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In Karl von Holteis Roman 'Schwarzwaldau' wird die Geschichte des jungen Studenten Hartmut erzählt, der während einer Reise durch den Schwarzwald auf ein mysteriöses Schloss namens Schwarzwaldau stößt. Das Buch ist in einem romantischen und spannenden Stil geschrieben, der an die Werke der Romantik erinnert und mit mysteriösen Elementen durchzogen ist. Holtei schafft es, eine düstere Atmosphäre zu erzeugen und den Leser in die Welt des Schwarzwaldes einzutauchen. Das Werk kann als typischer Vertreter der deutschen Romantik angesehen werden und zeigt das Interesse des Autors an düsteren Themen und mysteriösen Handlungssträngen.
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Seitenzahl: 426
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Schwarzwaldau liegt in einer flachen Sandgegend, seitab von der alten Straße zwischen Dresden und Berlin. Es ist, worauf schon sein Name hindeutet, von tiefen, weitverbreiteten, herrlich bestandenen Nadelholz-Waldungen umgeben, in denen zur Zeit unserer Erzählungen die mörderischen Aexte schachernder Holzhändler und ihrer Regimenter verhältnißmäßig noch wenig gewüthet hatten, weil weder eine große Stadt, noch eine leicht fahrbare Land- oder Kunststraße durch ihre Nähe den Absatz begünstigte. Das Dorf zieht sich an breitem Sandwege eine Viertelstunde lang hin; die Kirche befindet sich in der Mitte des Dorfes. Ganz am Ende erst erhebt sich des Gutsbesitzers Wohnhaus, dessen Größe und gediegene, fast mittelalterliche Bauart an dieser Stelle überrascht. Noch überraschender wirkt in solcher, nur durch magere Getreidefelder unterbrochenen Waldung ein blühender Garten und daran grenzender frisch grünender Park, der sich mit kühlen Landseen, sammtenen Wiesen, heiteren Gruppen saftiger Laubhölzer wie ein großer Kranz um die massiven Wirthschaftsbauten schlingt. Man erkennt auf den ersten Blick, daß es der Wille eines früheren, sehr reichen Besitzers gewesen sein muß, welcher derlei Anlagen inmitten alter Kiefer- und Fichten-Wälder schuf, weil – es ihm eben so beliebte; ohne Rücksicht auf Zinsenertrag von den daran verwendeten, (ein strenger Landwirth dürfte sagen: verschwendeten), großen Summen.
Die Bewohner des Dorfes verwunderten sich unendlich und sie kamen bei ihren Unterhaltungen im Wirthshause, wie in den Spinnstuben gar nicht darüber hinaus, daß der gegenwärtige Besitzer Emil von und zu Schwarzwaldau, seit zwei Jahren an eine junge, schöne Frau verheirathet, noch immer nicht taufen ließ? Sie halten die düstere Stille, die im Schlosse wie in dessen Umgebungen vorherrscht; die unfreundliche Verschlossenheit der Gattin; den wehmüthigen Ernst des Gatten für Folgen einer kinderlosen Ehe und bedauern dieß stattliche Paar, welchem der Himmel einen Segen vorenthält, den er Manchem der Bedauernden in allzureichem Maße fortwährend spendete.
Wir entnehmen dieß aus einem Gespräche, welches der Verwalter, ein Revierjäger, ein Bauersmann und der Schullehrer, beim Kruge Bier sitzend, untereinander führen. Sie haben vor einigen Stunden ›den Herrn‹ ausreiten sehen, haben daran den Faden ihres Geschwätzes geknüpft und sind einig geworden, den größten Theil aller Schuld, welche die offenbar nicht glückliche Verbindung treffen könnte, auf Agnesen zu schieben, weil sie in Emil das Muster eines guten Herrn, eines redlichen Mannes verehren. Da tritt Franz ein; der Büchsenspanner, oder Leibjäger vom Schlosse, und setzt sich an ihren Tisch.
Dieser junge Bursch, seit wenig Wochen erst im Dienst, zeichnet sich vor Andern seines Gleichen durch einen Anflug von Bildung aus, ist nicht ohne Kenntnisse, denn er hat eine Forstacademie besucht, sagtman. Aber gerade deßhalb liegt ein Schleier auf seiner Herkunft: man weiß den Ansprüchen, die er den übrigen Dorfbewohnern entgegen macht, nicht zu vereinigen, daß er den Platz eines Livreejägers angenommen? Der Verwalter sowohl, als der Revierjäger hatten über diesen Punct ihre Bedenklichkeiten schon mehrfach laut werden lassen und der Letztere hatte, da von der Herrschaft, vom Leben im Schlosse, auch von Franz die Rede war, so eben kurz vor dessen Eintritt geäußert: »Der junge Mensch muß irgendwo dumme Streiche gemacht haben, die ihn verhindern, eine früher begonnene Laufbahn mit Ehren zu verfolgen; sonst wär' er nicht Stiefelputzer bei unserm Herrn geworden. Solch' eine Stelle nimmt ein solcher Gestudirter allenfalls bei einem Fürsten, oder sehr reichen Grafen an, wo späterhin eine tüchtige Versorgung darauf folgt. Aber hier? Du mein Gott, was kann ihm blühen? Ein Revierjäger-Posten mit achtzig Thaler Gehalt und ein paar Scheffeln Deputat? Das Stammgeld lohnt nicht die Mühe. Nein, dafür hat Einer nicht Französisch gelernt und Feldmessen und alles Mögliche. Glaubt mir's, der Kerl ist ein Taugenichts!«
Diese Meinung war vom Verwalter, vom Schulmeister und vom Mühlbauer getheilt worden; was jedoch keinen von ihnen hinderte, den Verdächtigten freundlich an ihrem Tische zu empfangen, da er verstört und erhitzt in's Gastzimmer trat.
Franz war ein hübscher Junge. Sein Gesicht gehörte zu jenen eigenthümlichen, die analysirt, Zug für Zug geprüft, nichts haben, was ein Bildhauer, ein Maler loben würden, die aber im Ganzen und oberflächlich betrachtet, wohlgefallen, so lange sie jung sind. Seine Gestalt war schlank und fein; er machte Figur. Dieser Vorzug erregte ihm unter seines Gleichen nur Feinde, wie begreiflich. Denn die Menschen verzeihen ihrem Nächsten von allen Gaben am Wenigsten jene, welche Gaben der Natur, das heißt: unmittelbare Gaben des Himmels sind. Und was Göthe seinem Tasso in den Mund legt, findet nicht allein für den Hof von Ferrara, findet nicht nur an und bei sondern auch auf und in vielen Höfen gelegentlich seine Anwendung. Es paßt für alle Orte, für alle Zeiten und leider auch für alle Stände.
Deßhalb wurde in Schwarzwaldau der Livreejäger Franz spottweise ›Baron Franz‹ titulirt.
Baron Franz also setzte sich zum Verwalter, zum Revierjäger, zum Schulmeister, die ihm alle nur mögliche Zuvorkommenheit erwiesen. Der Mühlbauer einzig und allein, weil er der Unabhängigste war, warf sich nicht in Unkosten, dem Leibjäger Schönheiten zu sagen, oder auch nur seinetwegen in ein anderes Gespräch einzustimmen. Vielmehr zog er, ohne Unterbrechung, des Gutsherrn eheliche Verhältnisse in's Breitere und schonte die gnädige Frau dabei nicht. Auch der Revierjäger, sogar der Verwalter glaubten in des Mühlbauers Ton fortfahren zu dürfen, wenn sie nur ihre Bitterkeiten durch hinreichende Lobeserhebungen des gnädigen Herrn versüßten. Der Schullehrer, dessen Kinder beim letzten Weihnachtsfeste von Agnesen bekleidet worden, schwieg vorsichtig.
Franz schien verlegen. Es war leicht, ihm abzumerken, daß er gern für die Frau gesprochen haben würde, hätt' er nicht gewußt, daß er im Dorfe, und mit Recht, als des Herrn besonderer Günstling gelte. Bei allen Vorwürfen, welche Agnes trafen, vermochte er aber nicht zu schweigen. Namentlich wendete er lebhaften Eifer daran, sie gegen die Anklage des Hochmuthes in Schutz zu nehmen. »Was seid ihr doch für wunderliche Leute,« sagte er, »daß ihr gewisse wohlfeile Redensarten, die man euch gedankenlos in's Gesicht wirft, für den Ausdruck aufrichtiger und herzlicher Gesinnung aufnehmt? Weil unsere gnädige Frau nicht so derb und zutraulich mit euch zu plaudern vermag, wie es der Herr leicht kann, scheltet ihr sie stolz und gemüthlos. Das ist ungerecht. Sie meint es gut mit allen Menschen, ist die Sanftmuth selbst, und keinen Bittenden wird sie von sich weisen, er soll nur das Vertrauen finden, sich an sie zu wenden. Sie kann euch doch nicht entgegenkommen? Ohnedieß ist sie mehr schüchtern, als vorlaut, und das ist bei ihrer Einsamkeit sehr natürlich. Was führt sie für ein stilles Leben, ohne Zerstreuung, ohne Umgang, ohne Abwechselung! Er steckt den ganzen Tag über in der Wirthschaft, oder im Walde; wenn er des Abends heimkommt, wirft er sich in den Lehnsessel und lieset. Wo soll sie Heiterkeit hernehmen? Wo soll sie frohen Sinn finden? Sie muß trübselige Mienen zeigen – und die legt ihr der armen Dame für Stolz aus. Ich sage, das ist ungerecht!«
Der Verwalter sah den Revierjäger befremdet an und dieser wieder den Schulmeister, welcher zuletzt dem Erstaunen der Uebrigen Worte lieh, indem er äußerte: »Sehr schön weiß sich der Herr Leibjäger auszudrücken, das muß man ihm lassen!« Und der Mühlbauer setzte hinzu: »Auch mag er schier die Wahrheit reden; denn weil er doch des Herrn sein Liebling ist und stellt sich auf der Frau ihre Seite, kann er für einen unbestochenen Zeugen gelten. Nur soll er sich in Obacht nehmen, daß der Herr nichts davon erfährt. Bei dem würde er sich kein Bildchen einlegen dadurch. Schiebt er nicht so zu sagen alle Schuld der unglücklichen Ehe auf den Mann, da er die Frau verdefendirt? Denn unglücklich ist die Ehe schon einmal; das sieht ein Blinder.«
Franz mochte fühlen, daß er zu weit gegangen, und überzeugt, es sei weder dem Verwalter, noch dem Revierjäger zu trauen. lenkte er ein, indem er versicherte: unglücklich wäre die Ehe keinesweges; dergleichen könne nur Verleumdung behaupten; die gnädige Frau liebe ihren Gemal und durch diese ihre Liebe werde sie für manche Entbehrungen äußerlicher Art genugsam entschädiget. Auch könne man zufrieden und glücklich sein, ohne sein Glück in heiterer Lebendigkeit zur Schau zu tragen. Vielleicht wünsche sie sogar ein stilles Dasein, wie sie führe, weil es mit ihrem Character übereinstimme? Er habe bisher weder eine Klage aus ihrem Munde vernommen, noch irgend eine Verstimmung zwischen den Gatten bemerkt.
»Das klingt nun wieder ganz anders,« sagte der Schulmeister, sichtbar unzufrieden mit der versöhnlichen Wendung.
Die Andern nickten bejahend und verstimmt. Sie sahen sich um ihre Hoffnung auf allerlei Klatschgeschichten vom Schlosse betrogen. Ihr Bestreben, des Leibjägers Zunge noch einmal in Gang zu bringen, blieb erfolglos. Deßhalb auch ließen sie sich fürder nicht einschenken, klagten über saueres Bier, – als worin sie wahrscheinlich Recht hatten, – und verloren sich Einer nach dem Andern mit mehr oder minder tiefen Bücklingen gegen ›Musje Franz.‹ Dieser saß denn allein vor dem unberührten Glase in tiefe Träume versenkt, aus denen der leise ab- und zugehende Schankwirth ihn durch keine Silbe aufzustören wagte. Er war des Nachmittags an den vom Geflügel wimmelnden Landseen umhergegangen ohne zum Schuße zu kommen; wahrscheinlich weil er an andre Dinge als an Enten und Rohrhühner gedacht; und hatte seine Flinte noch geladen neben sich stehen. Mit der Rechten drehte er sich unaufhörlich die Locken; mit der Linken streichelte er liebkosend den langen Lauf des Feuergewehres. Wäre der Schänker nicht ein stumpfsinniger Trinker gewesen, der für nichts Aufmerksamkeit hegte, als für den Unterschied zwischen leeren und gefüllten Gläsern, es hätte ihm nicht entgehen können, daß im Kopfe des lockendrehenden schmucken Jägers üble Absichten sich regten. So düster und wild starrt kein junger Mann vor sich hin, wenn er nicht ganz und gar mit sich selbst zerfallen, aus einer fast verzweifelten Lage den Ausweg sucht, – sei es auch durch Selbstmord! Und dennoch waren es nicht nur Groll, Zorn, Haß, Rache, oder wie des Unheils finstere Dämonen weiter heißen mögen, die Franzens Angesicht beherrschten. Auch edlere Gefühle drückten sich, wenn gleich durch Wehmuth umschleiert, in diesen Zügen aus, auf denen ein Kampf des Guten mit dem Bösen sich wiederspiegelte. In einem Augenblicke, wo das Letztere überwog, murmelte Franz: »Ich habe vor acht Tagen dem Damhirsch, den der Herr angeschossen und der nicht verenden konnte, meine Ladung Entenschrot, weil kein Jagdmesser zur Hand war, durch's Hirn gejagt; setzte den Lauf dicht vor den Schädel und die Körner hielten zusammen, daß die Wunde aussah wie von einer starken Büchsenkugel. Was wär's denn weiter, wenn ich von hier gleich dem kleinen Garten-See zuginge bis an ihr Bänkchen und dann . . . Sie käme vielleicht heute Abend noch, fände meine Leiche und dann wüßte sie Alles! –«
Er warf einige kleine Münzen auf den Tisch und verließ eilig die Schänke. Festen Schrittes, wie ein Mensch, der zu furchtbarer That entschlossen, unwillkürliches Grauen durch entschiedenes Wollen besiegt, wendete er sich dem herrschaftlichen Parke zu. Hätte er diesen durch das große Eingangsthor betreten, würde er ungehindert den Platz erreicht haben, den er sich für seine letzte Stunde ausersehen; und wir ständen dann wahrscheinlich beim Beginn dieser Geschichte schon am Ende derselben und hätten weiter nichts mehr zu erzählen. Aber – und an scheinbar so zufälligen Ereignissen hängen die Geschicke des Menschen und der Menschheit! – Franz vermied den betretenen Weg, um nur ja Niemand zu begegnen; und gerade, weil er den Fußsteig einschlug, der nach der Seitenpforte führt, mußte er seinem Herrn entgegenlaufen, der aus dem Walde heimkehrend, bleich und träumerisch an ihm vorüberritt, ohne ihn nur zu bemerken. Unter andern Verhältnissen, in gleichgiltiger Stimmung würde der Diener auf Emil's Zustand wenig geachtet, würde in dessen Mienen weiter nichts gelesen haben, als den Ausdruck alltäglichen Unmuthes, der in Schwarzwaldau nicht befremdete. Doch was in ihm selbst vorging, schärfte seinen Blick; furchtbare Anspannung eigener Empfindungen steigerte in ihm die Fähigkeit, wahrzunehmen, was Jenen treibe? und gleich dem Zauber eines zweiten Gesichtes stieg ihm die Ahnung auf, der düstere Reiter trage sich mit Absichten, nicht minder schauderhaft als die seinen!
Jede finstere That, über der wir brüten, habe sie Namen welchen sie wolle, erscheint uns finsterer noch, sobald wir einen Andern auch im Begriff glauben, sie zu thun; womit wir uns im eigenen kranken Herzen zu versöhnen wähnten, tritt uns schroff, drohend entgegen, wo wir es von einem Fremden erwarten. Wir kennen ja die Gründe nicht, die ihn dazu bestimmten; wir haben uns weder mir seinen Leiden vertraut gemacht, noch mit seinen Irrthümern befreundet; was uns für uns selbst zur Entschuldigung diente, wendet sich zur Anklage um gegen den Andern; wir sind bereit, an ihm zu verdammen, was wir an uns vor Gott und vor uns rechtfertigen zu können meinten.
Dieß widerfuhr dem Jäger Franz, da der Argwohn in ihm aufstieg, sein Herr stehe auf dem Puncte, Hand an sich zu legen: »Der reiche, beglückte, mit Agnes vermählte Herr! Der Herr, welcher besitzt, was der Diener ihm beneidet? Unmöglich! Und doch, wenn es wäre? Wenn all' sein Besitz den mit sich selbst Zerfallenen nicht erfreut, nicht zufrieden macht? Wenn er wirklich so wahnsinnig ist, zu sinnen in der Fülle seines Glückes, worauf ich sann aus der Oede meines Unglücks? Wenn die hingeworfenen Aeußerungen, die ich aus seinem Munde vernehme, seitdem ich um ihn bin, mehr bedeuteten, als ich ihnen beilegte? Wenn ich richtig errathe, daß jetzt die Stunde hereinbrach, wo er Ernst machen, wo er sterben will? – Dieser graue, schwülwindige, ausdörrende Sommertag scheint selbstmörderische Absichten zu fördern?! Wohlan denn: schieben wir für's Erste die unsrigen hinaus und belauschen wir die Schritte des – Andern.«
Franz ging nicht nach dem Bänkchen beim kleinen See im Park; begab sich vielmehr ohne Zögern in sein Gemach, aus welchem er leicht und ungesehen zu seinem Gebieter gelangen konnte.
Emil von Schwarzwaldau, seit zwei Jahren mit Agnes vermählt, stand im Siebenundzwanzigsten, konnte aber, obgleich er nichts weniger als blühend aussah, für einen noch jüngeren Mann gelten. Sein gewöhnlich bleiches Angesicht zeigte fast immer eine durch sanfte Freundlichkeit gemilderte Schwermuth, die jedoch augenblicklichen Scherzen in geistreicher Aufregung gern zu weichen schien, – aber nur schien. Es war nicht die abgeschlossene Resignation eines vom Leben hart getäuschten Mannes, welche aus jener Schwermuth sprach; fast knabenhafte Sehnsucht lag darin, und diese kann es gewesen sein, die seinen blassen Wangen kindlichen Anstrich verlieh, und zu solch' hoher, kräftiger Gestalt nicht paßte. Sein blaues Auge leuchtete groß und klar unter langen dunklen Wimpern hervor; es verrieth weniger Lebensüberdruß, als getäuschte Erwartung: Emil blickte umher nicht wie Einer, der durch Genüsse gesättiget, von Reue geplagt, im Dasein ermüdet, diesem ein Ende sucht; er sah in die Welt wie Einer, dem sie nicht gab, was er von ihr verlangte; der an unerfüllbaren Erwartungen krank, alle Wünsche und Träume mit Einemmale begraben möchte. Und das war kein leerer Schein, den er etwa, wie manche Zieraffen des Weltschmerzes, zur Schau trug. Es kam von Innen. Sein Auge war wirklich der Spiegel einer in ihrer irdischen Behausung sich abquälenden Seele. Auch hatte Franz richtig wahrgenommen. Die Qual dieser Seele war niemals höher gestiegen, als während dieses grauen Tages; sie hatte ihn aus dem Schlosse in's Grün des Waldes getrieben und trieb ihn jetzt, nicht weniger bedrängt und gequält, in's Schloß zurück. O wie manchen Tag hatte er schon in solch' unmännlichem Sträuben wider den Quäler Unmuth vergeudet; wie häufig schon dem tückischen Erbfeinde des Menschengeschlechtes neuen Spielraum gegeben, dadurch daß er vor ihm entwich, anstatt sich thatkräftig ihm entgegen zu stellen? Wie oft hatte er dann des Abends ausgerufen: »wieder ein Tag dahin!« und dann, abgemattet von wildem, feigem Umherjagen sich der Nacht, der schlafverheißenden, in die Arme geworfen! »Mit den Tagen wird man fertig,« – so lautete sein Selbstbekenntniß; – »vor einem ganzen Tage fürcht' ich mich nicht; meine Feinde sind die Stunden, aus denen er besteht. Ein beginnender Tag liegt zu lang und breit vor uns, als daß man seine Qualen mit Eins überschauen könnte; und hat man ihn hinter sich, dünkt er nur ein Augenblick. Aber die Stunden, die einzelnen Stunden, die man abzählt nach dem Secundenmesser des langsam-schleichenden, dennoch fieber-schweren Pulsschlages, – diese sind meine Gegner. Vulnerant omnes, ultima necat[Alle verwunden, die letzte tödtet].«
Und dieser letzten wähnte er nun wirklich entgegen zu reiten.
Ich will meine Leser nicht behelligen mit der tausendmal aufgeworfenen und niemals erschöpfend beantworteten Frage: ob der Entschluß, sich selbst das Leben zu nehmen, Muth oder Feigheit verrathe? Es kommt dabei zuviel auf den Standpunct an. Bei Emil waltete, das ist zweifellos, wenn auch nicht Feigheit, doch Muthlosigkeit vor. Er fühlte sich nicht stark genug, länger so zu leben. Er wähnte sich stark genug, mit einem andern Leben es zu versuchen. Mit welchem? Was wußte er davon? Ihm genügte zu wissen, daß es sicher ein anderes sei. Er wollte entfliehen, – und wer sich auf die Flucht begiebt, gesteht ein, daß es ihm an Muth und Kraft fehlt, den Kampf weiter fortzusetzen. So Emil.
In seinen Händen blinkte ein Dolch von seltener Schönheit, den er vor zehn Jahren zum Geschenk erhalten von einem russischen Officier höheren Ranges, an welchem er innig gehangen und welchem zur liebenden Erinnerung er diese künstlich-geschmiedete, fremdartige Waffe so sorglich aufbewahrt, daß kein Dritter sie jemals gesehen. Der türkische, oder persische Dolch blieb stets im Secretair verschlossen, wo er unter Emil's wichtigsten Papieren verborgen lag. Nur in ganz trüben Stunden wurde er betrachtet, – doch immer erst nachdem die Stubenthür behutsam verriegelt worden. Unzähligemale hatte Emil, in des funkelnden Stahles Betrachtung versenkt, sich Vergleichen überlassen zwischen matter farbloser Gegenwart und jener blühenden Vergangenheit seiner Jünglingsjahre, da er dieß Geschenk des Obristen empfing und mit lebhafter Phantasie eine volle orientalische Märchenwelt daran knüpfte. Mehr zum Spiele, als in ernster Absicht, hatte er dann wohl die Spitze an seinem Arme geprüft, ohne sich die Haut zu ritzen und dabei in frevelhaftem Hohne gesprochen: »Das bleibt der sicherste Tröster.« –
Heute war es anders. Nicht zum Spiele mehr griff er nach der Waffe. Es sollte Ernst werden. So tief durchdrang ihn dieses Ernstes Bedeutung, daß er nicht mehr der Mühe werth gefunden, wie sonst die Thüre zu versperren.
Es schlug sieben Uhr. »Vulnerat omnes, ultima necat!« rief er aus und entblößte die Brust in der Gegend des Herzens: »Gieb Dich zufrieden, gequälte und quälende Blutkammer, bald sollst Du Erleichterung haben. Und auch Du, arme getäuschte Agnes, die Liebe und Glück an meiner Seite erwartete, und die ich unglücklich mache. Auch Dir wird Freiheit. Ich thu' es für Dich, nicht weniger denn für mich. Ja, schlage nur Deine siebente Stunde nach, unbarmherzige alte Uhr, die mir seit Jahren Schlag um Schlag beibringt. Dieß war die letzte Stunde, die Du mir schlugst und die letzte Stunde, denn die letzte tödtet!«
»Gott sei mir gnädig!« sagte er mit fester Stimme – und den hocherhobenen Arm packten zwei kräftige Hände, seiner Hand die Waffe entwindend.
Emil von Schwarzwaldau und Jäger Franz standen sich gegenüber. Emil vermochte nicht, den fragenden Blick auszuhalten, welchen Franz auf ihn richtete; er schlug die Augen zu Boden; in ihm kämpften zugleich Zorn und – Dankbarkeit; denn so tief wurzelt im Menschen die Lebenslust, daß sie niemals völlig abstirbt Auch Emil empfand etwas wie Freude und diese Empfindung mischte sich in die heftigen Worte, mit denen er seinen Diener zur Rede stellte, wie er sich unterfangen dürfe, zu spioniren und sich heimlich einzuschleichen?
Franz erzählte, was wir wissen; verschwieg nicht, daß er selbst im Begriff gestanden, den entsetzlichen Schritt zu thun, an welchem er jetzt seinen Gebieter verhindert und setzte dann ruhig hinzu: »Wenn ich des Lebens müde bin, so hat das gute Gründe; wer aber Ihnen das Recht giebt, sich umbringen zu wollen, das möcht' ich wissen? Geachtet, reich, mit einer Frau verbunden, die Niemand ansehen kann, ohne sie zu lieben, – ist es da nicht empörende Grausamkeit, ihr den Schreck zufügen zu wollen? Den Schreck und die Schmach? – Diesen Frevel hab' ich verhindert und habe nur gethan, was gesetzlich ist.«
Auch die fürchterlichsten Momente führen gewöhnlich etwas Lächerliches im Gefolge; schrecklichen Begebenheiten und Zuständen sitzt oft der Schalk im Nacken, die vielgetadelte Ironie in den tragischen Werken großer Dichter ist gewiß nichts Zufälliges: sie entkeimt dem wirklichen Leben.
So war es unbedenklich komisch, daß Emil dem erstaunten Frager jetzt Erstaunen und Frage zurückgab; daß er ihm befremdet zurief: »Du trägst Dich mit ähnlichen Gedanken? Bist Du wahnsinnig? Woran fehlt es Dir? Kannst Du Dir einen bessern Dienst träumen, als Du hier gefunden?«
Und ein Dritter, wäre er Zeuge dieses Zwiegesprächs gewesen, würde kaum ein Lächeln unterdrückt haben, bei des Jägers Entgegnung: »Wenn es nun eben der Dienst ist, dem ich zu entkommen trachte? Ich bin weder geboren, noch erzogen dazu.«
Emil starrte den Sprecher an. Nicht lächelnd, denn so weit war er noch nicht in's Leben zurückgeschritten, um lächeln zu können, aber höchst verwundert starrte er ihn an: »Weder geboren, noch erzogen dazu?« wiederholte er; »nun, warum dann hast Du Dich um diesen Platz beworben?«
»Das ist nicht so rasch deutlich zu machen,« entgegnete Franz, »und heute sind wir Beide nicht in der Stimmung, eine lange Geschichte abzuwickeln; weder ich, sie zu erzählen, noch der gnädige Herr, sie zu hören. Zunächst bitt' ich um Ihr Ehrenwort, daß Sie nichts gegen Sich selbst vornehmen wollen. Eher kann ich diese Waffe nicht zurückgeben.«
»Du verlangst viel, mein lieber Franz. Und wer bürgt mir für Dich? Wer steht mir dafür, daß Du die Absichten aufgegeben hast, die Du heute hegtest? Hat sich in unserer Lage etwas geändert?«
»Doch! Sehr viel! Wir sind Vertraute geworden durch Entdeckung unserer furchtbaren Geheimnisse. Unser Verhältniß hat eine tiefe Bedeutung gewonnen; wir stehen uns näher, als Herr und Diener sonst pflegen, und was ich mitzutheilen habe, wird uns vielleicht noch näher bringen. Vielleicht auch nicht? Vielleicht führt es zum entschiedenen Bruche? Gleichviel. Dann bleibt uns immer noch die Trennung übrig, mag diese nun herbeigeführt werden wodurch sie wolle. Ehe wir uns ausgesprochen haben, darf sie nicht mehr erfolgen. – Jetzt ist es Zeit, Ihre Gemalin nicht länger am Theetische harren zu lassen; denn sie weiß, daß Sie im Schlosse sind.«
Emil gab das ihm abgeforderte Ehrenwort und empfing dagegen aus Franzens Händen den Dolch, den er sorgfältig verbarg.
Emil betrat seiner Gattin Gemächer, wie ein schuldbedrückter, zu reuiger Buße geneigter Mensch. Von der unfreundlichen, mürrischen Weise seines leider sonst alltäglichen Benehmens, zeigte sich heute keine Spur: stürmische Ungewitter haben oft sanfte friedliche Abende in ihrem Gefolge. Ebenso schien Agnes minder in ihren stillen schweigsamen Gram versunken, wie gewöhnlich; sie empfing den Gatten fast heiter; vor ihr lag ein offener Brief, der diese Umwandlung hervorgebracht. Ihre Pensionsfreundin Caroline meldete ihr, daß sie den Eltern endlich die Erlaubniß abgeschmeichelt habe, der längst und wiederholt an sie ergangenen Einladung zu einem längeren Besuche in Schwarzwaldau folgen zu dürfen und verhieß baldige Ankunft. Das war für Agnesen ein wichtiges Ereigniß. An Carolinen und deren Andenken knüpften sich für die einsame Frau lebhafte und belebende Erinnerungen der blühenden Mädchenzeit, die sie in einer Dresdner Erziehungsanstalt als vertrauteste Genossinnen miteinander durchgemacht. Tausend frische fröhliche Kindesträume wurden wach und erfrischten anregend die öde Gegenwart der vernachlässigten Ehefrau mit einem fröhlichen Hauche von Vergangenheit. Sie sprach ihre Dankbarkeit gegen Emil aus, daß er ihr habe gestatten wollen, die Freundin einzuladen; daß er ihr diese Freude vergönnt habe, – obgleich er es allerdings nicht mit allzubereitwilligem Entgegenkommen gethan, vielmehr deutlich gezeigt hatte, daß ihm die Anwesenheit einer ›Beobachterin‹ eben nicht erwünscht sei. Heute gab er fast das Gegentheil kund. Er hieß Carolinen im Voraus willkommen, versprach sich für Agnes Vergnügen und für sich herzliche Theilnahme von solchem Zuwachs ihres Verkehres und äußerte dieß in so verbindlicher, gefühlvoller Weise, daß die arme Frau ihre Theekanne aus der Hand setzte, ihn erstaunt anblickte und mit Thränen im Auge ausrief: »Wie gut Du gegen mich bist, lieber Emil!«
Sie saßen traulich beisammen, ohne weiter viel zu reden. Sie lächelten Beide still vor sich hin. Wer sie gestern Abend sitzen gesehen, hätte in ihr nicht die Frau wieder erkannt, die ein Bild entsagenden Grames in die Dämmerung starrte und nur mechanisch das Amt der Hausfrau am Theetisch verwaltete; in ihm noch weniger den Mann, dem die fürchterlichste aller Entschließungen mit tiefen Zügen schon auf der Stirn geschrieben stand. Und welche neue Richtung hatte sich denn dieser verkümmernden Seelen bemächtiget? Bei Agnes ist es leicht zu erklären: auf matte verschmachtende Blumen war ein mildes Regenwetter gefallen; die ganze Wiese athmete neuen Duft. Aber bei Emil? Vor einer Stunde pochte er mit dem Griffe seiner Mordwaffe an's verriegelte Thor der Ewigkeit, – und jetzt gab er sich behaglichem Nachsinnen, versöhnenden, ausgleichenden Bildern hin? Woran dachte er, daß er überhaupt im Stande war, noch etwas Anderes zu denken, als den schrecklichen Moment, wo er des Dolches Spitze gegen die klopfende Brust gezückt? Wer sollte es glauben: er dachte an denjenigen, der ihm den Stahl aus der Faust gerissen; er dachte an den Jäger Franz und an dessen Lebensgeschichte, die dieser ihm morgen zu erzählen sich verpflichtet. Er erwartete davon etwas Besonderes, Aufregendes, ihn Zerstreuendes, ohne doch selbst zu wissen, in wie fern des jungen, bisher für unbedeutend gehaltenen, wenn auch mit Vorliebe behandelten Burschen Schicksale, auf seine Stimmung günstige Einwirkung üben sollten? Genug, Emil gehörte dem Leben schon wieder so weit, daß der Lebenslauf eines Fremden ihm wichtig dünkte.
Womit wäre doch manches Menschen Herz passend zu vergleichen? Das alte abgenützte Gleichniß vom Meere, bis in dessen tiefste Abgründe jetzt der Sturm wühlt und welches, von ihm getrieben, tobt und raset, um sodann wiederum der hellen Sonne einen reinen glatten Spiegel zu zeigen, – es paßt nicht; es taugt nichts; denn nach jedem ernsten Sturme braucht es mindestens Tage, ja Wochen, bis die Wellen sich wieder legen und lächelnder Friede in des Meeres Schoos zurückkehrt. Aber manches Menschen Herz zuckt in stürmischen Krämpfen, als wollt' es bersten, und kaum hat der Krampf nur Minuten lang nachgelassen, so ist es auch schon das alte, weiche, jedem Eindruck empfängliche Herz, allen guten und schlimmen, allen wichtigen und nichtigen Eindrücken und Regungen geöffnet und hingegeben.
Es sind nicht die schlechtesten Herzen, die der Schöpfer also gebildet – aber die zuversichtlichsten, tüchtigsten sind es wahrlich auch nicht. Es ist kein rechter Verlaß auf sie, weder für Haß, noch für Liebe. Sie drohen sich Gefahr und Andern!
Emil gehörte zu Jenen, die ein solches im Busen tragen. In welche Gefahren es ihn selbst gezogen, haben wir bereits beim Anfang dieser Geschichte gesehen; in welche Verwickelungen es alle diejenigen ziehen wird, mit denen er in nähere Berührung kommt, soll uns die Folge lehren.
Für heute trübte keine Ahnung düst'rer Zukunft beider Gatten Ruhe. Agnes athmete in milder Heiterkeit auf, – seit Monden zum Erstenmale! – und Emil gab sich der beschwichtigenden Rückwirkung dieser Heiterkeit so willig hin, daß die kurzvergangenen Stunden schon wie eben so viele Jahre hinter ihm lagen. Sie trennten sich, da sie zur Ruhe gingen, mit einem an Zärtlichkeit streifenden Gefühle, worüber Beide, da Jedes in seinem Schlafgemache sich allein überlassen war, sich freuten. Es glich dieß Gefühl dem Streifen Abendroth, der am trüben Himmel einen doch vielleicht erträglichen Morgen und Tag verspricht.
Agnes, als städtische Langschläferin, welche sie auch in Schwarzwaldau verblieben, ließ noch in späten Träumen die gestrigen Theestunden an sich vorüber dämmern und sammelte sich erst nach und nach zu klarem Besinnen, daß sie sich vorgenommen habe, Carolinens Gastzimmer recht hübsch und wohnlich einzurichten, . . . da zog Emil schon mit Franz durch tiefen Wald. Sie waren stumm und ernst. Auch Emil. Die leichtsinnige Aufwallung, in welcher gestern alle Selbstmordgedanken so unbegreiflich schnell verschwammen, hatte sich beim Erwachen gelegt; des Augenblickes Täuschung hielt der langeingewurzelten Gewißheit seines selbstgeschaffenen Leidens nicht mehr Stand; er war wieder, was er seit Jahren gewesen: der an Lebensunmuth krankende Herr, dem jetzt sogar die begehrte Lebensgeschichte des jüngeren Dieners nicht mehr besonders wichtig schien, denn er ging vor Jenem her, ohne Halt zu machen, ohne das Gespräch zu beginnen. Franz folgte wie ein Diener, der gehorcht, der aber seinen Herrn geringschätzt. Und das that er wirklich. Er sah in Emil einen verweichlichten Menschen, ohne festen Character, ohne energischen Willen, ohne ausdauernde Consequenz. Selbst der leichte Sieg, den er über ihn davongetragen, als er die Todeswaffe dem schwachen Arme entriß, trug zu dieser Geringschätzung bei. Franz war eine kräftigere Natur, war, obwohl noch Jüngling, mehr berechtiget, sich Mann zu nennen, als der um sechs Jahre Aeltere. Dieß Bewußtsein verlieh ihm moralisches Uebergewicht; auf dieses trotzend schritt er mit kecker Zuversicht der bevorstehenden Auseinandersetzung ihrer Verhältnisse entgegen.
Schweigend gingen sie bis an die äußerste Grenze des Schwarzwaldauer Forstes, wo dieser sich gegen Norden in eine weite öde Fläche verliert, deren Flugsand bisher jedem Culturversuche tückisch widerstrebte. Eine unerquickliche, trostlose Gegend, kaum von dem Gezwitscher eines Vogels belebt; denn alle Thiere beeilen sich, diese Nachbarschaft zu meiden. Dort erst erwachte Emil aus dem Halbschlafe, worin er einhergezogen war. Er setzte sich auf den Erdboden, lehnte sich mit dem Rücken an einen der letzten Baumstämme, winkte Franzen zu, ein Gleiches zu thun, und sprach mit einem Anfluge bitteren Scherzes: »Hebe das Klagelied von Deiner Vergangenheit an und wolle der Himmel, daß die Aussicht in die Zukunft lebensfrischer sein möge, als diejenige, die wir hier vor unsern Augen haben!«
»Sie ist nicht unpassend gewählt für meine Mittheilungen,« erwiderte Franz und begann: »Ich bin der einzige Sohn des Freiherrn Franz von R. Mein Vater starb vor fünfzehn Jahren und hinterließ meine arme Mutter in sehr verwickelten Verhältnissen, aus denen sie sich nur durch sparsame Geduld zu retten im Stande gewesen wäre. Sie aber hatte nicht gelernt, sich einzuschränken und ihre zärtliche Liebe für mich trug viel zur Vermehrung ihres Aufwandes bei, dem ihr Rechtsfreund und mein Vormund, Beide, vergeblich Einhalt thun wollten. Anstatt mich gleich andern Kindern meines Alters in eine öffentliche Schule zu senden, oder mich in eine Erziehungsanstalt mittlerer Gattung zu geben, woran in der Residenz kein Mangel war, hielt sie mir einen theuren Erzieher, der aber doch nicht allen Unterricht selbst ertheilen konnte und neben welchem noch die gesuchtesten Privatlehrer für neuere Sprachen, Musik, Zeichnen verwendet und schwer bezahlt wurden. Ich hatte meinen eigenen Diener, den ich, obgleich ich kaum sieben Jahre zählte, schon mit angeborenem Beruf den Herrn zu spielen, quälte und tyrannisirte. An meinem zehnten Geburtstage erhielt ich eine kleine Equipage mit zwei allerliebsten Pony's als Angebinde, wozu natürlicherweise ein jugendlicher Stallknecht gehörte, der die Zahl meiner Leibeigenen um eine Seele vermehrte. Der Hauslehrer durfte mehr oder weniger zu diesen mit gerechnet werden, denn ich übersah ihn, benützte seine Schwäche für meine kindischen Zwecke und beherrschte ihn mehr, als ich ihm gehorchte. Unerfüllbare Wünsche kannte ich nicht; Verbote, Entsagungen gab es nicht für mich; was ich wollte, mußte geschehen und man wagte nicht, mir etwas zu versagen, weil ich übrigens fleißig war, meinen Aufgaben genügte und Fortschritte zeigte, die mir leicht wurden. Des Vaters Testament ließ der Mutter zu viel Freiheit, gewährte meinem Vormund zu wenig Rechte, entschieden einzugreifen; er wurde der ewigen Zwistigkeiten mit ihr, deren ich mich noch deutlich erinnere, endlich müde und ließ sie gewähren. So geschah es, daß sie, durch einen übelberufenen Advocaten verleitet, ohne selbst recht zu wissen was sie that, mein väterliches Erbtheil angriff, nachdem ihr Antheil an unserem Vermögen erschöpft war. Mit leeren Täuschungen und Schwindeleien wurde die Wahrheit so lange versteckt gehalten, bis zuletzt das Unglück in seiner ganzen Gewalt hereinbrach. Ueber Nacht waren wir Bettler geworden und die werthlosen Flitter eines unnöthigen Aufwandes reichten kaum hin, unsern Rückzug aus den ersten Reihen der vornehmen Welt in den Haufen ärmlicher, heruntergekommener, dennoch in's höchste Stockwerk hinaufklimmender Dachstubenbewohner zu decken. Ein Knabe von zwölf Jahren besaß ich weder Pony's, noch Groom; noch Kammerdiener, noch Hofmeister, noch Privatlehrer. Meine Mutter lebte nur durch Unterstützungen einiger älteren Freundinnen und ich wurde in die große Stadtschule geschickt, wo ich anfänglich viel Spott und üble Behandlung auszustehen hatte, denen ich aber nach kurzer Prüfungszeit Trotz und geballte Fäuste entgegensetzte. Ich muß mich jetzt noch verwundern, wie rasch und leicht ich mich in den ungeheuren Wechsel meiner Lage finden gelernt. Keiner von all' meinen Genossen konnte mir nach Verlauf eines Jahres abmerken, daß ich der verwöhnte, in Uebermuth und Ueberfluß aufgewachsene Junge sei. Ich fügte mich, scheinbar zufrieden, jeder nothwendigen Entbehrung, ging meinen Weg als ordentlicher, tüchtiger Schüler und hatte nichts aus der Epoche meines früheren Daseins bewahrt, als einen gewissen Stolz, hergeleitet ans der Erinnerung an das, was wir einst gewesen. Dieser Stolz bewahrte mich vor schlechtem Umgang. Er ließ mich die Freundschaft bevorzugter Schüler suchen und gewinnen; erwarb mir auch die Gunst einiger Lehrer. Je erbärmlicher die Existenz bei und mit meiner hilflosen Mutter von Tage zu Tage wurde, um desto lieber ward mir die Schule. Wie müssige Bettler an manchen Orten gern und oft Kirchen besuchen, um sich, auch ohne Gottesdienst, in hochfeierlichen Räumen aufhalten zu dürfen, so sehnte ich mich aus den drückenden Umgebungen daheim mit wahrer Ungeduld nach den hellen, lichten, – und im Winter gewärmten Lehrsälen, die mir zur eigentlichen Heimath wurden. So ging es fort, in jeder Weise gut und löblich, bis in mein sechszehntes Lebensjahr, wo ich bereits zur obersten Classe befördert wurde, was meinem Eifer und Ehrgeiz frische Nahrung gab. Ich hegte keine anderen Wünsche und Hoffnungen, als möglichst bald die Universität besuchen zu können. Außer meinen Studien beschäftigte mich eigentlich nur der Gedanke an die Möglichkeit, wie ich mich als Student durchbringen und welche Mittel ich erfinden würde, die unentbehrlichsten Zuschüsse aufzutreiben, wobei ich freilich zunächst auf meinen ausdauernden Willen und auf die Fähigkeit baute, mir durch Unterricht in guten Familien etwas zu erwerben. Uebrigens hatten auch mehrere meiner Mutter noch befreundete Personen für jene Zeit einen kleinen Beitrag auf drei Jahre versprochen. Ganz erfüllt von diesen Plänen, suchte ich weder Vergnügen, noch Zerstreuung, wie doch selbst die fleißigsten meiner Mitschüler wohl thaten. Von gemeinschaftlichen Spaziergängen, von Besuch öffentlicher Conzerte, Conditoreien, oder gar der Theater, von Tanzgesellschaften und ähnlichen Dingen war bei mir nicht die Rede. Ich kannte diese Genüsse nur dem Namen nach und hörte kaum darauf, wenn die Uebrigen in den Zwischenstunden sich davon erzählten. Eben so wenig machte es nur im Geringsten Eindruck auf mich, sie von ihren halb kindischen Liebschaften untereinander reden und ihre Geheimnisse vertraulich austauschen zu hören. Manche der Erwachseneren waren schon nicht mehr kindisch und zeigten mehr Erfahrung, als man insgemein bei Schuljungen voraussetzt. Aber auch dieß Geschwätz ging an mir vorüber, ohne mich innerlich zu berühren und in meinem Streben zu stören. Mit einem solchen Sohne, sollte man denken, hätte die Mutter mehr als zufrieden sein müssen? Dennoch war sie es nicht. Im Gegentheil führte sie bittere Klage über mich, und diese Klage betraf meine Gleichgiltigkeit gegen alle äußerlichen Religionsübungen, denen sie sich, seit dem letzten Verfall scheinbaren Wohlstandes, als Haupttrostmittel hingab. Sie war im vollen Sinne des Wortes eine Betschwester geworden. Und dieß entzweite uns häufig. Wenn ich auf meinen Fleiß, auf meine sittsame, in Entbehrungen und Mangel bewährte Haltung, auf meinen ernsten redlichen Willen trotzte, so sagte sie mir weinend, daß dabei kein rechter Segen sein könne, weil ich ihn nicht gläubig von Oben erflehte und nur auf eigene menschliche Kraft vertraute. Diese Aeußerungen kränkten mich, machten mich unwillig und verleideten mir vollends den Antheil, den ich gezwungen an ihren Betstunden genommen. Zum Heuchler fehlten mir die Anlagen. – Und dennoch sollte meine Mutter Recht behalten, wenn gleich in anderem Sinne als sie selbst ahnen konnte! Die traurige Umwandlung, welche an und in mir geschah, muß ich durch eine scheinbar unwichtige Notiz einleiten. Wir zogen, um an der Miethe zu sparen, im Herbste nach einer abgelegenen, ärmlichen Vorstadt. Mein täglicher Weg zu dem Gymnasium führte nun bei einem kleinen Häuschen vorüber, aus dessen einem niederen Fenster, durch ein schmales Gärtchen von der Straße abgetrennt, gewöhnlich ein brauner Lockenkopf blickte, den ich einem Mädchen gehörig wähnte. Das zweite Fenster nahmen saubere Gypsabgüsse kleiner zierlicher Büsten und Statuetten ein, die sichtlich um Käufer anzulocken, ausgestellt waren. Den Winter hindurch gönnte ich, in raschem Gange, diesen Gegenständen keine Aufmerksamkeit. Als ich aber am ersten warmen Frühlingstage des Weges aus der Schule heim kam, standen die Flügel des einen Fensters geöffnet und der braune Lockenkopf, den ich bisher hinter kalten Glasscheiben wahrgenommen, lehnte sich, sammt dazu gehörigem Hals und Busen, in's Freie. Zwei kecke, vielsagende Augen trafen die meinigen und es ging in mir vor, was ich nicht beschreiben kann. Von diesem Augenblicke dachte ich wachend wie träumend an dieß unbekannte Geschöpf. Näherte ich mich jenem Häuschen, so nahm ich jedesmal einen langsamen Schritt, um so lange wie möglich durch die stets geöffneten Fenster in's Innere des Stübchens starren zu können und niemals unterließ die gefällige Schöne zu erscheinen; bisweilen allerdings nur im Hintergrunde des Gemachs, weil ihre allzu leichte Bekleidung untersagte, sich am Fenster zu zeigen. Ich hatte bald heraus, daß sie, wenn nicht die Ehefrau, doch die Gefährtin eines Figurenhändlers sei, der seinen selbstgefertigten Kram in Gast- und Weinhäusern zum Verkaufe umhertrug und deßhalb des Abends nie zu Hause war. Ich sah diesen Mann, suchte ihn auf, knüpfte Gespräche mit ihm an und fand ihn dieses reizenden Weibes durchaus unwürdig. Und das schien auch sie zu empfinden. Das war es, was ihre auffordernden Blicke mir zu verstehen gaben. Nun begriff ich meine Mitschüler, die ich oft mit verächtlichem Achselzucken angehört, wenn sie ihre Herzensgefühle einander offenbarten. Nun begriff ich ihr wehmüthiges Schmachten, ihr heißes Sehnen; nun begriff ich Alles, was mir bisher dunkel und unbegreiflich gewesen. Eine neue Welt ging mir auf und ein neues Licht in dieser. Doch weit entfernt, die geschwätzige Vertraulichkeit meiner Schulcameraden nachzuahmen, behielt ich, was in mir geschah, fein vorsichtig bei mir; befestigte mich auch schon vorher in dem Entschluße, Alles zu verschweigen, was ich noch zu erleben hoffte. Ich führte diesen Vorsatz durch. Niemand bekam auch nur die leiseste Ahnung von meiner heimlichen Liebschaft. Sogar meinen Fleiß durfte sie nicht stören; ich holte des Nachts am Arbeitstische nach, was ich des Abends versäumte. Denn ich brachte meine Abende bei Lucie zu; sie selbst hatte mich durch unzweideutige Zeichen aufgefordert, bei ihr einzutreten. Auch ließ sie es an nichts fehlen, was irgend von Nöthen, bescheidene Schüchternheit in kecke Zuversicht umzuwandeln; sie benützte sogar die in der Werkstatt stets vorräthigen Gypsabgüsse kleiner Nachbildungen von antiken Gruppen und Figuren, um Bemerkungen daran zu knüpfen, die mehr ihre Person, als die Copieen der Kunstwerke betrafen. Doch hütete sie sich wohl, weiter zu gehen, oder mich weiter gehen zu lassen, als sich mit den Berechnungen einer schlauen, abgefeimten Dirne vertrug, wofür ich sie in meiner glühenden Verblendung unmöglich zu erkennen vermochte. Sie hatte mir unseren Familien-Namen abgelockt; der Baron führte sie irre; sie wähnte mich reich; und ich schämte mich ihr einzugestehen, daß meine Mutter von Almosen alter Freundinnen lebe. Bald gab sie zu verstehen, die Erfüllung meiner heißesten Wünsche sei nur durch sprechende Beweise freigebiger Liebe zu erreichen. Mir entging keineswegs die Niedrigkeit solcher Bedingung, aber ich fühlte mich schon zu tief in ihre Schlingen verstrickt, um mich loszureißen. Ein wahnsinniger Taumel bemächtigte sich meiner Sinne, der mich sogar unfähig machte, den Aufgaben für die Schule zu genügen, oder in den Lehrstunden nur eine passende Antwort zu geben. Die Professoren hielten mich für krank und ermahnten mich mit väterlichem Wohlwollen, für's Erste weg zu bleiben und meine, – wahrscheinlich durch allzuheftige Anstrengung erschöpfte Gesundheit zu schonen. Ich folgte diesem Rathe. Der lange faule Tag, den ich in Büschen und Wiesen außerhalb der Stadt zubrachte, gab mir vollends den Rest. Die darauf folgende schlaflose Nacht war fürchterlich: in dieser schmiedete ich den Entwurf des Verbrechens, durch welches ich Luciens Gunst zu erkaufen beschloß. Kaum konnte ich den Morgen erharren, so ungeduldig fühlte ich mich, ihn auszuführen. Die drohende Gefahr, in die ich mich begab, die ich mir auch nicht abläugnete; die Schmach, in die ich mich stürzte; die unauslöschliche Selbstbeschimpfung, die ich meinem angeborenen Stolze zufügte, waren nicht im Stande es mit dem unwiderstehlichen Verlangen aufzunehmen, welches in mir rasete. Ich glaube damals hätte der Anblick des Schaffots mich nicht zurückgeschreckt. Und auch heute noch bin ich der vollständigen Ueberzeugung, daß es Naturen giebt, deren organische Entwickelung in solchen Perioden sie unzurechnungsfähig macht; daß Menschen anderer, minder leidenschaftlicher Gattung gar kein Urtheil zusteht über ähnliche Thaten in ähnlichen Verhältnissen. Doch das ist eine persönliche Ansicht und ich will sie nicht geltend machen, mich zu entschuldigen. Sie gewann dem irdischen Gerichte kein Mitleid ab; vielleicht kommt sie dereinst zur Sprache, vor einem höheren Richter? Die Sache bleibt dieselbe in ihren Folgen für mein Dasein auf Erden. Ich entwendete meiner armen Mutter das einzige goldene Stück, welches sie auch in der bittersten Noth aufbewahrt hatte: den Trauring, den mein verstorbener Vater getragen; er befand sich in einer kleinen, mir aus den Jahren frühester Kindheit wohlbekannten Schachtel, die außerdem Locken vom Haupte des Verstorbenen und auch von mir enthielt. Ich trug ihn zu einem Goldarbeiter, der mit allerlei Geschmeide handelte, und erbat mir, nachdem der Metallwerth abgewogen und berechnet war, die Erlaubniß, für den Betrag desselben einen anderen, modernen Ring auszusuchen. Das wurde mir freundlich gestattet und ohne im Geringsten Mißtrauen zu zeigen, ließ man mich etliche große Kasten voll von dünnen mit bunten Steinchen verzierten Reifchen durchmustern. Bei dieser Gelegenheit, wo weder Mann noch Frau ihre anderweitigen Beschäftigungen verließen und mich kaum beachteten, gelang es mir ein kostbares Armband, welches mir aus rothem Lederfutteral mit wahrhaft höllischer Lockung entgegenblitzte, zu erhaschen und unbemerkt in die Tasche meines Rockes gleiten zu lassen. Daß es vermißt werde, stand für den Augenblick wenigstens nicht zu besorgen, denn die Tafel war von ähnlichen Dingen überfüllt. Ich kürzte nun meine Anwesenheit möglichst ab, wählte einen Ring aus, der mir leidlich paßte und schritt, – worauf ich mich noch sehr genau und zu meinem eigenen Abscheu erinnere, recht langsam und bedächtig aus dem Laden, damit es nur ja nicht aussehen sollte, als eilte ich mich zu entfernen. Hatte ich in vergangener Nacht den Morgen nicht erwarten können, so dünkte mich nun der Tag noch unüberstehlicher. War ich doch im Besitz des Talisman's, der mir endlich gewähren würde, wonach ich mit verzehrender Ungeduld mich sehnte! Und er kam wirklich, dieser Abend; kam wie ein erquickendes, wenn auch stürmisches Gewitter, welches der in schwülen Gluthen Verschmachtende herbeifleht; welches aber dann keine rechte Erquickung bringt, sondern schwefelichten Qualm, wilde Orkane, und neue Schwüle, neue Gluthen. Zuerst reichte ich Lucien das eingetauschte Ringlein dar. Sie nahm es lächelnd, wog es in der Hand, schüttelte den Kopf, steckte es an den Finger und sagte spöttisch: entweder mein junger Baron ist auf ein sehr mäßiges Taschengeld gesetzt, oder seine Liebe zu mir ist noch mäßiger? Keins von beiden; erwiderte ich in einer Anwandlung von Hochmuth; diesen Ring hab' ich nur mitgenommen, weil ich es nicht der Mühe werth fand, mir die kleine Summe, die er kostet, in Silbergeld herausgeben zu lassen, als ich dieß Armband mit einer Banknote bezahlte. Werfen Sie ihn fort, wenn er Ihnen zu werthlos scheint; wenn Sie ihn nicht vielleicht dem Geber zu Liebe dennoch tragen wollen; aber gestatten Sie mir, dieß Armband Ihnen umzulegen. Kaum hatte sie es gesehen und sich als Kennerin von dem Werthe und der Gediegenheit desselben überzeugt, als sie es mit gutgespielter Geringschätzung bei Seite schob – aber pfiffig genug, damit es in ihren halboffenen Schubkasten falle. Dann küßte sie den Ring; versicherte, dieser sei ihr theuerer wie das theuere Armband, denn dieses binde nur den Arm, jener binde das Herz; küßte ihn abermals, küßte mich, und der Bund war geschlossen. Ich blieb diesen und die folgenden Abende bei Lucien, bis spät in der Nacht ihr Mann mit seinen unverkauft gebliebenen Figuren sich einstellte. Er begrüßte mich, wie wenn er über meine Anwesenheit im Voraus unterrichtet und höchst gleichgiltig dabei wäre. Meiner Mutter band ich, dieß späte Ausbleiben zu beschönigen, jenes alte abgedroschene Schülermärchen auf, von nächtlichen gemeinsamen Studien mit Cameraden, wo Einer dem Andern durch sein Wissen gegenseitig aushilft. Sie zweifelte nicht an der Wahrheit. Arme Mutter! Niemals hatt' ich weniger gethan. Niemals war ich weniger zu arbeiten im Stande gewesen. All' mein Sinnen richtete sich ja nur nach der Stunde, wo ich wieder bei Lucien sein würde. Sonst wußte, fühlte, dachte ich nichts. Es mag am vierten oder fünften Tage nach meiner schmählichen That gewesen sein, da stand, als ich Nachmittags in's Gymnasium eilte, Lucie hinter dem Vorhange ihres Fensters, und bemühete sich, indem sie mit drohender Geberde die Hand erhob, mir etwas deutlich zu machen, was eine Warnung zu enthalten schien; was ich aber nicht begriff. Wie ich mich dem Häuschen nähern wollte, zog sie sich zurück und machte abwehrende Bewegungen, wobei sie hastig den Kopf hin und her wendete, gleichsam um zu verneinen. Dennoch wäre ich, von zerreißender Leidenschaft gemartert, eingedrungen, trotz ihres pantomimischen Verbotes, hätte ich nicht die Gasse herauf eine alte Gönnerin meiner Mutter, eine ihrer Wohlthäterinnen, welche wahrscheinlich gerade nach unserer Wohnung ging, sich von ihrem Livreediener gefolgt, mir entgegen bewegen sehen. Es blieb mir nichts übrig, als die quälende Neugierde, was Lucie mir sagen wollen, mit in die Schule zu nehmen und mich drei ewige Stunden von ihr foltern zu lassen. Fast noch entsetzlicher war die Frist bis zum Eintritt der Dämmerung, die ich auf der Geliebten ausdrückliches Gebot immer abwarten mußte. Die Vermuthungen, Zweifel, Besorgnisse, die sich wegen Luciens unerklärlichem Warnungszeichen in meinem Gehirn kreuzten, sind unzählig; mir kommt vor, es gäbe keine Möglichkeit hienieden, an die ich dabei nicht gedacht, die ich nicht auf Augenblicke annehmbar gefunden hätte? – Keine, außer seltsamerweise die richtige, welche doch leider die zunächstliegende war. Wie die erste Fledermaus unter den Bäumen sichtbar wurde, bog ich durch ein enges, verrufenes Seitengäßchen nach Luciens Häuschen. Die schmale Hausthür stand wie gewöhnlich offen. Doch im Innern des Wohngemaches hört ich die Bewohnerin, was allerdings ganz ungewöhnlich war, sehr laut reden; so laut, als ob sie absichtlich draußen gehört werden wolle. Wüthende Eifersucht beraubte mich meiner fünf Sinne; denn bei nur geringer Ueberlegung hätte ich doch nun begreifen müssen, daß die Warnung mir gelte. Ich stürzte mich wie ein wildes Thier hinein. Aber ich sollte bald gezähmt werden. Der Figurenhändler befand sich schon dort; mit ihm zwei Polizeidiener. Ist das Derselbe? fragte Einer von ihnen. Lucie verneinte lebhaft und behauptete, mich niemals gesehen zu haben. Ihr Mann dagegen sagte: was hilft hier Leugnen? Freilich ist er's, von dem sie das Armband erhielt. Darauf bemächtigte man sich meiner und zugleich traten auf ein Zeichen der Beamten noch einige Männer dem Häuschen näher, welche sich in der Nachbarschaft versteckt gehalten. Sie empfingen den Auftrag Lucie und deren Genossen zu transportiren. Ich wurde befragt: wie ich in den Besitz jenes Schmuckes gelangt sei? Meine Wuth über die gewaltsame Trennung von Lucie kochte mir so wild und feurig im Blute; wurde von der rasenden Leidenschaft, die ich in Ermangelung eines passenderen Namens Liebe nannte, noch dermaßen gesteigert, daß sie in diesem furchtbaren Moment weder Furcht, noch beschämte Niedergeschlagenheit aufkommen ließ. Ich gab weiter keine Antwort, als daß ich mit beiden Fäusten nach den Männern schlug, wobei ich den Einen am Auge verletzte und demnächst mit einem ganz einfachen Stricke festgebunden wurde. Mein Schweigen änderte nichts im Vorhaben der Beamteten, welche mir die Frage überhaupt nur der Form wegen vorgelegt hatten; sie wußten ja längst durch die im rothen Lederfutteral eingeklebte Adresse, an wen sie sich zu wenden gehabt, um zu erfahren, ob das corpus delicti