine Frau lang und innig. Schließlich löste er sich schwer atmend von ihr. „Du bringst mich um Sinn und Verstand, meine Schöne.“ Er griff in die Jacketttasche und fischte eine kleine schwarze Schmuckschatulle heraus. „Ich habe nicht um deine Hand angehalten, aber ich halte deine Hand in allen Tagen unserer gemeinsamen Zeit.“ Er ergriff ihre rechte Hand und steckte ihr einen schmalen goldenen Ring an den Zeigefinger. Danach gab er ihr die Schatulle und hielt ihr mit einem bittenden Blick die rechte Hand hin, die Amelia sogleich ergriff, um sie wieder loszulassen, um den Ring in die Hand zunehmen, den sie ihm vorsichtig über den Ringfinger streifte. Joseph beugte sich zu seiner Braut und küsste sie erneut. „Darf ich um den ersten Tanz bitten?“ Wie auf das Stichwort erschien der Elfenchor auf der Klippe und intonierte einen Walzer. Zu den melancholischen Klängen bewegten sie sich gefährlich nahe am Abgrund. Nachdem die Melodie verklungen war, verschwanden die Elfen im Nichts. „Jetzt gibt es Champagner und ein Picknick.“ „Ich bin dir so dankbar“, flüsterte Amelia. „Was für eine wunderbare Überraschung. Schade, dass ich es Thalia nicht sagen kann.“ „Du willst unsere Ehe vor deiner Tochter geheim halten?“ Eine steile Falte bildete sich in Josephs Gesicht. „Nur für kurze Zeit, bis sich ihre Seelenlage stabilisiert hat und Fabian seinen Zahlungsverpflichten nachkommt.“ Der Anwalt nickte ergeben. Er musste unbedingt in der Sache noch einmal mit Farberger sprechen. Nachdem sie genug gegessen und getrunken hatten, streckten sie sich nebeneinander aus und fassten sich an den Händen. Über ihnen war nur der Himmel Islands. Als sie aufwachten, dämmerte es bereits. Das Feuer war niedergebrannt. Sie froren und machten sich zu dem roten Holzhaus auf den Weg. Dort fanden sie weder den Chauffeur noch die Limousine. Mobilfunkempfang gab es nicht. Auch hinter dem Wasserfall war niemand. Es war eine düstere Höhle, in der es keinen Hinweis gab, dass dort am Vormittag eine Trauung stattgefunden hatte.

„Unser gemeinsamer Weg beginnt. Zieh deine anderen Sachen wieder an. Wir werden bis zur nächsten Ortschaft laufen müssen.“ Amelia betrat das Holzhaus, fand aber die Tasche und ihre zuvor getragene Kleidung nicht mehr. Barfuß und frierend traten sie den Weg zur nächsten Ortschaft an. Zum Glück gab es nur eine Straße, die sie nehmen konnten. Als sie endlich an einem Haus ankamen, war es bereits stockfinster. Sie klingelten. Ein mürrischer alter Mann öffnete. Amelia fühlte sich leicht an den Gode erinnert. Mühsam erklärte Joseph die Situation auf Deutsch und Englisch. Ein Bündel Banknoten half bei der Klärung. Der Mann telefonierte. Kurze Zeit später hielt ein Wagen vor dem Haus und brachte das Paar zurück zum Hotel. Den Preis für die Fahrt nahm Joseph Schönfelder schweigend zur Kenntnis.

Todmüde sank Amelia im Hilton in die Kissen. Die Hochzeitsnacht mussten sie zu Hause nachholen, denn am nächsten Tag ging der Flug abends zurück. Amelia kaufte in Reykjavik noch einen Pullover für Thalia. Erleichtert ließen sie sich schließlich in ihre Sitze im Flugzeug fallen. Als die Maschine abhob, fragte Joseph seine Angetraute, ob sie seinen Namen annehmen würde, wenn es zu einer Bestätigung der Eheschließung kommt. „Schönfelder statt Thalheimer? Warum nicht, aber dann heiße ich anders als Thalia.“ „Thalia heißt im Moment noch Farberger“, erinnerte sie der Anwalt. Nachdem das Taxi seine Ehefrau an ihrer Wohnung in der Rat-Beil-Straße abgesetzt hatte und die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, nannte Schönfelder dem Fahrer seine Adresse.

4

Die frisch verheiratete Frau erwachte erst um die Mittagszeit. Amelia musste noch nicht ins Büro. Sie gönnte sich eine ausgiebige Dusche und ein ebensolches Frühstück. Anschließend wollte sie Thalia besuchen und war im Begriff aufzubrechen, als es klingelte. Erstaunt öffnete sie die Tür. Vor ihr stand eine Person, die sie schon einmal gesehen hatte. „Normann Millet“, stellte sich der Fremde vor. „Sie erinnern sich an den Auffahrunfall. Darf ich eintreten?“ Amelia schüttelte den Kopf. „Was wollen Sie?“, fragte sie unfreundlich. „Sie sollten sich dazu entschließen, Ihre Aussage zum Tathergang zu korrigieren.“ „Das werde ich nicht tun. Warum auch?“ „Sie werden schon sehen, dass Sie in diesem Fall Ihres Lebens nicht mehr froh werden, weil Sie mein Leben zerstört haben.“ Amelia setzte ein ironisches Lächeln auf, das die Lippen umspielte. Dann schlug sie ihm die Tür vor der Nase zu. Was will der arrogante Schönling, dachte sie kopfschüttelnd.

Ein paar Minuten nach diesem Intermezzo trat sie den Weg zu ihrer Tochter an. Amelia war gut gelaunt, schaute sich trotzdem vorsichtig um, als sie die Straße betrat. Kein Normann Millet war weit und breit zu sehen. Thalia wirkte blass und zerbrechlich, als sie ihrer Mutter die Tür öffnete. „Komm rein Mama, schön, dass du wieder da bist. Komm mit in den Gemeinschaftsraum. Wir sind gerade allein.“ Thalia legte sich dort auf die Couch, wo sie wohl auch schon vorher gelegen hatte. „Jan meinte, dass ich wieder ins Krankenhaus gehen solle. Ich möchte das aber nicht. Die nächste Woche bin ich noch krankgeschrieben. Dann will ich wieder bei Fabian in der Firma arbeiten. Ich will nicht, dass er jemand einstellt und ich arbeitslos werde.“ „Meinst du nicht, dass es zu anstrengend für dich wird? Ich an deiner Stelle würde tun, was Jan sagt.“ „Nein, Mama, Arbeit und Leben ist die beste Medizin für mich. Ich darf mich nicht hängenlassen, sonst gleite ich vollends in die Krankheit ab. Erzähl, wie es auf Island war.“

Die Mutter setzte sich zu der Tochter auf die Couch und versuchte, über Island zu berichten, ohne Joseph Schönfelder zu erwähnen. Sie tat so, als sei sie mit einer Reisegruppe dort gewesen. „Am vorletzten Tag durften wir bei einem isländischen Hochzeitsritual zuschauen.“ Diese Lüge fiel Amelia besonders schwer. Es tat ihr weh, die eigene Hochzeit, ihr neues Glück, vor ihrer Tochter verleugnen zu müssen, um diese nicht aufzuregen, damit ihr Kreislauf im Gleichgewicht blieb. Jan kam herein. Er begrüßte die Mutter seiner Freundin, bevor er diese zart küsste. „Thalia sagt, dass sie in einer Woche wieder arbeiten kann.“ Amelia wusste, dass sie ihrer Tochter damit in den Rücken fiel, aber sie wollte wissen, was der junge Arzt dazu sagte. „Das geht keinesfalls. Thalia, du darfst dir keine Infektionskrankheiten zuziehen. Es würde eine vermehrte Produktion weißer Blutkörperchen bedeuten, die nicht nur Infektionsherde, sondern auch rote Blutkörperchen vermehrt fressen. Warum will denn Fabian, dass du wieder arbeitest? Kann er die Trennung nicht verschmerzen?“

„Nein, nicht er will es. Ich möchte meinem Elfenbeinturm, meinem Gefängnis entfliehen. Ein normales Leben führen. Dann kann ich auch gesund werden.“ „Ja, vielleicht ist das so“, sagte Jan Jurak nachdenklich.

Amelia kehrte beruhigt nach Hause zurück. Nur ihre Lüge blieb noch. Sie zwang sich, nicht daran zu denken. Als sie sich gerade darüber freute, dass ein weiterer arbeitsfreier Tag vor ihr lag, klingelte es erneut. Wenn das wieder dieser Millet ist, kann er sich auf etwas gefasst machen. Amelia machte sich gar nicht erst die Mühe, durch den Spion zu sehen, und riss die Tür auf. Verdutzt hielt sie in der Bewegung inne, als sie drei uniformierter Polizisten vor ihrer Tür gewahr wurde. Unter ihnen befand sich Eva Friedberger, die das Wort ergriff. „Dürfen wir hereinkommen, Frau Thalheimer?“ Amelia nickte nur und trat zurück. Mit einer Handbewegung verwies sie auf ihr Wohnzimmer. Dort kam die engagierte Polizistin sofort zur Sache. „Normann Millet hat Sie heute noch einmal in seiner Unfallsache aufgesucht. Ist das richtig?“ Amelia nickte wieder. Eva Friedberger fuhr fort. „Herr Millet sagt, dass er während seines Besuches ein geöffnetes Päckchen auf Ihrem Tisch gesehen hat, welches an Sie adressiert war und dessen Inhalt aus einem Plastikbeutel mit einem weißen Pulver bestand. Er hielt es für ein Rauschmittel und hat mir die entsprechende Mitteilung zukommen lassen, da er sich meine Telefonnummer notiert hatte in der Unfallsache. Dürfen wir bitte das Paket sehen?“

Amelias Gesicht hatte jegliche Farbe verloren. „Es gibt kein solches Paket. Er hat es erfunden, weil ich nicht bereit war, die Schuld an seinem Unfall auf mich zu nehmen.“ „Das haben wir uns allerdings auch gedacht. Trotzdem würden wir uns gerne ein wenig umsehen. Wir sind verpflichtet, jedem Hinweis nachzugehen.“ „Tun Sie das bitte, aber Sie verschwenden nur Ihre Zeit.“ Die Polizisten zogen Handschuhe über und begannen, sich umzuschauen. Nach nur einer Minute ließ ein Kollege Friedbergers einen Laut der Überraschung vernehmen. Er hatte gerade die Tür eines Seitenschranks geöffnet. Mit einem Griff beförderte ein geöffnetes Päckchen zutage. Es enthielt ein weißes Pulver. „Das, das ist nicht von mir. Das, das muss er mir untergeschoben haben.“ Amelia brach in Tränen aus.

„Beruhigen Sie sich bitte, Frau Thalheimer. Wir nehmen das Paket mit und lassen es untersuchen. Es wird sich alles aufklären.“ Nachdem die Beamten gegangen waren, rief Amelia, den Anwalt, den sie gerade geheiratet hatte, an. „Amelia, Liebling, wie geht es dir, wie geht es Thalia?“ Amelia ging nicht auf Schönfelders Fragen ein. „Du musst mir helfen, Joseph.“ Sie erzählte. „Ich habe diesen Typ nicht aus den Augen gelassen, als er mich heute aufgesucht hat.“ „Vielleicht ist er während deiner Abwesenheit noch einmal wiedergekommen. Hattest du abgeschlossen, als du zu Thalia gegangen bist?“ „Vielleicht nicht, aber ich habe die Tür ins Schloss gezogen, sicher.“ „Es hat ihm seine Kreditkarte genügt, um bei dir in der Wohnung vorbeizuschauen. Er wird durch das Kommen oder Gehens eines Mitbewohners in den Hausflur gelangt sein. Mach dir keine Sorgen, mein Liebling. Frühstücken wir morgen zusammen? Ich bringe alles Nötige mit. Jetzt schlaf dich aus.“ Nach dem Gespräch mit ihrem Mann fühlte sich Amelia besser. Am Sonntag frühstückten sie lange, gingen danach im Günthersburgpark spazieren, wo sie an dem Kiosk ein Glas Wein tranken. Schönfelder überredete Amelia zu einem gemeinsamen Mittagsschlaf. Danach schaute die Mutter noch einmal nach ihrer Tochter. Thalia war nicht besonders gut gelaunt. „Du übertreibst es mit deiner Fürsorge, Mama. Am besten gehst du gleich wieder. Ich brauche meine Ruhe.“

Am nächsten Tag vormittags, Amelias erstem Arbeitstag nach der Islandreise, erhielt sie im Dienst einen Anruf der Polizistin Friedberger. Die Beamtin informierte Amelia darüber, dass sie sich zur Überprüfung der Fingerabdrücke in der Dienststelle im Polizeipräsidium einzufinden habe. Das Paket enthalte Kokain. Amelia war entsetzt, es konnte nicht sein. Eva Friedberger hatte ein feines Gespür für Tonlagen und erkannte, dass das Entsetzen echt war. „Wir werden Sie heute Abend noch einmal besuchen und über die Angelegenheit sprechen. Passt es Ihnen gegen 18.30 Uhr?“ Amelia nickte, bevor sie erkannte, dass eine verbale Antwort von ihr erwartet wurde. „Ja, das passt mir.“ Amelia konnte kaum ihre Mittagspause abwarten, in der sie, statt wie üblich in die Kantine zu gehen, vor den Haupteingang des Bürgerhospitals trat und ein paar Schritte abseits Joseph Schönfelder anrief. Sie erzählte ihm alles und flehte ihn an, dass er bereits um 18.30 Uhr zu ihr käme und nicht erst eine Stunde später. „Gut, meine Schöne, ich werde dem letzten Mandanten absagen. Deine Nähe und dein Wohl stehen über allem.“ Eine Mutter und ihr Kind fuhren gerade an ihr vorbei, als Amelia glücklich ihr Telefon anlächelte. „Schau mal, Mama, die Ärztin telefoniert.“ Amelias Lächeln vertiefte sich, denn sie fühlte, dass alles gut werden würde. Sie überlegte, ob sie noch kurz bei Thalia anrufen sollte, hatte aber Angst, wieder als überbesorgte Mutter eine unfreundliche Antwort zu erhalten. Sie ging noch schnell zu dem Kiosk neben dem Krankenhaus und kaufte ein belegtes Brötchen, das sie im Gehen auf dem Rückweg zu ihrem Schreibtisch aß. „Das ist aber ungesund, Frau Kollegin“, rief ihr ein vorbeieilender Arzt zu. Amelia dachte, dass sie heute ihren Ärztetag hatte. Alles würde gut werden. Auf dem kurzen Weg nach Hause wurde sie schließlich doch sehr nervös. Joseph Schönfelder erschien bereits um 18.15 Uhr. Auch Eva Friedberger war mit ihren Kollegen sehr pünktlich zur Stelle. Joseph Schönfelder stellte sich vor. Er erwähnte auch, dass er Amelia Thalheimer vor wenigen Tagen kirchlich geheiratet hatte. Die Polizistin runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Schönfelder ergriff wieder das Wort. „Amelia, ist es möglich, dass du vor einiger Zeit etwas bestellt und den Karton aufgehoben hast?“ Amelia überlegte kurz und wollte schon verneinen, als ihr einfiel, dass sie im Internet ein Parfüm bestellt hatte, dessen voluminöse Verpackung sie ärgerlich fand. „Darf ich den Karton noch einmal sehen?“, fragte sie. Eva Friedberger zeigte ihr ein Foto. Ja, das musste die Parfümverpackung gewesen sein. Amelia hatte sie aufgehoben, falls sie ihrerseits etwas verschicken wollte. „Norman Millet muss während deiner Abwesenheit hier gewesen und den Karton vorher schon gesehen haben“, schlussfolgerte der Anwalt. Friedberger erinnerte sich daran, wie sie kurz nach dem Unfall Millet im Hauseingang gesehen und angesprochen hatte, wie sie damals sein Verhalten schon leicht verdächtig fand. „Wir werden der Sache nachgehen und Millet zu dem Kokain befragen.“ Sie verabschiedete sich knapp. Schönfelder ging mit seiner Frau in die Nibelungenschänke essen, denn Amelias Magen hatte sich während des Gesprächs lautstark bemerkbar gemacht.

5

Ihr Revierleiter hatte für Eva Friedberger und ihre Kollegen einen Durchsuchungsbeschluss für die Adresse, unter der Normann Millet gemeldet war, erhalten. Zu ihrer Überraschung wohnte er in einer Villa im Holzhausenviertel, wo sie kurz nach der Mittagszeit vorstellig wurden. Eva Friedberger klingelte, ihr Kollege stand dicht hinter ihr. Einige Zeit später kam eine ältere Frau an das Gartentor. „Ist Herr Millet zu Hause? Wir möchten ihn sprechen.“ „Welchen Herr Millet wollen Sie haben? Gibt zwei hier.“ „Normann Millet.“ „Andere Herr Millet ist auch da. Ich rufen beide. Bitte kommen Sie.“ Friedberger und ihr Kollege nahmen in einem riesigen, aber spartanisch eingerichteten Wohnzimmer Platz. Ein Panoramafenster gab den Blick auf den gepflegten Rasen, der von vielen alten Sträuchern umgeben war, frei. In der Mitte der Grünfläche stand eine weiße Sitzgruppe. Während Eva gerade die Wartezeit mit dem Nachdenken über ein eigenes Haus in dieser Kategorie überbrücken wollte, öffnete sich die Tür und gab den Blick auf zwei Männer frei. Normann Millets Begleiter war etwas älter, kleiner und unscheinbarer. „Mein Bruder Christian“, stellte er während des Händeschüttelns vor. Sie setzten sich. Die Beamtin kam zur Sache, indem sie sich an Normann Millet wendete. „Wir haben den Verdacht, dass Sie das in Rede stehende Kokain Frau Thalheimer untergeschoben haben.“ „Wovon reden Sie?“, fragte sein Bruder streng. „Wir haben nichts mit irgendwelchen Drogen zu tun, aber bitte überzeugen Sie sich selbst.“ „Das wird sich zeigen und deswegen sind wir hier.“ Evas Kollege, ein schmächtiger Blonder, dem die Uniform zu groß schien, aber mit scharf geschnittenen Gesichtszügen, entfaltete den Durchsuchungsbeschluss, während er das Wort ergriffen hatte. Der andere Polizist, der sowohl Eva wie auch den Blonden, den sie Paul nannten, um Haupteslänge überragte, sollte die Millet-Brüder ebenso wie die Haushälterin, die hereingerufen worden war, im Auge behalten. Eva übernahm das Erdgeschoss, Paul ging im ersten Stock auf die Suche. Die junge Polizistin war überrascht über die Fülle an teuren und edlen Dingen, auf die sie stieß. Es herrschte Ordnung und Sauberkeit im Hause Millet. Die Durchsuchung ergab keinerlei Hinweise auf Drogenbesitz oder sonstige Unregelmäßigkeiten. „Bevor wir Sie wieder verlassen, würde es uns interessieren, wie Sie Ihr Geld verdienen.“ Paul hatte das Wort ergriffen. Er war mit dieser Frage Friedberger zuvorgekommen. „Mein Bruder ist seit einigen Jahren Geschäftsführer von Merz, nachdem der alte Inhaber verstorben ist. Ich arbeite für ihn. Als Mädchen für alles oder Hausmeister, ganz wie Sie wollen.“ Normann Millet lächelte gewinnend. Merz war ein Pharmaunternehmen an der Eckenheimer Landstraße unweit des Holzhausenviertels. „Wie kommt es, dass Sie zusammen in einem Haus wohnen?“ „Christians Frau ist vor einiger Zeit ausgezogen. Das Haus war für ihn allein zu groß. Er hat mir daraufhin den Vorschlag gemacht, zu ihm zu ziehen.“ Wieder hatte Normann die Frage beantwortet. „Wo waren Sie denn vorher tätig und untergebracht?“ Normann Millet betrachtete seine Fußspitzen, bevor er Eva ansah, um ihre Frage zu beantworten. Dann hob er den Kopf und sah sie unverwandt an. Er versenkte seine Augen in die ihren und schien auf einmal ganz weit weg zu sein. Schließlich schüttelte er sich leicht. Er sah wieder zu Boden. „Es wird Ihnen nicht gefallen, was ich sage. Ich war im Rotlichtmilieu tätig und habe auch in den Unternehmen, in denen ich dort Manager war, gewohnt.“ Er gönnte seinem Bruder einen kurzen Seitenblick, bevor er fortfuhr. „Ich war sehr froh, dass mir Christian die Hand gegeben und mich aus dem Sumpf herausgezogen hat.“ Christian Millet blieb schweigsam. „Wir verabschieden uns. Vielen Dank für Ihre Kooperation.“ Diese Worte richtete die Polizistin an Normann Millet und gab ihm die Hand, die er eine Sekunde zu lang festhielt. Die junge Frau fühlte, wie sie errötete und wandte sich schnell ab. Die Beamten beschlossen, als sie wieder in ihrem Dienstwagen saßen, dass sie schon Feierabend machen würden.

Eva Friedberger zögerte noch einen Moment in ihrem Büro. Sie wusste, dass sie heute sehr pünktlich in ihrer WG sein sollte, in der sie mit zwei weiteren Frauen lebte. Eines der seltenen gemeinsamen Essen war geplant, für das jede von ihnen etwas beitragen sollte. Jedoch konnte Eva sich den hübschen Normann nicht so schnell aus dem Kopf schlagen. Sie fühlte noch den Händedruck und ließ ihren Computer noch einmal hochfahren, um in den Datenbanken der Polizei nach Normann Millet zu suchen. Sie wurde fündig. Bei einer Razzia waren in einem Rotlichtbetrieb, wo er zu der Zeit als Geschäftsführer tätig war, Drogen beschlagnahmt und illegal arbeitende Frauen aufgefunden worden. Weitere Recherchen in der Sache führten dazu, dass Eva Friedberger als Besitzer des Etablissements Christian Millet aufdeckte. Sie lehnte sich in ihrem Schreibtischsessel zurück und wusste nicht, wie sie weiter vorgehen sollte. Schließlich beschloss sie, den für das Bahnhofsviertel und das damit verbundene Milieu zuständigen Kommissar aufzusuchen, falls er noch im Haus war. Es fiel ihr nicht leicht. Fritz Mittag war bekanntermaßen wenig an Kooperation interessiert. Schließlich gab sie sich einen Ruck und suchte nach seiner Durchwahl. Förmlich spürte sie seine Gereiztheit, als er den Hörer nach dem dritten Klingelzeichen abnahm. Er sagte nichts und wartete schweigend ab. „Eva Friedberger hier. Revierbeamtin im dritten Revier. Es geht um eine Sache, die in das Rotlichtmilieu führt. Darf ich Sie kurz aufsuchen?“ „Sagen Sie mir doch am Telefon, was Sie wissen wollen. Es ist schon spät.“ Die junge Polizistin versuchte so knapp wie möglich, den Vorgang zu schildern. „Jetzt weiß ich nicht, wie ich weiterverfahren soll.“ Der Kommissar hatte die Geschichte noch im Kopf. „Der hübsche Millet macht mit Sicherheit die Drecksarbeit für seinen Bruder, den weniger schönen Christian. Er wurde zu einem längeren Freiheitsentzug verurteilt. Wegen guter Führung kam er vorzeitig auf Bewährung frei. Danach ist er zu seinem Bruder gezogen. Und er hat sich bereit erklärt, für die Polizei zu arbeiten und Beweise gegen seinen Bruder zu erbringen, für den er gesessen hatte. Bis heute hat er nichts geliefert. Wissen Sie was, Frau Frieder…“ „Friedberger.“ „Kommen