Schwingenfall - Simon Denninger - E-Book

Schwingenfall E-Book

Simon Denninger

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Beschreibung

"Schatten fallen auf die Lichtlande.Dunkelheit breitet ihre Schwingen aus.Die Engel können ihr Reich nicht länger beschützen.Wer wird überleben in der Welt, die kommt?"Seit der Ankunft der Engel auf Erden scheint für die Menschheit ein goldenes Zeitalter angebrochen. Doch als der Grenzwächter Toryan mit ansehen muss, wie ein Engel ermordet wird, geraten er und die junge Gutsmagd Minn mitten in den Kampf der Lichtlande gegen die finsteren Mächte der Altnacht eine epische Auseinandersetzung voller Intrigen und Verrat.Schnell wird klar, dass dabei nicht weniger als das Schicksal aller lebenden Geschöpfe auf dem Spiel steht. Denn die schrecklichste aller Gefahren lauert unerkannt mitten unter ihnen. Und der Schlüssel zu Triumph oder Auslöschung liegt in Minns Innersten verborgen

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Schwingenfall

Simon Denninger

Copyright © 2020 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

http: www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Stephan R. Bellem

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout: Michelle N. Weber

Umschlagdesign: Alexander Kopainski

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-629-5

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

1. Botschaft der Nacht

2. Die Zitadelle von Gorvul

3. Alte Schatten

4. Die Audienz

5. Gezeter

6. Obskure Stunden

7. Unerwartete Besucher

8. Bündnisse

9. Erkenntnisse und Rätsel

10. Aussichten

11. Teestunde

12. Treffen in der Nacht

13. Spione auf Gut Eulenstein

14. Ein Aufbruch ohne Abschied

15. Blutrausch

16. Hetzjagd

17. Die brennende Grenze

18. Im Moor

19. In der toten Stadt

20. Der Knochenmann

21. Gemetzel

22. Die Prophezeiung der drei Pfade

23. In Glimmheim

24. Zuflucht

25. Erntezeit

26. Rückkehr

27. Beim Herrn der Alten Nacht

28. Entkommen

29. Im Regendom

30. Die Wurzeln der Welt

31. Verschlungene Wege

32. Die Jäger

33. Unter den Finstersteinen

34. Freundschaftsdienste

35. Hinter den Wänden

36. Die Stanglfelder

37. Die Predigt

38. Zurück in Glimmheim

39. Sturz in die Schatten

40. Erwachen

41. Die Fürsten versammeln sich

42. Wandel

43. Die Altnacht marschiert

44. Von Dunkelheit und Sternen

45. Engelskuss

46. Kriegsrat

47. Gewonnen und verloren

48. Roter Regen

49. Zashens Lohn

50. Die fünfte Stimme

51. Toryans Verrat

52. Auf nach Daosam

53. Die Schlacht der Verräter

54. Das Sanktum in Servul

55. Des Lichtbringers List

56. Zu Asche

57. Schwingenfall

58. Ein Schimmer Hoffnung

Epilog

Glossar

Danksagung

1

Botschaft der Nacht

Die Wolken regneten Blut. Ströme von Blut, vermischt mit weißen Federn.

Salzig und warm klatschte es in Toryans Gesicht, doch sein Magen war ein einziger Eisklumpen. Als Grenzwächter in Dimmgrund hatte er mit seinen zwanzig Jahren schon mehr gesehen als die meisten Menschen in einem ganzen Leben, und für gewöhnlich brachte ihn so schnell nichts aus der Ruhe. Aber das hier war übel.

Er kämpfte sich Schritt für Schritt durch die feuchte Heide. Die Erde schmatzte unter seinen Stiefeln. Der Wind heulte, peitschte ihn mit dem Regen, zerrte an ihm, als wollte er ihn zurückhalten. Zumindest hoffte Toryan, dass es der Wind war. Dimmgrund war neutrales Gebiet zwischen den Lichtlanden und der Alten Nacht. Hier gingen mancherlei Geschöpfe um, die in den Städten höchstens in Legenden auftauchten.

Und nun war etwas eingedrungen, was nach Recht und Gesetz nicht hätte da sein dürfen. Ein solches Wesen musste entweder sehr dumm oder sehr mächtig sein. Oder beides. Was nie eine gute Kombination ergab. Schon gar nicht bei Kreaturen, die einen jungen Grenz­wächter als willkommene Zwischenmahlzeit betrachten mochten.

Er vergewisserte sich zum gefühlt zwanzigsten Mal, dass seine Arkebuse feuerbereit war. Sollte er in die Sicherheit der Wächter­festung zurückkehren? Oder die Ursache des Blutregens herausfinden, um ordentlich Meldung machen zu können? Pflichtbewusstsein und Vernunft lieferten sich in seinem Kopf einen heftigen Schlagabtausch.

Dummerweise siegte Pflichtbewusstsein.

Toryan strich sich eine vom Blutregen feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht und versuchte, durch den dichter werdenden Nebel zu erkennen, was am Himmel vor sich ging.

Seit wann bitte war Nebel eigentlich schwarz?

Ein Schrei zerschnitt die Luft, als würde Kristall bersten. Etwas von der Größe eines Ochsenkarrens trudelte aus den Wolken, schmetterte wenige Fußbreit vor Toryan auf den Boden. Er starrte auf die zerfetzten Überreste und konnte nicht glauben, was er sah.

Vor ihm lag ein Engelsflügel. Muskelstränge zuckten, wo die Schwinge vom Rücken ihres Trägers gerissen worden war.

Weiter hinten im Dunst krachte erneut etwas zu Boden.

Erst als er nach Luft japste, merkte Toryan, dass er den Atem angehalten hatte. Er schaffte es nur mit Mühe, sich nicht zu übergeben. Ein Engel, ermordet. Welche Kreatur vermochte einen solchen Frevel zu begehen?

Das Heulen des Sturms schwoll an. Triumph lag darin, und Genugtuung. Sei vernünftig, sagte Toryan sich. Das ist zu groß für dich. Geh zurück. Jetzt.

Diesmal widersprach sein Pflichtgefühl nicht. Er machte auf dem Absatz kehrt, rannte los – und prallte zurück, als sich unmittelbar vor ihm eine Silhouette vom Himmel senkte, turmhoch, mit mensch­lichen Umrissen. Nun ja, bis auf die Schwingen. Und die Tatsache, dass den Schläfen ein Geweih entsprang.

Je näher die Gestalt dem Boden kam, desto mehr schrumpfte sie, bis sie kaum größer war als Toryan selbst. Der Nebel umtanzte sie wie ein Hund, der freudig seinen Herrn begrüßt. Hinter den Augen des Wesens wallte Rauch. Es öffnete den Mund und entblößte fingerlange Eckzähne.

Ein Blutfürst. Das ist ein verdammter Blutfürst! Toryan wollte die Arkebuse mit den Silberkugeln abfeuern, wollte zum Schwert greifen oder wenigstens fortrennen. Doch seine Finger gehorchten ihm nicht, seine Beine schienen mit dem Boden verwachsen. Wie eine Maus im Angesicht des Bussards starrte er in das düstere Antlitz. Schmal und zerfurcht, besaß es dennoch eine erschreckende Schönheit. Selbst dass purpurnes Engelsblut aus den Mundwinkeln rann, änderte daran nichts.

»Höre mich.« Die Stimme des Blutfürsten klang, als risse eine Klaue morsche Rinde von einem Baum. »Ein neues Zeitalter dämmert herauf. Ob in Frieden oder Blut, liegt an euch Menschen. Ich, Lurmenor, Erzfürst der Altnacht, verlange, dass die Dämmergeborene sich zu mir begibt. Tut sie es nicht, werde ich mein Heer in den Krieg führen. Die Asche eurer Städte wird eure Kehlen zerkratzen, die brennenden Leiber eurer Krieger werden unsere Fackeln sein. So lange, bis wir sie gefunden haben. Hast du verstanden? Gut. So verkünde es deinesgleichen.«

Toryan wollte wegsehen, aber Lurmenors Blick hielt ihn erbarmungslos fest. Der Rauchschleier in den Augen des Blutfürsten zerriss, und Toryan starrte in den Abgrund dahinter. Sein Bewusstsein entglitt ihm und er stürzte hinein in eine Welt aus Eis und Schatten und toten Träumen …

Toryan dachte, er habe ein Lachen gehört. Gesang. Oder war es ein Schrei? Der Schrei eines Engels, den dunkle Klauen zerfetzten?

Keuchend fuhr er hoch. Er erwartete, wolkenverhangenen Dämmer­himmel zu sehen. Stattdessen starrte er auf eine weiß verputzte Zimmerdecke. Mollige Wärme hüllte ihn ein, eine Daunendecke umschmeichelte seine Beine. Es roch nach Fichtennadel und Goldwurz. Jemand hatte ihm Rüstung und Kleider ausgezogen und ihn in ein Leinengewand gesteckt.

Der Raum kam ihm vage bekannt vor. Richtig – er lag in einem Krankenzimmer im Hauptquartier der Grenzwächter in Gorvul. Aber die Hauptstadt befand sich Hunderte Meilen von Dimmgrund entfernt. Wie war er hergekommen?

Er erschauderte, als die Erinnerung vor seinem inneren Auge auftauchte. Lurmenor.Bei allen Himmeln, ich bin auf den Gefallenen getroffen, den Herrn der ganzen verdammten Altnacht! Ich kann froh sein, dass ich noch lebe.

Toryan blickte sich um. Aus der Wand entsprang ein Kupferrohr, das in einen Waschstand aus Porzellan mündete. Handtücher und Seife lagen neben einer Karaffe mit Wasser. Der Anblick machte ihm bewusst, wie durstig er war. Er schlug die Decke zurück und schwang die Beine vorsichtig über die Bettkante. Kein Schwindelgefühl. Das war schon mal ein Anfang.

Ein Blick in den Rundspiegel über dem Becken zeigte ein blasses Gesicht, das er erst auf den zweiten Blick als das seine erkannte. Unter den Augen lagen tiefe Ringe, das braune Haar hing ihm wild zerzaust bis zu den hohen Wangenknochen. Ein prüfender Blick auf den Rest seines drahtigen Körpers verriet, dass er keine Verbände trug. Immerhin. Und das Glücksarmband, das seine Freundin ihm geflochten hatte, befand sich ebenfalls noch an seinem Handgelenk.

Jäh fragte Toryan sich, wie lange er ohnmächtig gewesen war. Na, eins nach dem anderen. Erst mal den Durst löschen.

Er trank in tiefen Zügen direkt aus der Karaffe. Das Wasser hatte eine süßlich-würzige Note, als wäre es durch Kräuter gesiebt worden. Erfrischt drehte Toryan den Kupferhahn über dem Waschbecken auf. Es blubberte, warmes Wasser floss über seine Hände. Dankbar für diese Segnung, die die Wissenschaft mithilfe der Ratschläge der Engel hervorgebracht hatte, ließ er es über Gesicht und Haare laufen. Er schäumte sich mit der nach Aloe duftenden Seife ein, spülte den Schweiß davon und seufzte selig. Jetzt noch was zu essen und er wäre fast der Alte.

Es klopfte, kurz und präzise. Die Tür öffnete sich, ohne dass Toryan »Herein« gesagt hätte. Der Mann, der eintrat, war dreimal so alt wie er und einen Kopf kleiner, doch sehnig, die Haltung kerzengerade, der Blick scharf. Das akkurat geschnittene schneeweiße Haar und der gleichfarbige Schnauzbart betonten die wettergegerbte Haut. Drei Goldflügel auf der Schulterpartie des Wamses wiesen den Träger als Oberbefehlshaber der Ordenstruppen von Gorvul aus. Vor Toryan stand niemand Geringerer als General Nobu Nagadens, dessen Heldentaten im Ketzerkrieg ihn zu einer lebenden Legende gemacht hatten. Sofort nahm Toryan Haltung an, wobei er sich peinlich bewusst wurde, dass er mit nacktem Oberkörper vor seinem General stand.

»Preis sei Asgreal.« Nobu legte Zeige- und Mittelfinger beider Hände an die Stirn.

»Preis sei Asgreal.« Toryan erwiderte die Geste, wobei er den Kopf ein gutes Stück tiefer senkte als sein Gegenüber.

»Du bist also endlich wach. Gut. Dein Name ist Toryan, richtig?«

»So ist es, Herr.«

»Rühren, Toryan.«

»Danke. Herr, wie bin ich hergekommen, wenn ich fragen darf?«

»Rojin hat dich gefunden und uns zu dir geführt.«

»Der Freischärler aus Dimmgrund?«

Nobu nickte. Sein Gesicht verdüsterte sich. »Keine hundert Fuß von dir fanden wir die Leiche Mawjahs.«

Mawjah also. Der Engel der Scharfsicht, der die spärlich besiedelte Grenzregion beschützt und stets ein waches Auge auf all das gehabt hatte, was sich in den Ausläufern der Altnacht tat. Toryan hatte ihn während seiner zwei Jahre bei der Grenzwacht nur einmal gesehen. An jenem Abend war der Engel inmitten der Wächter gelandet, um sie vor einer Rotte Nachtkrabbler zu warnen, die es irgendwie auf die falsche Seite der Grenze geschafft hatte. Mawjah glich äußerlich einer Frau, von einer Schönheit, die selbst die Blumen beschämte, aber mit der Stärke von hundert Männern. Und jetzt war sie tot. Zerfetzt vom Erzfürsten der Dunkelheit. Toryan schluckte. »Wie lange war ich ohnmächtig?«

»Drei Tage und drei Nächte. Nichts und niemand konnte dich wecken. Wir brachten dich mit einem der Luftschiffe hierher. Was hast du gesehen, Junge?«

Toryan sah es überdeutlich vor sich. Augen wie Risse in der Wirklichkeit, und dahinter … Er drängte das Entsetzen aus seinen Gedanken und begann stockend seinen Bericht. Vom Patrouillengang. Vom Sturm. Vom Kampf, dessen Augenzeuge er geworden war – na ja, mehr oder weniger, schließlich hatte er vom Gefecht in den Wolken nicht viel mitbekommen. Und von Lurmenors Botschaft.

Die buschigen Augenbrauen des Generals schossen nach unten wie Fallbeile. »Willst du mir allen Ernstes erzählen, du hättest mit dem Gefallenen gesprochen?«

»Er redete von sich als Lurmenor, ein Geweih wuchs aus seinem Schädel, und er hatte Fangzähne. Wenn das nicht der Gefallene war, so war es zumindest ein mächtiges Problem.« Toryan stockte. »Verzeiht die Ausdrucksweise, Herr«, setzte er rasch hinterher.

Nobu überging die flapsige Bemerkung. »Ich hörte, du hast Heimat­urlaub eingereicht?«

Toryan nickte. »Zum ersten Mal.«

»Dein Vorgesetzter sagte mir schon, dass du dich bei den Grenz­wächtern bereits unverzichtbar gemacht hast.« Ein Lächeln huschte über die Züge des Generals, verschwand aber so schnell, wie es gekommen war. »Ich fürchte, aus dem Urlaub wird vorerst nichts. Der Purifikant wird dich befragen wollen.«

Obwohl er eine Karaffe Wasser getrunken hatte, fühlte Toryans Mund sich plötzlich so trocken an, als hätte er Motten gekaut. Der Purifikant, Damian Fallanidens, war das Oberhaupt des Klerus und somit Herrscher über die gesamten Lichtlande, mit Ausnahme der Ketzerrepublik Freiholt. Zusammen mit den Kardinälen bildete er den Zirkel der Auserwählten, dem die Engel den Willen Asgreals übermittelten. Damian galt als ebenso weise wie streng. »Mein letzter Besuch in der Zitadelle ist eine Weile her«, gestand Toryan zerknirscht.

»Dann schlage ich vor, du ziehst dir was Ordentliches an, isst etwas und holst das schleunigst nach«, brummte Nobu. Auf dem Weg zur Tür wandte er sich noch einmal um. »Ich bin froh, dass du überlebt hast, Junge.«

»Danke, ich ebenfalls«, gab Toryan verdattert zurück. Wieso sollte das Schicksal eines einfachen Grenzwächters den hochdekorierten General kümmern?

Doch ehe er fragen konnte, hatte Nobu den Raum verlassen.

2

Die Zitadelle von Gorvul

Bis obenhin vollgestopft mit Gemüsesuppe und Hühnchen verließ Toryan die Wächterakademie. Die Luft schmeckte frisch, und der Duft der Maulbeerbäume brachte die Erinnerung an manche Frei­stunde zurück, die er hier mit seinem besten Freund Holmar verbracht hatte. Wie es dem Bücherwurm wohl ergangen war, nachdem er die Akademie zugunsten einer klerikalen Ausbildung verlassen hatte?

Eine Brise strich durch die Wipfel, Laub regnete herab. Toryan wuschelte sich die Blätter aus den Haaren und biss krachend in den Apfel, den er aus dem Essensquartier mitgenommen hatte. Der süßsaure Saft prickelte auf der Zunge. Was war es herrlich, am Leben zu sein.

Und jetzt auf, Richtung Tempelzitadelle. Das Wissen um die Lehren des Klerus etwas auffrischen.

Toryan nahm eine der Schienensänften, die seit einigen Jahren die wichtigsten Knotenpunkte Gorvuls verbanden und Passagiere mit der Geschwindigkeit einer Kutsche beförderten. Er genoss das monotone Rattern, das Vibrieren der Sitze, den Anblick der vorbeiziehenden Gebäude mit ihren Ziegeln, Spitzbogenfenstern und Gesimsen. Dennoch stieg er ein paar Stationen vor dem Ziel aus. Nach drei verschlafenen Tagen konnte etwas Bewegung nicht schaden.

Die Zitadelle war in Form eines fünfzackigen Sterns erbaut und weithin sichtbar. Auf vier Ecktürmen thronten Engelsstatuen, vom fünften baumelten Käfige an einer vorspringenden Stange. Im Moment knarzten sie leer an ihren Stahlketten, doch gelegentlich trug der Richterengel Bahrakel Gefangene dort hinauf. Die Kleriker priesen es als Fortschritt, dass es keine Kerker unter der Erde mehr gab wie in den dunklen Tagen vor der Ankunft des Lichtbringers. Sie sagten, die Bestrafung von Sünden solle für jedermann sichtbar sein. Toryan hatte da so seine Zweifel. Aber die behielt er für sich.

Glücklicherweise kam es selten vor, dass dort oben Gefangene vor sich hin vegetierten. Verbrechen waren selbst in großen Städten wie Gorvul die Ausnahme geworden. Ob es an der allgemeinen Zufriedenheit des Volkes oder der Wacht der Engel lag, konnte Toryan nicht beurteilen.

Glocken schlugen zur nahenden Andacht. Im Strom Hunderter Tempelgänger passierte er das Tor und folgte der von Eichen gesäumten Allee Richtung Heiligtum. Die Spätnachmittagssonne warf flirrende Lichtstreifen auf den Boden. Sie sahen aus wie Brücken in den Himmel.

Die Allee endete an einem Halbrund zu Füßen breiter Stufen. Links und rechts gingen Wege ins Zentrum der Zitadelle ab, die dem Klerus und dem örtlichen Gesinde vorbehalten waren. Toryan nahm mit den anderen Gläubigen die Treppe in den Tempel. Die Gravuren über dem halbrunden Portal zeigten ein Licht, das sich beschützt von fünf Engeln aus den Wolken senkte: Szenen der Ankunft Asgreals, der als Stellvertreter Gottes nach Yrdaia hinabgestiegen war, kurz nach dem verheerenden Kataklysmus, der den Südkontinent und alles Leben darauf unter Lava und Wassermassen begraben hatte. In jener ins Chaos gestürzten Welt hatten Asgreals Engel eine neue Ordnung geschaffen. Und sie hatten geholfen, die Kreaturen der Altnacht in die finsteren Lande des Nordens zu verbannen, und somit die Menschen endgültig vom Joch der Blutfürsten befreit. Toryan mochte nicht der Frömmste sein, doch diese Freiheit verteidigte er als Grenzwächter mit Stolz.

Er betrat das Hauptschiff des Tempels. Durch Kristallbogen­fenster fiel Licht auf die Bankreihen, die von Marmorpfeilern gestützte Decke verlor sich hoch über den Köpfen in diffusem Dunkel. Zur Linken befand sich die Nachtigallenhöh, eine Plattform, auf der ein Chor ätherische Gesänge nach Noten der Engel intonierte. Die Musik sandte Toryan wohlige Schauder über den Rücken.

Eine Wendeltreppe führte zur Kanzel, von wo der Purifikant Damian wohlwollend auf den Strom der Gläubigen herabblickte. Sein graues Haar wallte bis zum Kinn eines Gesichtes, das eine Spur zu scharf geschnitten war, um gut aussehend zu sein. Ein sorgsam rasierter Kinnbart rahmte die dünnen Lippen und ein mit Gold­quasten verzierter Gürtel hielt die Purpurrobe über seinem asketischen Leib zusammen.

Toryan quetschte sich auf einen der letzten freien Sitzplätze, zwischen ein zahnloses Hutzelweib und einen hünenhaften Glatzkopf, der das Wams eines Fischkahnfahrers trug – und leider auch so roch.

Der Chor schraubte seine Lobpreisung zu einem finalen Crescendo empor. Alle Blicke richteten sich zur Kanzel. Damian kostete die Aufmerksamkeit einige Atemzüge lang aus, ehe er zu sprechen begann. Trichter an den Wänden trugen seine Worte bis zu den Gläubigen in den hintersten Reihen, obgleich er in der andächtigen Stille selbst ohne diese Hilfsmittel zu hören gewesen wäre. »Willkommen, Kinder des Lichts. Preis sei Asgreal.«

»Preis sei Asgreal«, schallte es zurück.

War Toryan anfangs noch ergriffen von der sakralen Aura, fiel ihm schon bald wieder ein, weshalb er den Besuch eines Tempels so lange vermieden hatte. Der Schwall ritueller Segnungen und Lobprei­sungen wusch monoton über ihn hinweg. Er unterdrückte ein Gähnen und wünschte sich zurück ins Freie. Erst bei der Predigt merkte er auf.

»Glücklich sind wir und gesegnet.« Der Purifikant schloss mit einer ausholenden Geste alle Versammelten ein. »Wenn wir morgens aufwachen, fallen uns nicht länger Sorgen an wie hungrige Hunde ein Stück Fleisch. Vielmehr gedeihen Feld und Vieh. Der Handel prosperiert. Der Erfindergeist treibt fantastische Blüten. Maschinen übernehmen die meisten schweren Arbeiten, und viele Gebrechen der Vergangenheit sind verschwunden. So können wir dem Streben nach Glück mehr Zeit widmen als je ein Volk zuvor. Und doch gibt es noch Ungläubige. Verblendete, die sich abwenden vom Licht.« Er spreizte die Finger in einer Geste der Abwehr. »Ich aber sage euch, wankt nicht im Glauben. Frohlocket vielmehr! Der Herbst, der über der Welt hängt, das letzte Vermächtnis der Alten Nacht, wird schon bald weichen. Denn heute verkünde ich euch im Namen Asgreals eine große Freude.«

Ein helles Ping erklang, als werde das oberste Ende einer Saite gezupft. Damians Stimme schwoll so an, dass Toryans Magen vibrierte. »Glaubt, meine Brüder und Schwestern. Glaubt fester denn je. Der Tag ist nah, da Asgreal Gestalt annimmt und sein Sanktum verlässt. Für alle sichtbar wird er über die Welt wandeln und uns seinen Segen schenken.«

Ein Raunen ging durch die Zuhörer. Toryan merkte, dass er vor Erregung zitterte.

Der Purifikant breitete die Arme aus, als wollte er die ganze Welt umarmen. »Dann bricht für alle Gläubigen ein neues Zeitalter an. Ein ewig währender Frühling, in dem Träume erblühen und Seligkeit sprießt. Doch ihr müsst treu Asgreals Lehre folgen. Sagt, glaubt ihr an ihn?«

»Ja«, schallte es aus den Bankreihen, von den Emporen.

»DIENT IHR IHM?«, schrie Damian, die Augen vor Verzückung verdreht.

»Ja«, jubelten die Zuhörer, und Toryan stellte fest, dass er in den Jubel mit einstimmte.

Das Fenster über der Kanzel flog auf. Licht flutete flüssigem Gold gleich über die Gläubigen, und im Zentrum dieser Aura schwebte der Seraph Bahrakel. Als er zu sprechen begann, war Toryan, als küsste ihn Ekstase mit Lippen aus Honig, der über ihn hinwegfloss und in ihn hinein …

Hinterher konnte er nicht sagen, wie lange die Ansprache gedauert und was genau der Engel verkündet hatte. Doch er fühlte sich wohlig ermüdet, als hätte er nach einem Tag voller Plackerei ein dampfend heißes Bad genommen.

Novizinnen gingen durch die Bänke und reichten den erschöpften Gläubigen mit ätherischen Essenzen getränkte Tücher. Dankbar tupfte er sich damit das Gesicht und hielt das mausgesichtige Mädchen, aus dessen Tuchvorrat er sich bedient hatte, am Arm fest. »Entschuldige. Ich würde den Purifikanten gern in einer wichtigen Angelegenheit sprechen.«

Sie sah ihn überrascht und ein wenig ungläubig an. »Ich kann keine Audienz bei Seiner Exzellenz veranlassen. Außerdem ist er gleich nach der Predigt zur Armenspeisung aufgebrochen. Wenn Ihr wollt, schicke ich nach dem Obersten Adepten. Vielleicht kann er Euch helfen.«

»Einen Versuch ist’s wert. Danke.«

»Wen darf ich melden?«

»Toryan die Ta… ich meine, Toryan Dymedens.«

»Seht Ihr die Tür mit der eingelegten Goldflamme, dort unter der Kanzel? Wartet im Raum dahinter.« Sie machte sich sanft los, um weiter ihre Tücher zu verteilen.

Die Gläubigen hatten sich so weit gesammelt, um erfüllt von Glückseligkeit ihrer Wege zu gehen. Toryan kämpfte sich gegen den Menschen­strom zum Warteraum vor, den ihm die Novizin gezeigt hatte. Er fühlte ebenso den Nachhall der Freude, die in den Gesichtern der anderen Tempelbesucher stand. Zugleich war da ein schaler Nachgeschmack, wie nach dem Genuss von zu viel Pflaumenwein. Hatte Lurmenor ihn womöglich gebissen? Ihn mit der Saat der Finsternis infiziert? Der Blutfürst mochte während Toryans Bewusstlosigkeit wer weiß was mit ihm angestellt haben. Die Vorstellung sandte Klingen aus Eis durch Toryans Eingeweide. Andererseits, so ein Biss hätte sicher Spuren hinterlassen. Der Gedanke beruhigte ihn etwas, ohne das Unbehagen ganz zu vertreiben.

Im hellen, schlichten Warteraum luden Holzbänke zum Sitzen ein. Aus einem Rohr in der Wand lief Wasser über zwei Steinhände, die sich in einer segnenden Geste über einem Becken ausbreiteten. Toryan trank einen Schluck und betrachtete ein Rollbild an der Wand. Es zeigte fünf blattlose Zweige vor einer Sonneneruption, die rotgolden aus einer Art Tor hervorbrach.

»Interessantes Motiv, nicht wahr? Ich habe mich schon manche Stunde in seiner Betrachtung verloren.«

Toryan fuhr herum – herrje, er war doch sonst nicht so schreckhaft – und sah den Obersten Adepten in der Tür stehen. Der Mann trug das orangerote Gewand eines Geistlichen und hatte den Rundhut seiner Amtswürde tief in die Stirn gezogen. An der Kordel über der Hüfte baumelten ein Tintenfässchen und ein Lederbeutel. Der Bauchansatz und die Pausbacken ließen ihn jovial wirken, doch unter dem Schatten der Hutkrempe blitzten flinke, schlaue Augen. »Toryan die Tatze sucht also den Rat des Klerus.« Der Adept klang amüsiert.

»Ihr kennt meinen Spitznamen?« fragte Toryan überrascht.

»Das will ich meinen. Immerhin haben wir zwei Jahre zusammen in der Wächterakademie verbracht.« Der Adept zog den Hut vom Kopf.

»Was? Das muss … bei Bimbadims Bart, Holmar!«

»Zugegeben, es gibt inzwischen einige Pfund mehr von mir als bei unserer letzten Begegnung.« Der Adept lächelte gutmütig und klopfte sich auf die Hüften. »Aber unter der Verpackung bin ich noch dein alter Zimmergenosse.«

Sie umarmten einander und fassten sich an den Schultern.

»Ich sehe, du hast es weit gebracht«, sagte Toryan anerkennend. »Adept des Purifikanten, Mannomann.«

»Ja, es war eine gute Idee, das Schwerthandwerk gegen geistige Studien einzutauschen. Und du musst dein Licht ebenfalls nicht unter den Scheffel stellen. Ich hörte, du hast die Akademie vor zwei Jahren als Jahrgangsbester abgeschlossen.«

»Wir sind schon ganz schöne Ehrgeizler, was?« Toryan grinste.

»Erwischt.« Holmar grinste zurück. »Aber du bist sicher nicht um der alten Zeiten willen hier. Du brauchst Hilfe?«

»So ist es.« Toryan biss sich auf die Lippen. »Um ehrlich zu sein, hab ich Angst, dass etwas Böses in mir steckt.«

»Na, na. Wer wird denn gleich schwarzmalen.« Holmars Blick huschte durch den Raum. »Wie auch immer, besprechen wir das lieber an einem etwas weniger … sakralen Ort.«

»Was schwebt dir vor?«

»Wie sieht’s aus, Lust auf ein Ingwerbier?«

»Liebend gern. In unserer alten Stammtaverne?«

Holmar schlug ihm auf die Schulter. »Auf in den Fidelen Fassreiter.«

Sie nahmen die Abkürzung durch den nahe gelegenen Weißblütenpark. Es war jene verzauberte Abendzeit, in der die Sonne die purpurfarbenen Wolken ein letztes Mal liebkost, ehe sie es ihrem Bruder, dem Mond, überlässt, die Wege der Welt zu beleuchten.

»Romantisch«, sagte Holmar. »Apropos, hast du deine Freundin noch? Die, die du letztes Jahr bei der Truppenübung auf Gut Eulenstein kennengelernt hast? Wie hieß sie doch gleich, Rynn, Linn …«

»Minn. Ihr Name ist Minn.«

»Richtig, der war’s. Ich konnte ihn mir nicht merken, da du mir ja nur ein einziges Mal geschrieben hast, seit du zur Grenze geschickt wurdest. Obwohl ihr auch einen Nachrichtenturm in Dimmgrund habt …«

Toryan ignorierte den vorwurfsvollen Unterton und zuckte mit den Schultern. »Ich war seitdem nicht mehr auf Gut Eulenstein. Wir haben uns versprochen, aufeinander zu warten.«

»Und?« Holmar pikste ihn mit dem Zeigefinger gegen die Schulter. »Hast du?«

»Ja. Ich li… Ich meine, sie ist was Besonderes. Eigentlich sollte ich jetzt Urlaub haben und bei ihr sein.« Toryan trat verdrießlich eine Kastanie aus dem Weg.

»Na komm«, sagte sein alter Freund, »wir spülen den Trennungsschmerz mit einem guten Bier herunter.«

Auf einer Bank unter einem rot-goldenen Ahorn saß ein bekümmert dreinblickender Mann. Er erinnerte Toryan an seinen Vater – schwielige Hände, Bart und ein Gesicht, das Sorgen vor der Zeit hatten altern lassen. Der Mantel schlotterte um die Schultern, als gehörte er einem Größeren. Holmar nickte ihm im Vorübergehen zu. »Prachtvoll, das Laub, nicht wahr?«

»Wenn die Blätter sich färben, sind sie beinahe tot«, entgegnete der Mann müde. »Schon bald trägt der Wind sie davon, und zurück bleibt nichts als nacktes Geäst.«

Holmar hielt inne. »Weshalb die Schwermut, Bruder? Ihr solltet Euch an den Segnungen erfreuen, die der Lichtbringer uns schenkt.«

»Segnungen?« Der Mann rang die Hände ineinander, als wollte er sie waschen. »Ich war Binnenschiffer wie mein Vater und dessen Vater vor ihm. Dann kamen die Viadukte. Jetzt bin ich Tagelöhner. Ich wollte nie nach Gorvul, bin kein Freund großer Städte. Doch bei uns gibt’s keine Arbeit mehr und ich hab Mäuler zu stopfen.«

Toryan blickte ihn betroffen an. Seit man nach Bauplänen der Engel die Viadukte errichtet hatte, wurden Waren in nie gekannter Geschwindigkeit von Ort zu Ort transportiert. Dampfbetriebene Waggons sausten auf Schienen über Höhen und Täler, und Obst, das morgens noch auf einer Wiese in Bernsgrün Sonne getrunken hatte, lag am selben Abend im Nachtmarkt von Gorvul aus. Bislang hatte Toryan das als Segen betrachtet … Kurz entschlossen zog er die Geldstücke hervor, die er in der Taverne hatte verjubeln wollen, und drückte sie dem Schiffer in die Hand. »Kauft Euch was zu essen. Und schreibt Euren Lieben, dass es Euch gut geht.«

Verblüfft starrte der Fremde erst die Münzen, dann ihn an. »Warum tut Ihr das? Ihr kennt mich nicht mal.«

»Ich hatte ein paar harte Tage und hab Glück, dass ich noch lebe. Davon kann ich ein wenig zurückgeben. So wie es der Klerus predigt.«

»Von etwas reden und etwas tun ist der Unterschied zwischen dem Fisch im Fluss und der Mahlzeit im Köcher.« Der Mann neigte das Haupt. »Ich danke Euch.«

»Dankt dem Lichtbringer.« Holmar machte das Segenszeichen über dem Haupt des Fremden, der zur Antwort etwas Unverständliches in den Bart brummte.

»Du hättest ihm auch was geben können«, sagte Toryan, als sie den Park hinter sich ließen und in die Gasse zum Fidelen Fassreiter einbogen.

»Stimmt.« Holmar drückte die Tür zur Taverne auf. »Nur wer hätte dann unsere Getränke bezahlt?«

Das Innere des Fidelen Fassreiters war größer, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Dafür sorgten neben dem schummrigen Licht die Winkel mit den Eckbänken und ein Dutzend Holzsäulen, die sich quer durchs Gasthaus verteilten. Kerzenrauch hatte die Deckenbalken und abgewetzten Tischplatten im Lauf der Zeit dunkel gefärbt, einzig die Tischwangen aus poliertem Stahl glänzten. Über dem Steinkamin hing ein Fass, auf dem die Figur eines rotnasigen Hünen Bierkrüge schwenkte.

»Für uns dasselbe, was er hat«, rief Toryan und deutete auf die Figur. »Und dazu etwas Gegrilltes und einen Topf eingelegten Rettich.« Der glatzköpfige Wirt nickte und begann, schäumendes Bier in Krüge zu füllen.

Die Taverne war gut besucht. Holmar und Toryan suchten sich eine Nische in der Nähe des Kamins. Als ihre Bestellung kam, steckte Holmar der rundwangigen Bedienung einen Kupferflügel extra in die Gesäßtasche, was sie mit einem Lächeln und kokettem Hüftschwung quittierte.

»Solltest du nicht züchtiger sein?«, spottete Toryan.

»Erstens tu ich eine gute Tat.« Holmar hob seinen Humpen. »Und zweitens sehe ich keinen meiner Ordensbrüder in der Nähe.«

Toryan lachte und stieß mit ihm an. Eine Weile gaben sie sich ganz dem Genuss der Speisen und Erinnerungen an ihre Jugendjahre hin. Erst als sie die letzten Reste mit Brot vom Teller gewischt und zwei weitere Krüge Bier bestellt hatten, berichtete Toryan, was in Dimmgrund geschehen war.

Holmars Augen weiteten sich, als wollten sie ihm aus dem Kopf springen. »Du hast Lurmenor gegenübergestanden? Ach, was wundert’s mich. Für weniger als den Gefallenen geht Toryan die Tatze ja nicht vor die Tür.«

Toryan kannte seinen alten Freund lang genug, um zu wissen, dass sich hinter dem Spott echte Sorge verbarg. »Wer ist diese Dämmer­geborene, von der er gesprochen hat?«

»Eine alte Legende.« Holmar rieb sich die Nase. »Es heißt, sie sei Nachfahrin eines Blutfürsten und einer Sterblichen. Ein Halbblut, das die Stärken beider Rassen in sich vereint.«

»Warum hab ich noch nie davon gehört?«

»Ich bin selbst nur durch Zufall während meiner Studien darauf gestoßen. In einer Schriftrolle aus der Zeit vor dem Kataklysmus, vergessen in den Tiefen der Archive. Wenn es andere Aufzeichnungen gab, wurden sie im Zuge der Entnachtung vernichtet.«

»Der was?« Toryan hob eine Braue.

»Du hast in der Akademie wirklich oft geschlafen«, tadelte Holmar. »So nennt man die Verbrennung der Bücher im Jahr nach Asgreals Ankunft. Es wurden alle Werke vernichtet, die die Menschen in die Fänge der Altnacht treiben oder den Glauben ins Wanken bringen könnten.«

»Richtig, richtig. Aber was kann an einem alten Märchen gefährlich sein?«

»Was es auch ist«, entgegnete Holmar lakonisch, »es lässt die Blutfürsten in den Krieg ziehen.«

Toryan leerte seinen Krug und winkte der Bedienung, zwei weitere zu bringen. War es die vierte Runde oder schon die fünfte? Na, solange er sich darüber noch Gedanken machen konnte, war es eine zu wenig.

»Wir werden ihren Ansturm abwehren«, meinte Holmar leicht lallend. »Denn wir kämpfen für Freiheit und Frieden.«

Toryan starrte auf den Grund seines Humpens. »Woher wissen wir, dass die Blutfürsten nicht auch glauben, sie seien im Recht?«

Holmar hob den Zeigefinger. »Wer zieht denn bitte schön in den Krieg, sie oder wir?«

Der Gedanke an die Spaltungskriege, die die Menschen nach dem Fall des Imperiums der Blutfürsten untereinander geführt hatten, huschte durch Toryans Kopf. Doch dann kam neues Bier, und er verbannte solche Grübeleien hinter einer Wolke aus Alkohol.

Als sie die Taverne schwankenden Schrittes Arm in Arm verließen, funkelte ein blutroter Stern einsam und kalt am Firmament.

3

Alte Schatten

Er war zurück. Der Albtraum, der Minn zuletzt als Kind geplagt hatte. Einer alten Abendsonne gleich war er im Lauf der Jahre verblasst, doch nun packte er sie erneut und zog sie in sich hinein …

Die werdende Mutter keuchte und stöhnte. Schweiß verklebte ihr Haar, durchtränkte ihr Leinengewand, troff auf die zerwühlten Laken.

»Weiterpressen, schön weiter.« Die Hebamme legte ihr die Hand auf den klitschnassen Arm. »Atmen. Pressen. Atmen. Pressen. Gut so.«

Irgendwo im Haus polterte etwas zu Boden. Die beiden Frauen nahmen es nur am Rande wahr.

Die Gebärende schrie auf. Ein Köpfchen erschien zwischen ihren Schenkeln.

»Es kommt«, frohlockte die Hebamme. »Noch ein wenig mehr, dann ist es geschafft.«

Die junge Mutter nickte und krallte die Hände in die Holzplanken des Bettes, den Blick zur Decke gerichtet.

Ein Schatten flackerte an der Tür. Vom Kerzenlicht?

»Es ist fast so weit.« Die Hebamme beugte sich vor.

Es knackte, als trete ein Stiefel auf einen morschen Ast. Das Lächeln der Hebamme blieb, doch ihr Kopf stand auf einmal in einem unmöglichen Winkel ab. Ihr Blick wurde glasig und sie sackte zu Boden. Die junge Mutter schrie, als sie sah, was hinter der Helferin zum Vorschein kam.

Ihr Schrei wurde zum Gurgeln, als der Blutfürst seine Fänge in ihren Hals versenkte, sich an ihr betrank.

Und das Neugeborene, noch an der Nabelschnur, brüllte, während die Kreatur der Alten Nacht das Leben aus seiner Mutter saugte …

Minn schreckte schweißgebadet von ihrem Lager hoch. Sie musste geschrien haben, denn vor dem Fenster flatterte eine Nachtigall erschrocken davon.

Sternenlicht fiel in die Dachkammer, deren Schrägen Minn schon manche Beule beschert hatten. Doch es war ihre Kammer, und sie hätte sie gegen keines der pompösen Adelszimmer im Haupthaus von Gut Eulenstein getauscht. Na ja, zumindest wenn sie nicht das Gefühl hatte, dass ein Vampir in den Schatten lauerte.

Sie sah sich um. Nirgends fletschte jemand zu lange Eckzähne. Minn entkrampfte die Fäuste und ließ sich auf die Strohmatte zurücksinken. Von draußen drang das Zirpen der Grillen herein. Sonst war alles friedlich.

Minn griff sich die Holzfigur, die Chun ihr geschenkt hatte, als sie mit fünf als Waise nach Gut Eulenstein gekommen war. Sie hatte viel geweint und Angst im Dunkeln gehabt. Doch der Holzfäller hatte gelächelt, ihre Tränen weggewischt und ihr das Schnitzwerk in die Hand gedrückt. Es war kaum größer als eine Hand und zeigte einen bärtigen Mann mit Schlapphut und einem Amulett mit einer Waage darauf um den Hals, der sich auf einen Speer stützte. »Der passt ab jetzt auf dich auf«, hatte Chun erklärt. »Er ist ein Zauberer, weißt du. Solange er bei dir ist, traut sich nichts Böses an dich ran.«

An Zauberer glaubte Minn längst nicht mehr. Und einen anderen Mann in ihrem Bett wollte sie auch nicht, seit sie vergangenes Jahr den Grenzwächter Toryan kennengelernt hatte. Dennoch spendete es ihr stets Trost, die abgegriffene Figur in Händen zu halten. Abwesend streichelte sie das Holz. Allmählich beruhigte sich ihr hämmerndes Herz. Sie starrte zu den Deckenbalken. Wieso kroch dieser Albtraum gerade jetzt erneut durch all die Schichten hindurch, unter denen sie ihn begraben hatte? Und wieso wirkte er so real, als fräße er sich durch eine dünner werdende Barriere von der Fantasie in die Wirklichkeit?

Zumindest wusste sie, woher dieser Nachtmahr rührte. Von einem der Märchen, die Chun erzählt hatte, wenn die kleine Minn mal wieder so lange um eine Geschichte bettelte, bis ihr Geleier ihm zu den Ohren herausquoll und sie bekam, was sie wollte. Chun kannte viele Geschichten. Doch die mit dem Blutfürsten war die einzige gewesen, bei der am Ende kein Lächeln seine Züge umspielt hatte. Wenn Minn recht drüber nachdachte, hatte er überhaupt nur einmal damit herausgerückt, nachdem er sehr viel Wein getrunken hatte …

Jetzt hör auf zu grübeln, du Gewitterziege, schalt sie sich. Die Nacht ist zum Schlafen da. Morgen wird anstrengend genug, wenn ich Wäsche machen und Beete jäten muss.

Trotzig rammte sie ihren Kopf ins Kissen und befahl sich, wieder einzuschlafen. Zu ihrer Verblüffung klappte es tatsächlich, und als sie diesmal in die Traumwelt trudelte, warteten dort nur Tomaten und Kürbisse, die lachend davonkullerten, wann immer Minn sie in ihren Weidenkorb zu legen versuchte.

4

Die Audienz

Toryan wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, als die Tür seines Zimmers aufgerissen wurde. Eins stand fest, es war definitiv nicht lang genug.

»Auf, auf, Schlafmütze«, rief Holmar unverschämt fröhlich. »Öffne die Fenster. Lass den Morgen Licht und Lebensfreude hinein senden.« Er zog die Vorhänge zur Seite und riss die Läden auf. Kühle Luft und viel zu viel Helligkeit machten sich breit.

Und jetzt pfiff der Unmensch noch dazu ein Liedchen!

Toryan zog sich das Kissen über den Kopf und stöhnte seine Frustration in die Daunen.

Die Zuflucht währte keine drei Atemzüge, da zog ihm Holmar die Decke weg. »Hopp, raus aus den Federn. Wer viel trinken kann, kann auch mit wenig Schlaf auskommen.«

»Du klingst wie mein Vater«, nuschelte Toryan. »Der hat auch in aller Früh so einen Schwachsinn verkündet.«

»Ich hab dir gesagt, trink für jedes Bier einen Becher Wasser. Aber Toryan die Tatze hat so was ja nicht nötig.«

Toryan wälzte sich herum, schleuderte das Kissen nach dem Adepten, verfehlte ihn und räumte stattdessen die Karaffe ab, die mit einem hellen Kling auf dem Steinfußboden zerbarst. »Bimbadims Bart«, fluchte er.

»Noch immer derselbe Morgenmuffel.« Holmar schüttelte den Kopf. »Zieh dich an und rasier die Stoppeln aus dem Gesicht. Der Purifikant will dich sehen.«

Holmar führte Toryan am Seitenschiff der Zitadelle vorbei über einen Innenhof im Schatten der Türme. »Hier geht’s zum inneren Dom«, erklärte der Adept. »Dieser Teil der Zitadelle wurde erst nach der Ankunft des Lichtbringers errichtet.«

»Danke für die Geschichtsstunde.« Toryan unterdrückte halb­herzig ein Gähnen. Sein Freund grinste sich eins.

Ein Paladin bewachte die Pforte nach drinnen. Seine blitzblanke Goldrüstung umhüllte Muskeln, auf die ein Ochse neidisch gewesen wäre. Bei Holmars Anblick gab er grußlos den Weg frei. Toryan salutierte, doch der Paladin hätte ebenso gut eine weitere Steinstatue sein können.

»Arroganter Schnösel«, entfuhr es Toryan. Nun würdigte der Muskelmann ihn doch eines Blickes – von der Art, die kleine Messer durch die Haut bohrte. Toryan unterdrückte das Verlangen, ihm die Zunge rauszustrecken.

»Nimm dich vor Paladin Jaldar in Acht«, raunte Holmar, als sie die Pforte passierten. »Der ist nachtragend. Einem jungen Wächter hat er mal das Bein gebrochen, nur weil der ihn bei einer Fechtübung an der Schulter erwischt hatte.«

»Und die Moral von der Geschicht? Wenn schon einen Paladin schlagen, dann so, dass er nicht mehr aufsteht.« Toryan tippte sich an die Schläfe. Holmar verdrehte die Augen.

Nach gut hundert Schritt erreichten sie eine Halle mit Marmor­boden. Holmar ging schnurstracks auf eine Tür aus milchigem Glas auf der gegenüberliegenden Seite zu. Hier gab es einen weiteren Wächter, doch nicht aus Fleisch und Blut.

Der mechanische Kugelkopf drehte sich in einem unmöglichen Winkel. Facettierte Juwelenaugen blitzten. »Was bei Bimbadims Bart ist das?«, staunte Toryan. »Etwa ein Golbot? Eine denkende Maschine?« Er hatte von diesen Wunderwerken gehört, gesehen hatte er jedoch noch keines. Die Form war vage menschenähnlich. Auf Brusthöhe drehten sich Zahnräder hinter einem Kristall­kasten. Die Arme bestanden aus mit Chrom und Metall verkleideten Schläuchen, die in Klauen mündeten. Nase und Ohren hatte der Golbot keine, dafür Löcher an den Schläfen, aus denen Dampf zischte. Toryan konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass der Maschinen­krieger in seiner Fremdartigkeit selbst aus der Altnacht hätte stammen können.

»Es gibt drei«, sagte Holmar. »Die anderen beiden bewachen das Heiligtum von Asgreal.«

»Womit werden sie angetrieben?«

»Das wissen nur die Engel. Und das ist in diesem Fall nicht nur so dahergesagt.«

Staunend trat Toryan näher. Der Maschinenwächter ließ zu, dass er ihn in Augenschein nahm. Doch als Toryan der Tür zu nahe kam, schoss ein Klauenarm vor und packte ihn am Handgelenk. Er schrie auf und zerrte, um sich zu befreien, doch ebenso gut hätte er versuchen können, einen Berg umzustoßen. Der Golbot drückte weiter zu. Es knirschte. Toryans Finger liefen bläulich an.

»Golbot«, donnerte Holmar. »Remithoi anstatim!«

Augenblicklich löste sich der Griff. Fluchend massierte Toryan sein Handgelenk. »Da sind ja die Paladine umgänglicher«, zeterte er.

»Golbots sind Wächter, keine Denker. Sie führen Befehle aus, und sie hören nur auf Angehörige des Klerus. So sind sie geschaffen. Letztlich ist eben nichts Weltliches perfekt.« Holmar seufzte. »Wie geht’s der Hand?«

»Geht schon. Wenigstens hast du das Ding zurückgepfiffen, bevor es sie brechen konnte.« Toryan funkelte den Golbot an. Die kalt gleißenden Facettenaugen erwiderten den Blick ohne Emotion.

»Dann komm. Der Purifikant ist es nicht gewohnt zu warten.«

»Bitte nach dir«, sagte Toryan sarkastisch.

»Ah, eins noch«, sagte Holmar. »Solche Sprüche aus der alten Zeit wie den von Bimbadims Bart behältst du besser für dich. Die hört er gar nicht gern.«

Toryan nahm sich fest vor, den Rat zu befolgen.

»Fosaperte«, intonierte Holmar. Metall ächzte, der Golbot bewegte sich zur Seite und die Tür verschwand wie von Geisterhand seitlich in der Wand.

»Was sind das für komische Worte?«, fragte Toryan.

»Die stammen aus den Erfinderschmieden von Servul. Lösen mechanische Funktionen aus. Hat mich einige Nächte gekostet, alle auswendig zu lernen. Und jetzt geh endlich rein!«

Toryan betrat einen ausladenden Raum. Der Duft von Zeder, Azalee und Weihrauch stieg ihm in die Nase, dazu weitere schwülstige Gerüche, die er nicht benennen konnte. Wände aus gehämmertem Kupfer reflektierten einen schwarzbepulverten Kronleuchter, der eine Gruppe Ledersessel beleuchtete. Toryans Gesicht spiegelte sich im Kupfer wider, unscharf wie ein Schatten in einem Traum.

Etwas gleißte vor ihm auf. Im ersten Moment glaubte er an einen weiteren künstlichen Wächter, doch es war niemand anderes als der Purifikant Damian selbst, der sich aus einem der Sessel erhob. Über der Robe trug er ein Amulett in Form einer Silbersonne, an der rechten Hand blitzte ein Siegelring mit einem Rubin. Trotz der schmächtigen Statur füllte seine Präsenz den Raum. Es sind die Augen, dachte Toryan. Schmal und tief liegend schienen sie mehr zu sehen als die eines gewöhnlichen Menschen. Der Purifikant musterte Toryan mit dem Blick eines Hirten, der ein verirrtes Lamm gefunden hat und auf Verletzungen inspiziert. »Du musst Toryan Dymedens sein. Der Grenzwächter.«

»Der bin ich. Äh. Euer Exzellenz.«

»Recht jung für diese Aufgabe, will mir scheinen. Aber wie mein guter General Nobu mir sagte, bist du ein aufgewecktes Bürschchen und geschickt mit den Waffen. Setz dich.«

Erst jetzt bemerkte Toryan den alten Recken in der Sesselgruppe. Nobu nickte ihm zu und zwirbelte sich den Schnauzbart. Toryan setzte sich neben ihn. Überrascht stellte er fest, dass sein Rücken sich angenehm entspannte – die Kupferwand hinter ihm gab Wärme ab wie ein Kaminofen.

Der Purifikant wandte sich Holmar zu. »Oberster Adept, wärst du so freundlich, die Morgensegnung zu übernehmen? Komm danach in meine Gemächer. Wir müssen die Prioritäten während meiner kommenden Abwesenheit besprechen. Preis sei Asgreal.«

»Natürlich, Euer Exzellenz. Preis sei Asgreal.« Holmar verbeugte sich und zwinkerte Toryan beim Hinausgehen aufmunternd zu. Was nichts daran änderte, dass sich dessen Magen auf einmal anfühlte, als wäre er auf hoher See unterwegs. In einer Jolle. Während eines Taifuns.

»Also, Toryan.« Der Purifikant ließ sich in den Sessel ihm gegenüber sinken. »Du sagst, du bist Lurmenor begegnet. Warum sollte der Gefallene ausgerechnet dir erscheinen?«

»Das wüsste ich auch gern«, platzte Toryan heraus. »Vielleicht wollte er wissen, wo es in der Grenzregion das beste Bier gibt?«

Damian und Nobu starrten ihn an.

Nein, nein, nein, verfluchte Toryan sich innerlich. Bei allen Himmeln, nicht mal in Gegenwart des Purifikanten kann ich meine vorlaute Klappe halten!

Wenn er angespannt war, redete er flapsig daher, egal wo oder mit wem er sprach. Es war ein innerer Drang, der ihm oft genug Ärger eingebracht hatte und den er dennoch nicht beherrschen konnte.

»Wie war das, Sohn?« Damian lehnte sich vor und kniff die Augen zusammen.

Toryan hätte seinen Monatssold ohne zu zögern für einen Schluck Wasser getauscht, so ausgedörrt war seine Kehle. »Verzeiht«, krächzte er. »Ich … ich habe keine Ahnung, Euer Exzellenz. Schätze, es war einfach Pech, dass Lurmenor aufgetaucht ist, als ich gerade Patrouillen­dienst hatte.«

Damian drehte gedankenverloren an seinem Ring. »Was weißt du über ihn?«

»Nicht viel«, gestand Toryan. »Außer dass er Asgreal einst folgte und ihn dann zu stürzen versuchte.«

»Der Gefallene wollte sich über alles erheben, über die Sterne, sogar über Asgreal – Preis sei seinem Namen.« Damian spreizte die Finger zum Zeichen gegen das Böse. »Ehe sein Plan gelang, ergriffen die Engel Lurmenor und stießen ihn in den finstersten Abgrund. Seitdem sinnt sein verderbter Geist auf Rache. Er schwang sich zum Herrn der Altnacht auf, und sein innigster Wunsch ist das Ende all dessen, was hell und heilig ist.«

»Er sagte, dass es keinen Krieg geben wird, wenn die Dämmer­geborene zu ihm kommt«, brachte Toryan hervor.

»Lurmenor ist der Vater der Lüge. Er manipuliert und verführt, und wehe dem, den er mit seinem Trug umgarnt.«

»Glaubt Ihr, dass er die Lichtlande angreift?« Toryan tastete unwillkürlich nach seinem Glücksarmband.

Damian tastete nach der Silberkette auf seiner Brust. »Ich wünschte, es wäre nicht so. Doch die Zeichen sind eindeutig. Der Feuerstern, die Beobachtungen der Engel … deine Begegnung ist nur das jüngste in einer ganzen Reihe von Ereignissen, die keinen Zweifel daran lassen, dass die letzte Schlacht zwischen Gut und Böse unmittelbar bevorsteht. Asgreal, Preis sei seinem Namen, wird bald stark genug sein, um stoffliche Gestalt anzunehmen und alle Schatten zu vertreiben. Das wollen Lurmenor und seine widernatürlichen Schergen um jeden Preis verhindern.«

»Was will er mit dieser Dämmergeborenen?«, fragte Toryan. »Wer ist sie?«

Damian vollführte eine Geste, als wollte er etwas abschneiden. »Derlei Wissen ist nicht für deinesgleichen bestimmt, junger Mann. Wer nicht durchflutet ist von der Kraft des Glaubens, dessen Seele wird davon verzehrt wie Laub vom Feuer.« Er zog die Stirn kraus. »Oder wohnt womöglich die Dunkelheit in dir? Hat sich der Gefallene von dir genährt?«

Toryan versteifte sich von Kopf bis Fuß. Da half alle Wärme von der Kupferwand nicht mehr. »Er hat mich nicht angerührt«, stieß er hervor.

»Bist du sicher?« Der Purifikant legte die Hand auf Toryans Arm. Mitleid schwang in seiner Stimme mit. »Du willst doch nicht, dass der Hohe Seraph Bahrakel dich befragt? Es heißt, sein Blick gräbt sich einer Klaue gleich in den Verstand und zerrt alle Geheimnisse ans Licht. Kein Sünder kann seine Schuld vor ihm verbergen.«

Toryan krampfte seine Hände um seine Schenkel. Hatte er zu viel gesagt? Oder nicht genug? Sollte er von dem seltsamen Gefühl erzählen, das ihn nach der Predigt übermannt hatte? Vielleicht konnte der Purifikant ihm helfen, falls wirklich etwas Dunkles in ihm steckte.

Er öffnete eben den Mund, da ergriff zu seiner Verblüffung General Nobu das Wort. »Verzeiht sein plumpes Gebaren, Euer Exzellenz. Der Junge stammt aus einer ländlichen Gegend und hat erst in der Akademie Manieren beigebracht bekommen. Offenbar mit Nachholbedarf.« Er schlug Toryan mit der Hand auf den Hinterkopf. »Er ist noch grün hinter den Ohren, aber ein beherzter Kämpfer für die Sache des Lichts. Ganz sicher kein Freund der Dunkelheit. Wir haben ihn während seiner Bewusstlosigkeit genau beobachtet. Es gibt nicht den geringsten Hinweis, dass er gebissen oder in irgendeiner Form beeinflusst worden wäre.«

Der Purifikant schürzte die Lippen und tippte die Fingerspitzen aneinander. »Seid Ihr bereit, für ihn zu bürgen, Nobu?«

»Das bin ich. Mit allen Konsequenzen.«

Toryan starrte den General offenen Mundes an, doch der blickte strikt geradeaus.

»Dann soll er die Chance bekommen, zu beweisen, dass er ein treuer Diener Asgreals ist. Er wird mit Euch zusammen Teil meiner Eskorte zum Konklave nach Gut Eulenstein sein.« Damian strich sich das Gewand glatt. »Dank deinem General für diese Gunst, Toryan. Und vergiss nicht, dass dein Benehmen ab sofort auf ihn zurückfällt.«

»Ja, Euer Exzellenz. Ich meine, nein, ich werd’s nicht vergessen.« Toryan konnte sein doppeltes Glück kaum fassen. Er war einer Befragung durch den Richterengel von der Schippe gesprungen – und er würde nach Gut Eulenstein gehen. Minn wiedersehen …

»Gut. Ihr dürft gehen.« Der Purifikant streckte die Hand aus. Nobu erhob sich und küsste den Rubinring, ehe er sich rückwärts­gehend entfernte. Toryan tat es ihm gleich. Das Gleißen des Juwels biss ihm in den Augen.

Sie hatten den Innenhof bereits hinter sich gelassen, als Toryan sich zu sprechen traute. »General Nobu, wie kann ich Euch danken?«

»Indem du keine Schande über mich bringst«, brummte der alte Recke, ohne ihn anzusehen. »Außerdem brauchst du nicht denken, ich hätte dir einen Gefallen getan.«

»Habt Ihr nicht?«

»Beim Konklave kommen der Purifikant und die Kardinäle mit der Ratsherrin der Ketzer zusammen.« Der General schnaubte, dass sein Schnauzbart flatterte. »Falls sie sich zusammenraufen, statt einander die Köpfe einzuschlagen, werden wir von dort weiterziehen. Dann siehst du dein Zuhause so schnell nicht wieder.«

»Weiterziehen?«, sagte Toryan verblüfft. »Gut Eulenstein liegt unweit der Nordgrenze. Wo sollten wir von dort aus hin?«

Der General blieb stehen, legte ihm die Hand auf die Schulter und blickte ihn voll Mitleid aus eisgrauen Augen an. »In den Krieg, mein Junge. Wir ziehen in den Krieg.«

5

Gezeter

Das Herrenhaus von Gut Eulenstein lag am Ende einer Allee aus Hortensien. Türmchen säumten die Ecken, Wasserspeier die ziegelgedeckten Spitzdächer. In Minns Augen glich es einem Greis, der darüber nachbrütet, wohin die Zeit verschwunden ist, in der er hofiert und bewundert wurde. Aber wir putzen den Alten noch mal ordentlich raus, dachte sie und schob ihre Schubkarre unter einem mit Girlanden geschmückten Torbogen hindurch.

Bis vor Kurzem hatten Efeuranken den Innenhof dahinter überwuchert. Jetzt glänzte das blitzblank gescheuerte Pflaster unter Minns Füßen. Sie setzte die Schubkarre ab und ließ den Blick schweifen. Ein Dutzend Mägde schrubbte Wäsche, Teppiche und Vorhänge in Holzzubern, deren Dampfschwaden den Duft nach Kiefer verströmten.

Natürlich gab es einen Grund für den Putzfimmel. Der Purifikant samt Eskorte hatte sich angekündigt, dazu ein Gast aus Dimmgrund und die Ratsherrin des Ketzerreiches Freiholt, die abzuholen Kardinal Armengal persönlich aufgebrochen war.

»Guckst du wieder Löcher in die Luft, Minn?«, fragte eine der Wäscherinnen lachend. »Geh lieber schnell rein und hol das Bettzeug, ehe die Matrone dich erwischt.«

Minn winkte und hob die Schubkarre wieder an. War’s denn ein Wunder, dass sie ein klein wenig unkonzentriert war? Die Neugier pikte sie wie ein Steinchen im Schuh. Sie hätte zu gern gewusst, worum sich dieser – diese? dieses? – ominöse Konklave drehte. Dem Gesinde sagte natürlich keiner was.

Wir dürfen nur dafür sorgen, dass alles glänzt, dachte sie und zog eine Grimasse.

Zu tun gab’s dafür genug. In besseren Tagen hatte Gut Eulenstein vierhundert Höflinge, Rittmeister, Mägde, Köche und Wachen beherbergt. Heute war es grade mal ein Zehntel. Die umliegenden Bauernhöfe lieferten zwar noch Käse, Milch und Getreide, doch nach der Ankunft des Lichtbringers war viel Dorfvolk in die Städte gezogen.

Sie drückte die Tür des Wäschereigebäudes mit dem Hintern auf und zog die Schubkarre rückwärtsgehend hinter sich her. Dabei fiel ihr Blick auf das verblasste Wappen über der Innenseite des Tür­balkens – eine Eule über gekreuzten Schwertern, Symbol des ruhmreichen Adelsgeschlechts von Dalglen. Kardinal Armengal hatte das Haus in Besitz genommen, nachdem er den alten Grafen wegen Blasphemie ins Exil verbannt hatte. Angeblich hatte dieser einem verbotenen Götzen gehuldigt. Manch einer munkelte, Armengal habe seit Jahren danach gegiert, die altehrwürdige Residenz an sich zu reißen. Doch niemand sprach Derartiges offen aus.

Auf einem Holztisch türmten sich Berge blütenweißer Laken und Kissen. Minn seufzte und begann, Stapel für Stapel auf den Schubkarren zu hieven. Eine dröge Arbeit, bei der sie sich wie so oft in letzter Zeit fragte, was sie hier noch hielt. Sicher, der Lohn war ordentlich, das Essen vernünftig, und geschlagen wurde auch niemand – sofern man nicht den Fehler machte, dem Hausherrn vor die Füße zu stolpern.

Aber ich bin nun über zwölf Jahre auf Gut Eulenstein, überlegte Minn. Höchste Zeit für Veränderung. Denn ist das Leben nicht dafür da, neue Erfahrungen zu sammeln? Schätze, am Ende ist es doch Rynas Verdienst, dass ich noch hier bin. Oder ihre Schuld, je nachdem.

Minn zog die Nase kraus, griff sich ein Daunenkissen und schüttelte es zurecht.

»Minn. Minn!«

Sie blinzelte.

»Was machst du denn schon wieder?« Ebenjene Ryna, Matrone und unangefochtene Herrin über das Gutsgesinde, stand vor ihr, die Hände in die breiten, beschürzten Hüften gestemmt, das von grauen Strähnen durchzogene braune Haar zum strengen Dutt zurück­gebunden. Die üppige Brust bebte und sie hatte jenen Blick aufgesetzt, mit dem sie ihrer Fassungslosigkeit Ausdruck verlieh, wenn ihrer Ansicht nach schlampig gearbeitet wurde.

»Wäsche aufladen, wie ich sollte«, verteidigte Minn sich.

Ryna deutete auf den Schubkarren. Die Ladefläche quoll derart über, dass sich ein Teil der Laken bereits auf dem Boden verteilte. Aus dem Kissen in Minns Händen regneten so viele Federn, dass es einem gerupften Huhn glich.

»Ups«, entfuhr es Minn.

Ryna schloss die Augen und atmete tief durch. »Bring das weg, dann geh dich umziehen. In einer halben Stunde ist Generalprobe für den Empfang der Gäste. Dazu hat das gesamte Gesinde im Hof anzutreten. Im besten Kleid.«

»Kleid? Pffft.«

»Ja, Kleid.« Ein gefährliches Glitzern trat in die Augen der Matrone. »Keine Hosen, kein Wams, keine Stiefel. Und dass du ja pünktlich bist.«

»Ich mach ja schon.«

Ryna fasste sie am Arm. »Wenn der Purifikant hier eintrifft, bleibst du unauffällig, hörst du?«

Minn runzelte die Stirn. Woher die Sorge? Hatte die Matrone solche Angst, vor den Gästen blamiert zu werden? Oder steckte etwas anderes dahinter? »Versprochen«, sagte sie.

»Gut.« Ryna entspannte sich. Sie brachte sogar ein kleines Lächeln zustande. »Jetzt lauf, Kind. Wir sehen uns im Hof.«

Auf dem Weg zu ihrer Kammer kam Minn ein Trupp Gutswachen entgegen, erfahrene Kämpen, von denen einige bereits im Spaltungskrieg gekämpft hatten.

»He, Mädchen«, rief ein kräftiger Graubart mit einer Narbe von der Schläfe bis zum Hals. »Pass auf, dass du nicht vor lauter Löcher in die Luft starren irgendwo dagegenrennst.« Seine Kameraden lachten.

»Pass du lieber auf, dass ich dir beim nächsten Zielwerfen mit dem Messer nicht wieder deinen Wochensold abknöpfe, Grimnur«, rief Minn zurück.

Das Lachen der Truppe wurde zum Grölen. Grimnur hob beide Hände. »Im Wortduell muss ich mich dir geschlagen geben. Aber ich freu mich auf meine Revanche an der Zielscheibe.«

»Bekommst du«, versprach Minn und winkte. Die Männer waren wie ihre großen Brüder, verbrachte sie doch seit Jahren unzählige Freistunden damit, mit ihnen Nah- und Messerkampf zu üben.

Kurz vor dem Dienstboteneingang zog raues Lärmen Minns Aufmerksamkeit auf sich. Ein paar Schritte von der Tür lag ein Stück Fleisch, eine frische Rinderlende, die vermutlich der Küchenmagd Schussel-Ann aus dem Tragekorb gefallen war. Drei Elstern hatten die Leckerei entdeckt und rissen Stücke heraus, die sie in Windeseile vertilgten. Der Fleischlappen war groß genug, dennoch gönnte eine der anderen den nächsten Bissen nicht. Ein ums andere Mal hopste ein Vogel zu seinen Mitfressern und hackte in blinder Gier auf das Fleisch ein, sodass sich die Schnäbel in die Quere kamen. Das Ganze resultiere in Gezeter, Flügelschlagen und Pickattacken. Aus irgendeinem Grund kroch bei dem Anblick eine Gänsehaut über Minns Arme.

Das Fleisch war nicht mehr zu retten, also sah sie zu, dass sie auf ihre Stube kam. Sie hatte wenig Lust, wegen drei dummen Vögeln die Generalprobe zu verpassen.

6

Obskure Stunden

Die vierte Stunde nach Mitternacht war längst durch, die Morgen­dämmerung kroch unaufhaltsam heran. Doch noch immer mied der Schlaf Toryan wie eine Katze das Flusswasser.

Er wollte nicht in den Krieg. Nicht gegen Wesen, deren bloße Gegenwart ihn in Ohnmacht stürzen konnte. Er war vor allem Grenz­wächter geworden, um die Menschen der Lichtlande zu schützen. Nicht um möglichst viele Nachtkrabbler zu töten, wie einige seiner mit weniger Verstand gesegneten Kameraden an der Grenzmauer.

Nur ging es dummerweise nicht darum, was er wollte oder fühlte. Schöner Schlamassel.

Er gab das Hin- und Hergewälze auf, kleidete sich an und verließ die Akademie. Wenn er irgendwo seine Nerven beruhigen konnte, dann an seinem Lieblingsplatz über den Dächern von Gorvul.

Die Silhouette des Feuersterns glomm wie eine rote Pupille im Auge der Nacht. Die letzten Zecher waren in die Federn gefallen, und die fleißigen Arbeiter drehten sich noch mal auf die Seite, ehe sie sich aufmachten, ihren Beitrag zum Wohl der von Asgreal gesegneten Nation zu leisten. Allein der Wind wisperte sein Wiegenlied durch die schlafenden Straßen.

Toryan ignorierte das Gesäusel, passierte das Rundtheater und erreichte über eine Seitengasse den Weitwolkenpark, der unmittelbar an die Raffinerie mit den Schmelzöfen grenzte – das höchste Gebäude der Stadt nach der Zitadelle. Die alte gusseiserne Laterne stand wie seit Jahr und Tag am Eingang des Parks, genau wie die turmhohe Kiefer.

Toryan nahm Anlauf, sprang und packte den Querbalken der Laterne. Vier, fünf Mal baumelte er daran hin und her, dann katapultiere er sich mit Schwung in die Kiefer. Er bekam einen der dicken Äste zu fassen und zog sich daran hoch. Der Rest war ein Kinderspiel. Er kletterte von einem Ast zum anderen, bis er sich auf Höhe des Gebäudes befand. Noch ein Sprung, und er landete auf dem Dach.

Von hier oben konnte er bis zu den Anlegestellen des Himmelshafens sehen. Der monochrome, hummelartige Leib des größten Luftschiffs blitzte im Zwielicht auf. Das Heck erinnerte an die Flosse eines Fisches, die Spitze, an der die Kanone und die Propeller saßen, an einen Stachel. Oberhalb der Kabinen stießen Rohre Dampf aus, drunter rotierten Kolben, angetrieben von unsichtbaren Mechaniken. Wie alle Luftschiffe musste das Flaggschiff des Purifikanten über Nacht warmlaufen, damit die Besatzung am Morgen damit loskonnte. Der Gedanke, wie es sich in die Lüfte erheben würde, zauberte ein Lächeln auf Toryans Gesicht.

Als Achtjähriger hatte er das erste Mal Luftschiffe den Himmel über dem Bergdorf seiner Heimat durchqueren sehen. Er war hinterhergelaufen, bis sie aus dem Blickfeld verschwanden. Dabei hatte er eine Wurzel übersehen und war so böse gestürzt, dass er sich die Knie blutig schlug. Sein Vater hatte ihm zusätzlich eine verpasst und ihn angeschnauzt, das komme davon, in den Himmel zu starren. Mutter aber hatte die Wunden gereinigt und ihm ins Ohr geflüstert: »Wer die Sterne erreichen will, muss nach ihnen streben. Werd nicht einer von denen, die sich von ein paar Schrammen aufhalten lassen.« Dann hatte sie ihm eine Süßigkeit gegen die Tränen zugesteckt und ihn wieder springen lassen.

Er vermisste sein Zuhause. Ja, er hatte Schafehüten und Ziegentreiben langweilig gefunden. Andererseits war dieses Leben sorglos gewesen. Behütet. Schreckgestalten aus Legenden tauchten dort höchstens in Erzählungen auf, wenn draußen der Sturm um die Dächer strich und man sich vor dem Kamin an einem heißen Getränk festhielt.

Jetzt hätte ich eine schöne Schauergeschichte aus erster Hand parat, dachte Toryan. Wobei daheim eh keiner glauben würde, was er in Dimmgrund erlebt hatte.

Sein Blick wanderte vom Lufthafen gen Osten, zum Platz der Sieben Söhne. Der Name stammte von den schwarzen Obelisken, die dort im Halbkreis aufgepflanzt waren, die Spitzen einander zugeneigt wie die Häupter alter Männer, die sich dunkle Geheimnisse zuflüsterten.

Die Bürger schlugen einen Bogen um die Sieben Söhne wie Wasser, das eine Klippe umfließt. Es hieß, dieser Ort sei einst eine Opferstätte gewesen. Genau wusste das niemand – die meisten Chroniken Gorvuls waren im Zuge der Entnachtung den Flammen übergeben worden.

Eine Brise strich über Toryans Gesicht und erstarb.

Aus dem Schatten der Obelisken trat der Engel Bahrakel.

Er war feingliedrig und muskulös, mit solch makellosen Zügen, als hätte ein Meistersteinmetz sie aus Alabaster gehauen. Ein Weißgoldreif hielt das lange weiße Haar aus dem Gesicht, ein Diamantgürtel das schlichte Gewand zusammen. Daran hing eine beidseitig geschliffene Klinge – das Richtschwert des Lichts.

Der Seraph entfaltete die Schwingen. Toryan war, als blickte er in den Sonnenaufgang. Schreck nahm Ehrfurcht Huckepack und sprang ihm mit voller Wucht ins Kreuz. Der Distanz zum Trotz fiel er auf die Knie.

Bahrakel legte das Haupt in den Nacken und schwang sich mit einer Grazie in die Luft, neben der jeder Adlerflug plump gewirkt hätte. Im Zentrum, wo sich die Steine fast berührten, verharrte er und stieß einen Ruf in einer Sprache aus, die Toryan nicht verstand.

Die Spitzen der Obelisken glommen in dunklem Feuer. Etwas löste sich aus ihnen, ähnlich einem Regenschleier, nur rostrot. Das Gespinst verdichtete sich zu einer Wolke, die Bahrakel bis auf die Schwingen umhüllte, mit … ja, mit was?

Der Wolkenkokon zitterte, als der Engel wonnig erschauderte. Es war faszinierend und wunderschön – und falsch, auf eine Weise, die Toryan nicht in Worte fassen konnte. Er wusste, er sollte das nicht sehen. Eine urtümliche Angst kroch ihm durch die Glieder, lähmte ihn.

Das Geläut der Tempelglocken riss ihn aus der Starre. Er sprang vom Dach, kletterte die Kiefer hinab und rannte zurück zur Akademie, als wären ihm alle Widerborste der Altnacht auf den Fersen.

Der Aufbruch des Purifikanten und seines Gefolges zum Konklave lockte trotz der frühen Morgenstunde Gorvuls Volk auf die Straßen, Balkone und an Fenster. Rufe mischten sich mit Musik, von den Marktständen wehte der Duft von Tee, Gebäck und Obst.

Toryan ritt in der zweihundertköpfigen Eskorte neben General Nobu, vor den Kolbenwaggons mit den Vorräten und hinter Damians dampfbetriebener Goldkutsche. Er war davon ausgegangen, dass der Purifikant und die Paladine mit dem größten Luftschiff der Flotte nach Blauried fahren würden. Doch zu seinem Erstaunen wurde dies offenbar benötigt, um eine nichtmenschliche Fracht zu Kardinal Tadeean zu transportieren. Was mochte das sein? Nicht einmal General Nobu wusste es.

Andererseits, manchmal ist Unwissenheit ein Segen, dachte Toryan. Ich für meinen Teil hätte sicher besser geschlafen, wenn ich nicht wüsste, welche Gefahr uns droht.

Er rutschte im Sattel herum und unterdrückte ein Stöhnen, als er daran dachte, wie sich sein Hintern am Ende der Reise anfühlen würde. Hätten die Engel nicht auch dafür eine Lösung erfinden können? Luftkissen zum Beispiel?

Wie das Zeremoniell es verlangte, hielt die Prozession auf Höhe des Stadttores an. Damian stieg aus der Kutsche.

»Segen sei mit dem Obersten Adepten«, intonierte er durch ein Schallrohr, das seine Stimme über weite Distanzen trug. »Wird er als Statthalter treu über Asgreals Herde wachen?«

Holmar, der im Amtsgewand auf einem Podest neben dem Tor gewartet hatte, räusperte sich und griff seinerseits zum Schallrohr, das ein Novize ihm reichte. »Meine Augen werden für ihn wachen«, verkündete er. »Mein Mund wird die Lehre in seinem Sinne verkünden. Meine Ohren werden die Nöte seiner Gläubigen hören, meine Nase den heiligen Rauch atmen, meine Hände in seinem Namen Wohltat und Milde spenden.« Er spreizte die Finger zum Zeichen des Lichts. »Der Segen Asgreals, Preis sei seinem Namen, sei mit Euch auf Eurer Reise.«

»Sein Segen sei mit Euch«, jubelte das Volk.

Hydraulikaggregate rumpelten, das Stadttor öffnete sich. Dampf zischte, Räder rollten. Dann waren sie hinaus.

Holmar sah dem Tross nach, bis dieser zu Punkten am Horizont verschwamm. Er hoffte inständig, dass Toryan sich unterwegs nicht zu neuen Leichtsinnigkeiten hinreißen ließ. Würde ihm ähnlich sehen. Schon damals in der Akademie hatte er allzu gern die Küchenmägde erschreckt oder Pfeffer in den Waffenrock des Ausbilders gerieben. Nur würde er diesmal für solche Scherze nicht mit Stubenarrest bestraft werden. Diesmal würden sie ihn seinen Kopf kosten.

Ohne recht zu wissen weshalb, nahm Holmar seinen Rundhut ab und hielt ihn sich vor die Brust. Das Gefühl übermannte ihn, dass er seinen Freund in diesem Leben nicht wiedersehen würde.