Tanz mit einem Mörder - Angela Neumann - E-Book

Tanz mit einem Mörder E-Book

Angela Neumann

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Beschreibung

Beim Wandern gerät der Frankfurter Polizeipräsident an den charismatischen Ben Schiller, der sowohl seiner Frau und als auch seiner Tochter gut gefällt. Nera, die Tochter, tröstet sich mit diesem Automobilisten, Tätowierer und Betreiber eines Sportstudios über die Trennung von ihrem Freund Rico, einem jungen Juristen, hinweg, denn letzterer hat sich in eine ihn behandelnde Ärztin verliebt. Hauptkommissar Fritz Mittag, der sich insbesondere dadurch auszeichnet, dass er lieber ermitteln lässt, als selbst zu handeln, und Kommissaranwärterin Eva Friedberger ermitteln im Falle des Todes eines Professors auf dem Gelände der Ruderergaststätte am Mainufer. Die Gaststätte wird von einem gutaussehenden Syrer betrieben, der schnell unter Verdacht gerät. Zudem werden in diesem Vereinslokal gelegentlich osteuropäische Frauen gesichtet. Der Professor, ein Ethnologe, hatte die Frauen und Machenschaften ihres Betreuers im Visier. Die Barbesitzerin Marie Haussmann kennt Fritz Mittag aus einem früheren Fall. In ihrer Bar kann man in Rotlicht-Atmosphäre über Probleme reden. Jetzt benötigt er wieder ihre Hilfe. Marie veranstaltet einen Tangoabend, bei dem es hoch hergeht und einige dubiose Männer auftauchen. Der Hauptkommissar erscheint mit Eva Friedberger.

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Die Autorin

Angela Neumann wurde in Gießen geboren, Studium der Germanistik und Romanistik, langjährige Berufstätigkeit, zwei erwachsene Töchter. Sie lebt mit einer ihrer Töchter in Frankfurt am Main. Das vorliegende Buch zeigt Alkoholismus, Sexismus und die Sucht nach Zusammengehörigkeit.

Weitere Titel der Autorin:

Mord am Main, 3 Bände als Autorenduo

Das rote Haus

Schwarze Kleider

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

Zweiter Teil

Für Carola.

Mein Dank gilt Petra Kroner, Autorin meisterhafter Kurzgeschichten, für ihr engagiertes und ideenreiches Lektorat. Ohne sie wäre das Buch so nicht oder gar nicht entstanden.

Sehr wertvoll war der kritische Blick meiner Schwester.

ERSTER TEIL

1

Die Aura der Missstimmung umgab ihn wie ein undurchdringlicher dunkler Nebel. Und heute war dieser Mantel der Verdrossenheit besonders düster, was mit der Abwesenheit seiner Partnerin zu tun hatte. Kommissaranwärterin Eva Friedberger ging überflüssigerweise einer völlig unwichtigen Recherche nach. In einem schwarzen Kaschmirpulli begann er zu schwitzen. Fritz Mittag kam es vor, als würde er trotz eines markanten Eau de Toilettes nach Schwefel stinken. »Sollen mich eben alle für den Leibhaftigen halten. Damit kann ich gut leben, sehr gut sogar«, murmelte er, während er sich widerwillig über die Leiche beugte.

Notarzt, Feuerwehr und Polizei waren mit mehreren Fahrzeugen vertreten. Der braungebrannte hellblonde Sportler und seine Begleiterin mussten sich einen Weg durch die Menge bahnen, die das Gelände des Rudervereins belagerte. Insofern war es eine Herausforderung, die Boote zurückzubringen. Fritz Mittag hatte sich von dem Toten abgewandt, er beobachtete die beiden jungen Leute und trat heran. »Kriminalpolizei. Hauptkommissar Mittag«, stellte er sich unverkennbar schlecht gelaunt vor.

2

Nach zwei Wochen begannen die Rehamaßnahmen. Die neue Klinik lag direkt am Bad Homburger Kurpark. Der Polizeipräsident stand am Fenster und beobachtete seine Frau. Er sah sie dort ohne Eile durch den alten Baumbestand laufen. Jacques Ehringer vermutete, dass sie lieber spazieren ging, als dass sie ihn besuchte. Den Kopf an die kühle Scheibe gepresst, massierte Ehringer seine Schläfe. Als er sie später mit seiner Überlegung konfrontierte, meinte Bruna beleidigt, dass sie auch wegbleiben könne. Am Dienstag, vor seiner zum Wochenende geplanten Entlassung, stand sie wieder an seinem Bett. Ehringer freute sich, ohne es zu zeigen.

Bevor er jedoch mit ihr reden konnte, klopfte es. Herein kam völlig überraschend ein weiterer Besucher. Es handelte sich um die Person, die ihn ins Bad Homburger Krankenhaus verfrachtet hatte. Ehringer erkannte den Typ sofort. Wieder trug er ein blaues Jeanshemd zu einer weißen eng sitzenden Jeans, darüber eine schwarze Windjacke der Marke Wolfshaut. Die langen mittelblonden seitengescheitelten Haare hielt ein Gel in Form. Sein zerklüftetes Gesicht war gebräunt von den Fahrten mit offenem Verdeck.

Die Bekanntschaft mit dem Vorsitzenden eines Clubs von Oldtimerpiloten hatte sich auf dem Feldbergplateau ergeben, als Ehringer vor einer Wanderung die schicken Wagen bestaunte. Darüber hinaus kreisten einige Flaschen Sekt. Namen gab es damals keine.

Sein Besucher stellte sich als Ben Schiller vor. Nachdem Bruna ihm für die Rettung des Verunfallten dankte, schilderte der Notfallhelfer der besorgten Ehefrau mit zerknirschter Miene, wie er Ehringer alkoholisiert und schwer hustend auf dem Boden liegend auffand. Sie erfuhr, dass ihr schaulustiger Gatte sich an einer Probefahrt interessiert gezeigt habe, es jedoch noch ungewiss gewesen sei, ob der Wagen seiner Wahl problemlos anspringen würde. Nachdem das reibungslose Starten sichergestellt war, sei er, Ben Schiller, dem Bewunderer seltener Automobile nachgefahren. Das Motorengeräusch eines Autos auf einem schmalen Waldweg habe den Wanderer erschreckt. Er trage also die Schuld an dem Unfall und sei nicht eigentlich der Retter, betonte der Oldtimerpilot reumütig.

»Was muss sich Jacques als Behördenchef zu einer Gruppe zechender, junger Männer stellen und mittrinken.« Ehringer traute seinen Ohren nicht. Wie konnte seine Frau ihn vor einem Dritten derart abkanzeln. Bruna sprach über ihn, als er wäre nicht mehr im Raum. Wie kam sie dazu, sich mit diesem Federgewicht auf Augenhöhe unterhalten, der noch dazu schwarze Lederstiefel mit Blockabsätzen trug? Schiller war nur um Weniges größer als Bruna, wirkte aber äußerst durchtrainiert. Der Polizeipräsident starrte auf die Tätowierungen des ungebetenen Besuchers. Sie sprachen eine deutliche Sprache. Es war offenkundig, dass der Mann nur Autos und Sport im Sinn hatte. Bestimmt besaß er kein einziges Buch. Nun lachte Bruna auch noch amüsiert. Der Patient hatte die letzten Worte seines vermeintlichen Retters verpasst, da er sich schläfrig fühlte. Der Besuch überforderte ihn deutlich.

Bruna verlangte immer noch lachend eine genaue Darstellung der Ereignisse ein. Plötzlich begriff Ehringer, dass es einen Zeugen gegeben hatte, als er hinter einem Baum hervorsprang, als er das heranfahrende Auto bemerkte. Vor Schreck und unverrichteter Dinge stolperte er über einen Ast. »Dummerweise hat sich Ihr Mann, als er so husten musste, auch noch eingenässt.« Ben Schiller grinste breit, als er diese Ergänzung zum Besten gab. Jacques Ehringer verstand nicht, warum seine Frau die peinliche Situation offenbar auch witzig fand, wie er an ihrem Gesichtsausdruck sah. Sie hätte sich diese Anekdote verbitten müssen. Schließlich hatte dieser Tunichtgut auch noch darauf bestanden, Bruna nach Hause zu fahren.

Ben Schiller schwieg, bis er die Autobahn erreicht hatte. Erst nach dem Bad Homburger Kreuz warf er einen kurzen Blick auf Bruna Ehringer. »Weißt du, dass du eine sehr schöne Frau bist? Du müsstest nur etwas mehr aus dir machen, dann würden die Männer vor dir niederknien. Warum hast du dir diesen Langweiler ausgesucht?« Ihr Chauffeur war ankündigungslos zum Du übergegangen. Bruna hatte noch nie vorher mit dieser Art Mann zu tun gehabt. Er faszinierte sie und brachte sie gleichermaßen in Verlegenheit.

»Jacques ist kein Langweiler. Außerdem hat er einen sehr interessanten Beruf«, begehrte sie auf, um ihre Befangenheit zu überspielen.

»Na, wenn das so ist. Dabei wollte ich dich gerade in ein äußerst angesagtes Lokal einladen, damit du einmal aus deinem täglichen Einerlei rauskommst, nach allem, was du für ihn tust. Außerdem bin ich der Unfallverursacher, vergiss das nicht, und suche nach einer Wiedergutmachung.« Ben Schiller strich sein fettig wirkendes Haar nach hinten und starrte geradeaus auf die Fahrbahn. Bruna holte tief Luft.

»Er trägt selbst die Schuld. Was musste er sich auch bei Euch anbiedern und mittrinken bis zum Kontrollverlust. Ich war schon immer gegen seine Alleingänge. Das hat er gewusst.« Bruna zeigte wieder ihre tiefsitzende Verärgerung. Ben Schiller schwieg und starrte auf die Fahrbahn. Schließlich gönnte er seiner Passagierin erneut einen kurzen Blick. »Ich warte noch auf eine Zusage zu meiner Einladung.« Bruna sah nachdenklich aus dem Fenster, bevor sie etwas zurückhaltend antwortete.

»Eigentlich würde ich tatsächlich gerne einmal etwas anderes sehen als meine eigenen vier Wände. Jacques hat selten Zeit, mit mir essen zu gehen.«

Ben zeigte seine blendend weißen Zähne. »Ich kenne da ein sehr spektakuläres Lokal in Offenbach. Ja, es ist in Offenbach. Ich hoffe dennoch, dir etwas Besonderes bieten zu können. Die Theaterbar ist nicht nur Bar, sondern auch ein Restaurant, das nebenbei für seine Gin-Tonics bekannt ist«, erklärte Ben. »Allerdings kleiden sich die Gäste für ihren Besuch dort ziemlich extravagant und bieten dadurch den anderen etwas für die Augen. Es ist ein Geben und Nehmen.« Bruna sah Ben überrascht an. »Dafür bin ich doch sicher ein wenig zu alt.« »Das stimmt nicht«, sagte der blonde Beau am Steuer. »Du siehst viel jünger aus, als du denkst. Und wenn du dich ganz in Schwarz kleidest, passt du genau in den Rahmen der Lokalität.« Bruna wollte noch etwas einwenden, doch der Verfechter der Theaterbar sprach unbeirrt weiter. »Du hast doch bestimmt nicht nur ein kleines Schwarzes und diverse Paare hochhackiger Schuhe. Dann nimmst du noch einen richtig roten Lippenstift. Ich reserviere einen Tisch. Keine Widerrede.« Bruna Ehringer hatte es die Sprache verschlagen, aber innerlich hatte sie bereits dem kleinen Abenteuer zugestimmt. Ben Schiller war im Begriffihre in langen Ehejahren eingefrorene Lebenslust aufzutauen. »Ich hole dich am Donnerstagabend um 20.00 Uhr ab. Vorher habe ich leider keine Zeit.« Bruna nickte zustimmend, denn so blieben ihr knapp zwei Tag um alles für Jacques’ Rückkehr vorzubereiten. Außerdem konnte sie sich in Ruhe überlegen, welche Aufmachung sie für den Abend tatsächlich wählen würde.

3

Schiller kam zur vereinbarten Zeit. Als er Bruna sah, stieß er einen anerkennenden Pfiff aus. Sie hatte ihr halblanges Haar glatt nach hinten gekämmt. Auch die Farbe hatte sich verändert. Ihre braunen Haare waren nicht mehr so farblos wie das Fell der Feldmaus, sondern glänzten rötlich. Ben begutachtete sie mit einem prüfenden Blick und schob sie zurück in den Flur. »Du siehst ganz wundervoll aus. Ich hoffe, dass du schwarze Dessous trägst.« »Tue ich nicht. Meine Wäsche kann dir egal sein. Außerdem finde ich deine Frage merkwürdig, um nicht zu sagen übergriffig.« Schiller zog aus dem hinteren Hosenbund eine langstielige dunkelrote Rose hervor, die er wohl entlang seiner Wirbelsäule platziert hatte. Er überreichte sie ihr. »Für die Dame meines Herzens. Komm wir gehen! Zieh einen Mantel über!« Obwohl ihr plötzlich nicht mehr ganz wohl bei der Sache war, griff Bruna wider besseren Wissens nach dem Trenchcoat, der an der Garderobe hing. Schiller nickte anerkennend. Formvollendet öffnete er die Tür seines Triumphs, den er in der Einfahrt geparkt hatte. Zum Glück umgaben hohe Hecken das Grundstück am Fritz Schubert-Ring. Während der Fahrt musterte Bruna den ihr fremden Verführer von der Seite. Sein Aussehen vermittelte ihr das deutliche Gefühl, eine Ehefrau auf Abwegen zu sein. Der Vorsatz sich einen amüsanten Abend zu gönnen, erschien ihr plötzlich völlig abwegig. »Was ist das für ein Lokal?«, fragte sie noch einmal. »Warte es nur ab!« antwortete ihr Begleiter. Schweigend legten sie den Rest der Strecke zurück, bis sie in der Nähe der Theaterbar einen Parkplatz fanden. Der Fahrer half seiner Dame beim Aussteigen. An der Garderobe gaben sie den Trenchcoat ab und Ben Schiller entledigte sich seines Jacketts. Als er außerdem noch sein T-Shirt auszog, musste Bruna Ehringer aufpassen, dass sie nicht mit einem Laut des Entsetzens auffällig wurde. Ihr Partner stand in einem enganliegenden schwarzen Ledermieder vor ihr, welches vorne geschnürt war. Bruna zwang sich den Blick abzuwenden. Ihr fiel eine Kellnerin auf, die nur einen Leder-BH zu einer kleinen weißen Schürze über einem Tüllröckchen trug. Die junge Frau führte sie an den reservierten Tisch. Nachdem sie sich für einen Gin-Tonic und ein Rumpsteak entschieden hatten, konnte sich Bruna in dem Lokal umsehen. Wo war sie hier gelandet? Die anderen Gäste waren ähnlich wie Ben und die Bedienung gekleidet. Unisono trug man Schwarz und viel Haut. Mindestens ein Teil der Aufmachung war aus Leder. »Es handelt sich hier auch ein Fetischclub«, erläuterte Ben, der ihren Augen gefolgt war. Ihr fiel jetzt eine schwarze Lederhaube auf, die zu einer transparenten Bluse ohne BH gehörte. Bruna wies Ben im Flüsterton auf ihre Entdeckungen hin. Eine andere Frau bedeckte ihre Brust lediglich mit einem schwarzen Ledergürtel. Als die Getränke gebracht wurden und sie sich zuprosteten, betrachte sie Ben Schillers nackte Oberarme, die von tätowierten Rosen bedeckt waren. Noch eindrucksvoller als deren Dekoration war ihr Ausmaß. Sie passten nicht zu dem schmalen Erscheinungsbild. Nachdem sie gegessen hatte, beschäftigte Bruna wieder der Oberkörper ihres Verführers. »Deine Arme haben den Umfang der Unterschenkel meines Mannes«, flüsterte sie nach dem vierten Gin-Tonic mutig geworden. Daraufhin schlug Ben Schiller vor, das Lokal zu verlassen. Bruna Ehringer fühlte sich mittlerweile hoffnungslos betrunken und ihre Missstimmung war verflogen. »Die Rose hat gar nicht gepiekst«, lächelte sie selig beim Einsteigen in Schillers Wagen. Er hatte den Stiehl in ihrem Ausschnitt platziert. Unterwegs schwärmte die Ehefrau des Polizeipräsidenten von dem aufregenden Abend. »Hast du das Paar gesehen? Sie war gefesselt und ihre Augen waren verbunden. Er hat sie gefüttert. Das hätte mir auch Spaß gemacht.« Ben Schiller registrierte, dass die Vertreterin des gehobenen Bürgertums eindeutig enthemmt war.

»Schön, dass dir das Lokal gefallen hat. Wie du siehst, gibt es auch noch andere Lebenswelten als deine und meine. Aber weißt du was? Du kommst morgen Abend zu mir, und dann füttere ich dich, nachdem ich dir die Hände zusammengebunden habe. Ich kann auch gut kochen.« Bruna wandte ein, dass doch ihr Mann morgen entlassen würde. Mittlerweile standen sie vor ihrem Haus. »Verlass ihn doch für ein paar Tage. Da kann er einmal sehen, was er an dir gehabt hat. Du machst einfach einen Wochenendurlaub bei mir. Ich hole dich morgen Vormittag ab. Dann sind wir weg, bevor er nach Hause kommt. Pack ein paar Sachen zusammen. Auch was zum Ausfahren.« Bruna fühlte eine leichte Übelkeit. »Ich weiß nicht, ob das richtig ist.« »Aber klar ist das richtig.« Ben nahm ihr Kinn in seine Hand und drückte ihr einen zarten Kuss auf die Lippen. »Ich freue mich«, sagte er. »Bis morgen.« Es gelang Bruna relativ mühelos die Haustür zu öffnen, doch dann sah sie im Wohnzimmer Gespenster mit Händen, die nach ihr greifen wollten.

Schließlich erreichte sie mit weichen Knien das Badezimmer und übergab sich über der Toilette. Ohne die Zähne zu putzen, schlingerte die angetrunkene Ehefrau ins Schlafzimmer. Das Kleid fiel zu Boden. Sie legte die Rose dazu. Nach einem anfänglich komatösen Schlaf warf sie sich unruhig hin und her.

Bruna erwachte mit Kopfschmerzen. Es fiel ihr schwer zu duschen. Ihr war schwindelig. Endlich saß sie im Bademantel in der Küche und konnte ihrem Körper einen starken Kaffee zuführen, der tatsächlich Wunder wirkte. Bruna kam wieder zu sich und fand ihr gestriges Verhalten ganz und gar unmöglich. Doch dann kehrte der Alptraum langsam wieder in ihr Bewusstsein zurück. Sie hätte sich keinesfalls auf die Verabredung einlassen dürfen, die jetzt einen Folgetermin nach sich zog. Dann sann sie darüber nach, was sie tun sollte. Einerseits war ihr das Leben, das sie an der Seite ihres Mannes führte, ein wenig eintönig geworden. Jedoch war es eine vertraute und sichere Daseinsform, die mit Wohlstand und Reputation einherging, die sie nicht aufgeben wollte. Sie wusste, was sie daran hatte. Sie war nicht gezwungen zu arbeiten. Sie lebte in einem gediegenen Umfeld. Ihr Mann war ein wichtiger und gewichtiger Mann. Sie würde heute für ihn kochen und ihn in die Arme nehmen, wenn er nach Hause kam. Diese Umarmungen waren ihre eheliche Pflicht.

Bruna stand auf. Sie hob das schwarze Kleid auf, das noch auf dem Schlafzimmerboden lag und stopfte es zusammen mit der Unterwäsche in die Waschmaschine. Wenn es den Schongang nicht überstand, würde sie es wegwerfen. Bruna hatte gerade den Bademantel gegen eine blaue Jeans und einen grauen lockeren Pulli eingetauscht, als es klingelte. Sie öffnete mit schlimmen Vorahnungen, die sich sogleich bestätigten. Ben Schiller stand vor ihr. Beide starrten sich irritiert an. Ben trug ebenfalls eine blaue Jeans und dazu ein lässig weites Sweatshirt im gleichen Grau von Brunas Pulli. Seine Haare waren frisch gewaschen und fielen ihm ohne Haargel locker ins Gesicht.

4

»Guten Morgen Bruna. Ich wollte dich zu einer kleinen Ausfahrt abholen. Danach kannst du immer noch entscheiden, ob wir heute Abend noch einmal zusammen essen und das ganze Wochenende gemeinsam verbringen wie gestern vorgeschlagen oder ob du lieber deinen Mann in Empfang nimmst.« Ben deutete auf das Cabrio, das vor dem Haus stand. Es handelte sich offenbar um ein älteres Modell mit zusammenklappbarem Verdeck wie bei Cabrios üblich. Bruna zögerte. »Schreib dem guten Jacques, so heißt er doch, dass es deiner Mutter nicht gut geht und dass du nicht weißt, wann du nach Hause kommst. Dann fahren wir los. Du nimmst am besten noch eine dickere Jacke mit. Selbst im Hochsommer bringt der Fahrtwind eine gewisse Kühle mit sich.« Ben grinste die verwirrte Frau verschmitzt an.

In diesem Moment klingelte es erneut. Jetzt war es Ben Schiller, der irritiert reagierte. »Erwartest du jemanden?«, fragte er. Bruna schüttelte nur den Kopf, während sie die Tür aufmachte.

Freudig lächelnd stand Nera vor ihr. »Hallo Mama, bei Rico und mir ist die Waschmaschine kaputt. »Darf ich bei dir waschen?« Die junge Frau trug bereits einen großen Wäschekorb vor sich her. »Na klar. Komm rein, Süße!« Bruna war erleichtert über das Auftauchen der Tochter. Jetzt musste sie nur noch die Anwesenheit Ben Schillers erklären, der soeben hinter sie getreten war. »Hallo, wen haben wir denn da?«, fragte er. »Nera Ehringer, aber bitte behandeln Sie mich nicht wie ein kleines Kind! Und wer sind denn Sie?«, entgegnete Brunas Tochter energisch. »Ich? Mein Name ist Ben Schiller. Ich habe Ihren Vater auf dem Gewissen beziehungsweise ihn ins Krankenhaus überführt. Ihre Mutter habe ich dort kennengelernt und gestern spontan zum Essen eingeladen. Sozusagen als kleine Wiedergutmachung.«

»Und was wollen Sie jetzt hier? Es ist doch früher Morgen. Haben Sie hier übernachtet?«, fragte sie und betrachtete ihre Mutter misstrauisch.

»Nein, nein, keine Sorge. Ich wollte deine Mama nur jetzt für einen Ausflug abholen. Dein Vater hat sie in letzter Zeit nie mitnehmen können und ich habe doch einen so schönen Oldtimer, den ich nur am Wochenende benutzen darf.« Ben Schiller betrachtete Nera mit seinem charmantesten Lächeln, das von der jungen Frau ebenso honigsüß erwidert wurde. »Machen wir es doch so, dass ich Sie begleite. Ich liebe es, offen zu fahren, wenn die Haare im Wind fliegen. Meine Mutter hat ohnehin keine Zeit, aber ich. Mein Freund ist verreist.« Ben Schiller zögerte einen Moment, bevor sich sein Grinsen vertiefte. »Gut, sehr gut. Fahren wir!« Er wandte sich an Bruna. »Du hast doch nichts dagegen, wenn wir unseren Trip verschieben und ich heute bei dem schönen Wetter eine Tour mit der jungen Dame unternehme.«

Bruna Ehringer freute sich einerseits über den guten Ausgang der peinlichen Situation. Andererseits gefiel es ihr nicht, dass ihre Tochter ihr ohne Skrupel den Verehrer wegnahm. Bruna gestand sich das angenehme Gefühl ein, dass sie aus ihrer Unsichtbarkeit, die kurze Zeit nach ihrer Hochzeit mit einer Person des öffentlichen Lebens begonnen hatte, herausgetreten war. Es war angenehm gewesen, nicht nur von ihrem Ehemann als Frau wahrgenommen zu werden. Gleichzeitig war sie dankbar, dass Nera verhinderte, dass sie Probleme bekam.

5

Er hielt Nera die Tür auf und band ihr ein graues Tuch um den Hals, welches er aus seiner Hosentasche zog. Es roch intensiv nach seinem Aftershave. Sanft startete er den Motor. Sicher gelangten sie auf die Autobahn Richtung Bad Homburg. Ben fuhr an der Abfahrt vorbei und weiter bis zur Abzweigung zum Großen Feldberg. Er hatte einen besonnenen Fahrstil und fuhr nicht übertrieben schnell. Nera fühlte sich unglaublich frei und genoss die Fahrt.

Als sie auf dem Gipfel ankamen, warteten dort schon einige andere Fahrer betagter Automobile. Sie winkten Ben. Er half ihr aus dem Wagen und schob sie in Richtung der kleinen Gruppe. »Nera, meine neue Freundin«, stellte er sie vor. Sogleich hielt einer der anderen Fahrer dem Neuzugang eine Flasche Sekt hin. »Ein kleines Schlückchen zur Begrüßung. Sie müssen doch nicht fahren.« Nera hatte Angst, einen Fehler zu machen und nahm die Flasche entgegen. Das Getränk verursachte ihr einen heftigen Schluckauf. Ben schüttelte den Kopf, als sie die Flasche an ihn weiterreichen wollte. »Wir machen jetzt einen Spaziergang. Das habe ich der jungen Frau versprochen. Man sieht sich.« Er griff die zaudernde Nera am Arm und dirigierte sie auf einen ausgeschilderten Weg.

»Haben denn diese Leute nichts zu tun und kein Zuhause?«, fragte sie angesichts der Tatsache, dass es sich um einen späten Freitagvormittag handelte. »Sie haben ein geregeltes Leben, was aber nicht unbedingt mit den bürgerlichen Gepflogenheiten übereinstimmen muss«, erklärte Ben. »Was machst du eigentlich?« rutsche es ihr neugierig heraus. »Ich habe ein Tätowier- und ein Fitnessstudio. In das Gewerbe bin ich ohne Zutun einfach so reingerutscht.« Die junge Frau nickte und betrachtete verstohlen seine Arme. »Willst du wissen, wie es dazu gekommen ist?«

Mittlerweile hatten sie den Wald erreicht. Hier war niemand mehr unterwegs. »Ja klar«, sagte Nera. »Erzähl mir alles von dir.« »Also gut«, begann Ben. »Fangen wir doch gleich mit meiner Geburt an. Mein Vater war Niederländer und hat meine Mutter in Weimar kennengelernt. Beide waren dort auf Besichtigungstour. Es war im Schillerhaus. Meine Mutter hieß witziger Weise auch Schiller. Hannah Schiller. Und dann waren sie noch zufällig in derselben Jugendherberge untergebracht. Es kam, wie es kommen musste. Sie wurde schwanger. Er hat ihr geschrieben, dass sie das Balg, also mich, wegmachen sollte. Er käme nicht als Ehemann und Vater infrage. Meine Mutter hat mich behalten.« »Zum Glück«, seufzte Nera. »Entschuldige, ich wollte dich nicht unterbrechen. Erzähl bitte weiter!« Ben fuhr fort. »Sie hat mich allein aufgezogen. Es kam auch kein Geld von ihm, aber wir sind zurechtgekommen. Trotzdem hat sie ihm immer Fotos von mir geschickt. Eines Tages kam dann ein Schreiben vom Gericht. Er, also mein Erzeuger, sei bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen. Obwohl er nichts mit mir zu tun haben wollte, hatte er schon kurz nach meiner Geburt ein Testament zu meinen Gunsten aufgesetzt. Ich sollte sein Geld erben, mit der Maßgabe einen Tattooladen und ein Sportstudio aufzumachen. So wie er es gehabt hatte. Hannah, meine Mutter, wollte, dass ich Jura studiere, aber dann hat sie sich doch seinem Willen gefügt.«

»Lebt deine Mutter noch?«, fragte Nera. »Nein, sie ist früh gestorben. Gebärmutterkrebs. Meine Schuld. Sie hätte mich nicht bekommen dürfen.« Ben zuckte mit den Schultern. »So, jetzt weißt du alles. Komm lass uns etwas essen!« Ben deutet auf eine Lichtung. Erst jetzt bemerkte die junge Frau die Tasche, die er über der Schulter trug. Ihr entnahm er eine Decke, zwei Piccolo und eine Tüte mit Laugenbrezeln. Nachdem er das Plaid ausgebreitet hatte, machten sie es sich bequem. Ben reichte Nera eine Brezel. »Ich mag mütterliche Frauen. Das verstehst du doch jetzt. Erzähl mal was von deiner Mutter.«

Nera überging die Aufforderung und fragte ihn nach seinem Alter. »Ich bin wahrscheinlich um einiges älter als du. Du siehst noch jünger aus, als du bist, und ich sehe älter aus, als ich bin.« Nera rümpfte die Nase. Sie fand nicht, dass sie jünger aussah, als sie war. Sie hatte es satt, dass alle dachten, dass sie noch nicht wusste, wo es langging. Eine Ausnahme war Rico. Er nahm sie ernst, während sie für ihre Eltern weiterhin das Kleinkind war.

»Dich interessiert mein genaues Alter, stimmt’s?« Ben lächelte verschmitzt. »39 wäre die korrekte Angabe. Die Affäre in Weimar fand schon vor der Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands statt. Also bin ich zu jung, um dein Vater zu sein, aber nicht zu alt, um dein Freund zu werden.« Ben versuchte sie zu küssen, doch Nera stieß ihn zurück, was er nonchalant überging.

»So jetzt bist du dran, mir dein Leben zu schildern, Kleines.« Ben hielt ihr lächelnd ein Piccolo hin. Nera funkelte ihn wütend an und riss ihm die Flasche aus der Hand. Sie begann gierig zu trinken. Rico war verreist und sie hatte keine Lust gehabt, allein zu frühstücken. Sie trank den Sekt wie Wasser.

Nachdem sie wieder reden konnte, meinte sie, dass es nicht sehr viel über sie zu sagen gäbe. »Bestimmt gibt es viele faszinierende Facetten über dich zu erfahren, sag einfach, was dir in den Sinn kommt.« Nera musterte den Waldrand. »Ich studiere noch an der Frankfurt School und arbeite nebenbei bei einem Anwalt. Also völlig unspektakulär.« »Da hast du doch einen sehr aufregenden Job«, unterbrach Ben. »Schon, aber ich bin eher Studentin«, korrigierte Nera. »Und ich habe einen festen Freund, mit dem ich zusammenwohne«, fügte sie noch hinzu.

»Der Ausflug scheint dir zu gefallen«, meinte Ben. »Dein Freund ist doch bestimmt so ein Söhnchen reicher Eltern. Ich meine nur, wenn ich mir so deinen familiären Hintergrund anschaue.« Nera sah ihren neuen Verehrer gelangweilt an. »Er ist ein vorsichtiger und sparsamer Typ, kein sogenannter Lebenskünstler, der kein Cabrio besitzt. Es ist schon kühn, dass ich jetzt eine Ausfahrt mache, während er in London ein Vorstellungsgespräch hat. Er würde mir den Ausflug hinter seinem Rücken nicht verzeihen, wenn er davon wüsste. Er darf es nicht erfahren. Er ist mein Lebensinhalt. Ich wollte nur meine Mutter vor dir schützen.« Sie wirkte traurig und dachte an die Lieblosigkeit ihrer Mutter, sich leichtfertig von einem derart windigen Typ zum Essen einladen zu lassen. »Ich kann dich verstehen. Aber wir Autofreaks sind nun mal so. Wir nehmen uns, was wir wollen.« Ben legte die Hand auf Neras Bein. »Ein Tattoo auf deinem Oberschenkel würde hübsch aussehen. Ich schenke es dir ohne Gegenleistung. Wir sind Lebenskünstler und Liebhaber der Raserei. Du musst nur in meinem Laden vorbeikommen.« Nera nickte. Das würde sie tun und noch etwas anderes, aber sie wusste noch nicht genau, was. An wem nämlich sie sich rächen sollte, an ihrer Mutter für deren Treulosigkeit oder an ihrem Begleiter, der sie verführt hatte? Sie musste die Situation weiter beobachten. Bisher fehlte ihr ein Plan.

»Da du derzeit Strohwitwe bist, könntest du doch heute Abend zum Essen bleiben? Ich koche uns was Leckeres. Du wirst überrascht sein. Ich verspreche hoch und heilig, dass ich dir nichts tun werde. Auch wenn du darum bettelst. Diese Chance hast du vertan.« Ben Schiller packte jetzt eine Flasche Sekt aus. »Auf gute Freundschaft, meine Kleine.« Nera nickte. Sie hatte einen Plan. Ihre Bedenken hinsichtlich ihres Freundes Rico warf sie kurzerhand über Bord.

6

Schließlich landeten sie Bens Wohnung. Nera staunte nicht schlecht. Ihre diffusen Erwartungen wurden weit übertroffen. Die Einrichtung bestand aus einer Ansammlung von Antiquitäten aller Stilrichtungen. Die Böden waren mit alten wertvollen Teppichen bedeckt. Überall standen mit Seidenblumen gefüllte Vasen. An den Wänden hingen viele Bilder in dicken goldenen Rahmen. Vorzugsweise handelte es sich um Landschaften oder Stillleben, einige Darstellungen nackter Frauen waren auch dabei. Allein ein riesiger Flachbildschirm wies auf die Gegenwart hin. Ben zeigte seinem Gast Küche und Bad. Diese beiden Räumlichkeiten waren so gestaltet, wie man es sich gemeinhin vorstellte. Eine Menge kosmetischer Produkte und geblümte Handtücher im Badezimmer fielen Nera auf. Als sie hinter Ben das Schlafzimmer betrat, befand sie sich wieder im gehobenen Flohmarktambiente. Die Wände waren dunkelgrün gestrichen. Das riesige Himmelbett stand frei in der Mitte des Raumes und war mit Kissen und Decken in unterschiedlichen Bezügen übersät. Nera ekelte sich vor dem Wust an Bettzeug. Wie nicht anders zu erwarten war, dominierten in diesem Raum an den Wänden nackte Rubensgestalten. Gegenüber des Bettes befand sich ein Spiegelschrank.

»Nicht viele Frauen haben bisher mein Schlafzimmer betreten. Sieh es als besondere Wertschätzung deiner Person an! Du kannst es dir im Wohnzimmer vor dem Fernsehen gemütlich machen, während ich für uns koche. Später werde ich dich im Bett füttern. Wir machen es so, wie deine Mutter es gestern Abend gesehen hat und wie sie es heute ausprobieren wollte. Jetzt vertrittst du sie. Mehr als das. Warte, ich hole dir ein Glas Sekt!« Ben lächelte seinen Besuch verheißungsvoll an. Nera Ehringer fühlte sich sehr unwohl. Sie überlegte, wie sie sich heimlich aus Bens Wohnung schleichen konnte. Schließlich jedoch entschloss sie sich, den Kerl nicht zu provozieren und zu bleiben. Sie trank den Sekt aus und fühlte sich besser.

Aus der Küche roch es bereits unbestreitbar lecker. Ben kam herein und meinte, es würde gleich losgehen. In seinem Hosenbund steckte ein Küchenhandtuch. Er führte Nera, die im Türrahmen lehnte und ihm zusah, zurück ins Schlafzimmer, gab ihr eines von seinen T-Shirts. »Zieh dich aus, bevor du es überziehst! Das schont deine Kleidung.« Die junge Frau erinnerte ihn an das, was er ihr versprochen hatte. Schiller winkte ab. »Du kannst ganz beruhigt sein. Ein Freak steht zu seinem Wort. Das unterscheidet uns von den ehrbaren Bürgern. Das Essen im Bett gehört zum Menü. Ich bin gleich wieder da.«

Als Ben zurückkam, hielt er eine schwarze Augenbinde in der Hand, mit der er ihre Augen verband, und verschnürte dann ihre Hände auf dem Rücken. Nera konnte sich nur mit der Seite am Bettrücken anlehnen. Sie protestierte und wollte die Fesseln loswerden. Doch Ben lächelte beruhigend. »Keine Sorge, wir spielen nur das Spiel, das deiner Mutter so gut gefallen hat.« Nera ließ ihn gewähren, denn sie wollte unbedingt wissen, was ihre Mutter Ungutes vorgehabt hatte. Der Meister der Zeremonie entfernte sich wieder. Nach einer Weile kündigten Essensduft und klapperndes Geschirr seine Rückkehr an.

»Es erhöht das Geschmacksempfinden. Deine Mutter hat sich dieses Menu surprise gewünscht. Stell dir vor, du wärst sie! Das erhöht für dich noch den Kick.« Nera nickte. Sie würde ihre Mutter in den Abgrund stoßen, der sich gerade vor ihr auftat. Ihr wurde klar, warum sie ihre Mutter hasste. Ben begann sie hingebungsvoll zu füttern und streichelte seinem Gast zwischendurch den Bauch. Nera war fast enttäuscht, als er sagte, dass er abservieren und sie wieder freigeben würde. »Wir können noch ein wenig fernsehen und dann schlafen. Morgen machen wir wieder eine interessante Fahrt und für abends habe ich noch eine Art von Abendessen im Sinn. Es wird aber etwas anders sein als heute. Wann kommt dein Freund zurück?« Nera war leicht benebelt und hoffte nur, dass er nicht doch beabsichtigte, mit ihr zu schlafen.

Am nächsten Morgen erwachte sie und wusste nicht mehr, was tatsächlich passiert war. Zu viele Sinneseindrücke waren auf sie eingestürmt.

7

Sie hatten den ganzen Samstag im Rheingau verbracht. Nera war wieder zu sich gekommen und fand die Tour im offenen Triumpf fabelhaft. »Du musst deinem Rico vorschlagen, dass er sich ein Motorrad kauft, wenn er sich kein Cabrio leisten kann. Vielleicht eine Ducati, eine Harley ist bestimmt zu plump für ihn und ohnehin Schrott.« Nera nickte zustimmend. Fast hätte sie betont, dass es nicht ihr Rico sei.

Abends wurde wieder im Bett gegessen. Ben hatte angekündigt, dass er sie am Sonntagmorgen tatsächlich nach Hause schicken würde. »Vergiss nicht die Wäsche bei deiner Mutter abzuholen. Sie wird bestimmt wissen wollen, wie es war«, ergänzte er leicht hämisch. Nera fragte sich einerseits, warum man sie nach Belieben hinschicken, beziehungsweise wegschicken konnte und andererseits, warum sie wegen dieses unseriösen Abendessens in einem Offenbacher Club einen derartigen Groll auf ihre Mutter verspürte, dass ihr das Wäscheabholen total zuwider war. »Kannst du das nicht machen?«, fragte sie bittend. »Sie weiß doch, dass wir zusammen unterwegs waren.« »Wenn du mich nett darum bittest und jetzt brav isst, kann ich darüber nachdenken.« Ben lächelte breit.

Dieses Mal nahm Ben von einer Fesselung der Hände Abstand. Nera hatte einen so schönen Hals, der ihn schon gestern fast um den Verstand gebracht hatte. Er streifte sich schwarze Lederhandschuhe über. Den misstrauischen Blick seiner Partnerin übersah er. Nera hielt es aus, weil sie grundsätzlich angstfrei und gut in Selbstverteidigung war. »Ich werde dir jetzt für einen kurzen Moment die Luft abdrücken, dir also den Hals kurzzeitig fesseln, wenn du so willst. Du wirst das Gefühl bekommen zu schweben. Danach werde ich dir sofort einen Leckerbissen in den Mund schieben. Du wirst ihn im Gefühl der Euphorie genießen.«

Es kam, wie es Ben prophezeit hatte. Nera bat ihn, dass er ihr noch etwas länger die Luft nehmen sollte. Ihr gefiel das lustvolle Spiel. Ihre Erregung steigert die seine noch. In dem Moment vibrierte sein Telefon. Ben war erregt und abgelenkt von der neuen Nachricht, so dass er gar nicht aufhörte, zuzudrücken. Verzweifelt strampelte sich seine Beute frei. Als sie wieder einigermaßen atmen konnte, schrie sie ihn an. »Was fällt dir ein. Das kostet dich etwas. Du schuldest mir eine Wiedergutmachung, womit ich nicht das Abholen der Wäsche meine.« Nera begann zu weinen. So hatte sie sich den Abend nicht vorgestellt. Es waren eher Tränen der Wut, einer Wut darüber, dass sie sich einer solchen Situation ausgesetzt hatte. Ben entschuldigte sich wortreich, kniete vor dem Bett nieder und küsste ihre Hände.

Der Autofreak erklärte ihr, dass ihn die Nachricht, dass sein Club demnächst eine Versammlung abhalten wollte, um ihn als Präsident abzuwählen, abgelenkt habe. Er ließ Neras Hände sinken, antwortete auf die Nachricht und fragte nach dem Anlass für seine Abwahl.

Am Sonntagvormittag wollte Nera doch selbst ihre gewaschene Wäsche abholen, um dabei ihren Vater wiederzusehen. Sie hatte ihn nicht besucht, weil sie ihn nicht so geschwächt erleben wollte. Ihr enger Kontakt zeigte sich in dieser Zeit in häufigen Telefongesprächen. »Wo ist Papa?«, fragte sie. »Er wollte es wissen und ist schwimmen gegangen.« »Du hast ihn einfach gehen gelassen? Das hättest du unterbinden müssen.« Nera funkelte ihre Mutter wütend an. »Ich war froh, dass ich einen Moment meine Ruhe hatte. Du weißt doch, wie anstrengend er ist.« Nera konnte nur den Kopf schütteln. »Er war doch die ganze Zeit weg. Kaum ist er einen Tag wieder zuhause, findest du ihn anstrengend.« Sie fragte sich, ob ihre Mutter ihren Vater überhaupt noch liebte.

»Wie war denn dein Ausflug mit dem netten jungen Mann? Du sagst gar nichts dazu.« Bruna schaute ihre Tochter an. Die traurigen Augen ihrer Mutter sprachen Bände. Nera musste sich sehr beherrschen, um nicht ausfallend zu werden. »Ich muss gehen«, sagte sie kühl. »Danke für das Waschen.« Sie gönnte ihrer Mutter noch einen abschätzenden Blick. Was hatte sich dieser Schiller dabei gedacht, diese Frau, die etwas hilflos vor ihr stand, auszuführen und ihr den Kopf zu verdrehen? Noch schlimmer aber war, was sich ihre Mutter dabei gedacht hatte.

Nera, die ihren Vater sehr liebte, konnte dieses Verhalten nicht ertragen. Sie würde ihre Mutter für deren Lieblosigkeit bezahlen lassen. Sie sah ihrer Mutter in die Augen, ohne die Tränen, am Fließen gehindert durch ein Beruhigungsmittel, zu erkennen. Niemals würde Bruna über das Ereignis nach dem Besuch in der Theaterbar sprechen. Sie wusste selbst nicht, was sich genau abgespielt und wie es dazu hatte kommen können. Zu peinigend und ungenau war ihre Erinnerung an einen bösen Traum, der sich so real angefühlt hatte. Wie Jacques mitten in der Nacht auf dem Sofa im Wohnzimmer gesessen hatte, weil er sie überraschen und beobachten wollte, wie sie nach Hause kam und wie er gleich darauf über sie herfiel. Dann war er wieder verschwunden. Am Freitagmorgen zweifelte sie an ihrer Wahrnehmung und fragte sich, ob das alles nur ein Albtraum war. Schließlich hatte Ben geklingelt und gleich darauf war Nera mit ihrer Wäsche erschienen. Nach deren Abfahrt nahm sie zwei Valium und stopfte die Wäsche in die Maschine. Ihr Kleid landete achtlos auf dem Boden. Nach dem Ende des Programms steckte sie es wieder in die Maschine.

Deshalb konnte sie Nera nicht einfach erklären, warum sie ihren Vater nicht aufgehalten hatte und warum sie froh war, dass er gleich wieder gegangen war, nachdem er einen Tag später als angekündigt die Kurklinik verlassen hatte. Er hatte weitere Anwendungen am Samstag angeführt und Bruna einen Erholungstag gewünscht.

8

Gleich am Montag nach diesem Wochenende mit Ben Schiller hatte Nera begonnen, nach ihm zu suchen. Vermutlich besaß er tatsächlich, wie er behauptet hatte, in der Innenstadt einen Tätowierladen und ein Fitnessstudio. Beide Einrichtungen dürften wohl nicht so schwer zu finden sein, sagte sich Nera, sie müsste sich nur ein bisschen anstrengen, schließlich war sie die Tochter des obersten Frankfurter Ermittlers. Ben sollte dazu überredet werden, noch einmal ihre Mutter einzuladen. Nera wollte unbedingt wissen, wie sie darauf reagierte. Sie würde ihm erklären, dass es tatsächlich gut für das Ego ihrer Mutter sei, wenn er sich noch einmal bei ihr meldete, da sie seltsamerweise völlig apathisch gewesen war, als ihr die Tochter den Verehrer ausgespannte. Sie wollte in Erfahrung bringen, ob die Aufmerksamkeit Ben Schillers ihre Mutter zum Aufblühen bringen würde.

Bevor sie die Läden des Herzensbrechers aufsuchte, wollte Nera versuchen, ihn zufällig zu treffen. Daher ging sie nicht in die Frankfurt School. Auch in dem Anwaltsbüro, in dem sie jobbte, hatte sie sich krankgemeldet. So konnte sie die Zeit, in der Rico noch London war, nutzen. Sie folgte dem Beispiel ihres Vaters und fuhr mit der U3 zur Hohen Mark. Von dort aus lief sie gemächlich zum Großen Feldberg. Auf dem Plateau fand sie aber keine Oldtimer, nur ein paar Einzelpersonen. Wie auch, es war Montag. Sie lief zurück. Wieder an der Hohen Mark angekommen war, beschloss sie dort, ein paar Schritte in dem großen alten Park der gleichnamigen Psychiatrischen Klinik zu laufen. Dann suchte sie sich ein ruhiges Plätzchen, schaute den Spaziergängern hinterher und überlegte, ob man ihnen ihre Störungen und Verrücktheiten anmerkte. Sie dachte auch an Rico, der morgen Abend nach einem zweiten Vorstellungsgespräch in einem internationalen Anwaltsbüro wieder zuhause sein sollte.

Nera liebte Rico, aber sie wollte nicht nach London umziehen. Er sollte hier eine eigene Kanzlei aufmachen. Sie würde dort eintreten, wenn sie mit dem Studium fertig war. Also blieb ihr nur der heutige Nachmittag, um diesen verflixten Ben Schiller aufzutreiben. Sie hatte beschlossen, ihrem Freund von der Sache mit ihrer Mutter und dem Liebhaber alter Autos zu erzählen. Schließlich wollte sie mit Rico durch dick und dünn gehen.

Schnell ermittelte Nera, welches die Läden waren, die Ben Schiller führte. Ein Blick auf das Impressum infrage kommender Einrichtungen verriet ihr den Verantwortlichen. Am Spätnachmittag stand sie vor der ersten Adresse. Sie war deutlich zu lange im Taunus geblieben. In seinem Tätowierstudio beschäftigte er ein junges Pärchen. Beide waren ehemalige Studenten, die ihr Studium abgebrochen hatten. Sie waren sehr nett, wussten aber nichts Näheres über die Abwesenheiten ihres Arbeitgebers. Die beiden machten Neras Einschätzung zufolge einen rechtschaffenden Eindruck.

Die drei Mitarbeiter des Sportstudios, zwei Kroaten und ein Serbe, ließen ihre Muskeln spielen und gaben sich wortkarg. »Nix wissen, wo Chef ist«, hörte die Polizistentochter. Sie versuchte den Osteuropäern zu erklären, dass sie sich melden sollten, falls ihnen noch etwas einfiele und schrieb ihre Telefonnummer auf einen Zettel. »Ich besuche Sie in den nächsten zwei Tagen noch einmal«, sagte Nera. Schließlich klingelte sie doch noch erfolglos an Ben Schillers Wohnungstür.

Völlig erschöpft hatte sich Nera an ihrem Schreibtisch niedergelassen. Sie wartete, dass sich irgendwer meldete. Sie fragte sich, warum Rico nicht anrief. Er hätte doch schon längst gelandet sein müssen. Sie wusste nicht, ob es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Innerlich hoffte sie, dass beide Vorstellungsgespräche erfolglos geblieben waren. Es würde sich auch so eine Geldquelle finden, die eine eigene Kanzlei in Frankfurt finanzierte. Schließlich begann sie sich Notizen zu machen. Hätte sie nur in der verdammten Kneipe den Mund gehalten und ihm nicht versprochen, ihr Studium so schnell wie möglich zu beenden und dann London nachzukommen. Jetzt wollte Nera das schwierige langweilige und teure Studium loswerden und nicht nach London gehen, aber sie wollte Rico nicht aufgeben. Er war einfach zu gutaussehend und hatte diese aufrichtige gradlinige Haltung, die Nera auch an ihrem Vater sah.

Nera fühlte sich Rico unterlegen. ´Mit der Aktion, die in ihrem Kopf immer mehr Gestalt annahm, würde sie Rico wenigstens Respekt vor dem Bösen in ihr abnötigen. Er sollte trotz des Risses in ihrer Vorzeigefamilie an ihr festhalten wollen. Lustlos nippte Nera an ihrem Tee, bevor sie aufsprang, um ihn auszukippen. Dabei sah sie sich im Flurspiegel. Schwarze Leggins mit vereinzelten ausgestickten weißen Margueriten. Dazu trug sie eine lockere lange etwas ungebügelte weiße Hemdbluse, über die ihre langen schwarzen Haare bis fast zur Taille fielen. Sie hatte sich geschminkt für den Fall, dass Rico plötzlich vor der Tür stand, ohne sich anzukündigen.

Nera war zu lauter Musik und einem Glas Rotwein übergegangen. Sie erschrak fürchterlich, als zwei Hände ihre Augen zuhielten. Er biss ihr zärtlich ins Ohrläppchen. »Lass uns auf Whisky umsteigen. Das ist jetzt die bessere Droge«, flüsterte er statt einer Begrüßung.

Nera war schlagartig ernüchtert, sprang auf, fasste sich kurz an ihr Herz und presste sich dann mit aller Heftigkeit an ihren Verlobten. Rico befreite sich aus ihren Armen. Lächelnd stand er in seiner geliebten verwaschenen Jeans vor ihr. Wie meistens trug er ein schwarzes T-Shirt. Seine blonden Haare waren von der Sonne gebleicht. Obwohl es doch in England eigentlich immer regnete, war er braun gebrannt und sah unverschämt gut aus. Nera überlegte kurz, dass auch Ben Schiller lange blonde Haare hatte und dass sie sie an ihm nicht mochte. »Warst du in dieser Kleidung bei den Vorstellungsgesprächen?«, fragte sie etwas konsterniert. »Natürlich nicht. Ich muss doch nicht als Geschäftsmann im Flieger sitzen. Außerdem bin ich schon einen Tag wieder zurück.«

»Wieso meldest du dich nicht?«, fragte die junge Frau beleidigt und trat einen Schritt zurück. »Kein Grund zur Sorge.« Rico della Rosa grinste. »Ich bin nach dem Verlassen des Gates plötzlich zu Boden gegangen. Sie haben mich mit Blaulicht in die Uniklinik transportiert. Eigentlich gab es keinen Befund. Trotzdem sollte ich eine Nacht zur Beobachtung dortbleiben. Es war wohl ein Schwächeanfall.« »Aber Rico, Liebling, wie furchtbar. Warum hast du mich nicht angerufen? Ich wäre doch sofort gekommen.« »Ich wollte dir die Aufregung ersparen. Außerdem war ich selbst einigermaßen schockiert, dass mir das passiert ist. London war wohl kein allzu gutes Pflaster für mich.«

»Das heißt, dass du nicht nach London gehst?«, fragte Nera zu gleichen Teilen besorgt und einigermaßen beruhigt. »Es war wie ein Zeichen für mich. Wir wollen es aber mit der Poesie nicht übertreiben. Wie geht es dir, Schatz? Gibt es was Neues?«, fragte Rico und sah seiner Braut in die Augen. Nera überlegte. Sollte sie ihm gleich von ihrer Mutter erzählen? »Mein Vater ist aus der Reha zurück und meine Mutter ist irgendwie ausgetickt.«

»Was heißt das?«, fragte Rico und goss den Whisky ein. »Klingt interessant. Wollen sie sich scheiden lassen? Soll ich einen der beiden anwaltlich vertreten?«, fragte Rico interessiert. »Du hast doch noch gar keine Kanzlei. Nein, ich habe mir etwas überlegt, wie ich den beiden ein wenig Feuer unter den Allerwertesten machen werde.« Nera wollte von ihrer Idee erzählen, aber Rico rieb sich müde die Augen. »Besser du erzählst mir nichts von deinen Streichen, nicht, dass es mit meinem Ethos als Anwalt kollidiert.« »Ich weiß, ich werde einfach einen Obdachlosen anquatschen, dass er meiner Mutter gegen Geld ein Bein stellt, also im übertragenen Sinn.« Ein kokettes Lächeln begleitete die Worte der jungen Frau, während sie sich auf Ricos Schoß setzte und seinen Kopf hinunterzog. Nach einigen Sekunden ließ sie ihn wieder los. »An deinen Haaren haftet ein langes schwarzes Haar. Wie kommt das?«, fragte sie irritiert. Rico sah sie erstaunt an. »Mag sein, dass die behandelnde Ärztin in der Uniklinik sich ein wenig zu dicht über mich gebeugt hat. Das ist doch kein Verbrechen?«, fragte er leicht aggressiv. »Nein, natürlich nicht. Ich war nur etwas überrascht und habe nicht gedacht, bevor ich geredet habe.«

Nera klang enttäuscht, denn sie hatte mit ihrer Bemerkung den Zauber der Situation zerstört. Vielleicht war doch der Alkohol schuld. »Ich gehe schon schlafen«, sagte sie. Rico erklärte, dass er noch ein Glas trinken und dann nachkommen werde. »Und sei nicht immer so eifersüchtig«, fügte er noch hinzu.

9

Am Montag nach seiner Rückkehr war Jacques sofort im Präsidium vorstellig geworden und hatte auch in der ganzen Woche dort ständige Präsenz gezeigt. Alle sollten wissen, dass er wieder das Ruder übernommen hatte, dass man mit ihm rechnen musste.

Wenn er abends nach Hause kam, hatte er seine Frau mit liebevoller Zuvorkommenheit behandelt, ihr einmal sogar Blumen mitgebracht als Zeichen dafür, wie dankbar er für ihre Liebe war. Bruna gewöhnte sich wieder an den Ehealltag, aber sie nahm trotzdem täglich ein Beruhigungsmittel. Seine Tochter hatte Ehringer noch nicht gesehen, denn Nera schob den drohenden Abgabetermin einer Hausarbeit vor. Jedes weitere Semester würde das Geld ihres Vaters kosten. In ihr tobte ein Wechselbad der Gefühle und sie konnte dem geliebten Vater nicht aufrichtig unter die Augen treten.

»Scheiße, da stimmt irgendetwas nicht.« Fritz Mittag war am Samstagmorgen im Riedbad mit Jacques Ehringer zum Schwimmen verabredet. Ehringer saß als Chef seiner Behörde wieder fest im Sattel. Da sein Freund Fritz Mittag kürzlich darüber geflucht hatte, dass das Panoramabad in Bornheim erneut wegen Umbaumaßnahmen geschlossen war, schlug er vor, sie sollten das Bergen-Enkheimer Schwimmbad aufsuchen. Ehringer wohnte schräg gegenüber.

Der Hauptkommissar war spät dran, weil er es sich nicht hatte nehmen lassen, vorher dem Bauernmarkt an der Konstabler Wache den üblichen Besuch abzustatten. Nun musste er sich sehr beeilen, denn er wollte den Polizeipräsidenten, nicht warten lassen. Als er schließlich die Umkleidekabine aufsuchte, hörte er ein seltsames Geräusch, das sich wie das Röcheln eines Menschen anhörte. Schnell suchte er nach einer Badeaufsicht. Gemeinsam öffneten sie die abgeschlossene Kabine, aus der das Stöhnen zu ihnen drang. Fritz Mittag erstarrte. Halbausgezogen, nur noch mit dem Hemd bekleidet, saß Frankfurts erster Polizist auf dem Boden und lehnte an der Kabinenwand. Hilfesuchend und nach Luft ringend streckte er Mittag die Hand entgegen, der sofort sein Handy aus der Tasche zog und den Notruf wählte. »Hier spricht Kriminalhauptkommissar Mittag. Einen Rettungswagen zum Riedbad! Es handelt sich um einen Erstickungsanfall, es ist dringend.«

Es dauerte keine zehn Minuten, bis der Einsatzwagen eintraf. Nach Vorlage seines Ausweises durfte der Hauptkommissar mitfahren. Im Katharinenkrankenhaus gelang es dem Arzt, Ehringer schnell wieder zu stabilisieren. Er tätschelte dem Polizeipräsidenten die Schulter. »Na, das haben wir doch wieder in den Griff bekommen. Sie sollten ihr Asthmaspray immer dabeihaben.« Ehringer rieb sich die Stirn. »Diese verdammten Kopfschmerzen sind trotz der Tabletten noch nicht weg.« Der junge Arzt riss die Augen auf. »Von welchen Kopfschmerztabletten reden sie?« »Wohl die, die ich im…, die ich gelegentlich einnehme. Ich habe nicht darauf geachtet, wie sie heißen.« Er hatte sich von seiner neuen Mitarbeiterin Tabletten geben lassen, da er zuhause keine mehr hatte. Seine aktuelle Assistentin, die erst seit kurzer Zeit für ihn arbeitete, war eine attraktive Frau, mit der Ehringer schon längst einmal mittags zum Essen gehen wollte. Er musste nur erst wieder vollständig hergestellt sein, körperlich wie seelisch. Den Unfall auf dem Feldberg hatte er noch immer nicht ganz überstanden.

Als Nera die Geschichte hörte, war sie sich sicher, dass der Asthmaanfall auf das Konto ihrer Mutter ging, die möglicherweise versucht hatte, ihn mit Tabletten aus dem Weg zu räumen. So konnte es nicht weitergehen, sie musste ihre Mutter an einer Wiederholung hindern und ihr einen gewaltigen Denkzettel verpassen.

Am diesem Samstag jährte sich der Mord an Max Haussmann. Maries träumerischer Blick schweifte in die Ferne. Sie hatte dem Grab auf dem Hauptfriedhof einen Besuch abgestattet. Auf dem Rückweg überquerte die junge Witwe mit zügigen Schritten die Freifläche des Polizeipräsidiums, um an der Ampel die Straße zu überqueren. Auf der anderen Seite wollte sie in die U-Bahnstation eintauchen und zur Hauptwache zu fahren.

Im Gehen hatte sie ihre Sonnenbrille aufgesetzt, obwohl es ein trüber Tag war. Niemand sollte ihre Tränen sehen, die sie für den Mann, mit dem sie nur einen Tag lang verheiratet gewesen war, vergoss. Nach diesem einen Tag war Max ermordet worden. Marie trauerte jetzt nicht mehr ständig um ihn. Nur manchmal beschlich sie das Gefühl, ihr eigentliches Leben verpasst zu haben. Allerdings gab es jetzt für sie Antoine, der sich offiziell zu ihr bekannte. Er hatte vor, sich von seiner Frau Tiziana scheiden lassen, die zugegeben hatte, Max im Affekt erstochen zu haben. Trotzdem glaubten die meisten an Tizianas Unschuld.

Die junge Witwe wollte sich eigentlich vor der U-Bahn Fahrt in eines der Cafés setzen, die zwischen Hauptfriedhof und Polizeipräsidium in den neuen Gebäuden privater Hochschulen entstanden waren. Diese Backsteinbauten bildeten das Kernstück der Campusmeile, die Universität im Westend und die Fachhochschule am Nibelungenplatz die Endpunkte. Sie dachte an die tröstliche Wirkung von Sahne, die sie in Cafés oft so gern bestellt hatte. Heute verzichtete sie mit leiser Wehmut auf dieses Vergnügen. Sie war nicht mehr die alte Marie. Jetzt freute sie sich auf die schweigende Umarmung ihres neuen Lebenspartners Antoine, der sie wortlos verstand. Er war damals von ihrem verstorbenen Ehemann Max im roten Haus, einer Bar in der Innenstadt, als Manager eingestellt worden. Marie hatte die Bar und die Immobilie geerbt.

»Hallo, Frau Haussmann.« Es war Hauptkommissar Fritz Mittag, der gerade auf das Präsidium zusteuerte. »So warten Sie doch!« Marie ärgerte sich über den vorwurfsvollen Ton. Sie riss sich zusammen und blieb stehen. Der mittelgroße gutaussehende Kommissar kam auf sie zu. Er war wie immer, passend zu seiner Haarfarbe, schwarz gekleidet. Ein weißer Hemdkragen blitzte unter dem leichten Kaschmirpulli hervor. Darüber hinaus waren die Augen des Kommissars fast so schwarz wie seine Seele. Er betrachtete Marie interessiert. »Wie geht’s? Wir haben schon lange nicht mehr zusammengearbeitet.« Fritz Mittag ließ lieber ermitteln, als dass er selbst zu recherchierte, egal, ob es den Vorschriften entsprach oder nicht. Mit einem derartigen Anliegen war er bereits an die Barbesitzerin herangetreten.

»Hallo, Herr Mittag! Schön, dass ich Sie treffe. Wie geht es Eva Friedberger?« Marie streckte dem Hauptkommissar die Hand hin, die dieser übersah, weil er in diesen Coronazeiten noch weniger als sonst das Händeschütteln schätzte. »Was machen Sie am Samstag im Präsidium? Bezahlte Überstunden?« Marie versuchte Fritz Mittag mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. »Nicht ganz. Ich habe gerade meinen Chef ins Krankenhaus begleitet und dachte, dass ich dann gleich noch auf dem Rückweg im Büro vorbeischauen kann, nachdem er mir ohnehin den Samstag versaut hat.« »Wieso musste er ins Krankenhaus, und wieso waren Sie dabei?«, fragte Marie neugierig. »Tja, wir wollten zusammen schwimmen und dann hat ihn ein Asthmaanfall an den Rand des Erstickungstods gebracht.« Marie riss die Augen auf. »Wollen Sie sich jetzt schon um seinen Nachlass kümmern?«, spottete sie. Fritz Mittag überging die Frage.

Was er im Büro erledigte, musste sie nicht wissen. Er hatte sich überlegt, seinen Raum auf eigene Kosten renovieren zu lassen. Es sollten neben einem weißen Tisch nur noch wenige Möbel im Raum stehen. Es musste ein barocker Tisch sein. Für die Wände stellte er sich abstrakte großformatige Kunst vor. Er wusste, dass er mit dieser unkonventionellen Büroausstattung wieder einmal mehr anecken würde. Aber das Ambiente könnte sich bei Befragungen ziemlich sicher als erniedrigend erweisen. Wenn Jacques Ehringer wieder gesund war, müsste er schon ein Auge zudrücken, denn schließlich hatte er ihm das Leben gerettet. Außerdem, und das war vielleicht der Hauptgrund für Mittags Pläne, könnte er in diesem exklusiven Raum auch die Aufgaben eines Polizeipräsidenten wahrnehmen, falls Ehringer aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme amtsmüde werden sollte.

»Was machen Sie eigentlich hier in der Gegend?« Fritz Mittag konzentrierte sich wieder auf seine Gesprächspartnerin. »Sind Sie zu einer Aussage hier?« Das war nun seine Retourkutsche für die bezahlten Überstunden. »Das wäre doch naheliegend.« Fritz Mittag grinste.

Marie rückte ihre Sonnenbrille gerade. »Ich war auf dem Friedhof am Grab meines Mannes.« »Ach, ich dachte Ihr Türsteher ist jetzt Ihr Mann.« Fritz Mittag war in seinem Element. Marie hob den Kopf. »Max Haussmann war mein eigentliches Leben, auch wenn wir nur einen Tag verheiratet waren. Unser gemeinsames Leben lag davor.« Fritz Mittag unterbrach sie. »So genau wollte ich es gar nicht wissen.« Marie runzelte die Stirn, während sie nach einer passenden Antwort suchte. Fritz Mittag beeilte sich einzulenken. »Ich komme demnächst abends zu einem Wein in das rote Lokal.« »Es heißt jetzt Teilbar«, korrigierte Marie den Kommissar. »Wir würden uns freuen, wenn Sie unseren Betrieb beehrten«, sagte die Barchefin förmlich. Fritz Mittag hatte bereits abgedreht und ging ruhigen Schrittes auf den Eingang zu. Er spürte Maries Blick in seinem Rücken und drehte sich noch einmal um. »Ich werde die Kollegin Friedberger grüßen«, rief er ihr noch über die Schulter zu. Mit der Nachwuchskommissarin bildete Fritz Mittag ein Team, eigentlich war sie eher seine Leibeigene. Er nutze es aus, dass er sie aus dem Streifendienst des 3. Reviers befreit hatte. Beim Betreten des Gebäudes stutze Fritz Mittag. Stand nicht der Privatwagen von dem geschätzten Kollegen Viktor Varis links neben dem Eingang? Varis war der letzte, dem er heute begegnen wollte. Dem zweiten Hauptkommissar im Dezernat für Gewaltverbrechen schenkte er auch an gewöhnlichen Werktagen keine Beachtung. Sollte Viktor Varis doch sehen, wie er klar kam. Die beiden Kommissare gingen sich aus dem Weg, so gut es ging. Varis äußerte sich gelegentlich abfällig über Mittags Verbindung zu dem Präsidenten. Mittag hielt Varis für einen Stubenhocker, der gern bequem am Schreibtisch mit Daten operierte. Es reichte, wenn sie sich montags in der wöchentlichen Lagebesprechung trafen.