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Ein brutaler Killer treibt sein Unwesen in Berlins Straßen. Er genießt es, zu töten. Er muss es wieder tun. Wann? Wer? Und warum? Nur Profilerin Lena Peters kann sein blutiges Geschäft beenden. Denn sie hat die Hölle am eigenen Leib erlebt und weiß: Wo Gedanken endlos kreisen, findet das Böse keine Ruhe!
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Die Ermittlerin:
Lena Peters ist eine brillante Kriminalistin. Sie ist klug. Und sie ist verletzlich. Ihre dunkle Vergangenheit hat ihre Instinkte geschärft. Sie kennt das Böse. Sie hat gelernt, um ihr Leben zu kämpfen, selbst dann, wenn ihr niemand mehr glaubt. In Berlin hat sie endlich das Gefühl, angekommen zu sein. Dank ihres Partners, dem altgedienten Kommissar Wulf Belling, und ihrem Nachbarn Lukas, der inzwischen mehr als nur ein Freund ist.
Der Fall: Eine mysteriöse Selbstmordserie gibt Lena Peters und Wulf Belling Rätsel auf. Mehrere Menschen haben unabhängig voneinander auf die gleiche grausame Weise Suizid begangen: Ihre Gesichter sind durch Säure entstellt. Zwischen den Opfern scheint es keinerlei Verbindung zu geben, bis auf die Tatsache, dass sie vor ihrem Ableben alle die gleiche Morddrohung erhalten haben: »Tu, was ich dir sage, oder ich töte dich.« Sind sie in den Tod getrieben worden? Wer steckt hinter der makabren Drohung, und welche Rolle spielt dabei ausgerechnet Lena, die die gleiche Nachricht erhalten hat?
Lena glaubt bald nicht mehr an die Selbstmord-Theorie. Eine Spur führt sie zu dem renommierten Psychiater Professor Simon Wallau. Lena beschleicht der Verdacht, dass dieser ihr etwas verschweigt. Und sie wird das Gefühl nicht los, verfolgt zu werden.
Von Hanna Winter sind in unserem Hause bereits erschienen:
Die Spur der Kinder
Stirb
und
Opfertod
– der erste Band der Serie um Kriminalpsychologin Lena Peters.
Hanna Winter
Seelenriss
Thriller
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Februar 2013© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: Blume: © plainpicture / Stefan Freund;Composing: FinePic®, MünchenSatz und eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, BerlinISBN 978-3-8437-0377-2
Für Matthias
Am späten Nachmittag des 25. Mai …
Lynn Maurer zog ihren aufklaffenden Bademantel zu und brachte kaum mehr als ein gequältes Wimmern zustande. Warmes Blut lief ihr über die nackten Oberschenkel, zugleich schoss ihr ein brennender Schmerz durch den Körper, und Unmengen Adrenalin pulsierten durch ihre Adern. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und riss sich mit letzter Kraft zusammen.
Am Morgen war ihre Welt noch in Ordnung gewesen. Es war ein Mittwochmorgen wie jeder andere, sie hatte ihre Kleider und ihren neuen Reisepass abgeholt und sich wie immer an ihrem freien Tag mit Annette getroffen.
Annette war Sozialarbeiterin in einem Berliner Problembezirk und hatte soeben ihren zweiten Alkoholentzug erfolgreich hinter sich gebracht. Seit drei Jahren waren Annette und sie mehr als nur gute Freundinnen, und jedes Mal, bevor sie im Eingang des Hotels am Kurfürstendamm verschwand, vergewisserte sie sich, dass ihr niemand gefolgt war. Sie hatte Annette im bevorstehenden Kurzurlaub endlich von dem Baby erzählen wollen. Gleichzeitig wollte sie ihre Freundin um etwas Aufschub bitten, was ihre Trennung von Sven anbelangte. Doch ehrlich gesagt hatte sie wenig Hoffnung, dass Sven sie jemals gehen lassen würde. Eher würde er sie halb totschlagen, sobald er von ihrem Doppelleben Wind bekäme – und das ohne Rücksicht auf das Kind in ihrem Bauch. Langsam hob sie die geschwollenen Lider und starrte auf das Diktiergerät, das eingeschaltet vor ihr auf dem Esstisch stand. »Ich habe gesündigt, o Herr«, presste sie unter Schmerzen hervor. »Bitte vergib mir, o Herr.«
Dutzende Filme liefen gleichzeitig vor ihrem geistigen Auge ab, als zöge ihr ganzes Leben noch einmal im Schnelldurchlauf an ihr vorbei. Ihre Kindheit im Grunewald. Der erste Kuss mit Annette. Die Schläge von Sven. Das Ultraschallbild ihres ungeborenen Kindes, das für andere noch unsichtbar, für sie aber längst Teil ihres Lebens war. Und ihre Eltern, zu denen sie nach jahrelangen Familienstreitigkeiten inzwischen wieder ein gutes Verhältnis aufgebaut hatte.
Die Erinnerungen waren sehr lebendig, und doch erschien ihr in diesem Moment alles unendlich weit entfernt. Mit angstvoll geweiteten Augen starrte sie auf die Kunststoffschale, die vor ihr auf dem Tisch stand. Sie war bis zum Rand gefüllt mit hochgradig ätzender Säure. Die giftigen Dämpfe brannten ihr in Augen und Nase und benebelten ihre Sinne. Endlose Sekunden vergingen, und einen Moment lang wusste sie nicht, was schlimmer war: dass ihr das eigene Gesicht als Spiegelbild aus der grünlichen Flüssigkeit entgegensah oder dass sie dieses Gesicht nun zum letzten Mal sehen sollte.
Tränen rannen ihr über die Wangen, als sie zur Stuhlkante vorrutschte und mit zitternden Händen die Schale umfasste. Urin rann an ihren Beinen hinunter, und sie zitterte jetzt so stark, dass ihr beim Anheben der Schale ein wenig von der ätzenden Flüssigkeit über die linke Hand schwappte. Sie stieß einen gellenden Schrei aus und setzte die Schale rasch ab, dennoch fraß sich die Säure in Sekundenschnelle bis auf den Knochen in ihr Fleisch.
Ihr wurde schlecht vor Schmerz, und es dauerte eine Weile, bis sie in der Lage war, einen neuen Versuch zu wagen. Doch ihr würde keine andere Wahl bleiben. Ein letzter Blick zum Kruzifix, das neben Bildern aus glücklicheren Tagen an der Wand hing, dann nahm sie all ihren Mut zusammen und konzentrierte sich. Vorsichtig umfasste sie die Schale und verdrängte den Schmerz in ihrer linken Hand, der nichts gegen das war, was gleich kommen würde. Dann hob sie das Gefäß behutsam mit beiden Händen an. Langsam, ganz langsam, führte sie die Schale zum Gesicht, hob sie weiter an und legte den Kopf in den Nacken. Und tat, was sie tun musste.
Sekunden später drangen markerschütternde Schreie aus der Wohnung, die im ganzen Haus zu hören waren.
Berlin-Friedrichshain, Boxhagener Straße …
Die rötliche Abendsonne schien durch das Küchenfenster, und im Radio wurde heftig über die für Ende Mai ungewöhnlich hohen Temperaturen debattiert. Lena Peters stand in Jeans, schwarzem Top und einem türkisfarbenen Seidenschal am Esstisch und sah die Post durch. Wie sooft in letzter Zeit verspürte sie dabei eine vertraute Beklemmung, die nicht von ungefähr kam.
Kaum fünf Tage waren vergangen, seit sie ihren ersten großen Fall gelöst hatte, und ebenso lang war es her, seit ihr das in schwarzes Leder eingeschlagene Notizbuch zugesandt worden war. Sie hatte es zunächst für ein Geschenk gehalten und sich gefragt, wer es ihr geschickt haben mochte, denn die Sendung enthielt keinen Absender. Lena hatte auf ihren Nachbarn Lukas Richter getippt, dem sie während der Ermittlungen zu ihrem letzten Fall nähergekommen war, nachdem er ihr mit seinen begnadeten Fähigkeiten als Hacker zur Seite gestanden hatte. In sich hineinschmunzelnd, war sie mit dem Daumen über die Prägung im ledernen Umschlag gefahren und hatte die Seiten durchblättert, als sie urplötzlich erstarrt war. Kalter Schweiß brach ihr aus, während ihr Blick auf der letzten Seite des Notizbuchs verharrte, auf der in blutroter Schrift die unmissverständliche Botschaft geschrieben stand: »Tu, was ich dir sage. Oder ich töte dich.«
Die Nachricht war handschriftlich und dem kriminaltechnischen Laborbericht zufolge mit Tierblut verfasst worden. Seit Erhalt der Botschaft war nun schon eine knappe Woche vergangen, aber mehr war noch immer nicht über den anonymen Verfasser bekannt. Die Morddrohung war für Lena aus heiterem Himmel gekommen. Wann immer sie daran dachte, beschäftigte sie die Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen jener Botschaft und der Tatsache, dass sie nur wenige Tage zuvor einen der brutalsten Serienmörder der deutschen Kriminalgeschichte überführt hatte. »Der Stümmler«, wie ihn die Presse getauft hatte, hielt sich selbst für einen begnadeten Künstler. Er hatte seine Opfer auf bestialische Weise zerstückelt und die Leichenteile plastiniert, um sie zu einem »Gesamtkunstwerk« zusammenzusetzen, das in seiner kranken Phantasie dem Abbild seiner geliebten Schwester entsprach.
Lena war mit den Denkweisen von Psychopathen wohlvertraut. Daher wunderte es sie wenig, dass der Grundstein der Persönlichkeitsstörung des Mannes in seiner schwierigen Kindheit zu suchen war. Diese war eine einzige Tragödie gewesen und wies mehr Parallelen zu ihrer eigenen Kindheit auf, als ihr lieb war. Dennoch hatte sie ihn unterschätzt und hätte dies, festgeschnallt auf einen OP-Tisch in seiner Spandauer Kellerwerkstatt, um ein Haar mit dem Leben bezahlt.
Wie allen seinen Opfern hatte er auch ihr ein südamerikanisches Pfeilgift gespritzt, das eine vorübergehende Lähmung der gesamten Muskulatur auslöste, jedoch keinerlei Auswirkung auf das Bewusstsein hatte. Die Opfer waren also während der gesamten Prozedur bei vollem Bewusstsein und konnten alles spüren. Der Täter hatte Lena einen Tubus in den Rachen geschoben, der an eine Beatmungsmaschine angeschlossen war, um sicherzugehen, dass sie den Eingriff bis zum Ende mitbekam und ihm keinesfalls zuvor unter den Händen wegstarb. Ihr wurde noch immer ganz schlecht, wenn sie daran dachte, wie er ihr mit seinen behandschuhten Fingern die Lider auseinandergeschoben und sie gefragt hatte: »Stehst du auf Schmerz, kleine Lena?«
Im Nachhinein hätte sie nicht mehr sagen können, was sie in jenem Moment mehr geschockt hatte: dass er kurz davor gewesen war, ihr mit dem Skalpell das Auge herauszuschneiden, oder aber die Tatsache, dass sie dieses Monster bereits seit Kindertagen gekannt hatte.
Noch immer verfolgten sie seine stechend blauen Augen, und während sie die Post, die lediglich aus Prospekten und Gratiszeitungen bestand, in den Müll warf, musste sie sich zwingen, den Gedanken an dieses Grauen abzuschütteln.
»Der ›Stümmler‹ ist tot«, rief sie sich immer wieder ins Gedächtnis. Lena hatte mit eigenen Augen gesehen, wie er von der Wucht einer gewaltigen Explosion gegen die Wand geschleudert worden und nach einem anschließenden Feuergefecht mit durchlöcherter Brust zu Boden gegangen war. Doch wer um alles in der Welt hatte ihr nun diese Morddrohung gesandt?
Während Lena ihren Gedanken nachhing, kam Napoleon in die Küche getapst und wand sich maunzend um ihre Knöchel. Lena hob ihn hoch und streichelte ihm über das gescheckte Fell. Der Kater war ihr vor drei Jahren in Köln zugelaufen und seither nicht mehr von der Seite gewichen. Lena hatte es nicht übers Herz gebracht, ihn bei ihrem Umzug nach Berlin zurückzulassen. Ihre Zwillingsschwester Tamara hatte ihn bei ihrem letzten, wie immer unerwarteten Besuch als den hässlichsten Kater der Welt bezeichnet. Doch Lena liebte den eigensinnigen Kater und hatte die Entscheidung, ihn mitzunehmen, bis heute nicht bereut. Sie setzte Napoleon wieder ab und blickte ihn fragend an. »Was, wenn sich bloß jemand einen schlechten Scherz mit mir erlaubt hat?« Der Kater blieb stumm und leckte sich seelenruhig die Vorderpfote.
Bei dem Gedanken daran, dass es draußen in der Welt möglicherweise jemanden gab, der ihr nur zum Spaß schlaflose Nächte bereitete, überkam Lena ohnmächtige Wut. Mit leerem Blick starrte sie zum Küchenfenster hinaus in den kargen Innenhof und rieb sich die pochenden Schläfen. Ihr ständiges Grübeln trieb sie noch in den Wahnsinn, lieferte ihr aber zumindest eine Erklärung für ihre wiederkehrenden Kopfschmerzen in letzter Zeit. Lena spülte eine Aspirintablette mit einem Glas Wasser herunter und entschied, den restlichen Abend mit einem guten Buch auf dem Sofa zu verbringen. Sie nahm eine eisgekühlte Cola aus dem Gefrierfach und erstarrte plötzlich mitten in der Bewegung: Das darf doch nicht wahr sein! Sie traute ihren Augen kaum, als sie Lukas eng umschlungen mit einer rothaarigen Bohnenstange über den Hof laufen sah. Erst gestern Abend nach dem Kino hatte sie sich noch mit einem innigen Kuss vor ihrer Wohnungstür von ihm verabschiedet.
Blitzschnell ging Lena in Deckung und spähte den beiden hinterher. Lukas trug ausgelatschte Chucks, eine knielange Army-Hose und dasselbe T-Shirt, das er gestern schon angehabt hatte. Seine blonden Haare waren zerzaust, was ganz bestimmt nicht davon kam, dass er den ganzen Tag vor dem Computer gesessen hatte. Die Rothaarige schmiegte sich an ihn wie ein Kätzchen und sah in ihren Highheels und dem kurzem Rock so aus, als käme sie geradewegs vom Laufsteg der Berliner Fashion Week. Die beiden wirkten vertraut. Viel zu vertraut, fand Lena und spürte, wie ihr der Anblick einen Stich versetzte. Wie hatte sie nur so naiv sein können, sich einzubilden, dass sich zwischen Lukas und ihr etwas anbahnen könnte!
Lena biss sich auf die Unterlippe und schüttelte verärgert den Kopf über sich selbst, als die beiden auf die Straße hinaus verschwanden. Noch während sie darüber nachdachte, dass sie künftig wohl verstohlen aus ihrer Wohnung schleichen und mit Lukas nie wieder mehr als unverfänglichen Small Talk an der Tür halten könnte, schlug ihr iPhone auf dem Küchentisch Alarm. Ein Blick auf das Display verriet, dass es sich bei dem Anrufer um Wulf Belling handelte.
Belling war ein Polizist älteren Kalibers, den sie bei den Ermittlungen zum letzten Fall kennengelernt hatte. Obwohl Belling wegen, wie er sagte, vollkommen haltloser Gründe vorzeitig pensioniert worden war, hatte auch ihm der »Stümmler« keine Ruhe gelassen, und mit vereinten Kräften war es ihnen gelungen, dem Killer auf die Spur zu kommen. Im Laufe der Ermittlungen waren sie ein eingeschworenes Team geworden, das es fortan nur noch im Doppelpack gab. Lena hatte Volker Drescher, dem Leiter der Berliner Mordkommission, keine andere Wahl gelassen, als Wulf Belling wieder einzustellen. Es war das mindeste, was Lena für Belling hatte tun können – immerhin hatte sie ihm ihr Leben zu verdanken.
Es war Belling gewesen, der im Keller einer Galerie unter Einsatz seines eigenen Lebens auf den alles entscheidenden Hinweis gestoßen war, der das Team von Volker Drescher dann in buchstäblich letzter Sekunde zur Werkstatt des Psychopathen geführt hatte. Doch Lena schätzte nicht nur Bellings Kompetenz als Kriminalist, sondern auch sein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen. Wenn es auf dieser Welt jemanden gab, dem sie blind vertraute, dann war es Belling. Ihr Kollege kannte ihre dunkle Vergangenheit, wusste Bescheid über ihre Zwillingsschwester Tamara, die auf die schiefe Bahn geraten war, und auch darüber, dass Lena zwei Jahre ihres Lebens wegen eines Verbrechens, das sie nicht begangen hatte, im Gefängnis gesessen hatte. Zudem war er einer der wenigen Menschen, denen sie von dem schrecklichen Tod ihrer Eltern sowie von ihrer Kindheit in verschiedenen Pflegefamilien erzählt hatte. Durch diese traumatischen Erlebnisse hatte sie sich letzten Endes zu jener Einzelkämpferin entwickelt, die sie heute war. Dennoch gab es Dinge, die sie selbst ihrem Kollegen verschwieg. Dunkle Flecken auf der Landkarte ihres Lebens, die so grausam waren, dass nicht einmal Belling davon erfahren durfte.
Das beharrliche Klingeln des Smartphones riss sie aus ihren Gedanken. Lena starrte das Handy unschlüssig an. Es war ihr freier Tag, und etwas sagte ihr, dass dieser Anruf nichts Gutes verhieß. Entweder brauchte Belling ihren Rat, da er wieder einmal Ärger mit seiner heranwachsenden Tochter hatte und um nichts in der Welt seine Exfrau kontaktieren wollte, oder aber es gab einen Mord. Dann konnte sie ihren freien Abend getrost vergessen. Allerdings wurde sie als Profilerin meist nur dann zu einem Fall hinzugezogen, wenn mindestens ein Menschenleben auf so perverse Art und Weise ausgelöscht worden war, dass die Tat jegliche Nachvollziehbarkeit eines »normal« denkenden Menschen überstieg.
Lena nahm den Anruf an, und es ging tatsächlich nicht um Bellings Tochter, sondern um einen Mord. Was Belling ihr allerdings darüber berichtete, gab ihr Rätsel auf. Ihre Neugier war geweckt, und sie beschloss, sich selbst ein Bild zu verschaffen. Sie schlüpfte in ihre Turnschuhe, drehte die schulterlangen mittelbraunen Haare zu einem Dutt zusammen, schnappte sich die Schlüssel ihrer Vespa und machte sich umgehend auf den Weg zum Tatort.
Vierzig Minuten später …
Die untergehende Sonne versank langsam hinter den Hausdächern und tauchte die Straßenschluchten in ein warmes Licht. Es lud eher zu einem Abendspaziergang an der Spree oder zu einem Feierabendbier in einer Bar im Prenzlauer Berg ein, passte aber so gar nicht zu dem grausamen Anblick, der sich Lena vor dem Mietshaus in der Schönhauser Allee bieten sollte.
Schon von weitem sah sie die Schaulustigen, die sich rund um die Absperrung versammelt hatten. Sie stellte ihre nachtblaue Vespa in einiger Entfernung ab und näherte sich schnellen Schritts der aufgebrachten Menge. Lena war nur knapp eins sechzig groß und von zierlicher Statur, so dass sie Mühe hatte, sich zwischen all den Gaffern den Weg zum Tatort zu bahnen. »Entschuldigung, dürfte ich bitte? Danke.«
Der Leichenwagen war gerade eben eingetroffen, und Lena musste sich beeilen, wenn sie noch einen Blick auf die Tote erhaschen wollte. Wulf Belling war nirgends zu sehen, und Lena ging davon aus, dass er bereits oben in der Wohnung des Opfers war. Sie wies sich gerade bei den umstehenden Polizisten aus, als sie hinter sich eine gereizte Stimme vernahm: »Ich habe ja schon so einiges an Abscheulichkeiten gesehen, aber das hier …«
Lena wandte sich um und blickte in die Augen von Bastian Kindler, einem Rechtsmediziner in den Vierzigern, dem sie im Institut in Moabit schon einige Male über den Weg gelaufen war. Kindler erklärte ihr, er sei kurzfristig als Urlaubsvertretung für Dr. Kurt Böttner eingesprungen, der gerade mit seiner Familie Urlaub an der Ostsee machte, und Lena sah ihm an, dass er seine Bereitwilligkeit schon jetzt bereute.
Mit wachsendem Unbehagen folgte sie Kindler zu der Toten, bei der es sich nach Bellings Angaben um eine gewisse Lynn Maurer handelte. Kindler zog das Laken beiseite, so dass Lena einen Blick auf die Tote werfen konnte. Sie lag mit verrenkten Gliedmaßen auf dem Rücken, die Arme weit von sich gestreckt, das Gesicht abgewandt. Unter ihrem Kopf hatte sich eine dunkle Lache auf dem Asphalt ausgebreitet. Ihre langen kastanienbraunen Haare waren durchtränkt von Blut, und Lena spürte, wie sich ihr bei dem Anblick der Magen verkrampfte. Sie kämpfte gegen den Würgereiz, den der Anblick von Blut in ihr auslöste. Ihr Blick wanderte über den leblosen Körper der Frau, die schlank, etwa eins siebzig groß und lediglich mit einem hellblauen Bademantel bekleidet war. Darunter trug sie nichts weiter als einen Slip. Plötzlich verengten sich Lenas Augen, und schockiert sah sie zu Kindler auf. »Sie war schwanger.«
Der Rechtsmediziner nickte. »Das ist richtig. Sie dürfte etwa in der vierzehnten oder fünfzehnten Woche gewesen sein«, präzisierte er mit einem Blick auf den leicht vorgewölbten Bauch der Frau.
Lena runzelte die Stirn und machte ein paar Schritte um die Tote herum. An den Armen und Beinen der Frau klafften gut zehn Zentimeter große Schnittwunden, darüber hinaus zeichneten sich mehrere faustgroße ältere und neuere Hämatome ab. Als Lena in das Gesicht der Frau blickte, zogen sich ihr die Eingeweide zusammen. Mein Gott! Das, was hier zu ihren Füßen lag, war kaum mehr als Gesicht zu bezeichnen. Die Haut war von der Stirn abwärts fast vollständig verschwunden, so dass die Wangenknochen zwischen dem wenigen noch vorhandenen Muskelgewebe weißlich hervorstachen. An Stelle der Augen blickte Lena in zwei blutverkrustete Höhlen. Dem bis zur Unkenntlichkeit entstellten Gesicht nach hätte die Frau jedes Alter zwischen zwanzig und vierzig haben können, aber ihrer Figur nach zu urteilen, schätzte Lena sie auf Anfang oder Mitte zwanzig.
»Es handelt sich dabei um Verätzungen durch eine sehr aggressive Säure. Sind höchstwahrscheinlich ante mortem zugefügt worden«, sagte Kindler. »Genaueres wird die Obduktion zeigen.«
Lena nickte und ging neben der Toten in die Hocke. Keine Hautabschürfungen unter den Nägeln oder Abwehrspuren in den Handinnenflächen, die auf einen Kampf hindeuteten.
Während der Leichnam Momente später unter den Blicken der Schaulustigen abtransportiert wurde, steuerte Lena zielstrebig auf den Hauseingang zu. Im Hausflur des heruntergekommenen Altbaus blickte sie sich vergebens nach einem Aufzug um und hastete die Treppen hinauf. Außer Atem erreichte sie den sechsten Stock. Hier oben wimmelte es nur so von Beamten der Spurensicherung, die in ihren weißen Einweg-Overalls jeden Winkel nach verwertbaren Spuren absuchten. Lena zog sich ebenfalls einen Overall sowie ein Paar Überziehschuhe an, die einer der Beamten ihr gereicht hatte.
Vor der Tür zu Lynn Maurers Wohnung blieb Lena kurz stehen, um das Schloss zu inspizieren. Keine Spuren eines gewaltsamen Eindringens. Nachdem sie sich ein weiteres Mal ausgewiesen hatte, betrat sie die Wohnung mit Dachschrägen, in der sich die Hitze des Tages staute. Das Innere war nicht sonderlich groß, wirkte aber dank der großen Fenster, des breiten Sofas und den bis unter die Decke ragenden Bücherregalen dennoch gemütlich. Lena hielt nach Wulf Belling Ausschau, während sie den schmalen Flur entlangging. Auf der linken Seite befanden sich zwei geschlossene Türen. Hinter der ersten Tür verbarg sich das Badezimmer. Die zweite Tür führte Lena ins Schlafzimmer. Sie betrat den Raum und ließ ihre wachsamen Augen umherwandern. Der Kleiderschrank stand sperrangelweit offen. Davor ein leerer Koffer. Auf dem Bett lagen akkurat gestapelte Röcke und Blusen sowie einige Kleider, die noch immer in die Folie der Reinigung gehüllt waren. Auf dem Zettel der Textilreinigungsfirma daran war das heutige Abholdatum vermerkt.
Nachdenklich verließ Lena das Schlafzimmer und folgte dem stechenden Geruch, in dem auch eine Spur von kaltem Zigarettenrauch lag, in die Küche. An der Türschwelle blieb sie wie angewurzelt stehen, den Blick in den menschenleeren Raum gerichtet. Was auch immer sich in dieser Küche abgespielt hatte, musste mit entsetzlichen Qualen verbunden gewesen sein, war das Erste, was ihr durch den Kopf schoss. Sie nahm ein Paar Untersuchungshandschuhe aus ihrer Tasche und stülpte sie sich über. Dann folgte sie mit den Augen einer handbreiten Blutlache, die sich von einem umgeworfenen Stuhl bis zum Esstisch erstreckte. Rundherum war alles mit roten Fingerabdrücken übersät. Seit dem schrecklichen Verkehrsunfall ihrer Eltern löste der Anblick von Blut stets ein schummriges Gefühl in ihr aus und sorgte dafür, dass sich ihr die feinen Härchen im Nacken aufstellten. Sie musste sich förmlich zwingen, weiter hinzusehen, um zu rekonstruieren, was hier vorgefallen war. Ihr war, als könnte sie die Beklemmung und Todesangst, die diesen Raum vor wenigen Stunden erfüllt hatten, noch immer spüren.
»Diese Schale lag unter dem Küchentisch«, sagte ein breitschultriger Beamter der Spurensicherung, der in diesem Moment die Küche betrat und Lena eine Asservatentüte reichte, in der sich eine Schale befand. Sie nahm die Tüte mit behandschuhten Fingern an sich und steckte die Nase hinein. Der unverkennbar stechende Geruch ließ keinen Zweifel daran, dass sich darin die Säure befunden hatte. Lena gab die Tüte mit der Schale dem Beamten zurück und sah sich weiter um.
Am Kühlschrank hingen Einkaufslisten und Postkarten, an den Wänden ein Kruzifix und verschiedene Familienporträts. Nach Bildern von einem Lebensgefährten hielt Lena vergeblich Ausschau, was dazu passte, dass die Frau keinen Ehering getragen hatte. Auch fehlte die Einbuchtung, die über die Jahre an ihrem Ringfinger entstanden wäre, falls sie einen besessen, ihn aber abgezogen hätte.
Lenas Blick glitt über das schmutzige Geschirr in der Spüle, und sie stellte sich vor, wie Lynn Maurer noch vor wenigen Stunden hier in dieser Küche hantiert hatte. Auf der Arbeitsfläche lagen ein Mozzarella-Sandwich, Tomatenscheiben und ein Brotmesser. Lena prägte sich alles genauestens ein, jedes noch so unbedeutend erscheinende Detail konnte später ungeheuer wichtig sein.
Eine Winkekatze aus Porzellan, die neben Teedosen im Regal stand, fesselte ihre Aufmerksamkeit. Lena ging darauf zu und entdeckte dahinter eine in dunkelrotes Leder eingebundene Bibel. Sie zog sie heraus und schlug sie auf. Zu ihrem Erstaunen befand sich darin ein Flugticket nach Teneriffa. Es war vor einer Woche in einem Reisebüro namens Happy Holiday Travel am Ku’damm ausgestellt und mit einer Kreditkarte bezahlt worden. Abflugdatum war der siebenundzwanzigste Mai. Das war in zwei Tagen, dachte Lena. Sie reichte einem Beamten das Ticket, mit der Bitte, überprüfen zu lassen, mit wessen Kreditkarte es bezahlt worden war. Dann ging sie ins benachbarte Esszimmer.
Schon allein wegen seiner stattlichen Größe und seiner fülligen Statur war Belling kaum zu übersehen. Zu Lenas Leidwesen befand er sich im Beisein von Ben Vogt. Die beiden Männer – Belling in abgewetzter Freizeitjacke, die seinen Bauchansatz verbarg, Vogt im enganliegenden Poloshirt, unter dem sich sein durchtrainierter Körper abzeichnete – unterhielten sich mit angespannten Mienen. Als sie Lena sahen, verstummten sie abrupt. Vogt schien alles andere als begeistert, sie zu sehen, und gab sich keine Mühe, seinen Unmut zu verbergen. Lena hatte nichts anderes erwartet. Sie nahm sich vor, sich von dem mürrischen Rothaarigen keinesfalls provozieren zu lassen, zog die Latexhandschuhe aus und ging zielstrebig auf die beiden zu.
Vogt rang sich zur Begrüßung lediglich ein knappes Kopfnicken ab. Was wollen Sie denn hier?, sagte dieses Nicken. Obwohl Lena nicht danach zumute war, schenkte sie ihm ein flüchtiges Lächeln. In ihren Augen war Ben Vogt nicht nur ein miserabler Kriminalist, sondern obendrein ein rechthaberischer, kleingeistiger und eifersüchtiger Wichtigtuer, der vom ersten Tag an versucht hatte, sie aus dem Team zu drängen. Es war kein Geheimnis, dass sie einander nicht ausstehen konnten. Lena war sich durchaus bewusst, dass Vogt nicht der Einzige im Dezernat war, der sie suspekt fand und hinter ihrem Rücken über sie redete. Ihr war das ebenso gleichgültig wie Wulf Belling, der sie für ihre einzigartige Fähigkeit, sich in die Denkweise von Serienmördern hineinzuversetzen und deren Greueltaten bis ins kleinste Detail zu rekonstruieren, bewunderte.
»Soweit ich weiß, werden Sie Psychopathen-Versteherin nur dann gerufen, wenn ein Täterprofil erstellt werden soll«, meinte Vogt und schenkte ihr ein mattes Grinsen. »Aber hier gibt es keinen Täter.«
Lena antwortete mit einem säuerlichen Lächeln und zwang sich, den Kommentar, der ihr auf der Zunge lag, herunterzuschlucken. »Was haben wir?«, fragte sie, an Belling gewandt und ohne auf Vogts Bemerkung einzugehen.
»Lynn Maurer war dreiundzwanzig, ledig. Außerdem war sie schwanger«, seufzte er, mit verschränkten Armen an die Fensterbank gelehnt.
Lena gab ein wissendes Nicken von sich. »Sie war als Maklerin tätig, für einen Laden namens Astor & Ronald Immobilien«, fuhr Belling fort. »Die sitzen am Halleschen Ufer, zwei Kollegen sind bereits auf dem Weg dorthin.« Er zog den Ärmel seines Kordjacketts hoch, um einen Blick auf seine Armbanduhr zu werfen. »Mit etwas Glück erwischen sie um diese Zeit noch jemanden.«
Lena dachte nach und wollte gerade ansetzen, etwas zu sagen, da kam Vogt ihr zuvor: »O nein, ich weiß genau, was Sie jetzt denken …« Er lachte verächtlich auf. »Aber hier gibt es keinen Mord. Ist reine Routine, dass wir überhaupt hier sind.« Er zeigte mit dem Finger auf sie und funkelte sie zornig an. »Und wenn Sie meinen, aus dieser Sache auf Teufel komm raus etwas konstruieren zu müssen, und mich um meinen wohlverdienten Feierabend bringen, bloß weil in Ihrer Welt nichts als blutrünstige Psychopathen existieren, dann haben Sie sich gewaltig …«
»Schon gut, ich habe sie angerufen«, unterbrach ihn Belling und räusperte sich.
Brüskiert wandte ihm Vogt den Kopf zu. »Wozu?«
»Es will mir einfach nicht in den Sinn, dass sie sich aus freien Stücken aus dem Fenster gestürzt haben soll«, meinte Belling und sprach damit aus, was Lena schon die ganze Zeit durch den Kopf ging.
»Herrgott noch mal, dieses Mädchen war kaum älter als meine Tochter – und außerdem erwartete sie ein Kind«, fügte er aufgebracht hinzu und blickte abwechselnd zwischen Vogt und Lena hin und her.
»Ganz einfach, sie war eine verdammte Irre«, ergriff Vogt erneut das Wort und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe.
Lena hielt seinem stechenden Blick stand. »Und was ist mit ihrem Gesicht?«
Vogt lachte. »Keine Ahnung, was die für einen Spleen hatte, aber Sie wissen ebenso gut wie ich, dass der Phantasie solcher Freaks keine Grenzen gesetzt sind.«
»Aber warum um alles in der Welt sollte sich jemand erst das Gesicht verätzen und sich dann in den Tod stürzen?«, gab Belling zu bedenken. »Wie kann man sich selbst solchen Qualen aussetzen?« Er schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn. Ich meine, das ist doch, als würde man sich erhängen und gleichzeitig erschießen!«
»Hey, Leute«, rief Vogt plötzlich in den Raum hinein und kehrte Lena jetzt den Rücken zu, als sei sie Luft. »Wer erinnert sich noch an diesen Familienvater vor zwei Jahren, der seine Frau und Kinder abgestochen, dann mit Benzin übergossen und angezündet hat, um sich anschließend selbst in Brand zu stecken?«
»War ’ne ziemliche Sauerei«, kam es von einem jungen Beamten der Spurensicherung zurück, ehe er sich wieder daranmachte, das offene Fenster, aus dem sich Lynn Maurer gestürzt haben sollte, mit Fingerabdruckpuder zu bestäuben.
»Da hören Sie’s«, meinte Vogt mit einem schrägen Kopfnicken zu dem Kollegen. »Jede Wette, dass diese Lynn Maurer genauso ein Kaliber war – also sehen wir lieber zu, dass wir hier zum Ende kommen.«
»Das sehe ich anders«, hielt Lena dagegen.
Vogt drehte sich mit einem theatralischen Seufzer zu ihr um und wollte gerade etwas sagen, aber Belling brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. Dann bat er ihn, sie einen Moment allein zu lassen. Schnaubend entfernte sich Vogt.
»Ich wusste, Sie würden das sagen«, meinte Belling mit dem Anflug eines Grinsens im Gesicht.
Lena blickte in sein vernarbtes Gesicht und lächelte. »Deshalb haben Sie mich schließlich angerufen.«
Er verschränkte die Arme vor der Brust und blickte sie erwartungsvoll an. »Dann lassen Sie mal hören, Peters.«
Lena richtete den Blick aus dem Fenster und sah zur Straße hinunter. Der Bordstein war inzwischen wieder passierbar, und lediglich die Kreidemarkierung und der dunkle Fleck der Blutlache erinnerten daran, dass hier vor kurzem ein Menschenleben erloschen war. »In der Regel unterscheidet man zwischen suizidalen Menschen, die tatsächlich beabsichtigen, sich das Leben zu nehmen, und jenen, die sich Schmerzen zufügen, indem sie sich selbst verletzen«, begann sie, den Blick weiter aus dem Fenster gerichtet. »Für Letztere ist der Schmerz eine Art Ventil, um ihr seelisches Leid zu verdrängen, aber keinesfalls mit der Absicht verbunden, sich das Leben zu nehmen.« Sie wandte den Kopf Belling zu. »Dass Lynn Maurer sich die Schnittwunden zugefügt und das Gesicht verätzt haben soll, passt für mich daher in keinster Weise mit einem Selbstmord zusammen.«
Belling nickte, wirkte auf Lena aber noch nicht wirklich überzeugt.
»Was aber, wenn Vogt recht hat, oder aber Lynn Maurer das Kind nicht bekommen wollte und einfach verzweifelt war?«, überlegte er laut. »Wer weiß, vielleicht war sie Opfer einer Vergewaltigung geworden und hatte sich das Gesicht verätzt, weil sie sich selbst nicht mehr in die Augen schauen konnte. Und das Kind wollte sie schon gar nicht behalten.«
Nachdenklich schüttelte Lena den Kopf. »Sie hat heute Morgen ihre Kleider aus der Reinigung geholt – warum hätte sie das tun sollen, wenn sie ohnehin vorgehabt hatte, sich umzubringen?«, hielt sie Belling entgegen und gab sich im nächsten Moment selbst die Antwort: »Allenfalls, um sie bei ihrem Tod zu tragen, doch das tat sie nicht. Und dann ist da noch dieses Sandwich …«, fuhr sie fort.
Belling blickte sie ungläubig an. »Das Sandwich? Was soll damit sein?«
Lena zog einen Mundwinkel hoch. »Würden Sie auf die Idee kommen, sich kurz vor Ihrem Tod noch ein Sandwich zu schmieren? Und es dann noch nicht einmal essen?«
»Nein, wohl kaum«, räumte er ein und legte den Kopf schräg.
»Und dann wäre da noch das Ticket«, sagte Lena.
»Was denn für ein Ticket?«
»Ich habe es in einer Bibel in der Küche gefunden. Lynn Maurer wollte übermorgen für sechs Tage nach Teneriffa fliegen.«
Sein Blick wurde weicher. »Ihnen entgeht aber auch gar nichts, was?«
»Möglicherweise war Lynn Maurer gerade dabei, ihre Koffer zu packen, als ihr Mörder aufgetaucht ist«, überlegte Lena.
Belling öffnete den Mund und presste die Lippen zusammen. Dann fragte er: »Sie meinen also, es handelt sich definitiv um Mord?«
Für Lena bestand nicht der geringste Zweifel. Sie nickte bedeutungsschwer und wollte eben ansetzen, noch etwas zu sagen, als Bellings Handy klingelte. Er klappte es auf und warf einen Blick aufs Display. Anstatt den Anruf anzunehmen, ließ er das Handy zuschnappen und steckte es wieder ein. Lena überlegte, ob sie ihn darauf ansprechen sollte, entschied aber, dass das seine Privatsache war. Im nächsten Moment bemerkte sie eine hagere Frau, die mit einem Baby auf dem Arm im Hausflur stand und neugierig hereinspähte. Als sich ihre Blicke kreuzten, schloss die Fremde rasch die Tür zur gegenüberliegenden Wohnung auf und verschwand.
»Was ist eigentlich mit den Nachbarn?«, wollte Lena wissen.
Belling sah abwesend zum Fenster hinaus, als sei er mit den Gedanken woanders.
»Hallo, Erde an Wulf Belling …«
»Entschuldigung«, sagte er schnell.
»Die Nachbarn, hat die schon jemand befragt?«, wiederholte Lena.
»Ja, das heißt, nein, die meisten waren nicht zu Hause«, erwiderte er mit einem Räuspern.
Das reichte Lena nicht. »Und der ältere Herr, der die Polizei alarmiert hat?«
»Wohnt ein paar Häuser weiter. Vogt hat seine Aussage bereits aufgenommen«, erwiderte Belling und zeigte mit dem Daumen aus dem Fenster.
Lena nickte stumm, als Vogt mit einem Foto in der Hand auf sie zukam.
»Das hier haben wir in ihrer Brieftasche gefunden«, sagte er und streckte ihnen ein verknittertes Foto entgegen, das Lynn Maurer bei einem innigen Kuss mit einer Frau zeigte.
»Sie war lesbisch?«, murmelte Belling.
»Oder bisexuell«, meinte Vogt. »Wie auch immer – ich sag’s ja, die war ’n verdammter Freak.«
»Das ist jetzt nicht Ihr Ernst«, schnaubte Lena und warf ihm einen scharfen Blick zu. »Sie bezeichnen Lynn Maurer auf Grund ihrer sexuellen Neigung als Freak? In welchem Zeitalter leben Sie eigentlich?«
»So habe ich das nicht gesagt«, gab Vogt kaltschnäuzig zurück.
»Aber gedacht haben Sie es«, hielt Lena wütend dagegen und schüttelte den Kopf. »Finden Sie lieber heraus, wer die Frau auf dem Foto ist.« Rasch streifte sie ihren Overall und die Überziehschuhe ab und ging über den Flur zur Nachbarwohnung. Sie klopfte zweimal kräftig an die Tür und warf einen Blick auf das Klingelschild. »Magdalena Janowski« las Lena darauf. Obwohl das einsetzende Geschrei des Babys verriet, dass die Frau unmittelbar hinter der Tür stand, verging eine Weile, ehe sie öffnete.
»Guten Abend, mein Name ist Lena Peters, ich bin als Kriminalpsychologin für die Mordkommission tätig«, stellte Lena sich kurz vor und streckte der jungen, blassen Frau, die mit dem schreienden Baby auf dem Arm und einer Zigarette im Mundwinkel barfuß in der Tür stand, ihren Ausweis entgegen. »Sind Sie Magdalena Janowski?«
Die Frau nickte schwach. Ihre strähnigen Haare fielen ihr über die spitzen Schultern, und ihr weites T-Shirt war ebenso schmuddelig wie der hellblaue Strampelanzug des Babys. Offenbar war die Frau mit ihrem Kind überfordert, und widerstrebend fühlte sich Lena an ihre Zwillingsschwester Tamara erinnert.
»Dürfte ich kurz hereinkommen? Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«
Magdalena Janowski schien über die Geschehnisse bereits im Bilde zu sein, denn sie ließ Lena herein, ohne sich nach dem Grund ihres Besuchs zu erkundigen. Während Lena ihr über den Flur ins Wohnzimmer folgte, stieg ihr der Geruch von Weichspüler und vollen Windeln in die Nase, der zum allgemeinen Zustand der heruntergekommenen Wohnung passte. Im Wohnzimmer hingen Porträtzeichnungen, wie man sie von den Straßenmalern am Brandenburger Tor kannte.
»Schreckliche Sache …«, sagte die Frau und nahm mit dem Baby auf dem abgewetzten Ohrensessel Platz. Sie sprach nur gebrochen Deutsch und hatte einen starken polnischen oder tschechischen Akzent. Mit ihren gelblichen Raucherfingern drückte sie die Zigarette im Aschenbecher auf dem kleinen Beistelltisch aus und griff nach dem Babyfläschchen. Lena setzte sich ihr gegenüber auf das Sofa und sah zu, wie sie dem Säugling das Fläschchen gab. Es hörte im selben Moment auf zu schreien.