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Science Fiction experimentiert in Film und Literatur mit Möglichkeiten gegenwärtigen und zukünftigen Menschseins in einem Umfang, wie das kein anderes Genre zu leisten vermag. Die Grenzen zwischen Kitsch und Kunst zerfließen in der Science Fiction (so wie überall), gut postmodern eben. Das Buch nähert sich Science Fiction in Reflexionen über Fiktionalität und auch über Naturwissenschaften, insofern sie die narrative Struktur von Texten performativ bestimmen. Und wenn Nietzsche den Tod Gottes proklamierte, genauer: den Tod eines bestimmten christlich-europäischen Gottesbildes, dann versteht Markus Pohlmeyer Science Fiction inzwischen als das religiöseste aller Genres, ohne dass sie zwangsläufig irgendwie dogmatisch oder konfessionell aufgeladen sein müsste. Nachdem Kirchen und Fundamentalisten aller Religionen machtverblendet, machtverführt über Jahrhunderte Gott (auch intellektuell) verfolgt, verbrannt und vernichtet haben, wird Science Fiction zu einer literarischen Auferstehungsmaschine des Göttlichen und der Götter: nicht mehr die eine, einzige Heilsgeschichte, sondern Tausende, Abertausende von Geschichten eines Was-wäre-Wenn. Und natürlich dürfen hier nicht fehlen: „2001“, „Alien“, „Star Wars“, „Battlestar Galactica“, Ted Chiang, ein dänischer Film und Donald Duck!
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Seitenzahl: 182
Science Fiction experimentiert in Film und Literatur mit Möglichkeiten gegenwärtigen und zukünftigen Menschseins in einem Umfang, wie das kein anderes Genre zu leisten vermag. Die Grenzen zwischen Kitsch und Kunst zerfließen in der Science Fiction (so wie überall), gut postmodern eben.
Das Buch nähert sich Science Fiction in Reflexionen über Fiktionalität und auch über Naturwissenschaften, insofern sie die narrative Struktur von Texten performativ bestimmen. Und wenn Nietzsche den Tod Gottes proklamierte, genauer: den Tod eines bestimmten christlich-europäischen Gottesbildes, dann versteht Markus Pohlmeyer Science Fiction inzwischen als das religiöseste aller Genres, ohne dass sie zwangsläufig irgendwie dogmatisch oder konfessionell aufgeladen sein müsste.
Nachdem Kirchen und Fundamentalisten aller Religionen machtverblendet, machtverführt über Jahrhunderte Gott (auch intellektuell) verfolgt, verbrannt und vernichtet haben, wird Science Fiction zu einer literarischen Auferstehungsmaschine des Göttlichen und der Götter: nicht mehr die eine, einzige Heilsgeschichte, sondern Tausende, Abertausende von Geschichten eines Was-wäre-Wenn.
Und natürlich dürfen hier nicht fehlen: „2001“, „Alien“, „Star Wars“, „Battlestar Galactica“, Ted Chiang, ein dänischer Film und Donald Duck!
Markus Pohlmeyer
Science Fiction
Filmisch-literarisches Exil des Göttlichen
eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2015
Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg
Tel. +4940 31108081, [email protected]
www.culturbooks.de
Alle Rechte vorbehalten
Printausgabe: © IGEL Verlag Literatur & Wissenschaft, Hamburg 2014
Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj
eBook-Herstellung: CulturBooks
Erscheinungsdatum: 1.11.2015
ISBN 978-3-95988-016-9
Die Porosität von Texten ruft ein transversales Denken heraus, welches das Menschliche am Menschen jenseits der modernen Aufteilung in Fachwissenschaften zu würdigen weiß – in aller Freiheit und ohne Vorurteile jeder Art. Texte verlangen nach empfindsamen Annäherungen – und trotz ihrer Durchlässigkeit für alles Menschliche und Göttliche auch den Mut, Schweigen und Aporie auszuhalten. Und Vernunft wäre kaum Vernunft, gäbe sie sich mit festgemachten Befunden ohne Weite und Atmen-Können zufrieden.
Diese Reihe möchte deshalb den Lesern ungewöhnliche Einsichten in den „Weinberg des Textes“ (I. Illich) anbieten: als ein diskreter Wegbegleiter, der seine Gäste bis zur Schwelle einer unbekannten Welt einführt, und dann sich von ihnen verabschiedet, um ihnen die Freiheit der Entdeckung zu schenken. Eine Einladung zum Nachdenken, das sich der Selbstverständlichkeit und der Oberfläche unserer Konsumgesellschaft nicht ergeben will, genauso wenig wie ideologischen Pseudogewissheiten und inhaltlichen wie stilistischen Monokulturen.
Um des humanistischen Erbes der europäischen Kultur fähig zu sein, bedarf es heute, die besten Kräfte des Menschlichen einzuberufen und alte ideologische Vorbehalte endlich aufzugeben. Mit dieser Reihe möchten wir wagen, den Berührungen von Literatur und Theologie nachzudenken in der Überzeugung, dass aus ihnen Entwürfe eines Neuhumanismus entstehen könnten, dessen wir alle bedürfen, um uns von unserer Menschlichkeit nicht endgültig zu verabschieden.
„Gott ist meine Lieblings-Science-Fiction-Figur.“[1] (Homer Simpson, Zeichen-Trick-Figur)
Als Prolog könnte ich vorausschicken, was dieses Buch nicht sein will: ein Kompendium, ein Lexikon, ein historischer Überblick, eine systematische Darstellung etc. Die Auswahl der hier besprochenen Texte und Filme mag exemplarisch sein, vor allem ist sie eines: persönlich. Darum auch bisweilen ein persönlicher Stil, essayhaft, polemisch, rumpöbelnd und bisweilen ein Hauch von Poesie und Wissenschaft. Kurz: postmodern.
Das Menschenbild in diesem Buch mag sehr düster erscheinen – und für alle dunklen Beispiele wären auch viele helle Gegenbeispiele zu nennen. Aber ich behalte die Melancholie bei, denn es handelt sich bei Science Fiction[2 um eine Imagination des Desasters; dieser Titel eines Essays von Susan Sontag, auf den ich noch zurückkommen möchte, wird hier wie ein Leitmotiv verwendet. Wir schauen im SF-Film wie durch ein Fenster auf die Zerstörung der Welt, bisweilen ästhetisch so beeindruckend inszeniert, dass nur noch Verstörung bleibt, auf jeden Fall aus sicherer Distanz. Und es ist mir sehr bewusst, dieses unverschämte historische Glück, als Autor, Dichter und Theologe in einer Demokratie meine Meinung frei äußern zu dürfen, in einem Europa und Deutschland, das (bei allen Schwierigkeiten auf diesem Weg) seit 1945 versucht, etwas Neues in seiner (Kriegs-)Geschichte zu wagen: ein Miteinander in Vielfalt, in Toleranz und Solidarität. Das ist Aufgabe und Geschenk zugleich – und Grund zur Dankbarkeit.
Das Buch hat drei Schwerpunkte: Das Verhältnis der SF zur Fiktion, das Verhältnis der SF zur Wissenschaft, das Verhältnis der SF zur Religion. Letzteres scheint verblüffend und aus der Genre-Bezeichnung nicht unmittelbar ableitbar. Aber Religion in einem sehr weiten Verständnis ist sowohl über Fiktion (z.B. als die narrative Strategie des Mythos) als auch über Wissenschaft (z.B. in ihren ethischen Konsequenzen) genuin der SF eingeschrieben.
Physikalische Sachverhalte werden nur hinzugezogen, insofern sie performativ das Design einer Erzählung bestimmen, aber nicht weiter diskutiert. Die Auswahl der Science Fiction-Werke liegt aus historischen Gründen bei englischen und amerikanischen Filmen und Autoren. Deskriptive Passagen sind für die analytischen Teile unterstützend notwendig, sollen aber keinesfalls Lektüre und Kinobesuch bzw. einen Abend vor dem Flachbildschirm ersetzen.
Was hat mich an Science Fiction fasziniert – über Jahre hinweg? Was hat mich nicht mehr losgelassen und warum? Zuerst waren da die Filme, die ich zusammen mit meinem verstorbenen Bruder geschaut habe, die er mir zeigte, als ich noch überhaupt keinen Zugang zu diesem Genre hatte (ich liebte in der Schule Latein und studierte dann auch dieses Fach). Damals war ich ein digitaler Einwanderer, mein Bruder schon ein digitaler Eingeborener (nach M. Prenzky), der über solche futuristischen Errungenschaften wie einen Video-Rekorder und DVD-Player verfügte.
Dann kam die Lektüre während der Busfahrten zu meinen Universitäten (z.B. in London oder Münster), dann als Erholung vom Referendariat und als ich anfing, an der Universität Flensburg zu unterrichten, die tiefe Einsicht: „Ich brauche als Theologe Science Fiction, um endlich etwas Reales zu lesen nach all den Fiktionen, mit denen ich mich beschäftigen muss!“ Ich träume immer noch von einem utopischen Bildungssystem, das bei genauerer Hinsicht erschreckend viele Ähnlichkeiten mit der von Pseudowissenschaftlichkeit ausgerotteten, zu Tode ökonomisierten Humboldt-Universität aufweist. Ein Theologe und Science Fiction? Ein neues Problem?
„Als ich meiner Frau von der Idee erzählte, ein Buch über Aliens zu schreiben, zeigte sie sich leicht besorgt […]. Ich erinnerte sie daran, dass ich Theologe bin und mich ohnehin mit Themen beschäftige, die vielerorts nicht gerade als Inbegriff von Seriosität gelten. Wer davon überzeugt ist, dass ein Gekreuzigter am dritten Tag wieder zum Leben erweckt wurde, sollte nicht vorschnell die Nase rümpfen über Menschen, die an UFOs und Außerirdische glauben oder davon überzeugt sind, ihnen begegnet zu sein.“[3]
Das könnte man schnell als Ironie abtun, mit einem Augenzwinkern. Ernster wurde die Sache – jetzt begann gewissermaßen die Feldforschung –, als ich in unserem Master-Studiengang KSM (Kultur – Sprache – Medien) Seminare geben konnte zum Thema „Science Fiction und Religion“ – mit Schwerpunkten im Bereich von Archetypen und Mythopoetik. Es ist fast schon unheimlich, wie einige Studierende mit SF sozialisiert und groß geworden sind. Über einige Serien wissen sie alles, einfach alles; fast unheimlich. Ich bin, glaube ich, derjenige, der in den Seminaren am meisten gelernt hat, auch und vor allem von meinen Studierenden.
Dann erhielt ich die Möglichkeit, im Internetmagazin culturmag einige Essays zu SF-Serien und –filmen wie auch zu anderen Serien zu publizieren, Essays, die hier in Buchform, natürlich mit Veränderungen, zugänglich gemacht werden sollen. Und zum Schluss kam das großzügige Angebot des Igel-Verlages, dieses Buch zu publizieren. Mein Dank gilt hier besonders Frau Christina Schmidt-Hoberg.
Besonders herzlich möchte ich mich auch bedanken für die Korrekturvorschläge von Frau Prof. Elin Fredsted, Herrn Dipl. Ing. Alexander Jöckel, Herrn Prof. Marcello Neri, Frau Regina Spöttl und bei Herrn Prof. Matthias Bauer für die Beratung im Bereich Medien.
Noch anzumerken wäre, dass unmarkierte Substantive (und die entsprechenden Pronomina) gemäß der deutschen Grammatik für Personen beiderlei Geschlechts gelten. Außerdem würde es mich doch sehr befremden, dass, angenommen ich lebte zur Zeit des römischen Kaisers Augustus und erhielte die Bezeichnung poeta (Dichter), dies zu Irritationen führen könnte, falls das grammatische Femininum ontologisch gedeutet würde, da ich ein natürliches Maskulinum bin.
Und noch ein sehr persönliches Anliegen: Hinzukommen wiederkehrende Erfahrungen mit meiner Damenwelt, die regelmäßig bei 2001 – Odyssee im Weltraum (dem Film aller Filme!!!) entweder kollabierte oder einschlief. Das war meine ursprüngliche Motivation für diese Texte. Darum:
Science Fiction – eine Apologie!
Der Astrophysiker Alan Lightman schrieb einen Essay, wie Isaac Newton ihn in seinem Büro besuchte.[4] Ein Essay? Eine Science Fiction-Story? Es fehlt die Zeitmaschine, es wird keine Multiversumstheorie geliefert, dieser Newton ist auch nicht das genetische Ergebnis eines wahnsinnigen Wissenschaftlers und kein getarnter Außerirdischer. Macht das SF aus? Auf jeden Fall schreibt Lightman eine spannende Geschichte, die funktioniert.
„Einst malte Wu Taotse auf eine Wand des Kaiserpalastes eine Landschaft mit Höhle. Als er sein Werk dem Herrscher vorgeführt hatte, ging er mit wenigen Schritten in die Höhle hinein und verschwand darin. Danach erlosch das Bild, und die Wand wurde weiß wie zuvor. Den Meister hat aber niemand mehr gesehen. Li Ssehsün malte einmal einen Fisch auf Seide. Ein Windstoß fegte das Tuch in einen Teich. Da schwamm der Fisch lebendig davon.“ [5]
Das sind wundervolle Geschichten und sie funktionieren wundervoll innerhalb ihres Gelesen- oder Erzähltwerdens. Wie leicht wäre es dann, naiv formuliert, beispielsweise die Überfischung der Ozeane zu beheben, würfe man nur Seidentücher, mit Fischen bemalt, in diese hinein. Und haben Sie schon einmal die Winterregenzeit in Flensburg erlebt – so von Oktober bis Anfang Mai (dann folgt die Sommerregenzeit …)? Gerne hinge ich mir ein Poster von Hawaii in meinem Büro auf und liefe doch nur mit meinem Koffer gegen eine Wand. Wo liegt die hermeneutische Bruchzone? In der (Post)Moderne wird vieles via Technik reproduzierbar.[6] Antibiotika heilen auch die, welche nicht unbedingt ausreichend zu diesem oder jenem Heiligen gebetet haben; alles steht mehr oder wenig in Fülle bereit; alles ist medial möglich; wir brauchen nicht mehr dieses sperrige, mühselige, langweilige, zerbrechliche Da-Draußen, gottgleich schaffen wir digitale Universen. Selbst auf der Ebene des einst so romantischen Spielzeugklassikers Märklin, mittlerweile auch in der digitalen Dimension angekommen, spiegelt sich diese Mentalität wider:
„Erleben Sie die Faszination Modelleisenbahn und den Mythos einer großen Marke. […] Mit Märklin bauen Sie ihre eigene Welt und Sie beherrschen diese problemlos mit unserer modernen Technik.“[7]
Mythos und das Faszinosum klingen hier schon wie Stichwortgeber für die nachfolgenden Überlegungen und spannen eine Semantik des Religiösen auf; und das zusätzliche theologische Motiv des Schöpfertums wird geschickt eingegangen durch die Kombination von Moderne und Technik: deshalb muss man(n) kein Gott mehr sein, um als Weltenbauer tätig zu werden. (Anmerkung: Mein Laptop steht gerade auf meiner Eisenbahnanlage, vor mir ein Santa Fe, eine New York Central, ein Big Boy – letzteres ist eine Dampflokomotive! Bitte den Namen nicht einfach so bei Google eingeben, wie mir einige befreundete Damen berichteten!!!)
Der italienische Philosoph Gianni Vattimo betont kritisch, „[…] daß die Wirklichkeitsauflösung, die von den neuen Kommunikationstechniken möglich gemacht wurde, in jener ‚realistischen‘ Instanz, die der Markt ist, einer Grenze begegnet.“[8] In paradoxer Weise verantwortet aber der Markt, „[…] daß diese Auflösung sich nicht frei entfalten kann […]“ [9]. Vattimo beobachtet aber auch eine gegenläufige und „[…] unaufhaltsame Tendenz der Wirtschaft […], sich auf den Boden der Imagination zu begeben und sich von realistischen Bindungen zu befreien […].“ [10] Die katastrophalen Folgen für die Weltwirtschaft sind allzu bekannt. Noch bedrückender scheint die Diagnose von Wolfgang Welsch auszufallen: Medienrepräsentation sei „[…] für die Alltagsrealität zum Beglaubigungssiegel geworden. Als vollends wirklich gilt nur, was gesendet wird.“[11]
Ob es Scherz oder Schmerz war, weiß ich nicht, als eine Studentin ausrief: „Mein Internet ist kaputt. Ich habe den Bezug zur Realität verloren!“ Früher habe ich mir in meinem Gymnasium Gedanken gemacht, wie ich zu Stundenbeginn eine ruhige Unterrichtsatmosphäre schaffen könnte, heute sitzen die körperlichen 3D-offline Versionen der Studierenden zu Seminarbeginn/im Raum/totenstill/und doch kommunizierend/an-mit ihren Handys – und mich beschleicht das Gefühl, es würde überhaupt kaum auffallen, wenn ich ginge. Oder: „Die SF-Kurzgeschichten, die Sie uns zum Lesen empfohlen haben, sind sehr gut. Haben wir im Internet nachgelesen.“ Ich schlug heroisch die Originallektüre vor – und siehe da: Es wurde Licht!
Die enormen Kosten, ein Buch zu produzieren,[12] und nur wenige, die lesen und schreiben konnten: das machte Literatur im Mittelalter zu etwas Kostbarem, vielleicht Elitärem. Heute sind Bücher und Computer einem breiten Massenpublikum (zumindest in westlich geprägten Kulturen) zugänglich. Rüdiger Safranski verweist in seinem Buch über die Romantik [13] auf das explosionsartige Ansteigen der Romanliteratur zwischen 1790 und 1800. Auf der einen Seite gab es immer mehr bücherverschlingende Leser, auf der anderen Seite immer mehr Autoren – genial, banal und/oder marktorientiert. Clemens Brentano, so Safranski, reagiert auf diese veränderte Lesesituation:
„Ich sehe nach und nach immer mehr ein, daß durch die Romane eine Menge unsrer Handlungen unwillkürlich bestimmt werden, und daß Frauenzimmer besonders am Ende ihres Lebens nichts als Kopien der Romancharaktere waren, die ihnen die Lesebibliotheken ihres Orts dargeboten haben.“ [14]
Literaturerlebnis als Lebensersatz. Die Lesenden lassen sich von Fremdcharakteren infizieren und kolonisieren – und das mit Genuss. Dennoch: Waren es nicht gerade die Romantiker, die eine Poetisierung nicht nur aller Künste, sondern auch aller Lebensbereiche forderten? Waren es nicht gerade die Romantiker, die der Prosa des nüchternen Alltages und der erdrückenden politischen Situation den Zauber der Poesie und die revolutionäre Sprengkraft von Literatur entgegenstellten? Raymond Federman hat für die grundlegende, aufklärende Funktion von Literatur als Reaktion auf die schon fiktive Verfasstheit von Wirklichkeit den Begriff „Surfiction“ geprägt:
„Mir bedeutet heute nur die Literatur etwas […], die die spielerische Irrationalität des Menschen offenbart statt seine selbstgewisse Rationalität. Diese Literatur nenne ich SURFICTION. Allerdings nicht, weil sie Realität nachahmt, sondern weil sie die Fiktionalität der Wirklichkeit offenlegt. So wie die Surrealisten jene Ebene der menschlichen Erfahrung, die im Unterbewußtsein verborgen funktioniert, SURREALITÄT nannten, nenne ich die Ebene der menschlichen Aktivitäten, die das Leben als Fiktion entlarven, SURFICTION. Es liegt schon ein Quentchen Wahrheit in dem Klischee, das da sagt, ‚das Leben imitiert die Fiktion‘ oder ‚das Leben ist eine Fiktion‘; allerdings nicht, weil es sich in den Straßen unserer Stadt abspielt, sondern weil die Wirklichkeit als solche eigentlich nur in ihrer fiktionalisierten Form existiert, also in der Sprache, die sie zum Ausdruck bringt. Die Erfahrungen des Lebens erlangen ihre Bedeutung erst in ihrer wiedererzählten Form […].“[15]
Der Mensch scheint immer schon ein Wesen zu sein, das sich täuschen lassen kann und will. Der Mensch spielt mit seinen Identitäten in Kunst, Literatur, Musik … – über alle Standes-, Klassen-, Religions-, Geschlechter- und Zeitengrenzen hinweg. Der Wert des Fiktiven kann Befreiung, Umdenken und Aufbruch bedeuten, beispielsweise in berühmten Texten, welche die Welt bewegten und/oder die bei ihrem Erscheinen und in der Rezeption mit vorhandenen Realitätskonzepten kollidierten, diese aber dann revidierten (von Kopernikus bis Darwin, von Newton bis Einstein, von Platon bis Kant, von der Bibel und den großen Menschheitsepen ganz zu schweigen.) Der Preis des Fiktiven kann aber auch Verlust von Identität bedeuten, Flucht in vermeintlich bessere Welten oder in ein besseres Leben, das hier und jetzt nicht gelebt werden kann, aber dafür z.B. in einer fiktiven und/oder virtuellen Realität – oder in einer realen Fiktion. Fiktionen können auch unterdrücken – so z.B. in der Gestalt von Kasten, Marginalisierung von Frauen, Homophobien, Klassen- oder Rassenideologien. Fiktionen scheinen also an sich weder gut noch schlecht, sondern erst, wenn sie für etwas stehen, d.h. wenn sie auf bestimmte Interessen verweisen.
Der englische Autor Charles Stross legte 2005 einen beklemmenden SF-Roman vor, Accelerando[16] – frei übersetzt: Beschleunigung. Eine mögliche Entwicklung des homo sapiens zum homo virtualis: Evolution verläuft nun als eine digitalisierte Beschleunigung, als Auflösung von allem in ein Spiel von Wirklichkeiten, Welten, Realitäten und Identitäten. Das Sonnensystem dient als materielle Basis, wird regelrecht modifiziert und verschlungen zur Entwicklung neuer Technologien. Die sogenannte Eroberung des Weltalls entwickelt sich zu einem ökonomischen Freibeuterkapitalismus, basierend auf Informationen, die durch galaktische Netze transferiert werden. Die Menschen sind nicht die ersten in diesem Dorf namens Universum, die eine solche Entwicklung durchlaufen – und schon gar nicht die fortschrittlichsten. Sie kommen letztlich unter die virtuellen Räder künstlicher Intelligenzen, suchen sich alsbald resigniert eine ökologisch-digitale Nische.
Am Anfang des Romans steht eine seltsame Begebenheit; Manfred – Vordenker und Umsetzer fast kommunistischer Ideen: das Internet, vor allem die Musikdateien: für alle, und zwar kostenlos! –, Manfred also lebt mit seiner Brille. Über Displays und Implantate hat er ständig Kontakt zum weltweiten Netz. Er ist so davon abhängig, dass er, als ihm die Brille gestohlen wird, irritiert fragen wird: „Wer bin ich? […] Was hatte ich vor?“[17] Und dann ist da Jack, der Dieb, der vollkommen überrannt wird von der Datenflut der gestohlenen Brille. Die Brille ist nämlich ein Kollektiv aus Suchmaschinen und Agenten, eine „[…] Society of Mind, die mittlerweile die Persönlichkeit ihres Besitzers bestimmt. Ihr Besitzer ist ein posthumaner genius loci des Netzes […].“ [18] Der weitere Kommentar des allwissenden Erzählers:
„In einem sehr realen Sinne macht die Datenbrille den ganzen Manfred aus, unabhängig von der Identität dieses Apparates aus Fleisch und Blut, dessen Augäpfel hinter den Brillengläsern hin und her huschen.“[19]
Und während Manfred desorientiert, sensoren- und identitätslos durch eine Stadt geistert, wird die Persönlichkeit des Diebes geradezu überschrieben – und dieser führt aus, was eigentlich jener vorhatte.
In seinem Roman Sternensturm[20] (engl. Polystom) zeichnet Adam Roberts das Bild einer bisweilen viktorianisch anmutenden Gesellschaft, die mit Luftschiffen zwischen den Planeten hin- und herreist, in einem Kosmos, in dem unser Verständnis von physikalischen Kräften ausgehebelt scheint. Die Hauptfigur Polystom meldet sich für einen Krieg, der immer mehr philosophische Dimensionen annimmt. Anfänglich begeistert und voller idealistischer Naivität, geht der Held einem fürchterlichen Grauen entgegen, begleitet von Toten und Gespenstern – die möglicherweise Computersimulationen sind. Umkämpft wird ein Berg, in dem sich ein riesiger Computer befindet, ein Regierungsprojekt, das aus dem Ruder gelaufen ist – und irgendwie scheint die andere Realität, nämlich unsere Welt – in Polystoms Welt hinüberzusickern. Und im Verlauf der Diskussionen wird immer unentscheidbarer, welche Welt die wirklichere ist. Durch die Zerstörung des Computers erhofft man sich Gewissheit; aber hier bricht der Roman ab.
Das Nachwort funktioniert wie ein hermeneutischer Schlüssel; zum einem wird die Ebene des Textes verlassen, um – so die Suggestion – von Interessierten auch im Internet fortgesetzt werden zu können, zum anderen gibt es Hinweise zum Realitätsgehalt des Romans. Beim ersten Lesen war ich irritiert durch Auslassungen im Text, die (es handele sich um eine Handschrift) auf das Fragmentarische und Unvollständige hinweisen, Stellen, die textkritisch nur bedingt zu rekonstruieren seien, z.B.:
„Heute, dachte Stom bei sich, wird dieser Himmel mir gehören.
…
[Hier fehlen drei Zeilen]
… die Stufen, die Lei[ter] hinauf ins Cockpit. Sein Leder[helm] befand sich dort, wo die Diener ihn hatten hinhängen sollen.“ [21]
Klammern und Auslassungspunkte stehen verteilt im Originaltext. In dem Kapitel [Nachbemerkung zu den Blättern] wird Entropie als Kriterium für die Unterscheidung von Ausgangswirklichkeit (der Programmierer) und Simulation angeführt:
„Wenn ein Text von der untergeordneten an die übergeordnete Welt (vom Modell an die Realität) übermittelt wird, rechnet man nicht mit einer Verstümmelung der in diesem Text enthaltenen Daten. Doch im umgekehrten Fall – wenn der Realität entnommene Daten ins Modell eingehen – besteht durchaus die Möglichkeit, dass eine gewisse Verstümmelung auftreten kann und Informationen verloren gehen.“ [22]
Rückblickend dämmerte dem Leser (nämlich mir), dass die fragmentarische Situation des Romantextes darauf verweist, dass eben diese Aufzeichnungen aus der Realität ins Modell transferiert worden sein könnten. Unsere Welt scheint dann nur eine Simulation zu sein, denn z.B. ein Vakuum zwischen Planeten scheint ja blanker Unsinn und physikalisch nicht haltbar. Aber der Roman hütet sich vor einer eindeutigen Antwort, verliert sich eher in Diskussionen von Pro und Kontra. Polystom selbst wird in einem Krieg von der Simulation (vom Geist?) seines verstorbenen Onkels heimgesucht, eines Programmierers, der das Projekt erklärt: eine Welt, die analog unserer irdischen Geschichte aufgebaut ist, mit Religionsstiftern, Revolutionen, Entdeckung neuer Erdteile, selbst der Mars lässt sich finden …
„Ob ich eine Idee bin, die sich für wirklich [,] oder eine Wirklichkeit, die sich für eine Projektion hält, könnte eine unzulängliche Unterscheidung für die erfolgreiche Suche nach der verlorenen Wirklichkeit sein. Stanislaw Lem hat für eine holistische Simulation eine Definition im eigentlichen Sinne des Wortes darin gefunden ‚Phantomatik bedeutet, dass eine Situation geschaffen wird, in der es aus der Welt der erzeugten Fiktion keine Ausgänge in die reale Welt gibt.‘“[23]
Viele biblische Texte sind heute historisch relativiert und auch als historisch falsch erwiesen worden. Sind sie deshalb in ihrer theologischen Sinngebung unwahr, im besten Falle nette Geschichten vom lieben Gott, im schlimmsten Falle böswillige Täuschungen? [24] Klaus Müller zeigt an der Geschichte des Kindermordes in Bethlehem, der so nicht stattgefunden hat, wie Historisches und Theologisches zu einer neuen literarischen Sinnformation vom Evangelisten Matthäus gestaltet wurden: