Schwindelfrei - Uli Brée - E-Book

Schwindelfrei E-Book

Uli Brée

4,9

Beschreibung

Frauen sind das Beste und manchmal auch das Schlimmste, was einem Mann passieren kann ... "Vorstadtweiber"-Erfinder Uli Brée erzählt Geschichten über Frauen: ergreifende und erfrischend komische, aufrichtige und verlogene, poetisch verdichtete und wahrhaftig erinnerte. Nichts in diesem Buch ist wirklich so geschehen und doch ist es genau so passiert. Uli Brée beleuchtet Abgründe, huldigt verflossenen Liebschaften, entführt uns in die Welt von realen und virtuellen Sehnsüchten und erweist sich als einer, der nie aufgehört hat, staunend vor der fremd-vertrauten Welt der Frauen zu stehen. Vor allem aber erinnert er uns an unsere eigenen Liebeshöhenflüge – und die darauf folgenden Abstürze. "Schwindelfrei" erzählt vom ersten Sex, von Sekundenliebe, feuchten Jungenfantasien, absurden Träumen, von der großen Leidenschaft, von Hormonen und Schokolade oder Reisen durch eine Dating-App. Ein lustvolles und fast ehrliches Buch, das Uli Brée allen Frauen widmet: von A wie Anfang bis Z wie Zores.

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Uli Brée

Schwindelfrei

Frauen sind gar nicht so,sie sind ganz anders …

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2017 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

Keine unerlaubte Vervielfältigung!

Umschlaggestaltung: Bernhard Raggl / bernhardsbuero

Illustrationen: Janny Herzog

Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien

Lektorat: Jessica Beer

ISBN ePub:

978 3 7017 4556 2

ISBN Printausgabe:

978 3 7017 1689 0

Inhalt

Vorwort

Annette – Das Haarbüschel

Bella – Der falsche Zeitpunkt

Charlotte – Sekundenliebe

Dorothea – Die vorgetäuschte Pizza

Ernestine – Das Leben ist gar nicht so …

Ernestine – … es ist ganz anders!

Friederike – Die Liebeslehre

Gabriele – Todmüde

Hanna – Die Siedlung der verlassenen Frauen (Tragische Trilogie, Teil I)

Ina Schmitz – Bis zum Refrain

Julia & Romeo – Alles gesagt …

Kalinka – Errötendes Mädchen

Livia – Seelischer Verlust (Tragische Trilogie, Teil II)

Mutti – Fertigbackmischung

Nora Burhahn – Die Krähe

Olga Konjunktinova

Paula – Filetiertes Frauenherz

Quanita – Die falsche Diät

Rosa – Nicht immer Sonne

Stella – Herzfüllung

Tinda – Wisch & weg

Ulla – Der Handschuh

Vivi Bach – Das rote Meer

Wiebke – Beziehungshülsen

X – Namika, die Schreiberin

Ylvi – Ausradiert (Tragische Trilogie, Teil III)

Zores – Memoiren eines Scheißkerls

P.S.: Baucis & Philemon

Die Wirklichkeit, die Wirklichkeitträgt wirklich ein Forellenkleidund dreht sich stumm und dreht sich stummnach anderen Wirklichkeiten um.ANDRÉ HELLER

Vorwort

Dieses Buch hat sich irgendwann verselbstständigt. Eigentlich wollte ich „26 aufrichtige Weibergeschichten“ verfassen. Von A bis Z. Scheinbar ist es das auch geworden. Tatsächlich haben sich jedoch die Aufrichtigkeiten und die Erinnerungen mit den Unwirklichkeiten vermischt. Im Laufe meiner Schreiberei haben sich die Geschichten wie von selbst immer mehr ineinander verwoben und ein Eigenleben entwickelt, als hätten sich die Frauen (längst keine „Weiber“ mehr) in diesen 26 Episoden hinter meinem Rücken miteinander verschworen und abgesprochen. Dafür bin ich ihnen unendlich dankbar. Eine Geschichte ergab die andere. Ich war zum neugierigen Mitreisenden geworden und wollte unbedingt die Lebensgeschichten meiner herbeigesehnten Figuren erfahren. So fantasierte ich mir in meiner Euphorie die Antworten auf meine Fragen einfach selbst, und es verschoben sich die greifbaren Erinnerungen immer mehr ins Unwirkliche.

Manchmal sind es kleine, wahrhaftige Momente, ein anderes Mal übernehmen frei erfundene Figuren Verantwortung für tatsächlich Erlebtes. Einige Geschichten sind grell, bunt und laut, andere dunkelgraue Melodien. Hin und wieder sind es auch nur kurze Schnappschüsse, festgehaltene Lebensmomente oder ausbuchstabierte Selfies. Glaubwürdige Unmöglichkeiten und plausible Unwahrheiten prägen diese Erzählungen. Nichts in diesem Buch ist wirklich so geschehen und doch ist es genau so passiert. Nur anders. Wie es einst schon Kurt Tucholsky so treffend formuliert hat: „Das Leben ist gar nicht so, es ist ganz anders …“ Genau so verhält es sich auch mit den Lebensmomenten in diesem Buch, daher der respektvoll abgewandelte Untertitel, den mir der wunderbare und von mir sehr verehrte Tucholsky hoffentlich gewährt hätte.

Die Zeit der Arbeit an diesem Buch war eine großartig beseelte, eine versöhnliche mit der Vergangenheit, eine kulante Abrechnung mit mir selbst und eine heilende mit meinen alten Wunden, in der ich vieles ans Licht geholt habe aus verschütteten Seelenfundgruben, eine Zeit, die mich täglich erfüllt hat, mich Neues gelehrt und mir geholfen hat, mich selber einen Hauch mehr zu Herzen zu nehmen.

Schreiben zu dürfen ist pures Glück.

Uli Brée

P. S.: All jene, die die Geschichte über Annette bereits aus dem Roman zu den Vorstadtweibern kennen, mögen mir diese Doppelung verzeihen. Aber Annettes Geschichte war der Auslöser dieses Buchs und macht es für mich erst vollständig.

Annette – Das Haarbüschel

Es ist schon eine Weile her, da war Annette seine Lebensabschnittsfreizeitpartnerin. Annette wollte allerdings mehr als nur ein Abschnitt sein. Sie wollte zusammenziehen, heiraten, Kinder kriegen, bausparen, Haus bauen, ihn mit seinem Geschäftspartner betrügen, sich scheiden lassen, ums Sorgerecht streiten, in der Gosse landen, Alkoholikerin werden, dumm sterben. Mit anderen Worten: das ganz normale bürgerliche Ehe-Programm.

Und da hatte er nicht ganz so enthusiastisch mitgezogen, im Gegenteil, er hatte Annette gefragt, ob sie komplett verrückt sei – und das hatte Annette wiederum nicht ganz so entspannt aufgenommen. An einem Sonntag, mitten am Heldenplatz.

Sie waren auf dem Weg ins Kino, um sich „Titanic“ anzuschauen. Die Welt schien in Ordnung. Aber dann war Annette völlig unvermittelt in Tränen ausgebrochen. Aus heiterem Himmel und verschmähter Zukunft heraus.

Sie stand vor ihm, mitten am Heldenplatz, mit Tränen in den Augen und verkrampfter Körperhaltung. Sie schrie, als wäre sie die Netrebko mit einer verschleppten Stimmbandentzündung: „Ich liebe dich, du bist der Einzige für mich, der Mann meines Lebens und meiner Träume! Was willst du denn noch, ich habe dir alles gegeben, einfach alles!“

Als wäre das nicht schon genug öffentliches Drama, riss Annette sich auch noch mit einem Ruck ihr Jeanshemd auf. Ein paar Knöpfe flogen als Querschläger Richtung Volksgarten, ein paar landeten zu seinen Füßen. Er stand regungslos da und dachte: „Wahnsinn! Das sind genietete Knöpfe, wenn die einmal abgerissen sind, dann kannst du das ganze Hemd vergessen. Entweder hängt noch ein Stück dran und du tust dir immer weh – oder du brauchst eine Nietzange und wer hat die schon!?“ Es tat ihm leid um das schöne Jeanshemd. Das hatte er ihr geschenkt. Und sie warf es einfach in den Dreck. „Aber so sind die Menschen“, dachte er, „die haben einfach kein Gefühl.“

Annette schrie: „Da! Ich zeig dir mein Herz! Schau hin! Ich zeig dir mein Herz!“ Er schaute auf ihre Brust, dorthin, wo man das Herz vermutete, aber da war nur dieser hautfarbene Push-up-Bra. Da war kein Herz. Sosehr er sich auch bemühte, er sah kein Herz. Außerdem hatte er die ganze Zeit woanders hinsehen müssen, weil unter ihrer Achsel ein paar Haare hervorstanden. „Vermutlich, weil sie sich schon ewig die Achselhaare nicht mehr rasiert hat“, dachte er, „… und so komisch gekräuselt sind sie auch noch.“ Ihm war das vorher noch nie aufgefallen, dieses läppische Haarbüschel. Es sah aus, als wäre ein altes Kissen aufgeplatzt und die Rosshaare herausgequollen. „Arm irgendwie. Und so erbärmlich“, dachte er.

In diesem Moment fand er das in seinem Innersten, ganz tief in sich drin, unglaublich witzig. Er konnte einfach nicht anders und bekam einen unfassbaren Lachkrampf.

Die Menschen am Heldenplatz blieben stehen und sahen zu, wie Annette ihm ihr Herz offenbarte und er ohne Ende lachte, während er mit dem Finger unter ihre Achsel deutete.

Annette hatte ihn daraufhin angesehen wie ein Erstklässler, dem sie die Schultüte zertreten haben. Dann hatte sie stumm das Jeanshemd ausgezogen, es vor seinen Füßen zu Boden fallen lassen, sich umgedreht und war wortlos davongegangen. Er stand da und dachte: „Komisch! Wieso fällt mir nicht und nicht ein, wer solch eine Nietzange hat!? Und warum gehe ich Annette nicht nach und kläre alles auf und sage: ‚Die Bella, klar! Die hat so eine Zange! Die macht so viel mit Leder, die kriegt das Hemd sicher wieder hin! Und übrigens, Annette, es tut mir leid, wirklich, das war ein Missverständnis. Es war nur wegen deinen läppischen Achselhaaren. Hör zu, ich finde das an sich unheimlich nett von dir, dass du mir dein Herz zeigst! Aber jetzt zieh dein Hemd wieder an, du verkühlst dich noch.‘“

So etwas in der Art würde man doch sagen – als anständiger Mensch! Er blieb stehen und ließ Annette seelenruhig über den Heldenplatz aus seinem Leben entschwinden. Er dachte: „Nein, nicht die Bella hat so eine Zange, die Paula hat so eine!“ Er hob das Hemd auf, rief Paula an und fragte sie, ob sie mit ihm ins Kino gehen wolle, da er ja jetzt eine Karte zu viel hatte, nachdem Annette weg war. Und ob sie ihm eventuell die Nietzange mitbringen könne wegen dem Jeanshemd.

Manchmal ist man als Mensch wirklich das Letzte. Man stürzt jemand anderen ins absolute Unglück, in pechschwärzeste Depression und tiefstes Leid, dreht sich um und geht was trinken.

Er und Paula hatten viel Spaß im Kino und wurden für einige Jahre ein glückliches Paar.

Bella – Der falsche Zeitpunkt

Sie fand das Hotel Rialto in Venedig schrecklich. Auf der Heimfahrt stritten sie so heftig, dass er sie kurz einmal vor sein Auto stellte. Sie mochte nur ihn, aber nicht sein Leben. Sich selbst mochte sie schon gar nicht und noch viel weniger ihr eigenes Leben. Sie blieben zwei Jahre zusammen, weil sich ihre Körper perfekt ineinanderfügten. Aber dann mussten sie sich eingestehen, dass ihre Lebensuhren nicht synchron liefen. Den Fernseher hatte er ihr gelassen. Sein bisschen Herz hatte er wieder eingepackt und mitgenommen.

Charlotte – Sekundenliebe

Eine Hundertstelsekunde. Genau wie bei Skirennläufern konnte dieser Hauch von Zeit über Sieg und Niederlage entscheiden.

Oder über dein Leben.

Ihre Blicke trafen einander in der Gemüseabteilung. Während er gedankenverloren Ausschau nach Biokarotten hielt, begutachtete sie mit sanftem Händedruck festkochende Kartoffeln. Ihr Blick verlor sich dabei in der Ferne und landete wie zufällig, doch mit der Kraft einer Tollkirsche, in seinen Pupillen, schlich sich wie ein Lichtstrahl in sein inneres Auge, zerplatzte darin wie ein Wassertropfen, der in Zeitlupe am Boden aufschlägt, und rann dann warm und leicht die Halsschlagader hinunter, direkt in sein pochendes Herz, das im Bruchteil einer Hundertstelsekunde vom Liebestau benetzt und beseelt war.

Sie ließ den Papiersack mit der Kartoffelsorte Charlotte des Kochtyps A, die bestens geeignet für Kartoffelsalat oder Salzkartoffeln war, einfach auf den verständnisvollen Fliesenboden fallen und lief ihm direkt in die offenen, liebesbedürftigen Arme. Vor lauter Glück fielen sie gemeinsam in die spanischen Gewächshaus-Tomaten.

Noch bevor er ihren Namen kannte, verließ er seine alte Freundin und sein restliches Leben. Er kündigte seinen Job, und Charlotte – so nannte er sie fortan – brach ihr BWL-Studium ab und log ihren Eltern vor, dass sie sich fortan gegen die internationale Kartoffelindustrie engagieren wolle. Ihre Eltern waren arme, von der EU geförderte Bauern, die Unsummen an Lizenzgebühren für Saatgut zahlen sollten und nun von Stolz erfüllt waren, dass ihre Tochter für die Freiheit der Kartoffelsaat eintreten wollte.

Sie stopften ihr bisschen Hab und Gut in ihre liebestollen Rucksäcke und umarmten ein ganzes Jahr lang die halbe Welt. Sie waren unzertrennlich und liebten sich an den unmöglichsten Orten. Auf dem Dach der Sagrada Família in Barcelona, in einem Hühnerstall in Dessau, auf einem Motorrad im Stau, in einem Beichtstuhl in Santiago de Compostela und sogar in einem schmalen Einzelbett im Chateau Marmont.

Sie weinten hin und wieder vor Glück und strahlten wie zwei Sonnen, sodass sich manchmal ein Regenbogen zwischen ihnen und der Wand ihrer Tränen entspann.

Dann ließen sie sich auf der Insel Chiloé nieder, nur weil ihnen der Name so gut gefiel. Bald darauf kam ihre erste Tochter zur Welt, die sie nach der speckigen Kartoffelsorte Ditta benannten, wegen ihrem süßen Babyspeck. Dann kam die zweite Tochter, Sieglinde, und dann die dritte, Linda, und schließlich kam Charlottes Bedauern darüber auf die Welt, dass sie ihr BWL-Studium nie abgeschlossen und ihre Eltern belogen hatte.

Das Heimweh plagte sie so wie ihn ihr Übergewicht, das sie ihrer Maßlosigkeit in Sachen Kohlehydrate verdankte. Charlotte wälzte sich faul und madig im Bett umher. Sie war eine fette, deutsche Kartoffel. Hätten sie ein Haus gehabt, dann wäre sein Segen schief gehangen. Aber auch eine Hütte reichte, um sich gegenseitig das Glück zu versalzen.

Er sehnte sich nach seinem früheren Leben und nach seiner alten Freundin Paula zurück, die er für Charlotte verlassen hatte. Plötzlich erschien ihm dieser ganze sentimentale Kartoffelschwachsinn nur mehr ein alberner Witz, eine peinliche Vergeudung, ein zermatschtes Seelen-Püree.

Und dann passierte es.

Eines Nachts stopfte er der schnarchenden, fetten Charlotte eine rohe Kartoffel ins Maul, bis sie erstickte.

Eine Hundertstelsekunde und einen Augenaufschlag später fand er hoch erleichtert die Biokarotten und gab sie in seinen Einkaufswagen. Die Frau legte die Kartoffeln wieder zurück und entschied sich für einen Sack Zwiebeln statt für ihn. Für einen kurzen Moment waren sie ein Paar gewesen und hatten ein gemeinsames Leben geführt.

Sie waren beide noch einmal davongekommen. Sie sahen sich nur ein einziges Mal wieder. An der Kassa. Als sie ging, lächelte sie ihn noch einmal an. Er hätte viel dafür gegeben, zu erfahren, welche Sekundenfantasie sie mit ihm bereist hatte …

Dann war sie weg.

Manchmal hatte er solche Momente, er sah eine Frau und sie verzauberte ihn, als würde sie ihn, wie im Vorübergehen, mit etwas Feenstaub streifen. Dann stellte er sich vor, wie wohl das Leben mit ihr wäre. Und er ließ sie ziehen und bedauerte, dass er sie nicht angesprochen und seinem Gefühl nicht vertraut hatte, um seinem Schicksal eine Überraschung zu bereiten.

Es gab Unbekannte, die ihm lange nicht aus dem Kopf gingen. Er kehrte täglich an den Ort der Begegnung zurück, in der Hoffnung auf ein von beiden ersehntes Wiedersehen. Und er war schließlich froh über das Vergessen, die Unschärfe der Erinnerung. Nur so konnte er seinen Ärger über das womöglich verpasste Lebensglück ertragen.

Was wäre, wenn er einfach seinen Gefühlen vertrauen und sich voller Euphorie jedes Mal aufs Neue, mit dem unbändigen Mut, zu scheitern, in die Ungewissheit Liebe stürzen würde?

Denn auch wenn die größte Liebe in den meisten Fällen an einer rohen Kartoffel erstickt, so sollte doch niemand vergessen, wie weit der Blick übers Meer reicht, vom Dach der Sagrada Família in Barcelona, während man einen Moment lang aufrichtig liebt.

Dorothea – Die vorgetäuschte Pizza

Als er ein kleiner Junge war, war er schon ziemlich groß. Zumindest rein körperlich. Während andere Jungen in seinem Alter genauso unselbstständig und auf die Hilfe erwachsener Frauen angewiesen waren wie er, so waren sie doch trotzdem davon überzeugt, zum Weltherrscher oder zumindest zum Diktator geboren zu sein. Er leider nicht. Im Gegenteil. Auch wenn seine Mutter ihn manchmal scherzhaft Alexander den Großen nannte.

Er hatte schon immer Respekt vor Frauen. Sie flößten ihm regelrecht Angst ein. Vielleicht war das auch ein Grund, weswegen er den direkten Kontakt mit ihnen zeitlebens vermied. Man schaut sich ja auch nicht freiwillig Horrorfilme an, wenn man sich vor ihnen fürchtet, oder!?

Und vielleicht war ja folgendes, in unseren Augen ein wenig banales Erlebnis für seine Angst vor Frauen ausschlaggebend.

Er war sechs oder sieben Jahre alt, da fuhren sie mit dem Zug, an einem Sonntag, seine Mutter und er. Der Zug hatte angehalten und eine wunderschöne Frau war eingestiegen. Das Abteilfenster war geöffnet, und als die Frau die Tür zur Seite schob, gab es einen kurzen Windstoß, ihren leichten Sommerrock hatte es hinaufgeweht wie einst den von Marilyn Monroe, und er hatte für einen Bruchteil von Sekunden einen Hauch ihrer zartrosa Unterwäsche aufgesogen. Genau auf Augenhöhe. Er musste wohl wie versteinert, mit offenem Mund auf dieses traumhafte Paradies gestarrt haben, denn seine Mutter holte ihn schließlich mit einer schallenden Ohrfeige zurück in die Realität.

Das hatte ihn geprägt. Sehr. Leider.

Das Allein-Dasein hat auch seine Vorteile, dachte er manchmal.

Viele Jahre später, als er längst erwachsen war, hatte er aus Einsamkeit Zuflucht in einem Buch gesucht: „10 Strategien, die Ihr einsames Dasein dauerhaft beenden. Ich finde mich so toll – warum bin ich noch Single?“ Fragezeichen! Das hatte er sich dann auch gefragt und war in seiner intellektuellen Schlichtheit zu folgendem Ergebnis gekommen: Das Problem lag darin, so glaubte er, dass er sich eigentlich nicht so toll fand. Schon von der Frisur her. Die war laut Buch nicht ganz typgerecht. Auch wären bei seiner Körpergröße etwas breitere Schultern ratsam gewesen, um ein Mindestmaß an Attraktivität zu garantieren, in der Hoffnung, einen positiven Bezug zwischen seiner großen Nase und seinem Geschlechtsorgan herzustellen, zumindest einem allgemeingültigen Allgemeinplatz zufolge. Auch in dieser Hinsicht war er von sich selbst enttäuscht. Darüber gab es in dem Buch leider keinen einzigen Eintrag.

Auch sein BMI, also sein Body-Mass-Index, dürfte eher verhaltensauffällig sein. Nahm er an. Ihm fehlten allerdings auch hier die mathematischen Grundlagen und die Muße für die genauere Überprüfung dieser Fakten.

Davon abgesehen, hatte er sich überlegt, dass es in seinem Fall sowieso egal war, weil er ja den direkten Kontakt zum weiblichen Geschlecht ohnehin möglichst vermied. Vielleicht aus Furcht, sich wieder eine Ohrfeige einzuhandeln.

Einmal hatte er sich überwunden, eine Therapie zu machen. Er war über die Krankenkasse an eine ausgesprochen streng dreinblickende Therapeutin in einem großkarierten Schottenrock geraten, welcher augenscheinlich nur von einer überdimensionalen, bronzefarbenen Sicherheitsnadel zusammengehalten wurde. Während seiner ersten Sitzung konnte er den Blick nicht von dieser Nadel lassen, aus Furcht, sie würde aufspringen und etwas preisgeben, das er auf keinen Fall zu Gesicht bekommen wollte. Und womöglich würde er dafür auch noch eine Ohrfeige erhalten. Eine fürchterliche Vorstellung, die ihn in einen katatonischen Zustand versetzte. Er starrte, scheinbar ohne zu atmen, jedenfalls ohne zu reden, ohne sich auch nur einen Millimeter zu bewegen, 45 Minuten lang auf diese riesig große, Furcht einflößende Sicherheitsnadel, die nur darauf wartete, aufzuspringen und ihn anzugreifen.

Die Therapeutin legte währenddessen Patiencen oder machte zwischendurch ein kurzes Power-Näppchen.

Nach der zweiten Sitzung ging er nicht mehr zu ihr. Er besuchte einen anderen Therapeuten, um seine Traumatisierung durch die karierte Schottin in den Griff zu bekommen. Als dieser allerdings immer mehr seine Nähe suchte und sich am Ende der dritten Sitzung zu ihm aufs Sofa legte, gab er auf und zog sich komplett zurück. Fortan vermied er jeglichen Kontakt zu anderen Menschen.

Seine gnädigerweise verstorbene Mutter hatte ihm das Haus und etwas Geld vererbt, sodass es ihm möglich war, keinerlei Arbeit nachgehen zu müssen. Er hatte sich ausgerechnet, dass er die nächsten 23 Jahre den Pizzaservice bezahlen könnte, wenn er nicht über die Stränge schlagen und keine zusätzlichen Leistungen wie Salate oder Desserts in Anspruch nehmen würde. Seinen einzigen Kontakt zur Außenwelt, abgesehen von dem alten Taiwanesen, der ihm die Pizza brachte, hatte er per Telefon.

Doch langsam tastete er sich wieder zu den Frauen vor, genauer gesagt, übers Tastentelefon. Also mehr auf der telefonischen Ebene und nicht auf der körperlichen. Das war ihm einfach zu anstrengend. Auch von der Frisur, den Schultern und vom unbekannten BMI her.

Da gab es eine Art Single-Chat, und wenn man sich am Telefon gut verstand, konnte man später auch einmal an Kinder denken. Dazu müsste man sich dann allerdings persönlich treffen, notgedrungen. Das war ihm bewusst.

Falls man sich am Telefon, also falls die Beziehung schon so tief war, dass man sich am Hörer nähergekommen war und ein wenig geschmust oder auch schon Petting gehabt hatte, und dann eines Tages, nach unzähligen Gesprächen, der Wunsch wach wurde, miteinander zu schlafen, konnte man entweder immer noch auflegen oder eben, nach reiflicher Überlegung und Hinterfragen der Emotionen und der Frisur, es dann einfach tun. Am besten in der Nacht, weil da die Tarife günstiger waren. Denn wer gerne ausgiebig und intensiv und auch ehrlich lieben und nicht nur an einer schnellen Telefon-Nummer interessiert war, der sollte wirklich wissen, was er tut. Damit es für beide schön würde.

Dann rief Dorothea an.