Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
In ihrem ersten gemeinsamen Fall stoßen Liesl und ihre Freundin Barbara auf das beneidenswert schöne Hinscheiden der Öder Chorleiterin Magdalena Schamberger. Das hat schon was, im Moment der höchsten Leidenschaft den Tod zu erleiden. Aber so ganz glaubt die Liesl nicht an die himmlische Liebesnacht. Und als dann prompt noch jemand beim Leichenschmaus der Dahingeschiedenen dahinstirbt, ist für Liesl alles klar. Ganz Öd ist ein einziger Sündenpfuhl, den es auszuheben gilt. Dabei kommt Vergangenes zutage, was die Gegenwart ganz schön zum Wackeln bringt. Die Krimi-Reihe wird mit Katharina Straßer in der Hauptrolle verfilmt und läuft ab Herbst 2024 auf Servus-TV.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 199
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Danke, dass Sie sich für unser Buch entschieden haben!
Sie wollen mehr über uns & unsere Bücher erfahren, über unser
Programm auf em Laufenden bleiben sowie über Neuigkeiten und Gewinnspiele informiert werden?
Folgen Sie
auch auf Social Media
& abonnieren Sie unseren Newsletter
Über das Buch
Das hat schon was, im Moment der höchsten Leidenschaft den Tod zu erleiden. So soll sie gestorben sein, die Schamberger Magdalena – ihres Zeichens Öder Chorleiterin – sagt die Barbara. Aber so ganz glaubt die Liesl nicht an die himmlische Liebesnacht. Und als dann prompt noch jemand beim Leichenschmaus der Dahingeschiedenen dahinstirbt, ist für Liesl alles klar: Ganz Öd ist ein einziger Sündenpfuhl, den es auszuheben gilt. Dabei kommt Vergangenes zutage, was die Gegenwart ganz schön zum Wackeln bringt.
Uli Brée
Zwei Frauen und (k)ein Mord
Band Eins:
JUGENDSÜNDEN
ueberreuter
TEIL EINS Das Unglück, die Liesl, das Begräbnis, das Vermächtnis und ein noch viel größeres Unglück
TEIL ZWEI Die Enttäuschung, das Video-Inferno, die Barbara, die Offenbarung und das Herzerl am rechten Fleck
TEIL DREI Der Trittbrettfahrer, der Entführer, der Liebhaber, die Wahrheit, die ganze Wahrheit und die Wahrheit, die echt keiner mehr braucht
Normalerweise steht an dieser Stelle: „Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.“
In diesem Fall geht das nicht, denn es gibt sie, die Liesl von der Post, auch wenn sie in Wirklichkeit Michi heißt. Ich lebe in einem netten kleinen Ort in Tirol, wo jeder jeden kennt. Unsere Briefträgerin, die Michi, bleibt gern für einen Ratscher bei uns am Gartentor stehen. Sie hat immer ein paar Leckerlis für die Hunde dabei und den Motor von ihrem verbeulten Postauto lässt sie auch immer laufen. Die Michi ist gern daheim und fährt nie fort. Witzigerweise hat sie einen Freund, der Fernfahrer ist. Diese Kombination diente mir als Inspiration. Nur Krimis löst sie keine. Und Morde passieren bei uns im Ort auch eher wenige.
Ich habe einmal in einem Interview mit einem namhaften Autor gelesen, dass er nur über Dinge schreibe, die er kenne. Wenn wir das alle tun würden, gäbe es wohl weitaus weniger Krimis. Und doch verstehe ich, was er meint. Es ist durchaus hilfreich, am Land zu leben, wenn man übers Land und seine seltsamen Gepflogenheiten schreibt. Vieles von dem, was Sie hier lesen werden, kenne ich aus eigener Erfahrung, auch wenn alle weiteren Personen, Handlungen und Örtlichkeiten völlig frei erfunden sind. Sollten Sie sich also in irgendeiner Form in dieser Geschichte wiedererkennen und mit einer Sammelklage, Verleumdungen oder persönlicher Kränkung liebäugeln, bitte ich Sie höflichst, davon abzusehen. Um es mit dem großen Nestroy zu halten: „Ist alles Chimäre, aber mich unterhalt’s.“
– Uli Brée
Please don’t go!
Liesl beschleunigt auf der lang gezogenen, leicht abschüssigen Kurve rauf auf einen 70er, schaltet kurz vor der Stöttlbachbrücke einen Gang runter und dreht den Motor in den roten Bereich. Dann kommt auch schon die Kuppe und sie hebt mitsamt ihrer gelben Rakete ab und fliegt bei günstigem Wind bis zum Ortseingangsschild.
Sie schnappt sich das kleine Paket vom Beifahrersitz und steigt aus ihrem verbeulten Postauto. Den Motor lässt sie laufen. Wie das halt so ist am Land. Da würde sie ja deppert werden, wenn sie den jedes Mal neu starten würde. Reicht schon, wenn sie an die Kupplung denkt. Sie hat sich einmal ausgerechnet, als ihr fad war, wie oft sie an einem Vormittag die Kupplung tritt.
Liesl geht auf das alte, mit violetten und weißen Geranien überreich verzierte Häuschen von der Schamberger Magdalena zu. Eine eigenwillige Sitte, dass am Land immer erst der Nachname genannt wird. Nur bei der Liesl ist es anders, aber vielleicht nur, weil sich keiner mehr wirklich dran erinnern kann, wie sie mit Nachnamen heißt. Und „die Post-Liesl“ klingt halt nicht so schön wie „Die Liesl von der Post“. Da denkt ein jeder gleich einmal an Operette.
344-mal! An einem Vormittag. Wieso die keine Automatikautos bei der Post haben, wird Liesl für immer ein Rätsel bleiben. Da ist einen Mord aufklären ein Kinderspiel dagegen.
Sie marschiert auf das prachtvoll renovierte Häuschen zu. Die Schamberger war lange Jahre die Vorsitzende vom Dorfverschönerungsverein, kein Wunder also, dass ihr Haus so aussieht, wie es aussieht. Und im Kirchenchor spielt sie Gitarre. Und wer es genau wissen will, sie war nie verheiratet.
Liesl klopft mit dem schönen alten Metallklopfer an. Eine Klingel gibt es nicht. Die würde auch nichts nützen, bei dem Lärm, der aus dem Haus dringt. Wobei, Lärm ist nicht ganz richtig. Schmuserock wäre stimmiger. Liesl kennt die Nummer: „Please don’t go“, KC and the Sunshine Band. Ist auf Schmuserock für romantische Stunden, Volume 1. Das ist eigentlich eine ganze CD-Box. Ja, Liesl hat noch CDs, auch wenn ihre Freundin Barbara sie dafür auslacht. Liesl steht dazu. Aber nur, weil ihr nix anderes übrig bleibt.
Während Liesl vor der rustikalen Holztüre wartet, an der auch noch an einem grünen Samtbandl ein kleiner selbst gemachter Kranz hängt – die Schamberger ist ja schließlich auch im Öder Brauchtumsverein –, dringt aus dem Haus: „I want you to know that I‘m gonna miss your love the minute you walk out that door.“ Wie passend, denkt Liesl. Dabei fällt ihr Blick auf das rostig-rote Mountainbike, das an der schönen alten Holzbank lehnt, die die Schambergerin sicher selber abgebeizt und renoviert hat. Keine Ahnung, welchen Verein es dafür wieder gibt. Irgendwie passt das Radl nicht in das perfekte Bild.
Dass man am Land den Nachnamen zuerst nennt, kommt übrigens aus dem Mittelalter. Bis dahin hatten alle nur einen Namen. Aber weil es dann immer mehr Leute wurden in Tirol und man sie nicht mehr unterscheiden konnte, hat man ihre Berufe dazugesagt: der Müller-Josef, der Bauer-Karl, der Nah- &-Frisch-Walter. Warum jetzt die Schamberger Magdalena Schamberger heißt, darauf hat Liesl auch keine Antwort.
„Magdalena!?“, ruft sie und klopft erneut. „Du musst mir was unterschreiben!“ Noch immer keine Antwort. „So please don’t go, don’t go, don’t go away“, singen sie und KC, der eigentlich Harry Wayne Casey heißt, nun gemeinsam, während sie hinters Haus in den perfekt gestalteten Garten geht und durch die große Terrassentüre lugt, die die Magdalena vor ein paar Jahren nachträglich hat einbauen lassen. Sehr stimmig, das Ganze. Und überhaupt kein Störfaktor. Manchmal haben die Leute ja gar kein Gespür für so was. Aber die Magdalena schon. Das muss man ihr lassen.
Da drinnen ist niemand zu sehen, denkt sich Liesl, bis auf den Umstand, dass die Schiebetüre einen Spalt offen steht. Und bevor sie das Packerl wieder einpackt und mit zurück auf die Post nimmt und die Magdalena dann wieder zum Nah & Frisch fahren muss, wo jetzt auch die Post untergebracht ist – man hat ja schließlich einen ökologischen Fußabdruck zu verlieren –, geht sie lieber rein und schaut, ob die Magdalena vielleicht nur gerade vor ihrem alten Wäschetrockner steht und die Liesl einfach nicht gehört hat.
„Schambergerin?“
Was Liesl nicht sieht, wie sie die frisch restaurierte Zirbenstube mit den vielen schlichten Heimatbildern betritt – Magdalena hat einmal am Wifi einen Malkurs belegt –, sind die nicht mehr ganz so weißen Arbeitsschuhe mit den blutigen Flecken, die unter den selbst genähten Vorhängen mit der grünen Samtbordüre hervorlugen. Wahrscheinlich hatte die Schamberger von der Bordüre noch was übrig gehabt und draus Bandln gemacht für Weihnachtsgeschenke oder nette Kranzln. Magdalena ist Vorsitzende vom Adventverein.
„Hallo? Da ist die Lieselotte von der Post“, ruft sie noch ein bissel lauter und bestimmter, um Casey mit seinem nervigen „Please don’t go“ zu übertönen, das aus einem der hinteren Zimmer kommen muss. Und gerade wie Liesl weitergeht in Richtung Schmuserock, huschen auch schon die nicht mehr ganz so weißen Schuhe mit den blutigen Flecken zur Terrassentüre hinaus. Klar, dass nachher das rostig-rote Radl verschwunden ist.
Liesl steht inzwischen vor der Schlafzimmertüre. Ein letzter Versuch. Sie klopft sachte an und fragt: „Magdalena, alles okay bei dir?“ Wieder keine Antwort. Und bevor jetzt „Why can’t we live together“ ertönt, macht sie lieber die Türe auf, den Song mag sie nämlich nicht und versteht bis heute nicht, was so eine negative Aussage auf Schmuserock für romantische Stunden zu suchen hat.
Ob allerdings das, was sie jetzt sieht, romantisch ist, sei dahingestellt. Auf einen Sitz kriegt sie keine Luft mehr, ihr Herz legt eine Vollbremsung hin, ihr Kreislauf tanzt Cha-Cha-Cha, dann wechselt er ins Notprogramm. Eine Hundertstelsekunde später rutscht sie mit dem Rücken am Türstock hinunter, das Packerl fällt ihr aus der Hand und geht zu Boden. Genau wie sie. Sie kann gerade noch am Handy auf Barbaras Nummer drücken: „Kannst du herkommen? Ich bin bei der Schambergerin.“ Das Letzte, was sie denkt, ist: Verdammt, der Motor läuft. Dann fliegt auch schon die inwendige Sicherung und Liesl hat einen kompletten Stromausfall.
Lieselotte
Niemand weiß, wie Liesl eigentlich mit Nachnamen heißt. Sie weiß es selber nicht mehr so genau. Dazu müsste sie mal in ihrem Pass nachschauen, aber den hat sie bis jetzt nur einmal gebraucht in ihrem Leben und dann nie wieder. Und Post bekommt sie auch nicht, obwohl sie bei der Post arbeitet. Aber nur weil man Post austrägt, bedeutet das ja nicht, dass man auch Post bekommt. Für die Leute in Öd ist sie einfach die Liesl von der Post.
Die Liesl hat Öd erst einmal verlassen, da ist sie aber nicht weit gekommen. Klar, sie war schon mal in der Landeshauptstadt in der Postzentrale, aber so richtig weit weg war sie noch nie. Einmal, als sie noch ein Kind war, ist sie mit ihren Eltern nach Salzburg gefahren, aber am deutschen Eck hat sie schon so derartig Heimweh bekommen, dass ihr Vater schließlich bei der nächsten Ausfahrt rausgefahren ist und umgedreht hat. In Wahrheit war es ihm eh recht und der Mama auch.
Liesl ist einfach gern daheim. Sie hat nichts gegen die Welt da draußen, sie hat nur überhaupt keinen Drang, sie kennenzulernen. Wozu auch? In Öd ist es wunderschön. Vielleicht manchmal ein bisschen öd, aber dafür gibt es ja noch Oberöd und Unteröd. Oberöd hat zum Beispiel einen Nah & Frisch zu bieten, da ist auch die Post untergebracht, nachdem sie die anderen Filialen geschlossen haben. Und eine Kirche und einen Friedhof hat’s auch. Außerdem gibt es in Öd einen Recyclinghof. Das ist quasi der moderne Dorfplatz. Zwischen Altpapier und Glascontainer trifft man sich jeden Samstag und tauscht den neuesten Tratsch aus. Und die Diskont-Tankstelle am Ortseingang ist die neue Wasserstelle. Da hockt jeden Abend auf mitgebrachten Campingstühlen die Jungbauern-Dorfelite mit ihren aufgemotzten Kleinwägen und wartet darauf, dass was geschieht. Es geschieht natürlich nix. Aber das hat auch was Verlässliches und Beruhigendes an sich, wenn man bedenkt, was sonst so alles in der Welt passiert.
Einen Badesee gibt’s auch, mit Algen und einem Kiosk. Wenn kaltes Wetter ist, gibt’s keine Algen, aber auch keinen Kiosk. Der Brenner Rudi wollte einmal einen Campingplatz am See errichten, aber die Gemeinde hat sich quergestellt. Seitdem ist er im Clinch mit dem Gemeinderat. In letzter Zeit wird gemunkelt, dass eine internationale Investorengruppe ein riesiges Wellness-Retreat direkt am See errichten will. Viel Spaß mit den Algen.
In Unteröd gibt’s sogar ein Businesscenter aus Waschbeton. Aber das steht leer. Da hat sich schon einmal ein Investor verspekuliert. Alle anderen hätten ihm das vorher schon sagen können. Es heißt aber, dass da jetzt bald ein Friseur oder ein Brautmodenladen reinkommt. Aber das sagen die Leute schon seit Jahren. Bis das passiert, sind die meisten schon wieder geschieden. Einen Prominenten kann Öd übrigens auch vorweisen. Aus der Schlagerbranche.
Die Schottergrube gehört der Schwester vom Brenner Rudi. Die zwei sind allerdings spinnefeind. Aber mit wem ist der Brenner Rudi das nicht?
Gleich an der Bundesstraße liegt das Inferno vom Mike, aber das Inferno hat schon ewig geschlossen, weil der Mike mit seiner Disco irgendwann pleitegegangen ist. Ende der 90er. Aber das heißt nix, weil der Mike immer pleite geht. Da, wo jetzt das Businesscenter steht, hat er früher auch mal eine Videothek gehabt, aber wie dann nach der DVD auch noch das Streaming aufkam und keiner mehr Videos ausgeborgt hat, hat er zusperren müssen. Und gegenüber vom Waschbetoncenter ist das Gemeindeamt, da ist auch die Polizeidienststelle drin, die sie jetzt zusammengelegt haben mit den Gendarmerieposten von den ganzen anderen Gemeinden. Aber „Gendarmerie“ sagt man jetzt nicht mehr. Ein Wunder, dass die Polizei nicht auch im Nah & Frisch untergebracht ist, zwischen der Post und der Gemüseabteilung. Und dann wäre da noch der Jägerwirt. Das einzige Gasthaus in der Gegend, das noch offen hat. Ansonsten gibt es nur noch das Flamingo, da gibt’s Kebap und Pizza. Betreibt der Adil. Ein ganz ein netter Syrer, der sich entweder als Türke ausgibt oder als Italiener, hängt davon ab, was man bestellt. Da ist er flexibel.
Das schmale Tal ist von herrlichen Bergen umgeben, die für Menschen, die von woanders kommen, eventuell auch wie hohe, sehr hohe Mauern wirken könnten. Außer für den Adil. Der kennt ganz andere Mauern, sagt er.
Den Toni darf sie natürlich auch nicht vergessen. Der steht jeden Morgen um drei viertel zwölf an der Dorfstraße und hält den Daumen raus, um zu seiner Mutter zu trampen. Fünf Häuser weiter. Mittagessen. Die Liesl klaubt ihn auf ihrer Route wortlos auf. Und um drei viertel zwei trampt er wieder zurück. Der Toni ist jetzt auch schon 50 und erst vor einem Dreivierteljahr daheim ausgezogen. Es ist immer das Gleiche, am Hinweg sagt die Liesl: „Grüß mir die Mama!“ und der Toni sagt: „Richt ich aus.“ Und am Heimweg sagt der Toni dann kurz vorm Aussteigen, ohne dass die Liesl fragt: „Kohlrouladen“ oder „Gulasch“, je nachdem, was es zu Mittag gegeben hat. Und das war es dann auch schon wieder mit der angeregten Konversation.
Öd ist wirklich schön. Man muss die Schönheit nur sehen. Oder zumindest sehen wollen. Öd liegt übrigens gleich vor Oberöd und Unteröd am Anfang vom Okroatzertal. Der Name rührt daher, weil das Okroatzertal eine Sackgasse ist. Wer da reinfährt, muss irgendwann wieder umdrehen. Und wer nicht umdreht, kratzt irgendwann ab. So hat man das früher jedenfalls gesehen, wie es noch keine Autos und keine Straßen gegeben hat, nur Eselspfade. Aber das ist lange her. Sehr lange. Vielleicht sind die Enge des Tals und die Sackgasse die Gründe dafür, dass sich kaum Touristen da herverirren. Skilifte gibt’s auch keine. Nur einen Badesee mit Algen und ein paar Wanderwege. Garantiert ein Grund dafür, dass Öd ein bissel der Zeit hinterherhinkt.
Liesls Freund Didi, der eigentlich aus Deutschland stammt, zieht sie manchmal auf: „Was kommt eigentlich nach Unteröd und Oberöd? Superöd und Megaöd?“
Er versteht sie oft nicht, aber er liebt sie. Und für die Liesl ist er der perfekte Mann. Didi ist Fernfahrer und nur sporadisch zu Hause.
„Warum soll ich woandershin fahren, dafür hab ich doch dich, Didi. Du kannst mir immer erzählen, wie die Welt da draußen ist.“ Und dann erzählt er ihr, wie spannend die Staus und die Rastplätze auf der A8 sind, und spätestens dann antwortet sie: „Und du fragst mich ernsthaft, warum ich nicht woandershin will!?“
Vielleicht liegt es aber auch daran, dass sie daheim in der guten Stub’n auf dem Sofa geboren ist. So etwas prägt. Das Sofa hat sie noch immer. Und in ihrem Elternhaus wohnt sie auch noch. Nur ihre Eltern nicht mehr. Die sind verstorben. Darüber redet sie nicht gern.
Wenn die Liesl ein Problem hat, dann das, dass ihr die Welt da draußen zu anstrengend und Öd zu öd ist. Vielleicht kommt daher ihr Gedanke, vielleicht ist es auch ein Wunsch, dass sie hinter allem gleich ein Verbrechen vermutet. Oder erhofft. Oder in Betracht zieht.
Ist schon komisch, vielleicht sind ja die Menschen so. Wenn das Leben zu idyllisch ist, dann misstrauen sie ihm. So ist es auch ein bisschen mit der Liesl. Aber es könnte auch sein, dass es daran liegt, dass sie als Postlerin immer einen Blick hinter die Postkartenidylle werfen kann. Sie kennt nicht nur jeden und jede in Öd, nein, sie kennt auch jeden Hund und jedes Haus von innen und jeden Brief und jede Postkarte und jedes Paket und jede Mahnung und jede Vorladung und jeden Drohbrief und jede Rücksendung und sogar den einen Liebesbrief, der vergeblich nach Lavendel geduftet hat. Sie weiß, wie die Leute leben, was sie an Pension bekommen, wer gepfändet wird, wer kaufsüchtig ist, wer sich Sexartikel in neutralen Verpackungen bestellt und wer immer nur Anwaltsschreiben bekommt und sie vor ihren Augen in den Müll haut. Sie weiß, wer die ganzen Postwurfsendungen von vorne bis hinten liest, nur weil ihm nie jemand schreibt. Sie weiß, wer schon eine Stunde früher am Gartenzaun auf sie wartet, nur wegen ein paar Minuten Ansprache. Sie weiß, wo sie einen Kaffee oder einen Zirbenschnaps bekommt und wer sich im Stall versteckt, damit er die eingeschriebenen Briefe vom Finanzamt nicht annehmen muss.
Sie kennt ihre kleine Welt so derartig gut, so in- und auswendig, dass sie sich außerhalb von Öd nur verloren vorkommen könnte. Ja, sie würde wahrscheinlich durchdrehen und verrückt werden, weil sie sich da draußen, also außerhalb von Öd, bei jedem Haus, bei jedem Menschen, bei jedem Briefkasten fragen würde, welche Geschichte, welches Leben, welche Freude und welche Einsamkeit sich dahinter verbergen könnten. Und das würde sie um den Verstand bringen. Das weiß sie, rein instinktiv. Und genau deshalb bleibt sie in diesem kleinen Ort, auch wenn ihr der Himmel über Öd manchmal Kopfweh verursacht. Aber mehr als die 999 Einwohner mitsamt ihren Geschichten vertragen ihr Herz und ihr Verstand nicht. Weil sie doch immer gleich mitfühlt und sich reindenkt – in die Leben der anderen. Sie kann nichts dagegen tun. Romantische Komödien hält sie übrigens gar nicht aus. Danach kann sie nicht schlafen vor lauter Gefühl.
Dummerweise fühlt sie nämlich auch mit, wenn es den Menschen nicht so gut geht. Und wenn es wem ganz, ganz schlecht geht, sagen wir mal, wenn es wem so schlecht geht, dass er tot ist, dann wird ihr vor lauter Mitgefühl gleich einmal schlecht. Blöderweise trifft sie ständig auf Leichen.
Es ist nicht so, dass Verbrechen oder Krimis ihre Leidenschaft wären, es ist eher so, dass sie neben ihrer großen Empathie über einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn verfügt. Ihr ist es einfach zuwider, wenn das Böse siegt. Kurz gesagt: Die Liesl ist zu gut für diese Welt. So wie manche Menschen nur nach innen gekehrt sind, ist ihr Inneres nach außen gestülpt. Sie kann so schwer einen Hehl aus sich selber machen. Manchmal hat sie das Gefühl, sie trägt nicht nur die Post aus, sondern sich selber auch gleich mit dazu. Die Briefe sind vielleicht verschlossen, sie ist es nicht. Im Gegenteil. Die Liesl trägt, wie man so schön sagt, ihr Herz auf der Zunge.
Die Leute in Öd mögen die Liesl, auch wenn sie manchmal nervt, zu viele dumme Fragen stellt und sich für Miss Marple hält – nur in Gelb. Aber die Leute sehen ihr das nach, weil sie alle wissen, dass die Liesl alles über sie weiß.Und so was schweißt zusammen. Ob man will oder nicht. Es sei denn, man verlässt Öd. Aber wer will das schon ...
Wenn Gott weint
Es donnert und blitzt in der Ferne. Der Himmel ist wolkenverhangen und traurig. Gott droht immer wieder mit Regen. Er lässt ein paar Tropfen auf die Trauernden niedergehen, woraufhin diese in großer Einigkeit ihre schwarzen Schirme aufklappen. Nur einer ist gelb und wirkt wie ein Lichtblick, wie Sonne hinter den Wolken, dabei ist er einfach nur unpassend und ein Werbegeschenk. Liesl hatte keinen anderen im Auto. Was hätte sie tun sollen?
Kurz kommt die Sonne durch, gleich drauf wieder ein kurzer Schauer. Das ständige Auf und Zu der Schirme wirkt wie eine schlecht geprobte Choreografie, taktlos und unpassend zu „Ein bisschen Frieden“, das der Kirchenchor mit ernster Miene singt, von Pfarrer Rahul auf einer zwölfsaitigen Gitarre begleitet. Magdalena fehlt! Obwohl sie da ist! Eigentlich müsste sie die Gitarre spielen und nicht der Pfarrer. Aber wie soll das gehen? Sie liegt nun mal in diesem Sarg und muss wortlos und leblos das Dilemma der allgemeinen Taktlosigkeit erleiden, bis sie endlich in ihr Grab darf.
Der Fuchsschwanz an der Gitarre irritiert Barbara. „Hast du nicht gewusst, die Magdalena war im Jagdverein“, flüstert Liesl ihrer besten Freundin zu.
„Hm“, wundert sich Barbara, „war die nicht auch im Tierschutzverein? Findest du nicht, dass sich das ein bissel beißt?“
„Schön formuliert“, grinst Liesl sie an und fängt sich gleich einen bösen Blick von Pfarrer Rahul ein. Dabei ist sie gar nicht mehr bei seinem Verein, wenn wir schon so viel von Vereinen reden. Im Gegensatz zur Verstorbenen hat es Liesl nicht so mit solcherart Zusammenkünften und auch nicht so mit der katholischen Kirche. Aber das ist eine andere Geschichte. „Wie ist das eigentlich? Muss ich mich noch schuldig fühlen, wenn mich der Herr Pfarrer strafend anschaut, obwohl ich gar nicht mehr bei seinem Verein bin? Meine Schuld, meine Schuld, meine große Schuld.“
„Psst!“, hört sie die Frau Bürgermeister von der Seite zischeln. Und schon ist Liesl still. Zumindest für einen Moment. Dann wendet sie sich wieder an ihre Freundin: „Muss ich die Franzi da drüben überhaupt ernst nehmen, obwohl ich sie nicht gewählt habe?“
„Die hat keiner gewählt und doch alle. Wenn sich sonst niemand aufstellen lässt, ist es nicht schwer, die Wahl zu gewinnen“, flüstert Barbara zurück.
„Psst!!!“, kommt es streng von allen Seiten und die zwei sind endlich still. Zumindest für einen Moment.
Liesl blickt sich um. Wer da so alles gekommen ist, zum Begräbnis. Schon interessant. Natürlich die ganzen Vereinsmeier. Eh klar. Aber sonst sind schon auch einige Leute da, die sie nicht vermutet hätte. Gut, der Herr Dr. Gapp ist nur da, weil er der Dorfarzt ist. Das ist Pflicht. Am Land nehmen es einem die Leute ziemlich übel, wenn man nicht zu ihren Begräbnissen erscheint. Also, die Hinterbliebenen jedenfalls. Immerhin verzögert man beim Herrn Doktor ja um gutes Geld sein Sterben. Dann will man schon, dass er zum Abschied erscheint, auch wenn die Verzögerungstaktik irgendwann nicht mehr aufgeht.
Das ist ja überhaupt interessant, ihre Freundin Barbara ist immer nur die Gattin vom Herrn Doktor, obwohl die beiden gemeinsam studiert und dann die Praxis in Oberöd eröffnet haben. Praxis für Allgemeinmedizin Dr. Bernhard Gapp und Dr. Barbara Gapp. Was ist daran so schwer zu verstehen? Denken die Leute ernsthaft, dass die brave Gattin ihrem erfolgreichen Mann nur unter die Arme greift, wenn der viel beschäftigte Herr Doktor keine Zeit hat? Wahrscheinlich. Kann schon sein. Und trotzdem lassen sie sich von ihr behandeln. Vielleicht weil sie denken, es ist billiger, wenn sie nur die Frau vom Herrn Doktor untersucht und nicht ein echter Arzt.
„Stell dir vor, die stellt sogar Rezepte aus.“
„Ja, aber nur, wenn es der Gott in Weiß abgesegnet hat.“
So ist das am Land. Aber das heißt noch lange nicht, dass das richtig ist.
Und der da drüben, der gleich neben dem Herrn Doktor steht, ist Mike Donath. Der mit den schütteren, schwarz gefärbten Haaren. Sogar die Augenbrauen und den Oberlippenbart hat er sich gefärbt. Nur blöd, dass man überall schon wieder den Ansatz sieht. Mike ist einer von denen, die irgendwann den Absprung ins nächste Jahrzehnt verpasst haben. Er ist ein bissel wie eine Schallplattennadel aus den 80ern, die in der letzten Rille hängen geblieben ist und jetzt hängt und hängt und hängt und hängt. Und eine Spur zu viel Bauch hat er auch. Fragt sich, wie er immer noch in die schwarzen Röhrenjeans passt. Die haben wahrscheinlich einen Stretchanteil. Dass es die überhaupt noch zu kaufen gibt. Genauso wie die schwarzen Cowboystiefel mit den schrägen Absätzen. Das ist ja fast schon wieder modern, vielleicht nicht grad in Öd, aber anderswo auf der Welt, denkt Liesl und ist fasziniert. Und warum steht der Herr Doktor eigentlich da hinten beim Mike und nicht bei seiner Frau?
„Hm?“
„Ich hab dich gefragt, warum dein Mann nicht bei dir steht, sondern da hinten.“
„Weil er zu spät gekommen ist. Wie immer. Der Herr musste ja noch Radl fahren.“