Schwärzer als die Nacht - Gallert & Reiter - E-Book

Schwärzer als die Nacht E-Book

Gallert & Reiter

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Beschreibung

Wenn deine Vergangenheit dich einzuholen droht … Das Retten von verlorenen Seelen ist sein Beruf … Ein Polizist steht auf dem Geländer der Duisburger Rheinbrücke, bereit, sich in den Tod zu stürzen. Nur in letzter Sekunde kann Seelsorger Martin Bauer ihn retten, indem er selbst in die eisigen Fluten springt. Am nächsten Tag ist Walter Keunert dennoch tot. Seine Kollegen gehen sofort von Selbstmord aus, zumal der Beamte erst kürzlich wegen Korruption unter Verdacht stand – aber Bauer hat seine Zweifel. Gemeinsam mit der Kripobeamtin Verena Dohr taucht er in Keunerts Vergangenheit ein – und stößt schon bald auf ein dunkles Netz aus Schuld und Lügen, das nicht nur ihn in tödliche Gefahr bringen wird … »Ein spannender Krimi, der lange nachwirkt – von mir eine klare Empfehlung!« Nele Neuhaus Der Auftakt der packenden Duisburger Krimireihe von dem Autorenduo Gallert & Reiter – für alle Fans von Andreas Franz. In Band 2 findet Bauer eine mit Honig übergossene Leiche in einem stillgelegten Bergwerkschacht. Die Handschrift eines bekannten Serienmörders – doch dieser sollte bereits tot sein … »Ein tolles Buch. Es gehört wahrlich in die ›Edition Kopfkino‹« Lovelybooks-Leser »Spannender, temporeicher Krimi. Absolut empfehlenswert.« Amazon-LeserIn

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Seitenzahl: 490

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Über dieses Buch:

Das Retten von verlorenen Seelen ist sein Beruf … Ein Polizist steht auf dem Geländer der Duisburger Rheinbrücke, bereit, sich in den Tod zu stürzen. Nur in letzter Sekunde kann Seelsorger Martin Bauer ihn retten, indem er selbst in die eisigen Fluten springt. Am nächsten Tag ist Walter Keunert dennoch tot. Seine Kollegen gehen sofort von Selbstmord aus, zumal der Beamte erst kürzlich wegen Korruption unter Verdacht stand – aber Bauer hat seine Zweifel. Gemeinsam mit der Kripobeamtin Verena Dohr taucht er in Keunerts Vergangenheit ein – und stößt schon bald auf ein dunkles Netz aus Schuld und Lügen, das nicht nur ihn in tödliche Gefahr bringen wird …

Über die Autoren:

Peter Gallert wurde 1962 in Bonn geboren. Ein Germanistikstudium brach er erfolgreich ab, er jobbte als Nachtportier und Bauarbeiter, spielte Theater, schrieb Jerry Cotton-Krimis und Synchronbücher. Seit zwanzig Jahren arbeitet er als Drehbuchautor für TV-Serien von Krimi bis Krankenhaus. Er ist Karate-Kindertrainer, hat drei Töchter und lebt in Köln.

Jörg Reiter, 1952 in Düsseldorf geboren, studierte Ethnologie, Malaiologie sowie Film und Fernsehwissenschaften, gefolgt von einem Forschungsaufenthalt bei Seenomaden und einer zweijährigen Feldforschung bei Bergstämmen in den Nordphilippinen. 1986 promovierte er im Fach Ethnologie; 1991 wechselte er von der Wissenschaft zum Erzählen. Seit zwanzig Jahren arbeitet er als Drehbuchautor. Er lebt in Köln.

Gallert & Reiter veröffentlichten bei dotbooks ihre Duisburger Krimi-Trilogie um den Seelsorger Martin Bauer:

»Schwärzer als die Nacht«

»Tiefer denn die Hölle«

»Dunkler als die Schuld«

Die Website der Autoren: gallertreiter.de/

***

eBook-Neuausgabe Oktober 2024

Dieses Buch erschien bereits 2017 unter dem Titel »Glaube Liebe Tod« bei Ullstein, Berlin.

Copyright © der Originalausgabe 2017 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Stefan Hilden, HildenDesign unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock.com

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ah)

ISBN 978-3-98952-496-5

***

dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Gallert & Reiter

Schwärzer als die Nacht

Kriminalroman

dotbooks.

Kapitel 1

Er schwitzte. Der Kragen der Uniformjacke scheuerte an seinem Hals. In den Fingern hatte er kein Gefühl mehr. Die Kälte war aus dem Metall in seine Hände gekrochen und fraß sich nun in die Knochen. Er schaffte es nicht loszulassen. Aber das musste er auch nicht. Irgendwann würden seine verkrampften Muskeln schon aufgeben. Er starrte in die Tiefe. Der Fluss zog gleichgültig in Richtung Meer. Ein Boot der Wasserschutzpolizei hielt seine Position gegen die starke Strömung. Es sah aus wie das Spielzeug, das er seinem Sohn einmal zu Weihnachten geschenkt hatte. War das wirklich schon zwölf Jahre her?

Es herrschte Stille auf der Brücke. Vollsperrung in beide Richtungen, mitten in der Rushhour. Wahrscheinlich hatte er das halbe Ruhrgebiet lahmgelegt. Er konnte die Kollegen nicht hören, sie hielten den Abstand, den er gefordert hatte, aber er wusste, dass sie ihn verfluchten. Wieder Überstunden, wieder einmal zu Hause anrufen: Schatz, es wird später. Wie lange hielt eine Ehe das aus? Wie lange hatte seine das ausgehalten? Wann war sie zerbrochen? Warum hatte er es nicht gemerkt? Er hatte keine Ahnung.

Dann hörte er wieder ein Martinshorn. Er blickte sich um. Ein Zivilfahrzeug mit Aufsetzblaulicht jagte über den Standstreifen auf die Brücke zu. Wen karrten sie jetzt noch ran? Einen Psychofritzen? Nein, der Mann, der aus dem Auto sprang, trug ebenfalls Uniform. Egal, es spielte keine Rolle mehr. Keunert lehnte sich weiter vor, die Unterkante des Geländers schnitt in seine Achillessehnen. Er stand auf der falschen Seite. Und er konnte nicht mehr zurück.

Am Anfang hatte Martin Bauer versucht, Gott einen Handel unterzuschieben: weniger Tote, weniger Zigaretten. Die Toten waren in all den Jahren nicht weniger geworden. Trotzdem hielt sich Bauer bis heute an sein Versprechen. Tage ohne Sterben, ohne Todesnachricht waren für ihn Tage ohne Zigaretten.

Der Mann auf der Brücke lebte – noch: Walter Keunert, Polizeimeister, verheiratet, ein Kind. Bauer ließ sich über Funk die Personalakte vorlesen, während Verena Dohr den Dienstwagen über den Standstreifen der A 40 jagte, vorbei an dem kilometerlangen Stau. Gesichter wischten vorüber. Bauer glaubte, den Ärger in ihnen erkennen zu können. Er beendete das Funkgespräch.

»Nicht viel, womit ich arbeiten kann«, stellte Bauer fest.

»Es muss reichen.« Die junge Hauptkommissarin bremste hart ab. Sie kamen am Anfang der Brücke zum Stehen, keinen Meter vor den quergestellten Streifenwagen. Bauer sprang aus dem Auto, ehe Verena den Motor abgestellt hatte. Die Beamten nickten ihm zu. Einige kannte Bauer seit Jahren. Die anderen reagierten auf seine Jacke. Sie unterschied sich nur durch die Schulterklappen von ihren Uniformen: zwei kleine Kreuze anstelle von Dienstgradsternen. Die Polizisten im Revier respektierten Bauer. Es hatte eine Weile gedauert, aber er war einer von ihnen geworden. Er kannte ihre Dämonen. Es waren längst auch seine.

Der Einsatzleiter löste sich aus der Gruppe und kam auf ihn zu. Doch Bauer schüttelte nur den Kopf und eilte zwischen den Streifenwagen hindurch.

»Soll ich mitkommen?«, hörte er Verena rufen.

»Nein.« Er drehte sich nicht um. Keunert stand auf dem Scheitelpunkt der Brücke, auf der falschen Seite des Geländers. Aus der Entfernung war es nur eine winzige Bewegung, doch Bauer war sicher: Der Polizeimeister lehnte sich nach vorn. Bauer fing an zu rennen. Er hatte die Brücke schon unzählige Male mit dem Auto überquert, im fließenden Verkehr, in nicht mal einer Minute. Doch nun war sie leer. Er war allein. Er spürte das Dröhnen seiner Schritte auf dem Asphalt. Die Steigung, die er im Auto nie bemerkt hatte, kam ihm auf einmal wie ein Berg vor, die Fahrspurmarkierungen, die sonst in einem Wimpernschlag vorbeiflogen, kosteten ihn bald schon mehrere keuchende Atemzüge, die Fahrbahn wirkte breiter als der Fluss unter ihnen, und der Weg bis zu dem Mann, der sich seinem Tod entgegenlehnte, schien endlos. Bauer lief am Limit.

Aber das Gefühl, auf der Stelle zu treten, wuchs mit der Angst, zu spät zu kommen. Dieses Rennen konnte er nicht gewinnen. Nicht so. Abrupt verlangsamte er sein Tempo. Er sah, dass Keunert ihn beobachtete. Gut. Er spürte die irritierten Blicke der Beamten in seinem Rücken. Egal. Bauer ging nun nur noch, zügig, aber ohne Hast, und mit jedem Schritt wurde sein Atem ruhiger. Er wurde ruhiger.

Als er die Mitte der Brücke erreichte, hatte er keine Angst mehr. Noch zehn Meter. Keunert ließ ihn nicht aus den Augen. Noch fünf.

»Bleiben Sie stehen!«

Bauer setzte über die Seitenleitplanke hinweg.

»Ich meine es ernst!«

Bauer blieb stehen, direkt am Brückengeländer, keine drei Meter mehr von Keunert entfernt. Er sah den Schweiß auf der Stirn des Polizisten, den dunklen Rand am Kragen seiner Jacke, die weißen Knöchel seiner verkrampften Hände auf dem Geländer. Unter den geröteten Augen lagen tiefe Schatten, als hätte er lange nicht geschlafen. Oder lange getrunken. Aber der Blick war klar.

Bauer kannte den Mann. Er war nicht gut mit Namen, aber ein Gesicht vergaß er nie. Dieses hier hatte er erst vor einer Woche gesehen. Bei einer Razzia in einem Bordell im Vulkanviertel hatte sich eins der Mädchen aus dem Fenster gestürzt. Sie war vier Stockwerke tief gefallen und direkt vor den Füßen eines Polizeimeisteranwärters auf der Straße aufgeschlagen. Sie starb in seinen Armen, ohne noch einmal das Bewusstsein zu erlangen. Man hatte Bauer gerufen. Als er ankam, kümmerte sich ein erfahrener Beamter um den Neuling. Bauer hatte nicht nach dem Namen des Älteren gefragt. Jetzt wusste er ihn: Keunert.

»Wie geht es Ihrem jungen Kollegen?«

»Fragen Sie ihn selbst«, gab Keunert zurück. »Hauen Sie ab, und fragen Sie ihn!«

Bauer blickte in die Tiefe. »Warum nehmen Sie nicht Ihre Knarre? Das wäre sicherer.«

»Haben Sie mal gesehen, was das für eine Sauerei macht?«

Bauer nickte langsam. »Letzte Weihnachten, bei einem kleinen Mädchen. Oben in Marxloh.«

Eine Familientragödie, der Fall hatte Schlagzeilen gemacht.

»Sie waren da?« Keunert wirkte fast betroffen. »Ein Kollege von uns auch. Tut mir leid für Sie.«

»Ihnen muss doch nichts mehr leidtun.«

Keunert schnaubte. »Sie haben keine Ahnung.« Er starrte aufs Wasser.

»Erzählen Sie’s mir!«

Keunert schwieg. Seine Kiefermuskeln arbeiteten. Dann blickte er Bauer an und sagte ganz ruhig: »Sie sollten jetzt wieder gehen.«

Bauer sah es in den Augen des Mannes auf der anderen Seite des Geländers: Es gab für ihn nur noch einen Weg – den in die Tiefe. Ohne nachzudenken, zog Bauer seine Jacke aus.

»Was machen Sie da?«

Bauer legte seine Hände fest um das Geländer. Es war kalt. Er stemmte sich hoch und hob ein Bein darüber.

»Was soll der Scheiß?«

Dann zog er das zweite Bein hinterher und ließ sich auf der anderen Seite wieder hinunter. Nur seine Fußspitzen fanden Halt auf dem schmalen Sims.

»Sind Sie verrückt?«

Bauer drehte sich zum Wasser. Er musste umgreifen. Als er eine Hand löste und sich herumschwang, spürte er den Sog der Tiefe fast angenehm schwer im Bauch. Mit der freien Hand erwischte er knapp das Geländer hinter sich und krallte seine Finger darum.

»Sie sind verrückt!«

»Und Sie trauen sich nicht loszulassen«, gab Bauer zurück. »Sie warten drauf, dass Sie sich nicht mehr halten können, stimmt’s? Sie haben eine Scheißangst.«

»Sie nicht? Glauben Sie, Ihr Gott beschützt Sie?«

»Glauben Sie, es gibt einen?«

Keunert sah Bauer irritiert an. »Sie sind der Pfaffe, sagen Sie’s mir!«

Bauer zuckte mit den Schultern. »Wir werden sehen.« »Wieso wir?«

Bauer antwortete nicht. Er blickte hinunter auf den Fluss. Er war verdammt weit unten. Stumm standen die beiden Männer vor ihrem Abgrund. Alles schien innezuhalten, nur das Wasser strömte dahin, gleichmäßig und unaufhaltsam. Bauer hätte nicht sagen können, ob Sekunden oder Minuten vergangen waren, als das Polizeiboot warnend sein Signalhorn ertönen ließ. Er hörte den Frachtkahn, bevor er unter seinen Füßen auftauchte. Der Partikulier machte große Fahrt, der Schiffsdiesel pumpte hart und in einem Rhythmus mit Bauers Herz. Dann war der Kahn vorübergezogen, und es wurde wieder still.

»Sie sind kein Selbstmörder«, sagte Bauer. »Selbstmörder sind Egoisten. Junge oder Mädchen?«

»Was?«

»Sie wollen als Leiche nicht aussehen wie eine Schlachtplatte. Den Anblick wollen Sie Ihrem Kind ersparen. Ist es ein Sohn oder eine Tochter?«

Keunert schluckte. Bauer hatte einen Treffer gelandet.

»Sohn«, presste Keunert hervor. »Fünfzehn. Er braucht mich nicht mehr.«

»Das ist Blödsinn.«

Keunert schwieg.

»Sie wollen doch gar nicht sterben«, sagte Bauer.

»Ich springe trotzdem.«

»Aber Sie werden nicht sterben.«

»Was soll das heißen?«

»Sie sind Polizist ...«

»War ich vielleicht mal«, unterbrach Keunert ihn bitter.

Doch Bauer schüttelte unbeirrt den Kopf. »Das wird man nicht los. Nicht einer wie Sie. Sie retten mich.«

»Wie, retten? Was reden Sie für einen Müll?«

»Ich hoffe, Sie sind ein guter Schwimmer. Ich bin’s nämlich nicht.« Bauer versuchte ein Lächeln und ließ das Geländer los. Keunerts Augen weiteten sich vor Schreck. Einen kurzen Moment stand Bauer in der Schwebe. Dann sprang er ab.

Fassungslos sah Keunert, wie der Polizeipfarrer in die Tiefe stürzte, wie er mit den Armen ruderte und, nach einem viel zu langen Fall, aufrecht und mit den Füßen voran die dunkle Oberfläche des Flusses zum Platzen brachte.

Keunert keuchte. »So ein Arschloch!«

Dann sprang er hinterher.

Verena Dohr hatte ein ungutes Gefühl, als sie sah, wie Bauer auf halbem Weg seinen Spurt abbrach und ins Schritttempo verfiel. Aber sie gab nichts auf Gefühle. Sie hielt sich an Fakten. Damit konnte sie umgehen.

»Ihr Priester macht ja schon schlapp«, spottete der Einsatzleiter neben Verena. Er war doppelt so alt wie sie.

»Schnauze.«

Der Polizist sah die junge Kripokollegin ungläubig an. Ein kurzer Blick von ihr erstickte seinen Protest.

»Er ist nicht mein Priester«, sagte Verena. »Und er weiß, was er tut.«

Sie heftete ihre Augen wieder auf Bauer. Alle beobachteten, wie er über die Brücke spazierte, niemand sagte ein Wort. Endlich erreichte er den Selbstmörder. Kurz darauf streifte er seine Jacke ab – und kletterte ebenfalls über das Geländer.

»Sind Sie sicher?«, knurrte der Einsatzleiter.

Diesmal schenkte Verena ihm nicht einmal einen Blick. Was zum Teufel hatte Bauer vor? Im selben Moment wusste sie es. Sie drehte sich um und rannte auf den Rettungswagen zu.

»Mitkommen!«, schrie sie die Sanitäter an. Ohne anzuhalten, lief sie zur Fußgängertreppe, die hinunter zum Flussufer führte.

Der Einsatzleiter blickte ihr irritiert nach. Dann hörte er das bestürzte Raunen der Kollegen. Er drehte sich wieder um. Auf der Brücke war niemand mehr zu sehen.

Bauer kotzte Rheinwasser auf die Uferböschung. Verena stand daneben und sah zu. In ihrer Miene fand sich nicht eine Spur Mitleid. Ein Sanitäter stützte den völlig durchnässten Polizeiseelsorger.

»Jawoll, immer raus damit. Gibt eh nur Dünnschiss.«

Bauer würgte, bis nur noch Bitteres kam.

»Tief durchatmen und an was Schönes denken, das hilft!« Fast mütterlich strich der Sani Bauer über den Rücken. Keuchend richtete Bauer sich auf.

»Langsam! Besser, Sie setzen sich erst mal hin.«

Bauer schüttelte den Kopf. Reden konnte er noch nicht.

»Okay, aber kippen Sie mir bloß nicht um!«

Der Sanitäter legte ihm eine Wärmefolie um die Schultern. Bauer ignorierte Verenas düsteren Blick und sah sich nach Keunert um. Der stieß gerade den anderen Sanitäter weg und stampfte tropfnass auf Bauer zu.

»Sie verdammter Irrer! Was zur Hölle haben Sie sich dabei gedacht?«, schrie er Bauer an.

»Das wüsste ich auch gern«, mischte sich Verena ein. Bauer überhörte sie.

»Sie leben«, presste er hervor.

»Arschloch!« Keunert spuckte die Worte aus. Dann drehte er sich weg und ging davon.

Verena sah ihm verdutzt nach. »Hey! Hiergeblieben!«

Sie wollte Keunert folgen, doch Bauer griff nach ihrem Arm. »Lassen Sie ihn!«

»Ist das Ihr Ernst? Wer sagt, dass er nicht gleich wieder auf die Brücke klettert und es noch mal versucht?«

Bauer schüttelte den Kopf. »Dazu ist er zu wütend.« »Das bin ich auch!«

Hinter Verena kam der Einsatzleiter mit zwei Kollegen von der Wasserschutzpolizei heran, von denen einer ebenfalls völlig durchnässt war. Keiner der Männer machte ein besonders freundliches Gesicht. Bauer lächelte Verena schief an. »Fahren Sie mich nach Hause?«

Die Uferböschung kam Bauer noch hoch. Zwar schaffte er die steilste Stelle nur auf allen vieren, aber außer Verena bekam das niemand mit. Der Einsatzleiter und die Wasserschutzpolizisten beachteten ihn nicht mehr. Verena hatte die drei in eine Debatte über ihre Zuständigkeiten manövriert, ehe sie richtig auf Bauer losgehen konnten. Nun standen sie am Ufer und stritten, wer den Bericht schreiben sollte. Einig waren sie sich allerdings darin, dass der Polizeiseelsorger vollkommen irre war.

Auf der steilen Betonwendeltreppe hinauf zur Brücke war Bauer dann mit seiner Kraft am Ende. Seine Kleidung klebte kalt auf der Haut, jeder Atemzug schmerzte, und seine Beine zitterten so sehr, dass er anhalten musste. Verena, die hinter ihm ging, sagte nichts. Sie stand nur da, eine Stufe unter ihm, bereit, ihn aufzufangen. Obwohl sie fast einen Kopf kleiner und bestimmt zwanzig Kilo leichter war als er, zweifelte Bauer nicht daran, dass sie ihn halten würde.

»Ich sollte wieder mehr Sport machen«, presste er entschuldigend hervor.

»Wie wär’s mit Turmspringen?«, schlug Verena vor.

Bauer musste lachen. Sein Zwerchfell krampfte sich zusammen. Stöhnend krümmte er sich. Im nächsten Augenblick spürte er Verenas Arm unter seinem. Sie hielt ihn mit festem Griff. Mühsam brachte er seinen Atem unter Kontrolle.

»Geht’s?« Verenas Miene war ernst. Bauer nickte, aber sie hielt ihn bis zur letzten Stufe untergehakt.

Auf der Autobahn rollte der Verkehr wieder an. Die Polizisten hatten ihre Einsatzfahrzeuge beiseitegefahren und winkten die Autos vorbei. An Verenas Dienstwagen wartete ein grauhaariger Beamter mit müdem Gesicht. Über seinem Unterarm lag eine Uniformjacke. Sie hatte kleine Kreuze auf den Schulterklappen.

»Danke«, sagte der Grauhaarige, schüttelte Bauer fest die Hand, gab ihm die Jacke und ging ohne ein weiteres Wort zu seinen Kollegen.

Bauer zog die Jacke an. Dann stiegen der Polizeiseelsorger und die Hauptkommissarin in den Wagen und überquerten die Brücke in weniger als einer Minute.

Sie fuhren schweigend. Bauer sah aus dem Fenster. Die Schlote der Sachtleben Chemie zogen vorbei. Es wurde dunkel. Er fror. Sein Körper schmerzte. Er hatte sein Leben riskiert. Er hatte ein Leben gerettet. Er fühlte sich leer.

Die ›Weißen Riesen‹ kamen in Sicht, zwanzig Stockwerke hohe Bausünden in einem Wohnpark aus den Siebzigern, für die eine alte Bergarbeitersiedlung zur Hälfte plattgemacht worden war. Verena bog ab in die andere Hälfte. Kleine Alleen mit knorrigen Bäumen und soliden, englisch anmutenden Ziegelhäusern mit grünen Vorgärten. Vor einem stoppte Verena. Licht schien warm aus den Fenstern im Erdgeschoss. Der Wagen seiner Frau stand in der Einfahrt. Das Fahrrad seiner Tochter lag mitten auf dem Weg zur Haustür. Bauer war zu Hause.

Verena stellte den Motor ab. »Ihnen ist klar, dass Ihre Aktion heute einen Riesenärger geben wird? Lutz wartet schon lange auf die Chance, Sie abzuschießen.«

»Kann er nicht. Er ist nicht mein Chef.«

»Aber meiner, verdammt!«

»Sie haben nichts falsch gemacht.«

»Ich habe Sie hinzugezogen!«

»Ich sage, dass ich zufällig vorbeigekommen bin. Die Brücke liegt auf meinem Weg zum Präsidium.«

»Einen Scheiß tun Sie! Ich brauche keine Rückendeckung, von Ihnen schon gar nicht!«

Bauer sah die Hauptkommissarin ratlos an. Ihre Augen funkelten vor Wut. »Warum sind Sie eigentlich so sauer auf mich?«

»Bin ich nicht. Ich habe nur keine Lust, mich an den nächsten Spinner aus Ihrem Verein zu gewöhnen. War bei Ihnen schon anstrengend genug.«

Bauer lächelte.

»Hören Sie auf zu grinsen«, schnauzte Verena und startete den Motor. »Raus jetzt!«

Bauer stieg aus. Verena fuhr so rasant los, dass die Beifahrertür zuklappte, noch bevor er sich bedanken konnte. Auf dem Weg zur Haustür hob er ächzend das Fahrrad seiner Tochter auf und stellte es ordentlich ab. Durch das Küchenfenster sah er seine Frau. Sie telefonierte. Dabei ging sie umher. Das war normal, Sarah erlebte man selten im Stillstand. Nicht normal waren die steilen Falten auf ihrer Stirn. Die hatte sie nur, wenn sie sich ärgerte. Oder sorgte. Bauer zögerte. Dann ging er am Hauseingang vorbei in den Garten.

Kapitel 2

Tilo Keunert war wütend. Das war er in letzter Zeit eigentlich immer. Auf seinen Vater. Auf seine Mutter sowieso. Auf alles. Auf das ganze Scheißleben.

Jetzt gerade war er wütend auf sich selbst. Zwanzig Mal hatte er auf den Korb geworfen, zwanzig Mal hätte der Ball drin sein müssen. Höhe, Winkel, Backspin – alles passte. Bis auf die Wut, mit der er den Ball gegen das Brett knallte.

Sie spielten zwei gegen zwei, Tilo und Tomaso gegen Özgür und Kalle.

Ein neuer Angriff. Tomaso passte den Ball zu Tilo. Özgür blockte den direkten Weg zum Korb, Kalle deckte Tomaso. Tilo prellte den Ball zwischen den eigenen Beinen hindurch und hinter dem Rücken wieder zurück. Die Bewegung lief wie von selbst, Tilo musste nicht mal hinsehen. Ein perfekter Moment.

Özgürs Arm schoss nach vorn. Mit einer Körpertäuschung tauchte Tilo aus dem Zentrum des Basketballkäfigs, das von der letzten intakten Parklaterne halbwegs erhellt wurde, in das umgebende Halbdunkel.

Tomaso gelang es, sich von Kalle zu lösen. Sein Weg zum Korb war frei.

»Hier, Alter!« Er winkte Tilo zu. Tilo reagierte nicht. Er wollte noch so einen perfekten Moment.

Özgür hatte ihn am Rand des Spielfeldes gestellt. Er war einen Kopf größer als Tilo und gut bepackt mit Fitnessstudiomuskeln. Dafür war Tilo flink und beweglich.

Mit kurzen Dribblings und Körpertäuschungen brachte Tilo Özgür aus dem Gleichgewicht. Aber Özgür war heute gut in Form. Tilo kam nicht an ihm vorbei.

»Vergiss es«, keuchte Özgür.

Hinter sich hörte Tilo Tomaso fluchen – wo blieb der Pass, verdammt noch mal?

Das Fluchen, Keuchen und das trockene Geräusch des Balls auf dem Asphalt war alles, was in dem räudigen Stückchen Grünanlage zu hören war. Um diese Uhrzeit hockte in der Siedlung jeder vor dem Fernseher – die Feierabend hatten, und die Hartzer sowieso.

»Was soll der Scheiß?! Spiel ab!« Tomaso wurde langsam sauer. Er wollte mitspielen. Dabei machte er pro Spiel höchstens zwei oder drei Körbe.

Plötzlich reichte es Tilo. Scheiß auf den perfekten Moment. Er stürmte frontal auf den überraschten Özgür zu und rammte ihm die Schulter in den Solarplexus. Özgür ging zu Boden.

Mit drei Schritten war Tilo am Korb. Er stieg in die Luft. Der Ball traf das Brett an der richtigen Stelle, aber natürlich viel zu hart. Kalle pflückte ihn direkt aus der Luft und machte den Punkt.

Özgür lag auf dem Boden und rang nach Luft. »Scheiß Azzlack ...!«

Tilo zuckte mit den Achseln. »Sorry.« Er hob den Ball auf. Tomaso marschierte stinksauer auf ihn zu, schlug ihm den Ball aus der Hand.

»Ich hab kein Bock mehr auf den Kack! Spiel allein!« Er kickte den Ball über das fünf Meter hohe Gitter, rempelte Tilo aus dem Weg und ging zu der graffitibeschmierten Bank, die am Rand des Spielfelds festgeschraubt war. Er nahm seine Jacke.

Özgür kam mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Beine.

»Azzlackarsch!«

»Jetzt komm ...«, sagte Tilo besänftigend.

»Fick dich!«

»Kino?« Kalles Frage richtete sich nur an Özgür und Tomaso. Tilo stand trotzig unter dem Korb und sah zu, wie sie ihre Jacken überstreiften.

Özgür zog theatralisch seine Hosentaschen auf links.

»Chill, Alter.« Kalle grinste. »Heute ist free ride.«

Kalle hatte eine Freundin, die im UCI jobbte und ihnen manchmal einen Notausgang aufschloss. Einmal waren sie erwischt worden. Der Manager hatte die Bullen gerufen. Sie waren auf der Wache gelandet. Hätte sein Alter Dienst gehabt, wären sie nicht so glimpflich davongekommen. Aber der Diensthabende kannte ihn und hatte den Manager überredet, keine Anzeige zu erstatten.

Ohne Tilo eines weiteren Blicks zu würdigen, stapften die drei Jungen aus dem Käfig.

Scheiß drauf. Tilo kickte einen Colabecher zurück in die Käfigecke, wo der Wind immer den Fastfoodmüll zusammenwehte.

Mürrisch stolperte Tilo zwischen den Sträuchern herum. Es war zu dunkel, er würde ihn nicht finden. Egal. Der Ball war sowieso ein Geschenk gewesen.

Eigentlich wurde der Käfig abends abgeschlossen. Aber die Jugendlichen hatten das Schloss so oft geknackt, dass das Grünflächenamt schließlich aufgegeben hatte. Nur ein paar chronisch genervte Anwohner fühlten sich vom Treiben im Käfig gestört und beschwerten sich regelmäßig beim Bezirksdienst der Polizei. Ab und zu rückte dann ein Streifenwagen an. Wenn die Beamten schnell genug waren, konfiszierten sie den Ball. Der lag dann auf der Wache herum, bis ihn einer der Beamten mit nach Hause nahm. Mit so einem Ball hatten die Jungen gespielt. Tilo hatte ihn mitgebracht.

Was jetzt? Nach Hause? Schon der Gedanke machte ihn krank. Noch zwei Jahre Schule, dann war er da endgültig weg. Falls er es überhaupt aushielt, so lange zuzusehen, wie sich sein Vater fertigmachen ließ. Sollte er selbst irgendwann mal so werden, würde er sich die Kugel geben.

Als Tilo aus der Grünanlage auf den Gehsteig trat, war die Straße menschenleer. Er blieb auf der Parkseite, wo es dunkler war. Er hatte es nicht eilig. Nur zweimal um die Ecke und mit dem Aufzug hoch in die letzte Etage, dann war er zu Hause.

Zu Hause ...

Die Dreizimmerwohnungen in der Siedlung waren alle gleich geschnitten. In allen Wohnungen stand der Fernseher an der gleichen Stelle. Überall schimmerte das gleiche bleiche Flackern durch die Gardinen. Er fragte sich, wie es wohl wäre, in einem anderen Land zu leben. Irgendwo im Süden, wo abends alle draußen auf den Straßen waren. Und wirklich lebten.

Tilo hatte den Mann nicht bemerkt, der ihn schon seit geraumer Zeit beobachtete. Jetzt bewegte er sich parallel zu Tilo lautlos durch den dunklen Park und ließ ihn nicht aus den Augen.

Wenn er morgen aus der Schule kam, wäre der Basketball bestimmt weg, überlegte Tilo. So what. Die anderen hatten vorerst bestimmt keinen Bock mehr, mit ihm zu spielen. Sollten sie sich selbst einen Ball organisieren. Sie hatten ja recht – er hatte sich mal wieder wie ein Oberarsch aufgeführt.

Am Morgen hatte seine Mutter seinem Vater die Hölle heißgemacht: Sie hätte genug von Zwei- und Drei-Sterne-Hotels, sie wollte fünf Sterne, in Marbella oder an der Côte, und wenn sein Vater nicht so dämlich wäre, könnten sie sich das auch leisten und so weiter und so weiter, die übliche Arie. Sein Vater hatte kein Wort gesagt. Er hatte sich nur seine Dienstschuhe zugebunden, als wäre es das Wichtigste auf der Welt. Im Hinausgehen hatte er sich noch mal umgedreht, sie beide komisch angesehen und leise erklärt, es tue ihm leid, alles. Dann war er gegangen. Was für ein Loser! Tilo hätte kotzen können.

Ein Rascheln ließ ihn den Blick heben. Zehn Meter vor ihm schob sich ein Mann durch die Büsche auf die Straße. Tilo konnte seine Augen nicht erkennen, dazu war es nicht hell genug, aber der Mann fixierte ihn, das war eindeutig, und steuerte auf ihn zu. Tilo musste an einen Boxer denken, der aus seiner Ecke kam. Er verspürte den Impuls wegzurennen. Aber wie sähe das aus, wenn der Typ harmlos war? Tilo wechselte die Straßenseite.

Aus dem Augenwinkel sah er, dass der Mann ebenfalls die Straßenseite wechselte. Scheiße. Sie waren nur noch ein paar Meter voneinander entfernt. Zum Wegrennen war es nun zu spät. Tilo hatte zwanzig Euro in der Tasche. Vielleicht, wenn er den Schein sofort rausrückte ...

Der Faustschlag kam blitzschnell und traf ihn hart wie ein Ziegelstein über dem rechten Auge. Er hörte seinen eigenen Schrei, dann katapultierte ihn ein zweiter knochenharter Schlag auf den Solarplexus in den luftleeren Raum. Tilo sackte zu Boden.

In einem oberen Stockwerk wurde ein Fenster geöffnet. Er sollte vielleicht um Hilfe rufen, schoss es ihm durch den Kopf. Aber dazu hätte er erst mal atmen müssen. Das Fenster wurde hastig wieder geschlossen.

Der Mann beugte sich zu ihm herunter. Timo roch schalen Atem, kalten Tabakrauch, abgestandenes Bier und Knoblauch. Er dachte daran, seinen Kopf zu schützen. Aber er bekam die Arme nicht hoch. Der Mann sagte etwas. Sein Akzent klang, als hätte er sogar an den Stimmbändern Muskeln. Tilo verstand ihn nicht. Der Mann sprach deutlicher.

»Du Rechtshänder?«

Komische Frage. Tilo nickte. Schwielige Finger schlossen sich wie ein Schraubstock um Tilos linkes Handgelenk.

»Gleich vorbei«, sagte der Mann ruhig.

Tilo hörte ein Geräusch, als wäre jemand auf einen trockenen Ast getreten. Ein glühender Schmerz schoss seinen Arm hinauf bis in seine Schulter. Der Mann drehte sich um und ging davon. Tilo zwang sich dazu, seine Hand anzusehen. Der linke Mittelfinger ragte in einem absurden Winkel zwischen den anderen Fingern nach oben. Dann wurde alles schwarz.

Kapitel 3

In diesem Moment hasste Sarah Bauer ihre Tochter. Das Gefühl erschreckte sie. Und sie schämte sich dafür, aber sie hatte es nicht zum ersten Mal. Sie wusste, wo es herkam. Sarah war niemand, der sich selbst belog. An ihr war alles gerade, ihre Figur, ihre Art, ihre Liebe.

Es lag nicht an Nina. Sarah betrachtete es fast als Job eines Teenagers, Grenzen zu überschreiten. Nina hatte eine Entscheidung getroffen – gegen die Ansage ihrer Eltern, für die Rettung der Welt. Der Mut ihrer Tochter hatte Sarah früher mit Stolz erfüllt. Heute machte er ihr Angst.

Fast eine Stunde lang hatte Sarah die Eltern von Ninas Freunden abtelefoniert. Dann wusste sie sicher, was sie erst nur befürchtet hatte: Ihre fünfzehnjährige Tochter war mit einer Gruppe Globalisierungsgegner nach Deauville gefahren, um gegen den G-7-Gipfel zu demonstrieren. Die Angst überfiel Sarah mitten in der Bewegung. Minutenlang stand sie still, die Hand mit dem Telefon hing in der Luft.

Es gab eine Regel, wenn ihr Mann im Einsatz war: keine privaten Anrufe auf seinem Diensthandy. Diese Regel hatte Sarah erst ein Mal gebrochen. Damals war Nina auf dem Schulweg von einem Auto angefahren und mit einem Riss in der Milz ins Krankenhaus eingeliefert worden. Trotzdem hatte Sarah allein vor dem OP gesessen. Während sie um das Leben ihrer Tochter bangte, begleitete Martin einen fremden Menschen, der auf irgendeiner Autobahn im Wrack seines Wagens eingeklemmt war, beim Sterben. Als Martin endlich kam, erwachte Nina aus der Narkose. Ihr erster Blick suchte ihren Vater. Sie wischte seine Tränen fort, sie war tapfer für ihn. Ihren Schmerz und ihre Angst bewahrte Nina für Sarah auf. Es war ungerecht. Nina liebte ihren Vater mehr als ihre Mutter. Er musste nichts dafür tun, nicht einmal da sein, wenn sie ihn brauchte. Sarah war eifersüchtig. Auch dafür schämte sie sich.

Die Nummer des Diensthandys hatte sie nie eingespeichert. Sie kannte sie auswendig. Sie wählte, ging ins Wohnzimmer und öffnete die Tür zum Garten. Kühle Luft strömte herein, darin ein Hauch von Zigarettenrauch. Sarah hörte das Klingeln noch vor dem Freizeichen. Ihr Mann saß unter dem Kirschbaum auf der Bank, auf der schon sein Vater gesessen hatte. Er holte sein Handy hervor. Das Display beleuchtete sein Gesicht. Er hatte eine Zigarette zwischen den Lippen. Dann blickte er in ihre Richtung. Sarah legte auf.

Es war zu dunkel, er konnte die Miene seiner Frau nicht erkennen. Aber er sah an ihrem Schritt, dass sich die steile Falte auf ihrer Stirn noch vertieft hatte. Als Sarah sich vor ihm aufbaute, nahm Bauer die Zigarette aus dem Mund.

»Erwischt.« Er lächelte vage in ihre Richtung.

»Nina ist weg.«

Der Satz ging auf ihn nieder wie ein Schlag. Bauer nickte langsam. »Ist sie mit der Gruppe gefahren?«

»Ja. Aber das überrascht dich nicht mal!«

»Wer soll denn die Welt retten, wenn nicht unsere Tochter?« Wieder versuchte er ein Lächeln. Es nützte nichts. Sarah wurde nur noch wütender.

»Sie ist fünfzehn!«

»Die anderen passen auf sie auf.«

»Wie denn, wenn sie zusammengeknüppelt werden?«

»Sarah, Deauville ist nicht Genua. So etwas passiert nicht noch mal.«

»Du hättest sie davon abhalten können! Wenn du es nur richtig versucht hättest!«

»Hätte ich nicht. Das weißt du.«

»Ja, weil sie so sein will wie du. Weil sie so ist wie du!«

»Ich dachte, du magst mich so, wie ich bin.«

Sie antwortete nicht.

»Komm, setz dich her«, bat er. »Ich kann dein Gesicht nicht sehen.«

Sarah blieb stehen. »Du bist ein Idiot!«

»Das höre ich heute nicht zum ersten Mal.« Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette, warf sie in das alte Einmachglas neben der Bank und verschloss es sorgfältig.

»Schwerer Tag?« Ihre Stimme hatte fast wieder den Klang, den Bauer liebte.

»Ich hatte schon schwerere.«

Sarah setzte sich auf seinen Schoß. Er legte den Kopf an ihre Schulter.

»Ich habe Angst«, hörte er sie leise sagen.

»Ich auch«, antwortete er genauso leise.

Dann schwiegen sie.

»Sag mal, ist deine Hose nass?«

Bauer zögerte. »Nicht nur die Hose.«

»Was ist passiert?«

»Das kannst du bestimmt morgen im Lokalteil lesen«, wich er aus. »Gehen wir rein? Mir ist schweinekalt.«

Später, als sie im Bett lagen und Bauer endlich den ruhigen Atem seiner Frau hörte, betete er.

Kapitel 4

Auf dem Gehweg stand ein Grablicht. Die Flamme schien zart durch die rote Plastikhülle. Mariana hätte die Kerze nicht bemerkt. Es gab zu viele Lichter in dieser Stadt, und jedes erschien Mariana wie ein Versprechen auf die Zukunft.

Als sie in Dortmund aus dem Billigflieger gestiegen war, lag der Himmel noch genauso grau über ihr wie in ihrem Dorf, das sie in aller Frühe verlassen hatte. Die Busfahrt hatte länger gedauert als der Flug, und die ganze Zeit hatte sie ihren Pass festgehalten. Wenn sie ihn öffnete und das kleine Foto betrachtete, um zu sehen, ob sie auch wirklich hübsch genug war, knarrten leise die Seiten, so neu war er. Sie hatte ihn sich selbst zu ihrem achtzehnten Geburtstag geschenkt. Am Flughafen in Craiova präsentierte sie ihn voller Stolz den Zollbeamten. Die Achtlosigkeit, mit der sie ihren größten Schatz befingerten, erschütterte sie. Als sie kurz darauf die Gangway zum Flugzeug erklomm, hatte sie es schon wieder vergessen. Seit Wochen fieberte sie diesem Moment entgegen – seit Lacrima wieder aufgetaucht war.

Bis zum Ende der achten Klasse war das Mädchen aus dem Nachbarort Marianas beste Schulfreundin gewesen. Danach trennten sich ihre Wege. Mariana hatte sich für das Liceu qualifiziert, Lacrima nicht. Die Freundinnen sahen sich nur noch selten. Dann gar nicht mehr, denn Lacrima verschwand. Niemand wusste, wohin. Die Eltern redeten nicht mehr über ihre Tochter. Es gab Gerüchte, sie sei nach Deutschland gegangen. Das hatte Mariana nicht glauben können, Lacrima war doch erst sechzehn. Dass es stimmte, erfuhr Mariana zwei Jahre später.

An dem Tag war ein schwarzer Geländewagen den Schotterweg zu ihrem Dorf heraufgekommen. Die Kinder entdeckten ihn zuerst und liefen nebenher. Das Luxusauto mit den dunklen Scheiben rollte durch das Dorf bis vor das Haus von Marianas Großeltern. Dort hielt es. Die Fondtür wurde geöffnet, und Lacrima stieg aus. In hochhackigen Schuhen und teuren Kleidern stand sie auf der staubigen Straße wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Angelockt vom Kindergeschrei, war Mariana aus dem Haus gekommen und hatte sie sofort erkannt, trotz der blonden glänzenden Haare. Sie waren sich in die Arme gefallen, Großmutter hatte dünnen Kaffee gekocht, und sie aßen Nussstrudel, den Lacrima mitgebracht hatte. Die Großmutter bat auch Lacrimas Fahrer auf ein Stück herein, aber der antwortete nicht einmal. Er blieb die ganze Zeit in seinem Auto sitzen, rauchte und starrte das Haus an. Mariana konnte ihn durch das Fenster sehen, aber bald beachtete sie den Mann nicht mehr.

Die beiden Freundinnen alberten und kicherten miteinander, als wären sie nie getrennt gewesen. Mariana musste den Dorftratsch der vergangenen zwei Jahre erzählen. Danach schwärmte Lacrima von ihrem Leben in Deutschland und ihrer Stelle als Kellnerin, und obwohl Mariana das gar nicht wollte, wurde sie neidisch. Hier fand niemand Arbeit, egal, wie gut der Schulabschluss war.

Dann wollte Lacrima zum Dorfbrunnen. Dort hatten sie früher immer gesessen. Kaum waren sie aus dem Haus, setzte sich auch der Geländewagen in Bewegung und folgte ihnen langsam in einigen Metern Abstand. Mariana fand das seltsam, aber Lacrima schien es gar nicht zu bemerken. Sie jagte auf ihren Stöckelschuhen den Kindern hinterher. Dann saßen sie auf der Brunnenmauer und ließen die Beine baumeln. Die Kinder verloren das Interesse und rannten weg, und sie waren allein. Lacrima sah plötzlich sehr müde aus und sagte etwas über den Geruch in der Luft, den sie vermissen würde. Mariana roch nur verschmortes Plastik. Es roch immer nach verschmortem Plastik, weil es keine Müllabfuhr gab und alle ihren Abfall auf den Feldern verbrannten. Mariana verstand nicht, wie man diesen Gestank vermissen konnte. Lacrima prustete los, als hätte Mariana den Witz des Jahrhunderts gemacht, und war mit einem Schlag so überdreht wie zuvor. Dann stellte sie Mariana die Frage, die alles änderte, und Mariana wäre fast in den Brunnenschacht gefallen.

Acht Wochen später stieg Mariana zum ersten Mal in ein Flugzeug. Die unterschwellige Angst, dass Lacrima ihr einen bösen Streich gespielt haben könnte, wurde von dem überwältigenden Gefühl verdrängt, dass nun ihr Leben begann. Ein schönes Leben ohne Müllgestank und mit Kleidern, wie Lacrima sie trug, mit fließendem Wasser, einem eigenen Zimmer, vielleicht sogar mit einer kleinen Wohnung mit Badewanne und Zentralheizung. Natürlich würde sie ihren Großeltern Geld schicken. Aber es würde immer noch genug übrigbleiben, das hatte Lacrima ihr versprochen. Sie musste es wissen, sie hatte Mariana das Flugticket geschickt, bezahlt vom Trinkgeld eines Abends, hatte sie geschrieben. Fast dreißig Euro hatte es gekostet, das waren über hundertdreißig Lei! Selbst Marianas Lehrer, der mehr verdiente als jeder andere, den sie kannte, kam kaum auf einen Tageslohn von hundert Lei, und das mit seinem kompletten Gehalt! Lacrima machte an einem einzigen Abend mehr Trinkgeld. Ja, Mariana würde so viel von ihrem Lohn nach Hause schicken, wie sie konnte. Aber das Trinkgeld, das würde sie für sich behalten.

Nach der Landung am Flughafen in Dortmund glomm erneut die Angst auf, weil der Himmel nicht blau war, wie er es doch hätte sein müssen, und weil Lacrima nicht da war. Mariana ging als Erste durch die unbesetzte Zollschleuse für EU-Bürger. Sie musste nicht auf ihr Gepäck warten, weil sie keins aufgegeben hatte. Sie hatte mit Lacrima ihre Kleidung durchgesehen, doch nur ein Jeans- rock und ein enger Pullover hatten Gnade vor den Augen der Freundin gefunden. Alles andere sei zu schäbig für ein Lokal, in dem nur die hübschesten Mädchen arbeiteten, erklärte Lacrima und sortierte sogar die Unterwäsche aus. Für die ersten Tage würde sie Mariana Sachen leihen, dann würden sie shoppen gehen.

Aber als Mariana voller Vorfreude durch die Automatiktür in die niedrige Ankunftshalle trat, war nichts von ihrer Freundin zu sehen. Die Angst hatte fast eine halbe Stunde lang Zeit zu wachsen, und als Lacrima endlich herangestöckelt kam, konnte Mariana sich kaum noch freuen. Auch von Lacrimas Übermut, den sie beim Wiedersehen vor vier Wochen gezeigt hatte, schien nichts übrig zu sein.

Sie sah nun nur noch so erschöpft aus wie in dem kurzen Moment am Brunnen. Wieder wurde sie von dem Mann begleitet, der sie ins Dorf gefahren und nicht aus den Augen gelassen hatte, wieder redete er kein Wort. Er schnaubte nur ungeduldig und nickte in Richtung Ausgang, als die Freundinnen sich zur Begrüßung umarmten. Augenblicklich löste sich Lacrima von Mariana und zog sie mit sich durch die Halle und sagte, sie müssten sich beeilen, der Chef wolle sie sehen.

Gleich vor dem Ausgang parkte ein schwarz schimmernder Mercedes. Lacrima ging darauf zu, schob Mariana auf den Rücksitz und kletterte hinterher. Mariana hatte noch nie in so einem teuren Auto gesessen. Es roch nach Leder und Holz, und als der stumme Mann seinen massigen Körper hinters Steuer wuchtete, auch nach Schweiß und Rasierwasser.

Sie fuhren sehr schnell über die Autobahn, die glatter und sauberer und dichter befahren war als alle Straßen, die Mariana kannte. Tausend Fragen wirbelten durch ihren Kopf, aber sie merkte, dass Lacrima nicht reden mochte. So blickte Mariana auf das vorbeisausende Land, das nun ihres werden sollte.

Nach einer Weile drehte Lacrima unsanft Marianas Gesicht zu sich, musterte es und schimpfte, weil sie nicht geschminkt war. Auch an ihrer Kleidung nörgelte sie herum, obwohl Lacrima doch Pullover und Rock selbst ausgewählt hatte und Mariana sogar eine neue Nylonstrumpfhose trug, das teuerste Kleidungsstück, das sie sich je gekauft hatte. Aber Mariana protestierte nicht, weil ihre Freundin so nervös war und sicher nur wollte, dass sie einen guten Eindruck auf den Chef machte. Lacrima holte ihr Schminktäschchen hervor und versuchte, Mariana zurechtzumachen. Das war schwierig. Der Stumme bremste oft hart ab und gab sofort wieder Gas, wenn er die langsameren Autos von der linken Spur gedrängt hatte. Doch dann staute sich der Verkehr, und schließlich standen sie. Lacrima konnte nun feine Lidstriche ziehen und Mariana die Wimpern tuschen und ihre Lippenkonturen nachzeichnen, und sie wurde ruhiger.

Der Stumme schaltete das Autoradio ein. Mariana bemerkte, dass er sie im Rückspiegel beobachtete. Sie mochte seine Augen nicht. Aber sie mochte das Lied, das im Radio lief. Pharell Williams sang, weil er glücklich war. Marianas Angst legte sich allmählich. Nach dem Song kam eine Verkehrsdurchsage. Mariana hatte in der Schule Deutsch als zweite Fremdsprache gehabt. Sie verstand, dass eine Brücke gesperrt war. Der Stumme grunzte wieder ärgerlich. Lacrima trug mit einem weichen Pinsel Puder auf Marianas Gesicht auf. Das kitzelte, und Mariana fing an zu kichern. Ihre Freundin mahnte sie barsch stillzuhalten. Schließlich ließ Lacrima den Pinsel sinken und betrachtete ihr Werk. Sie schien zufrieden zu sein, denn sie packte die Schminksachen wieder weg. Draußen wurde es allmählich dunkel. Mariana wagte zu fragen, wie weit es noch sei. Lacrima deutete durch das Seitenfenster und fragte Mariana, ob sie den großen Turm sehe. Im selben Moment flammte nicht weit entfernt vor dem dämmrigen Horizont eine unglaublich hohe Lichtsäule auf, erst blass, dann immer heller, in einem strahlenden Grün. Fasziniert fragte Mariana, was das sei.

»Der große grüne Schwanz«, antwortete Lacrima auf Deutsch und erklärte knapp, dort arbeiteten sie.

Mariana verstand nicht, was ›Schwanz‹ bedeuten sollte. Aber es kümmerte sie auch nicht. Das war das Zeichen, auf das sie gewartet hatte. Und es war besser als ein sonniger Himmel. Ihre Zukunft leuchtete! Mariana war in Deutschland, sie hatte eine Arbeit, und sie lächelte. Die Autos setzten sich wieder in Bewegung. Der Stumme steuerte die nächste Ausfahrt an. Immer mehr Lichter gingen an, Autoscheinwerfer, Straßenlaternen, Leuchtreklamen, aber keines strahlte so hell wie der grüne Turm, der immer höher in den Himmel wuchs, je näher sie ihm kamen.

Schließlich bogen sie in eine schmale Straße ab, die auf der einen Seite von schönen alten Häusern gesäumt wurde. Auf der anderen stand der Turm. Er ragte aus einem fabrikähnlichen Gebäude empor. Sie fuhren direkt an ihm vorbei. Mariana blickte durch die Heckscheibe auf ihn zurück, als sie plötzlich gegen die Rücklehne des Vordersitzes geschleudert wurde. Der Stumme machte mitten auf der leeren Straße eine Vollbremsung. Er stieß die Fahrertür auf, sprang aus dem Auto und lief auf ein rotes Grablicht zu, das vor einer Hauswand auf dem Gehsteig stand. Er trat auf das kleine Licht ein, als wollte er jemanden töten. Erschrocken blickte Mariana zu Lacrima, doch die zuckte nur mit den Schultern und mied ihren Blick. Als der Stumme endlich innehielt, klebte auf den Gehwegplatten eine weißliche Masse mit roten Splittern darin. Völlig ruhig setzte er sich wieder hinters Steuer und fuhr das Auto in die nächste Parklücke.

Sie stiegen aus. Jetzt erst sah Mariana die Reklame am Giebel des Hauses. Neonröhren zeichneten die Silhouette einer nackten Frau mit großen Brüsten an die Hauswand. Mariana stockte, doch Lacrima hielt sie fest an der Hand und zog sie zu einem Seiteneingang. Die Tür war aus Metall, in der Farbe der Hauswand gestrichen und hatte weder Klinke noch Knauf, nur ein Schloss, in das der Stumme einen Schlüssel steckte, den er an einer Kette aus der Hosentasche zog. Hinter der Tür führte eine Treppe hinunter in einen Kellergang. An den Wänden stapelten sich Getränkekästen und Kartons mit Sekt und härteren Spirituosen. Sie kamen an einer Kühlraumtür vorbei. Mariana entspannte sich wieder ein wenig. Das war eindeutig der Keller eines Lokals.

Am Ende des Gangs fiel Licht durch einen Türausschnitt. Lacrima ging darauf zu. In dem gekachelten Raum stand ein wuchtiger Holzschreibtisch auf einem Teppich, der auf dem nackten Betonboden lag. Hinter dem Schreibtisch saß ein Mann an einem Laptop. Sein Anzug schimmerte im selben Schwarz wie der Mercedes, aus dem Mariana gerade gestiegen war. Er blickte auf. Lacrima schob Mariana vor sich und raunte ihr dabei zu, das sei der Chef. Mariana lächelte den Chef an. Er musterte sie von oben bis unten, dann streckte er seine Hand aus. Lacrima sagte leise zu Mariana, sie müsse ihm ihren Pass geben. Mariana zögerte. Lacrima schubste sie vorwärts. Marianas billige Schuhe sanken tief in den Teppich. Sie holte ihren Pass hervor und reichte ihn dem Chef. Er steckte ihn, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen, in die Innentasche seines Jacketts. Dann nickte er dem Stummen zu.

Der Stumme ergriff Marianas Arm. Überrumpelt sah sie zu Lacrima. In den Augen ihrer Freundin schwammen nun Tränen, und sie schluchzte auf, es tue ihr leid. Dann riss der Stumme Mariana auch schon mit sich auf den Gang, öffnete eine Metalltür und stieß sie in einen kleinen Raum. Mariana taumelte und schlug mit den Knien gegen ein Bettgestell aus Eisen, aber sie blieb auf den Beinen. Sie begann zu schreien. Der Stumme schlug mit der Faust kurz und hart in ihre rechte Seite. Mariana sah ihn eine Sekunde lang fast verwundert an. In der nächsten Sekunde schrumpften ihre Eingeweide zu einem glühenden Klumpen zusammen, der alle Luft aus ihren Lungen und jede Kraft aus ihren Muskeln sog. Ihr wurde schwarz vor Augen, und ihre Knie knickten weg. Aber bevor sie auf den Boden schlug, packte der Stumme zu und warf sie bäuchlings auf die fleckige Matratze. Mariana rang verzweifelt nach Luft. Sie konnte sich nicht bewegen, sie hatte noch nie solche Schmerzen gehabt. Trotzdem spürte sie, wie ihr Rock hochgezerrt und ihre teure Strumpfhose heruntergerissen wurde. Da wusste sie, es würde noch schlimmer werden.

Kapitel 5

Er erwachte mit einem Kratzen im Hals und einem Gefühl von Schuld, das er nicht einordnen konnte. Kaffeeduft zog aus der Küche herauf. Gewöhnlich war Bauer als Erster auf den Beinen, um Frühstück für seine Frau und seine Tochter zu machen. Heute hatte er Mühe, aus dem Bett zu kommen. Er schleppte sich ins Bad. Die ausgetretenen Bodendielen ächzten unter jedem Schritt. Er fühlte sich älter als sie. Er duschte so heiß, wie er es gerade noch aushielt. Das dampfende Wasser wusch allmählich die Schmerzen aus seinen Muskeln. Bauer versuchte, sich daran zu erinnern, was er geträumt hatte. Vergeblich, die Bilder waren weg. Nur den Schrecken, aus der Welt zu fallen, spürte er noch. Und das Schuldgefühl. Er drehte das Wasser ab und hörte im selben Augenblick das Telefon.

Sarah telefonierte noch, als Bauer in die Küche kam. Sie war schon angezogen für die Arbeit, strahlte ihn an und formte mit den Lippen Ninas Namen. Er nickte seiner Frau zu, setzte sich zu ihr an den Tisch und merkte, wie erleichtert er war.

»Willst du ihn haben?«, fragte seine Frau in das Telefon. »Er ist gerade runtergekommen.« Die Antwort ihrer Tochter brachte Sarah zum Schmunzeln. »Sage ich ihm.« Dann wurde ihre Stimme ernst. »Nein, ›okay‹ finde ich das immer noch nicht, ganz und gar nicht. Aber darüber reden wir, wenn du wieder da bist. Bis dahin meldest du dich jeden Tag – zweimal, morgens und abends! Und wenn irgendwas ist, rufst du sofort an, verstanden? ... Gut, aber bleib weg von den Chaoten, hörst du? ... Nina?« Sie hatte das Gespräch beendet. Sarah legte kopfschüttelnd das Telefon weg, doch das Strahlen blieb auf ihrem Gesicht.

»Ich soll mit dir schimpfen«, sagte sie zu Bauer, »weil du deine Pflicht vernachlässigst.«

»Welche?«

»Deinen Frauen Frühstück zu machen.«

Auch er musste schmunzeln. »Tut mir leid. Aber es ist gerade ja auch nur eine da.«

»Hey! Das ›nur‹ habe ich überhört.«

»Geht’s ihr gut?«

Sarah nickte. »Sie ist mit ihrer Gruppe in einem kirchlichen Gemeindesaal untergekommen. Der Pfarrer will wohl mitdemonstrieren.«

»Klingt doch beruhigend.«

»Nicht mehr, seit ich dich kenne.« Sie erhob sich.

»Du weißt doch, ich bin einzigartig«, sagte er und hoffte auf ein Lächeln.

Sie schob ihm die Tageszeitung zu. Auf der ersten Seite des Lokalteils prangte ein leicht unscharfes Foto. Offenbar war es mit einem Handy aufgenommen worden. Es zeigte eine Rheinbrücke und darunter, auf halbem Weg zum Wasser, einen verwischten dunklen Fleck. Bauer starrte auf das Bild. Sarah beugte sich über den Tisch.

»Wenn du so etwas noch mal machst«, sagte sie sehr ruhig, »lasse ich mich scheiden.« Dann küsste sie ihn auf den Mund und ging.

Er las den reißerischen Artikel und fand, dass er darin gar nicht so schlecht wegkam. Polizeidirektor Lutz würde das sicher anders sehen. Zwar wurde Bauers voller Name nicht genannt, aber ›Polizeiseelsorger B.‹ war eindeutig genug. In letzter Zeit war Lutz verdächtig gleichmütig gewesen. Die Ruhe vor dem Sturm, vermutete Bauer. Er konnte dem bösartigen Polizeidirektor heute nicht einmal aus dem Weg gehen. Zweimal in der Woche bot Bauer im Präsidium offene Sprechstunden an. Eine war an diesem Vormittag. Es klingelte. Natürlich konnte immer etwas dazwischenkommen. Er sah aus dem Küchenfenster. Auf der Straße stand Verenas Dienstwagen. Bauer erwischte sich dabei, auf einen Notfall zu hoffen. War er wirklich schon so zynisch? Er ging öffnen.

Verena hielt sich nie mit Höflichkeiten auf. »Keunert ist tot.«

Im selben Augenblick wusste Bauer, woher sein Schuldgefühl kam.

»Scheiße. Ich habe geraucht«, entfuhr es ihm.

Kapitel 6

Es war alles falsch. Seine Frau hatte den Kaffee gekocht. Hauptkommissarin Dohr stand in seiner Küche. Keunert hatte sich umgebracht.

Bauer sank schwer auf den Stuhl am Tisch. Er konnte es nicht glauben.

»Glauben Sie, was Sie wollen! Ich bin für die Fakten zuständig. Fakt ist, er liegt mit aufgeplatztem Schädel hinter dem Altstadtparkhaus.« Verena verschränkte die Arme vor der Brust.

Sie lehnte an dem Fünfzigerjahre-Küchenbuffet. Das erste Möbel, das Bauer und Sarah zusammen gekauft hatten, auf einem Flohmarkt, für ihre erste gemeinsame Wohnung. Es hatte alle Umzüge mitgemacht, bis es mit ihnen hier gelandet war, in seinem Elternhaus. Nirgends hatte es besser hingepasst.

Die Hauptkommissarin passte nicht hierhin. Bevor Bauer das Amt des Polizeiseelsorgers übernahm, hatte er seiner Frau ein Versprechen gegeben. Sarah nannte es das elfte Gebot. Es galt nur für Bauer: Du sollst deine Arbeit draußen lassen. Draußen, das war vor der Tür ihres Zuhauses. Es war ein gutes Gebot. Es beschützte seine Familie vor den Abgründen, in die er fast täglich blickte. Heute verstieß er dagegen. Gestern hatte er seinen Raucherpakt mit Gott gebrochen.

»Was wollte Keunert dort?« Die Worte schrammten rau durch seine Kehle. Das lag nicht an der Erkältung, die ihn belauerte. »Ich meine im Parkhaus.«

»Parken? Sein Auto steht auf dem obersten Deck. Von dort ist er dann nach unten – auf dem kürzesten Weg.«

Bauer sah Verena an. Zynisch gab sie sich sonst nur im Kreis von Kollegen, die so etwas für tough hielten. Er hatte schon bei ihrer ersten Begegnung erkannt, dass diese Frau härter sein konnte als jeder Vorzeigemacho vom SEK. Vor allem zu sich selbst. Ihm musste sie nicht die Zynikerin vorspielen, das wusste sie. Warum tat sie es trotzdem? Etwas in ihrem Gesicht passte nicht zum Klang ihrer Stimme. Etwas, das die Hauptkommissarin ihm nicht zeigen wollte.

»Die Müllabfuhr hat die Leiche gefunden«, fuhr Verena fort. »Auf der Betonrampe vor den Abfallcontainern.«

»Sie waren schon am Tatort?«

»Für mich ist das kein Tatort. Suizid ist keine Straftat. Auch wenn Ihr Verein das vielleicht anders sieht.«

Bauer hätte dagegenhalten können. Nicht einmal mehr sein ›Konkurrenzverein‹, die katholische Kirche, verwehrte Selbstmördern noch Gottes Gnade. Verena suchte nur ein Ventil. Nachdem sie ihm ins Haus gefolgt war, hatte er ihr mechanisch Frühstück angeboten. Sie hatte abgelehnt. Wenn er sich recht erinnerte, war das Parkhaus am Rande der Altstadt sechs Stockwerke hoch. Bauer wusste, was ein Sturz aus solcher Höhe mit einem menschlichen Körper machte. Und der Anblick des zerschmetterten Körpers mit der Seele des Betrachters.

Es kostete ihn Kraft aufzustehen. Er holte eine Tasse aus dem Schrank. Ohne noch einmal nachzufragen, goss er Verena Kaffee ein. Sie nahm ihn wortlos an, trank ihn schwarz, in kleinen Schlucken. Er ließ ihr Zeit. Die Küchenuhr aus verblichenem grünen Plastik zählte die Sekunden. Das tat sie schon, solange er denken konnte.

»Wann ist es passiert?«, fragte er.

»Gestern Abend, 21:37 Uhr.«

Das konnte keine Angabe des Rechtsmediziners sein. Selbst wenn die Obduktion schon stattgefunden hätte, so genau ließ sich der Todeszeitpunkt medizinisch nicht feststellen. Bauer suchte in Verenas Miene nach Anzeichen von Ironie. Er fand keine. Nur wieder diesen Ausdruck, den er nicht deuten konnte. »Verarschen Sie mich?«

Die senkrechte Kerbe zwischen ihren Augenbrauen zeigte ihren Ärger. »Ein Kollege begeht Selbstmord, und Sie denken, ich mache Witze darüber?«

»Natürlich nicht. Ich verstehe nur nicht ...«

»Er trug eine Uhr, verdammt! Die hat den Aufprall auch nicht überlebt.«

Eine Armbanduhr, natürlich. Bauer kam sich dumm vor. Er war kein Polizist, aber er arbeitete seit fast fünf Jahren im Präsidium. Er hatte Feldkompetenz erworben, so bezeichnete es das Handbuch Polizeiseelsorge. Und er war dabei weitergegangen als die meisten seiner Kollegen. Wahrscheinlich als alle seiner Kollegen. Er war mit jedem Schritt einer Ermittlung vertraut, er begleitete die Beamten auf ihren schwersten Einsätzen, er durchlebte mit ihnen ihre dunkelsten Stunden. Er wusste, wie sie redeten und wie sie dachten.

Das Handbuch warnte davor, die professionelle Distanz zu verlieren und der ›bessere Polizist sein zu wollen. Bauer wollte kein Polizist sein. Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.1 Das war seine Jobbeschreibung. Dafür war er bereit, jede Distanz aufzugeben. Er wollte für die Polizisten da sein. Und für die Opfer. Wenn nötig, auch für die Täter.

Auf Keunert trafen alle drei Aspekte zu. Drei Gründe, bei ihm zu bleiben. Bauer hatte ihn gehen lassen. Zwei Stunden später hatte sich der Polizist vom obersten Deck eines Parkhauses in die Tiefe gestürzt. Auf eine Betonrampe. Erst eine Woche zuvor hatte Keunert einen jungen Polizeianwärter betreut – neben der Leiche einer Frau, die aus ähnlicher Höhe auf die Straße gefallen war.

»Ich kann auch Ihren Kollegen anfordern.«

Verenas Worte rissen Bauer aus seinen Gedanken. Irritiert sah er sie an. »Vaals? Keunert ist evangelisch. War evangelisch.«

»Aber seine Frau vielleicht nicht. Und um die geht es jetzt. Also wenn Sie lieber nicht mitkommen möchten ...« Sie ließ den Satz in der Luft hängen.

Da wusste er es plötzlich. Sorge! Das versuchte Verena, vor ihm zu verbergen: Sie sorgte sich um ihn. Sie hätte anrufen können, aber sie überbrachte ihm die Nachricht von Keunerts Tod persönlich. So wie Bauer der Ehefrau und dem Sohn die Todesnachricht persönlich überbringen würde. Verena wollte ihm beistehen. Sie fürchtete, er würde sich eine Mitschuld an Keunerts Tod geben. Er hatte mit dem Mann am Abgrund gestanden, war für ihn in die Tiefe gesprungen und mit seiner Hilfe wieder hinausgekrochen. Aber Bauer hatte nicht für weitere professionelle Betreuung gesorgt, sondern sich auf seine eigene Einschätzung verlassen.

»Ich hole meine Jacke.« Er ließ Verena in der Küche stehen. Auf der Holztreppe ins Obergeschoss versuchte er, die lähmende Schwere mit großen Sätzen aus seinem Körper zu jagen. An der vorletzten Stufe blieb er hängen. Er wollte sich am Geländer festhalten, doch sein Schwung riss ihn fort, seine Hand griff ins Leere, seine Beine kamen nicht hinterher. Er polterte über den Dielenboden und schlug hart auf die Knie.

»Alles gut bei Ihnen?«, hörte er Verena von unten rufen.

»Alles okay«, presste er hervor.

Er rappelte sich auf. Adrenalin rauschte durch seinen Körper. Weniger vom Schmerz als vom Schreck. Er humpelte zum Kleiderschrank, öffnete ihn, stand davor und starrte auf seine Garderobe. Uniformjacke oder neutrales Jackett? Er konnte sich nicht entscheiden. Wieder kam ihm das Handbuch in den Sinn. Es gab einen ganzen Absatz darin über die Wahl der Kleidung für einen solchen Anlass ... Er hielt im Gedanken inne. Was zum Teufel war los mit ihm? Warum fühlte er sich auf einmal wie ein Anfänger? Er hatte auf sein Gefühl vertraut, wie er es immer tat. Konnte er sich nicht mehr darauf verlassen?

Er griff nach dem dunkelblauen Jackett und streifte es über. Verena wartete am Fuß der Treppe. Bauer nahm den Schlüssel seines Dienstwagens vom Schlüsselbrett. »Wohin?«

»Obermeiderich, nicht weit vom Landschaftspark. Ich fahre vor.«

Bauer zog die Haustür hinter sich zu. Es war kühl. Das Herbstlaub an den Bäumen schien über Nacht alle Farbe verloren zu haben. Nicht ein Blatt regte sich, die graue Luft stand vollkommen still. Verenas Dienstwagen parkte am Straßenrand, direkt hinter seinem.

Sie öffnete die Fahrertür und sah ihn an. »Ihre Bemerkung eben, übers Rauchen – was hatte die zu bedeuten?«

»Nichts«, log Bauer. »Wann waren wir gestern auf der Brücke?«

»17:30 Uhr. Warum fragen Sie?«

»Hat auch keinen besonderen Grund.«

»Sie sind ein beschissener Lügner.«

Verena stieg ein, ebenso Bauer. Er startete den Motor und wartete, dass sie vorbeifuhr. Er hatte Keunert vier Stunden vor dessen Tod in die Augen geblickt und Verzweiflung darin gefunden, Angst und ohnmächtige Wut. Einen Selbstmörder hatte er nicht gesehen.

Was war in den vier Stunden geschehen?

Kapitel 7

Verena nahm den Emscherschnellweg wörtlich. Bauer hätte die kürzere Route an den Häfen vorbei und quer durch die Stadt gewählt. Aber Verena rauschte auf die A 42, setzte das Blaulicht aufs Dach und fegte die linke Spur frei. Bauer hängte sich an ihre Stoßstange.

Fünfzehn Minuten später kam rechter Hand das Areal des Landschaftsparks Nord in Sicht. Im Zentrum stand ein stillgelegtes Hüttenwerk. Der letzte der ehemals fünf Hochöfen war schon 1985 erloschen. Danach hatte man das Werksgelände in eine riesige Naherholungsanlage umgewandelt. Erlebnispädagogisch aufbereitete Bergbaugeschichte mit Tauchgasometer, Klettergarten des Deutschen Alpenvereins und einer einzigartigen Natur auf industriellen Brachflächen. Für engagierte Strukturwandler ein Vorzeigeprojekt. Für manchen alten Malocher der plastinierte und zur Schau gestellte Kadaver seiner Arbeiterkultur.

Verena ging vom Gas, Bauer auf die Bremse. Sie nahmen die Ausfahrt Neumühl. Kurz darauf bogen sie in die Wiesbadener Straße ein und unterquerten die Fußgängerbrücke am Bürgerhaus. Bauer kannte den Betonriegel noch ohne den freundlichen Anstrich. Dahinter erhob sich der Hagenshof. Die Hochhaussiedlung war in den siebziger Jahren als Anlage für gehobene Ansprüche geplant und erbaut worden. Mit der Stahlkrise kam der Niedergang zum grünsten Problemviertel der Stadt. In den letzten Jahren war es dank gezielter Stadtteilarbeit wieder ruhiger geworden.

Nirgends fand Bauer den Begriff Wohnpark treffender. Sie fuhren in einer langen Kurve durch eine weitläufige Grünanlage mit üppigem Baumbestand zwischen fünf- bis zehnstöckigen Plattenbauten. Die Straße lief auf das Mercator- Center zu. Fünfzig Meter vor dem Einkaufszentrum fuhr Verena auf den Parkplatz hinter einer Trinkhalle. Sie hatte die Form einer kleinen Pyramide und versteckte sich am Rand der Straße zwischen Bäumen und Sträuchern. Zwei Männer standen rauchend daneben und frühstückten mit Bier. Sie verstummten, als Bauer und Verena ausstiegen.

Die Hauptkommissarin ging auf die Männer zu. »Morgen. Wo finde ich Hausnummer 6?«

Die Männer tauschten einen Blick. Dann hob einer von ihnen seinen massigen Arm und deutete vage in eine Richtung.

»Immer Weg nach.«

Er sprach mit osteuropäischem Akzent. Verena bedankte sich. Bauer spürte die Blicke der beiden im Nacken.

Ein sauberer Schotterweg schlängelte sich um Büsche und Bäume herum in den Park. Die Rasenflächen waren frisch gemäht worden. Am Vortag, vermutete Bauer, der Geruch nach geschnittenem Gras hing noch in der Luft. Nach wenigen Schritten kamen sie an eine Gabelung. Die Abzweigungen führten zu zwei verschiedenen Wohnkomplexen.

Verena wandte sich zu ihm um. »Irgendeine göttliche Eingebung?«

Ohne lange zu überlegen, ging Bauer an ihr vorbei und hielt auf das Gebäude zu, das näher am Einkaufszentrum lag. Dort endete die Wiesbadener Straße. Änderte man seinen Blickwinkel, fing sie da an. Und mit ihr wahrscheinlich die Zählung der Hausnummern.

Der langgestreckte Bau war acht Stockwerke hoch, die Fassade farblich aufgewertet worden. Es gab drei Eingänge. Über dem ersten prangte eine große Zwei in leuchtendem Orange.

»Die dritte Tür müsste es sein.«

Verena gab sich unbeeindruckt. »Die niedrige Hausnummer hat es Ihnen verraten, richtig?«

»Wer weiß«, antwortete Bauer.

In ihrem Gesicht zuckte nicht ein Muskel. Nur durch ihren Blick huschte ein Lächeln. Das erste an diesem Morgen. »Ich weiß es.«

Sie ging wieder vor. Neben den Kolonnen der Klingelknöpfe der Hausnummer sechs waren ordentliche Namensschilder angebracht. Keine Lücken, kein von Hand beschriftetes Klebeband. Der Name Keunert stand in der obersten Reihe. Verena drückte wahllos auf einige Klingeln darunter. Bauer wusste, warum: Sie wollte den Grund ihres Besuchs nicht über die Gegensprechanlage erklären. Aus dem kleinen Lautsprecher drang das übersteuerte Durcheinander fragender Stimmen. Der Türöffner summte. Verena drückte die Tür aus Metall und Drahtglas auf, Bauer folgte ihr ins Haus.