Sehnsucht in Aquamarin - Miriam Covi - E-Book
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Sehnsucht in Aquamarin E-Book

Miriam Covi

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Beschreibung

Spür das Salz auf deiner Haut und lass den Sommer in dein Herz!

Polly Reinhardt kann es kaum fassen: Ihre Schwester Jette hat ihre lange verschollene Mutter auf einem Foto entdeckt. Um endlich Antworten zu bekommen, folgen sie der Spur ins malerische Bar Harbor an der Küste Maines. Da das Geld nicht für ein Hotelzimmer reicht, schlagen sie ihr Zelt kurzerhand im nahegelegenen Acadia National Park auf, wo ihre Mutter als Rangerin arbeitet. Während Jette sich Hals über Kopf in einen Hummerfischer verliebt, sorgt der attraktive Ranger und alleinerziehende Vater Liam bei Polly für knisternde Lagerfeuerromantik. Könnte hier in der Ferne tatsächlich die große Liebe auf sie warten? Und wird es Polly gelingen, ihrer Mutter eine zweite Chance zu geben?

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Seitenzahl: 643

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Das Buch

Polly Reinhardt kann es kaum fassen: Ihre Schwester Jette hat ihre lange verschollene Mutter auf einem Foto entdeckt. Um endlich Antworten zu bekommen, folgen sie der Spur ins malerische Bar Harbor an der Küste Maines. Da das Geld nicht für ein Hotelzimmer reicht, schlagen sie ihr Zelt kurzerhand im nahe gelegenen Acadia National Park auf, wo ihre Mutter als Rangerin arbeitet. Während Jette sich Hals über Kopf in einen Hummerfischer verliebt, sorgt der attraktive Ranger und alleinerziehende Vater Liam bei Polly für knisternde Lagerfeuerromantik. Könnte hier in der Ferne tatsächlich die große Liebe auf sie warten? Und wird es Polly gelingen, ihrer Mutter eine zweite Chance zu geben?

Die Autorin

Miriam Covi wurde 1979 in Gütersloh geboren und entdeckte schon früh ihre Leidenschaft für zwei Dinge: Schreiben und Reisen. Ihre Tätigkeit als Fremdsprachenassistentin führte sie 2005 nach New York. Von den USA aus ging es für die Autorin und ihren Mann zunächst nach Berlin und Rom, wo ihre beiden Töchter geboren wurden. Seit 2017 lebt die Familie in Bangkok. Zur zweiten Heimat wurde für Miriam Covi allerdings die kanadische Ostküstenprovinz Nova Scotia, in der sie seit ihrer Kindheit viele Sommer verbringen durfte, und von wo aus sie im Laufe der Jahre einige Campingtrips unternommen hat – auch in den Acadia National Park im amerikanischen Maine.

Lieferbare Titel

Sommer in Atlantikblau

Sommer unter Sternen

Träume in Meeresgrün

Miriam Covi

Roman

Wilhelm Heyne VerlagMünchen

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Originalausgabe 06 / 2021Copyright © 2021 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Diana MantelUmschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München, unter Verwendung von Photocase (Nordreisender, Gortincoiel), iStockphoto (johnwoodcock), Bigstock (ezphoto, PIXbank, Maryia_K, domnicky, NatalyaAksenova, artemzatsepilin, liudmila fadzeyeva), Shutterstock.com (KNST Art Studio, serato)Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN: 978-3-641-24940-3V001www.heyne.de

Für Chrissi & Andrea,ohne euch gäbe es nicht das Fotovon Marco und mir bei Sonnenuntergangauf einem Segelschiff,und ohne das Foto wäre ich nicht auf die Idee zu dieser Geschichte gekommen.

Kapitel 1

Jared lehnte sich über Leyna und blickte ihr tief in die Augen.

»Ich will dich«, murmelte er. »Jetzt.«

Seine heisere Stimme ließ sie erschaudern, und im nächsten Moment stöhnte sie lustvoll auf, als seine Hand …

»Da-dumm-da-dumm, da-dumm-da-dumm …« Mit der nervigsten Melodie der Welt poppt das Skype-Symbol auf meinem Bildschirm auf und reißt mich aus der Liebesszene von Jared und Leyna. Verzweifelt seufze ich und schiebe gleich noch einen tiefen Seufzer hinterher, als ich erkenne, wer mich anruft: Jette.

Natürlich ist es nett, dass sich meine Schwester mal meldet, was ziemlich selten vorkommt. Aber … ich kenne Jette gut genug, um zu wissen, dass sie mich jetzt mit einer neuen Entwicklung in ihrem unsteten Leben aus meiner Arbeitsroutine reißen wird. Bestimmt will sie mir erzählen, warum sie ihren neuen Job an der Rezeption eines Hotels in Alicante schon wieder gekündigt hat, um dem nächsten Mann ihrer Träume hinterherzureisen. Ihr Leben und meines könnten wirklich kaum unterschiedlicher sein.

Wenn man sieht, wie brav und konservativ ich in Jogginghose in meiner winzigen Dachgeschosswohnung am Schreibtisch sitze und ein Käsebrot esse, während ich versuche, konzentriert an meiner Übersetzung zu arbeiten, sollte man wirklich nicht meinen, dass ich die jüngere Schwester bin, zweieinhalb Jahre jünger als Jette. Sie besitzt mit Sicherheit gar keine Jogginghose, läuft vermutlich gerade in Hotpants herum, weil es in Alicante heiß ist, während sich hier in Stuttgart der Sommer nicht wirklich dazu durchringen kann, einen mit warmen Temperaturen und Sonnenschein zu beglücken. Wobei Jette vermutlich auch hier in Stuttgart Hotpants tragen würde, wenn sie Lust darauf hätte. Sie hat sich noch nie um so lästige Details wie Außentemperaturen oder Wettervorhersagen gekümmert.

Genervt seufze ich noch einmal und lege mein angebissenes Käsebrot zurück auf den Teller. Obwohl sich meine Schwester sehr selten meldet, bin ich tatsächlich versucht, so zu tun, als wäre ich nicht da. Zum einen habe ich einfach keine Lust auf das neueste Drama in ihrem chaotischen Leben (ist ihr schon wieder das Portemonnaie gestohlen worden? Hat ihr Freund sie verlassen? Oder sie ihn? Oder ist sie ein weiteres Mal pleite und traut sich nicht, schon wieder Papa anzupumpen, weshalb sie es bei mir versucht?). Und zum anderen unterbricht sie mich gerade in einer besonders heißen und besonders schwierig zu übersetzenden Szene. Wenn man sich mitten im Brainstorming befindet, weil man alle möglichen Ausdrücke für »Penis« schon in den vorherigen Absätzen benutzt hat, wird man einfach nicht gern unterbrochen. Ich muss vorankommen, schließlich nähert sich die Deadline mit großen Schritten, und ich bin erst beim vierten Geschlechtsakt zwischen Leyna und dem sexy Banker Jared, sprich im sechsten Kapitel. Ja, ich übersetze SOLCHE Romane. Nein, ich selbst habe bis vor zwei Jahren, als ich den ersten Auftrag für den Secret Garden Verlag angenommen habe, keine Erotikromane gelesen. Aber so schlecht sind sie gar nicht geschrieben, finde ich. Natürlich wäre es mir lieber, einen »wertvolleren« Roman aus einem der großen Verlagshäuser zu übersetzen, aber immerhin habe ich überhaupt einen Fuß in einer Verlagstür. Das ist auf dem schwer umkämpften Markt der freiberuflichen Übersetzer schon sensationell. Außerdem übersetze ich nicht länger ausschließlich Gebrauchsanweisungen für Rasenmäher und elektrische Gartenscheren, worüber ich wirklich sehr glücklich bin, schließlich bin ich weder ein Fan von Technik noch von Gartenarbeit oder Natur im Allgemeinen. Ganz aufgeben kann ich die nüchternen Anleitungstexte allerdings auch nicht, denn allein von den Romanen könnte ich nicht leben. Das Seitenhonorar ist leider ein Witz, und ich überlege zwischendurch immer wieder, ob ich nicht anfangen sollte, nebenher wieder zu kellnern wie damals im Studium. Aber dass man als Übersetzerin nicht reich wird, war mir früh klar, und dennoch wollte ich schon als Jugendliche genau das machen: Romane aus dem Englischen ins Deutsche übersetzen. Und zwar von zu Hause aus, wo ich in Jogginghose sitzen und nebenher Käsebrot essen darf. Ich muss mich morgens nicht in einen überfüllten Bus quälen, mich nicht mit nervigen Kollegen und schlechtem Kantinenessen herumärgern. Und einen Chef habe ich im eigentlichen Sinne auch nicht, obwohl mir der Verlag natürlich hin und wieder im Nacken sitzt, wenn sich die Deadline nähert. So wie jetzt.

Dass ich nicht allein von den Erotikromanen leben kann, ist allerdings sogar ganz praktisch, denn so muss ich wenigstens nicht lügen, wenn ich Papa und meiner Stiefmutter Inge von aktuellen Übersetzungsaufträgen erzähle und dabei ausschließlich um Rasenmäher und Gartenscheren kreise. Würde ich ihnen von den Büchern erzählen, würde Inge vermutlich eines lesen wollen, immerhin liest sie leidenschaftlich gern – aber bestimmt keine Erotikromane, weshalb sie sicherlich völlig schockiert wäre. Papa liest zwar zum Glück nur die Zeitung und das ein oder andere Sachbuch, aber Inge würde ihm natürlich erzählen, was seine Tochter da übersetzt, denn Inge und Papa haben keine Geheimnisse voreinander. Zumindest glaube ich das, die beiden scheinen immer ein Herz und eine Seele zu sein. Wie auch immer: Ich möchte den beiden diesen Schock wirklich ersparen, weshalb es gut ist, dass ich bei den Aufträgen zweigleisig fahre und einen Spagat zwischen Erotik und Gartengeräten hinlege. Andererseits: Wann habe ich mit Inge und Papa das letzte Mal über meine Arbeit gesprochen? Oder überhaupt gesprochen? Ist schon länger her. Fast so lang her wie meine letzte Unterhaltung mit Jette, und dabei leben Papa und Inge nicht weit von mir entfernt, sondern hier in Stuttgart. Es liegt nicht an den beiden, dass wir so selten Kontakt haben, sondern eher an mir, dem Einsiedler, wie mich meine Freundinnen manchmal nennen.

Um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen, dass ich mich zu sehr in meiner Arbeit und in meiner Dachwohnung vergrabe, und bevor meine Schwester in Alicante aufgibt und wieder auflegt – schließlich ist Jette für vieles bekannt, aber sicher nicht für ihr Durchhaltevermögen –, greife ich doch noch hastig nach der Maus und klicke auf das Kamerasymbol. Als sich der Bildschirm meines Laptops mit ihrem vertrauten dunkelblonden Lockenkopf füllt, muss ich grinsen. Jette sieht genauso aus, wie ich es erwartet habe: Braun gebrannt, ihre Augen, die so hellblau sind wie meine, hinter einer riesigen Sonnenbrille verborgen. Zwar kann ich nicht erkennen, ob sie Hotpants trägt, aber das Trägertop im blau-weißen Batik-Look und die knallbunte Folklore-Kette passen zum Image meiner rastlosen Weltenbummler-Schwester. Sie scheint in einem Straßencafé zu sitzen, zumindest erkenne ich im Hintergrund vorbeifahrende Autos und einen Streifen blauen Meeres. Ach, am Meer wäre ich jetzt eigentlich auch gern.

»Hi, Jette!«, sage ich und wische ein paar Krümel von meiner Tastatur. »Du lebst! Bist du noch in Alicante?«

»Ja«, kommt die knappe Antwort. Und dann: »Du, ich habe unsere Mutter gefunden.«

Einen Moment lang scheint die Welt stillzustehen. Entgeistert starre ich auf den Bildschirm meines Laptops und bin nicht in der Lage zu begreifen, was meine Schwester in Spanien gesagt hat.

»Polly?« Jette klingt ungeduldig. Sie nimmt ihre Sonnenbrille ab, und jetzt kann ich erkennen, dass ihre Augen verheult aussehen. Mein Herz setzt einen Schlag aus.

»Was … was ist passiert? Wo … wann … Ist sie in Alicante?«

Jette schüttelt den Kopf. »Nein. Sie ist in Maine.«

Ratlos starre ich meine Schwester an, brauche ein paar Sekunden, bevor in mein vernebeltes Gehirn die Erkenntnis vordringt, dass sie von dem US-Bundesstaat im Nordosten der USA spricht. Da spielte der zweite Erotik-Roman, den ich übersetzt habe: Sündige Wildnis. Ich kann mich gut an die Sexszenen in tiefen Wäldern und auf schwankenden Fischerbooten erinnern. Und an die wunderschön beschriebene Landschaft. Seit der Übersetzung träume ich tatsächlich heimlich davon, mal Urlaub in Maine zu machen, auch wenn ich sonst gar nicht auf Natur stehe. Aber die Beschreibung der rauen Küste (und des handfesten Naturburschen Tristan) klang wirklich faszinierend, sogar für mich überzeugte Städterin. Und ausgerechnet da … nein, das ist unmöglich!

»In … Maine? Unsere Mutter?«

Ich kann nicht glauben, was Jette behauptet. Schließlich haben weder sie noch ich Eva Michaelis je wiedergesehen, seit sie uns damals bei unserer Oma abgeliefert hat, angeblich, um einkaufen zu gehen. Seit sie uns länger als gewöhnlich an sich gedrückt hat, um dann mit einem »Ich hab euch lieb!« davonzueilen und nie wieder aufzutauchen. Seit jenem regnerischen Aprilmorgen haben wir nichts mehr von der Frau gehört, die mit uns im Wohnzimmer Höhlen aus Stühlen und Decken gebaut, für uns Pfannkuchen gebacken und sich beim Zubettgehen Gutenachtgeschichten ausgedacht hat. Natürlich erinnere ich mich selbst nicht wirklich an all diese Dinge, denn ich war erst zweieinhalb Jahre alt, als wir an jenem Apriltag nicht bei Oma Hanne abgeholt wurden. Aber Jette war fast fünf, und sie erinnert sich nach eigenen Angaben lebhaft und gut an unsere Mutter. Vielleicht hat sie ihr Verschwinden deshalb bis heute nicht verkraftet.

Selbstverständlich beschäftigt es auch mich nach all diesen Jahren immer noch, dass Eva Michaelis damals einfach so von der Bildfläche unseres Lebens verschwunden ist und sich nie wieder bei uns gemeldet hat. Ein Verbrechen konnte ausgeschlossen werden, weil unser Vater zu Hause einen Brief auf dem Küchentisch vorfand, eindeutig in der Handschrift unserer Mutter geschrieben, in dem sie um Verzeihung bat. Es war also klar, dass sie weggegangen war. Und das machte mich später, als ich es begriff, zunächst unendlich traurig, dann wütend, heute eher ratlos. Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, was damals in unserer jungen Mutter vorgegangen sein muss. War sie überfordert? Wollte sie ein anderes Leben leben? Immerhin war sie erst neunzehn gewesen, als sie Jette bekam. Zweieinhalb Jahre später wurde ich geboren. Wir waren beide ungeplant, das wissen wir. Aber wir waren nicht ungeliebt, zumindest nicht, bis wir zweieinhalb und fast fünf Jahre alt waren und von unserer Mutter verlassen wurden.

Aber auch danach wurden wir natürlich geliebt, schließlich hatten wir nicht nur bei unserer Mutter gelebt: Im Erdgeschoss unseres Hauses wohnten Oma Hanne und Opa Karl, die Eltern unseres Vaters. Und, ja, natürlich gab es unseren Papa. Walter Reinhardt war allerdings auch noch sehr jung, nur ein Jahr älter als unsere Mutter, und, genau wie Eva, steckte er mitten im Studium. Sie unterbrach ihr Biologiestudium kurz vor Jettes Geburt, machte danach aber weiter – bis sie dann mit mir schwanger wurde und die Uni endgültig an den Haken hängen musste. Vielleicht war es dieses abgebrochene Studium, das sie dazu veranlasst hat wegzugehen – das ist zumindest meine Theorie. Ob sie in eine andere Stadt gezogen ist und noch einmal von vorn angefangen hat, neues Studium, neues Leben? Oder war sie einfach so unglücklich darüber, aus finanziellen Gründen mit den Eltern ihres Freundes in einem Haus zu wohnen? Zwar liebte ich meine inzwischen verstorbene Oma Hanne, aber ich wusste auch, dass sie schwierig sein konnte, sehr dominant, eine perfektionistische schwäbische Hausfrau, die jedem Krümel den Kampf ansagte. Unsere Mutter hingegen war alles andere als ordentlich, so habe ich es zumindest in den Jahren immer wieder aufgeschnappt, wenn die Sprache flüchtig auf sie kam – was selten genug geschah.

Jette war es, die in all diesen Jahren nie aufgehört hat, nach unserer Mutter zu suchen. Sobald wir in den späten Neunzigern zu Hause Internet bekamen, saß sie oft stundenlang vor Papas Computer und durchforstete mittels Suchmaschinen das Netz, ohne jemals einen Treffer zu »Eva Michaelis« zu bekommen. Mir ist klar, dass Jette deshalb so ruhelos durch ihr Leben zieht, erst ihre Ausbildung zur Bürokauffrau und dann auch noch ihr BWL-Studium abgebrochen hat, um danach mit einer nie enden wollenden Reihe von Jobs durch die Welt zu tingeln. Mal machte sie einen Kurs für Yogalehrer auf Bali, dann kellnerte sie auf Mallorca oder fing eine Ausbildung zur Tauchlehrerin auf Teneriffa an, die sie natürlich auch abbrach. Sie war Kinderanimateurin in verschiedenen Hotelanlagen in halb Europa und sogar in Thailand, hat auf der AIDA gearbeitet und an so vielen Hotelrezeptionen gestanden, dass ich sie nicht mehr aufzählen kann. Selbst wenn Jette es nie zugeben würde, so bin ich davon überzeugt, dass sie unbewusst überall auf dem Globus nach unserer Mutter gesucht hat.

Und nun scheint Jette sie tatsächlich gefunden zu haben. An der Ostküste der USA, in Maine.

Ungläubig starre ich meine Schwester an und frage: »Aber – WIE hast du sie gefunden?«

»Ich habe vor ein paar Tagen jemanden kennengelernt«, erzählt meine Schwester und streicht sich eine Locke aus der Stirn. »Er heißt Marc und ist Hoteltester für Hellweg-Reisen. Sein Job besteht darin, weltweit Hotels zu testen. Coole Sache übrigens, ich will das vielleicht auch machen.«

Ja, natürlich. Wieder eine neue Job-Idee. Ungeduldig hake ich nach: »Und was hat das mit unserer Mutter zu tun?«

»Dazu wollte ich ja gerade kommen«, erwidert Jette ein wenig gekränkt und greift nach einem Glas, in dem sich offensichtlich Latte macchiato befindet. »Ich habe die letzten zwei Nächte bei Marc in einer Hotelanlage hier in der Nähe verbracht.« Ihre Augen nehmen einen verräterischen Glanz an, der mir sagt, dass Marc mal wieder die »ganz große Liebe« sein könnte. Der »ganz großen Liebe« ist meine ältere Schwester in ihren fast 34 Lebensjahren schon unzählige Male begegnet. Leider entpuppt sie sich regelmäßig schon nach kurzer Zeit als doch nicht so groß – beziehungsweise als gar keine Liebe. Es ist schon merkwürdig, wie verschieden wir sind. Jette verknallt sich alle naselang – und ich mich grundsätzlich nie.

»Also, Marc hat mir von seinen Reisen erzählt, unter anderem von einem längeren Trip die Ostküste der USA entlang. Da hat er auch ein Hotel in Bar Harbor unter die Lupe genommen, das ist ein Küstenort in Maine.«

»Ja, kenne ich«, murmele ich und muss erneut an den Erotikroman vor malerischer Küstenkulisse denken. Ganz besonders an die Qualitäten des handfesten Park Rangers Tristan. Ja, irgendwo bei Bar Harbor muss es einen Nationalpark geben, das weiß ich noch. Seit der Übersetzung möchte ich zwar keinem Schwarzbären begegnen, träume aber trotzdem von heißem Sex in einem Zweimannzelt, obwohl ich, wie gesagt, überhaupt kein Outdoor-Typ bin.

»Marc hat mir auf seinem Laptop Fotos von der Reise gezeigt, unter anderem von diesem ›Bar Harbor Inn and Spa‹, weil ihn das besonders beeindruckt hat. Zwar fand er die Zimmereinrichtung etwas spießig und konservativ, so amerikanisch plüschig, aber dafür liegt das Hotel hammermäßig, direkt am Meer, einfach genial.«

»Jette, könntest du bitte zum Punkt kommen?«

Meine Schwester sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, und ich merke, dass sie ein neues Piercing hat: ein kleiner Ring in der linken Braue. Hörbar verletzt erwidert sie: »Nun sei doch nicht immer so ungeduldig, Polly!«

Ich atme tief durch und zähle innerlich bis zehn, um ihr nicht an den Kopf zu knallen, dass ich dringend weiter übersetzen müsste, weil mir meine Deadline im Nacken sitzt und ich daher allen Grund habe, ungeduldig zu sein. Allerdings flüstert mir jetzt die Stimme der Vernunft sehr leise zu, dass ich meine Schwester selten genug spreche. Dass ich nicht immer nur arbeiten kann. Dass mein Sozialleben ohnehin schon mehr als dürftig ist und Jette heute der erste Mensch ist, den ich überhaupt spreche, und dabei ist schon später Nachmittag (nein, das stimmt gar nicht, der DHL-Bote hat vorhin ein Paket von Zalando gebracht – ha!). Aber dann sagt das Stimmchen noch mit Nachdruck, dass es hier immerhin nicht nur um belangloses Plaudern, sondern um unsere verschollene Mutter geht. Also atme ich tief durch, verdränge die Deadline und widme meine Aufmerksamkeit ganz meiner Schwester am Mittelmeer.

»Also«, sagt Jette, nachdem sie einen großen Schluck von ihrem Kaffee genommen hat. »Marc zeigt mir die Bilder vom Hotel in Maine, und auf einmal sehe ich sie.«

»Wo?«

»Na, auf einem der Fotos. Marc hat es im Hotelrestaurant aufgenommen, und an einem Tisch im Vordergrund sitzt ganz eindeutig unsere Mutter.«

Merkwürdig, denke ich flüchtig, dass keine von uns sich dazu durchringen kann, von der Frau, die uns nie wieder von Oma Hanne abgeholt hat, als »Mama« zu sprechen.

»Wie kannst du dir so sicher sein?«, frage ich tonlos. »Nach neunundzwanzig Jahren? Und was sollte unsere Mutter ausgerechnet in einem kleinen Kaff in Maine machen?«

»Warte, ich schicke dir das Foto rüber«, kommt Jettes Antwort, und ich höre sie auf der Tastatur ihres Laptops herumhacken. Mein Herz schlägt schneller, meine Handflächen werden feucht vor Nervosität. Als ein »Pling« ankündigt, dass ich eine E-Mail bekommen habe, zittert meine Hand ein wenig, während sie ein paar Mausklicks macht.

Und dann starre ich fassungslos auf ein Foto, das ein Hotelrestaurant mit wirklich fantastischer Aussicht direkt aufs Meer zeigt, mit altmodischen Stühlen und akkurat eingedeckten Tischen. Und an einem dieser Tische im Vordergrund sitzt eine brünette Frau, die ein Weinglas in der Hand hält und einer grauhaarigen Frau mit Bierglas zuprostet.

»Die Frau mit dem Weinglas«, höre ich Jettes Stimme.

»Ich weiß«, murmele ich, denn es kommt nur sie infrage. Und Jette hat recht, die Ähnlichkeit ist verblüffend. Zumindest gibt es da Ähnlichkeit mit der Frau, die unsere Mutter inzwischen geworden sein könnte. Denn mit vierundzwanzig, als sie uns das letzte Mal geküsst hat, war ihr dunkelbraunes Haar modisch kurz, noch ganz im Stil der späten 80er-Jahre, während die Frau mit dem Weinglas eine kinnlange Bobfrisur und Ponyfransen trägt und ihr dunkles Haar von grauen Strähnen durchzogen wird, soweit ich das erkennen kann. Aber die Nase … die sieht eindeutig aus wie die Nase der Frau, die ich mir ganz selten auf Fotos aus meinen ersten Lebensjahren ansehe. Und ihre Augen haben dasselbe helle Blau – Aquamarinblau – wie Jettes und meine Augen.

Und wie die Augen von vielen, vielen Menschen auf dieser Welt.

»Jette«, sage ich ruhig. »Du hast recht, sie hat Ähnlichkeit mit unserer Mutter. Aber wir können nach neunundzwanzig Jahren unmöglich mit Sicherheit sagen, dass sie das ist.«

»Doch, können wir«, beharrt Jette, und ich höre ihr die wilde Entschlossenheit an, die sie auch dann an den Tag legt, wenn sie von einer neuen »Karriere«-Idee besessen ist. Das letzte Mal klang sie so, als wollte sie unbedingt auf einer Schaf-Farm in Australien arbeiten. Dann aber kam ein rassiger Spanier namens Juan dazwischen und verleitete sie dazu, statt nach Down Under lieber nach Alicante zu ziehen. Was aus Juan geworden ist, weiß ich nicht, aber inzwischen scheint es ja einen Hoteltester namens Marc in Jettes Leben zu geben.

»Und wie?«, frage ich und greife nach meinem Käsebrot. Ich werde mich nicht von der üblichen vorschnellen Begeisterung meiner Schwester anstecken lassen, die meistens ebenso schnell wieder verpufft und bei mir immer wieder nichts als Resignation hinterlässt.

»Schau dir das rechte Handgelenk der Frau an, Polly.«

Neugierig lasse ich mein Brot sinken und beuge mich näher an meinen Bildschirm heran. Am Gelenk der Hand, die das Weinglas hält, schimmert etwas unter dem weiten Blusenärmel hervor. Mein Herz klopft aufgeregt schneller. »Das … das ist doch gar nicht deutlich zu erkennen«, sage ich und klinge auf einmal heiser.

»Zoom das Foto heran. Zwar wird das Tattoo dann etwas verpixelt, aber man erkennt es, Polly. Man erkennt es ganz eindeutig.«

Atemlos vergrößere ich das Bild. Ja, meine Schwester hat recht: Unter dem Ärmel der dunkelhaarigen Frau in Maine blitzt ein Eulen-Tattoo hervor. Ein Tattoo auf Höhe der Pulsadern, so groß wie ein Hühnerei. Eulen waren die Lieblingstiere unserer Mutter, und angeblich hat sie sich für uns Kinder Geschichten über ihre tätowierte Eule ausgedacht, hat Jette mir mal erzählt. Meine Schwester hat dem Vogel sogar einen Namen gegeben: Mona.

»Das gibt es nicht«, flüstere ich, während der Bildschirm vor meinen Augen verschwimmt. »Das gibt es nicht.«

»Doch«, höre ich Jettes resolute Stimme in Spanien. »Doch, Polly, das gibt es. Wir haben sie endlich gefunden. Und ich habe schon Flüge rausgesucht.«

»Flüge?« Alarmiert blinzele ich meine Tränen fort. Ich verkleinere die Fotoanzeige, wechsele zurück zu Skype und sehe meine Schwester fragend an. »Du willst doch nicht …?«

»O doch. Du nicht?«

Ein paar Herzschläge lang weiß ich nicht, was ich sagen soll. »Nein«, murmele ich schließlich. »Ich glaube nicht.«

»Polly! Neunundzwanzig Jahre lang wussten wir nicht, wo sie ist und warum sie verschwunden ist!«

»Das wissen wir immer noch nicht«, gebe ich zu bedenken. »Warum sie verschwunden ist, meine ich.«

»Ja, aber wir könnten es endlich herausfinden! Indem wir hinfliegen und sie zur Rede stellen!«

»Ach Jette«, sage ich und reibe mir erschöpft mit der flachen Hand über die Augen. »Nur weil sie irgendwann in diesem Hotelrestaurant saß, heißt das doch nicht, dass sie immer noch da ist.«

»Das Bild ist gerade mal drei Wochen alt. Die Chancen stehen gut, dass sie entweder in Bar Harbor wohnt, oder dass sie noch im Urlaub dort ist – oder dass sich zumindest jemand im Hotel an sie erinnern kann. Komm schon, Polly, das ist unsere erste heiße Spur, seit sie verschwunden ist!«

Eine von Jettes Job-Ideen während der letzten Jahre war Privatdetektivin, fällt mir ein. Sie wäre vielleicht sogar eine gute geworden.

»Jette, wir können da doch nicht einfach auftauchen und nach der Frau auf dem Foto fragen«, werfe ich ein. Ja, natürlich wollte ich seit meiner Übersetzung von Sündige Wildnis eigentlich mal Urlaub in Maine machen, Schwarzbären hin oder her. Aber sicherlich nicht unter diesen Umständen. Die Vorstellung, an einem wildfremden Ort nach einer inzwischen wildfremden Person zu suchen, macht mir Angst. Ich liebe mein geregeltes Leben, fahre eigentlich gar nicht gern in den Urlaub, bin lieber zu Hause in meinem vertrauten Umfeld, wo ich im Supermarkt um die Ecke die Kassiererin beim Namen kenne, in meinem Stammlokal nebenan immer dasselbe bestelle und mich jeden Mittwoch mit Tine und Anja, meinen zwei besten Freundinnen aus Studienzeiten, in der Wunder Bar auf einen Gin Tonic treffe. Das einzig Unstete in meinem Leben sind die meist recht kurzen Affären, auf die ich mich hin und wieder einlasse, denn, hey, ich übersetze Erotikromane. Ohne Sex komme auch ich nicht aus, aber eine richtige Beziehung möchte ich nicht haben. Warum das so ist, darüber denke ich seit vielen Jahren erfolgreich nicht näher nach.

Bis auf mein unstetes Liebesleben bin ich also ein Mensch, der sehr an seinen Ritualen und einem sicheren Umfeld hängt. Spontan in ein fremdes Land zu fliegen, um eine Person zu suchen, die ich seit fast drei Jahrzehnten nicht gesehen habe, sieht mir nicht ähnlich.

Meiner Schwester hingegen schon, und mir ist klar, dass Jette nicht lockerlassen wird.

»Also ich fliege da hin«, sagt sie resolut und macht zur Untermalung ihrer Worte ein paar energische Mausklicks. Sicher steckt sie schon mitten in einer Flugbuchung.

»Wohin denn überhaupt? Direkt nach Maine?«

»Nein, nach Boston, da ist der am nächsten gelegene internationale Flughafen.«

»Und wann?«

»Morgen. Wie du schon sagtest: Vielleicht macht sie nur Urlaub in Maine. Ich will nicht riskieren, dass wir sie knapp verpassen.«

»Wir?«, frage ich langsam.

»Ja. Du und ich«, erwidert Jette und sieht mich ernst an. »Du hast doch einen gültigen Reisepass?«

Ich stöhne leise auf. Ja, den habe ich, trotz meiner Häuslichkeit. Tine und Anja haben mich vor zwei Jahren für bescheuert erklärt, weil ich es nicht ausnutzen wollte, dank meiner Schwester in so einem schicken Resort auf Phuket zu vergünstigten Konditionen unterkommen zu können. Meine Freundinnen haben es damals tatsächlich geschafft, mich umzustimmen, und so sind wir gemeinsam nach Thailand geflogen, wo ich Jette während unseres vierzehntägigen Aufenthalts herzlich wenig zu Gesicht bekommen habe. Sie schob es auf ihren stressigen Job als Kinderanimateurin, ich auf unser merkwürdiges Verhältnis zueinander. Aber insgesamt war es ein toller Urlaub. Und ja, deshalb besitze ich einen gültigen Pass.

»Bitte, Polly«, höre ich Jettes Stimme. »Nach all diesen Jahren. Lass mich das jetzt nicht allein durchziehen.«

Als ich merke, dass die Augen meiner Schwester erneut feucht schimmern, begreife ich, dass ich keine Chance habe, aus dieser Sache unbeteiligt herauszukommen. Wie so oft fühle ich mich wie die Ältere, die Verantwortung für die Jüngere übernimmt, obwohl es doch eigentlich andersherum sein sollte. Mir wird klar, dass Jettes ruheloses Durchs-Leben-Irren tatsächlich zu einem Ende kommen könnte, wenn wir unsere Mutter und mit ihr hoffentlich ein paar Antworten finden. Allerdings weiß ich nicht, ob uns diese Antworten wirklich etwas bringen werden. Aber um das herauszufinden, müssen wir es wohl probieren.

Ergeben seufze ich auf und sage: »Okay, du hast gewonnen. Lass uns nach Boston fliegen.«

Jettes Augen leuchten auf, als sie zwei weitere Mausklicks macht und sagt: »Danke, Polly! Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann! Du, können wir deine Kreditkarte für die Flugbuchung nutzen? Meine ist leider überzogen.«

Resigniert stehe ich vom Schreibtisch auf, um mein Portemonnaie zu holen. Beim Gedanken an meinen mageren Girokonto-Stand wird mir ganz anders. Aber zum Glück bin ich schwäbisch-sparsam wie unser Vater und habe auch noch ein Sparkonto, auf dem ich jeden Euro, den ich entbehren kann, horte. Also müsste es irgendwie gehen, sage ich mir. Allerdings werde ich mir nun nicht so bald einen neuen Laptop leisten können. Aber der alte hält hoffentlich noch ein wenig durch. Erneut seufze ich tief auf. Ganz sicher werde ich es noch bereuen, mal wieder nicht Nein gesagt zu haben.

Kapitel 2

Maine – the way life should be« lese ich auf einem großen Schild am Straßenrand, bevor unser Mietwagen einen gefährlichen Schlenker macht und ich aufschreie. »Jette! Bist du eingeschlafen?«

Meine Schwester ist bei meinen Worten merklich zusammengezuckt und starrt nun mit weit aufgerissenen Augen auf den Highway, der sich durch Wald, Wald und noch einmal Wald schlängelt, nur hier und da von Häusern unterbrochen. Maine scheint genauso weit und einsam zu sein, wie ich es mir vorgestellt habe. Nur einen Schwarzbären haben wir noch nicht gesehen, seit wir vor vier Stunden Boston verlassen haben. Aber der kann ja noch kommen.

»Nee, Quatsch«, verteidigt sich Jette, doch ich merke genau, wie sie ein Gähnen zu unterdrücken versucht und dabei heftig blinzelt. Besorgt richte ich meinen Blick wieder nach draußen auf die Straße. Es hätte nicht viel gefehlt, und wir wären gegen eine der riesigen Kiefern am Straßenrand geknallt! Obwohl auch ich noch vor wenigen Minuten fast eingenickt wäre, hat der Schreck mich wieder ordentlich wachgerüttelt.

»Lass uns einen Fahrerwechsel machen«, schlage ich vor, obwohl Jette mich erst vor einer knappen halben Stunde abgelöst hat. Wir sind beide nach dem Flug so müde, dass wir uns nur mit Mühe gegenseitig wach halten können. Es war wirklich leichtsinnig, nach dem langen Flug am Logan International Airport direkt in unseren Mietwagen zu steigen und loszudüsen, Maine entgegen. Aber nachdem ich meine Ersparnisse für Flugtickets und Wagenmiete hergegeben hatte, wollte auch ich, dass diese Reise zum Erfolg führte – dass wir unsere Mutter nach all diesen Jahren wiederfinden würden. Und so gab ich Jette recht, die darauf drängte, nach unserer Landung heute Vormittag ohne weitere Verzögerung sofort Boston zu verlassen und nach Bar Harbor zu fahren. Außerdem wäre es zwangsläufig erneut auf meine Kosten gegangen, wenn wir uns in der Stadt zunächst ein sicherlich nicht billiges Hotelzimmer genommen hätten.

Wie wir allerdings in Bar Harbor finanziell weiter über die Runden kommen werden, ist mir noch nicht wirklich klar. Im WLAN-Bereich des Flughafens habe ich schnell gegoogelt, was Hotelzimmer in der schmucken Küstenstadt im Nordosten der USA kosten und bin vor Schreck fast in Ohnmacht gefallen. Doch es hilft nichts: Nachdem wir uns in München am Flughafen getroffen haben – Jette aus Alicante kommend, ich aus Stuttgart –, sind wir so spontan, wie es mir überhaupt nicht ähnlich sieht, nach Boston geflogen, und nun müssen wir auch weitermachen. Umkehren geht nicht mehr.

Aber so kurz vorm Ziel vor einen Baum fahren, das geht natürlich auch nicht. Der Fahrstil meiner Schwester ist, nach ihren Aufenthalten in diversen Ländern mit chaotischem Verkehr, schon im ausgeschlafenen Zustand gewöhnungsbedürftig. Und ausgeschlafen ist sie jetzt eindeutig nicht.

»Jette?«, frage ich erneut. Ihre Antwort ist ein herzhaftes Gähnen. Prompt gähne auch ich.

»Okay, das reicht. Wenn das so weitergeht, landen wir vor einem Baum«, schimpfe ich dann, setze mich aufrechter hin und raufe mir meine Haare, die sich seit dem Flug zottelig und ungepflegt anfühlen. »Da vorn!« Erleichtert deute ich durch die Windschutzscheibe, wo am Straßenrand eine Tankstelle auftaucht, über deren Laden verheißungsvoll eine blinkende Kaffeetasse schwebt. »Kaffeepause!«

»Nur noch eine Stunde bis Bar Harbor«, sagt Jette, als wir an den Zapfsäulen vorbei auf den Parkplatz rollen und vor dem Lädchen halten. »Fast gescha …« Der Rest ihres Satzes geht in erneutem Gähnen unter.

Gemeinsam betreten wir den kleinen Laden, wo ein beleibter Mann mit rot-schwarzem Holzfällerhemd hinter der Kasse hockt und auf einen Fernseher an der Wand starrt, der die Lokalnachrichten zu zeigen scheint – zumindest wird gerade von einem Autounfall mit einem Elchbullen berichtet. Als ich das Autowrack sehe, bekomme ich eine Gänsehaut und muss an die vielen Straßenschilder denken, die vor Elchen warnen, seit wir die Grenze zu Maine überquert haben.

»Wir müssen uns nicht nur vor den Bäumen in Acht nehmen«, murmele ich und deute auf den Fernseher.

»Haha«, brummt Jette und steuert auf den Kaffeeautomaten in der Ecke zu, der neben einem Regal voll mit Plüschelchen und -hummern steht. Während der Kaffee fauchend und spritzend in Jettes Pappbecher läuft, werfe ich einen flüchtigen Blick in den kleinen Spiegel, der an einem Drehständer mit Sonnenbrillen hängt, und erschrecke. Ach du meine Güte! Langstreckenflüge mit anschließenden Autofahrten bekommen mir nicht wirklich gut. Mein dunkelbraunes Haar hängt schlaff und zerzaust auf meine Schultern herab, und ich wünschte wirklich, ich hätte daran gedacht, eine Bürste in meine Handtasche zu packen. Jette hat auch keine dabei, das haben wir schon am Flughafen geklärt. Bei ihren wilden blonden Locken braucht sie die aber auch nicht, denn die liegen irgendwie immer gut. Mit einem Seufzer fahre ich mir durch meine Strähnen und zücke dann den Concealer, den ich in einem geistesgegenwärtigen Moment in meine Handtasche gesteckt habe, bevor ich meine Stuttgarter Wohnung verlassen habe.

»Na, machst du dich für die Elchbullen hübsch, oder doch eher für die menschlichen Maine-Männer?«, fragt Jette neckend, als sie neben mich tritt und an dem Ständer dreht, um sich die Sonnenbrillen anzusehen.

»Weder noch«, brumme ich und mache genervt ein paar Schritte zur Seite, um wieder in den winzigen Spiegel sehen zu können. Rasch verreibe ich die Farbe unter meinen Augen, damit ich nicht mehr ganz so sehr nach Junkie aussehe. »Im Gegensatz zu dir bin ich doch gar nicht auf der Suche nach Mr. Right«, füge ich noch hinzu und stecke den Concealer wieder weg.

»Natürlich bist du das. Du willst es nur nicht wahrhaben«, entgegnet Jette ungerührt.

»Apropos: Was ist eigentlich aus diesem Hoteltester geworden?«, erkundige ich mich. »Wartet er in Alicante darauf, dass du aus Maine zurückkommst?«

Jette schweigt ein paar Sekunden lang, während sie sich wieder dem Kaffeeautomaten zuwendet und ein Tütchen Zucker in ihren Becher rührt. Dann drückt sie mit einem tiefen Seufzer den Deckel darauf und erklärt: »Es sollte nicht sein, mit Marc und mir. Wir sind einfach zu verschieden.«

Klar. Diese Erklärung habe ich schon so oft von Jette gehört, wenn wieder eine große Liebe aus und vorbei war. Ohne auf eine Reaktion von mir zu warten, drückt sie mir ihren Kaffeebecher in die Hand, um eine Sonnenbrille in Herzform aufzuprobieren.

»O ja, die solltest du wirklich nehmen«, grinse ich kopfschüttelnd und nippe an ihrem Latte macchiato. »Rosarot ist sie auch noch. Passt zu dir, wirklich.«

Jette nimmt mir ihren Kaffeebecher wieder ab und trinkt ebenfalls einen großen Schluck, während sie mich ihrerseits kopfschüttelnd durch ihre überdimensionalen rosaroten Herzbrillengläser betrachtet. »Schwesterchen, irgendwann wirst du merken, dass die Welt voller Liebe ist.«

Ich bin froh, dass ich den Kaffee schon hinuntergeschluckt habe, sonst würde ich vermutlich vor lauter Lachen eine braune Fontäne herausprusten. »Ach Jette, du hoffnungslose Romantikerin«, spotte ich und wende mich meinerseits dem Kaffeeautomaten zu. Wie soll eine Welt, in der sich Leute gegenseitig umbringen, in der es Krieg und Hass und einen amerikanischen Präsidenten wie Donald Trump gab und in der eine Mutter ihre kleinen Töchter im Stich gelassen hat, wie soll so eine Welt bitte schön voller Liebe sein? Aber das sage ich nicht laut, denn ich weiß, dass diese Diskussion zu nichts führen wird. Jette ist unbeirrt auf der Suche nach ihrer großen Liebe, von deren Existenz sie felsenfest überzeugt ist. Und ich – ich bin das nicht. Kein bisschen.

»Wollen wir weiterfahren?«, frage ich meine Schwester, nachdem ich den Plastikdeckel auf meinen Pappbecher mit Cappuccino gedrückt habe.

»Ja, ich bezahle nur schnell unseren Kaffee. Ich lade dich ein«, verkündet Jette, und ich muss mir einen zynischen Kommentar verkneifen, dass Kaffee wohl das Mindeste ist, nachdem Flüge und Wagenmiete auf mich gingen. Aber ich nippe nur schweigend an meinem Milchschaum und beobachte meine Schwester, die zur Ladentheke geht, wo der beleibte Mann gerade den Sender gewechselt hat und nun eine Dokumentation über die Hummerfischerei sieht. Gedankenverloren starre auch ich auf den Bildschirm, der ein Fischerboot zeigt, das an einer bewaldeten Küste entlangtuckert.

Was macht unsere Mutter bloß ausgerechnet hier, im wilden Maine, mit seinen endlosen Wäldern und Elchen und Schwarzbären? Zum x-ten Mal hämmert diese Frage in meinem Kopf, aber auch dieses Mal finde ich keine Antwort. Denn die Antwort wird nur sie selbst liefern können. Eva Michaelis. Bei der Vorstellung, ihr womöglich bald gegenüberzustehen, bekomme ich eine Gänsehaut.

»Wollen wir?« Jette tritt vor mich und sieht mich erwartungsvoll an.

»Du hast immer noch diese dämliche Brille auf«, sage ich trocken.

»Ich weiß, ich habe die dämliche Brille gerade gekauft«, erwidert sie gut gelaunt. Als Antwort imitiere ich ein Würgen.

»Polly, auch in dir steckt eine Romantikerin«, sagt Jette und legt mir unbeeindruckt einen Arm um die Schultern, während wir auf den Ladenausgang zusteuern. »Du weißt es nur noch nicht.«

»Nee, stimmt. Das weiß ich tatsächlich nicht. Bitte gib mir den Schlüssel, ich fahre weiter. Wenn du jetzt auch noch alles in Rosarot siehst, landen wir wirklich vor einem Baum. Oder einem Elch.«

Der Nachmittag hängt warm und sonnig über Maine, als wir mit unserem Mietwagen den Damm überqueren, der das Festland mit der Insel »Mount Desert Island« verbindet. Wir lassen die Fenster des Autos hinunter, und die salzige Meeresluft schenkt uns sofort neue Energie, während wir der Bar Harbor Road an der Küste entlang folgen, dem Städtchen mit gleichem Namen entgegen. Zumindest habe ich ein Städtchen erwartet, etwas verschlafen und … ja, romantisch. Nein, das kommt nicht von mir, sondern aus den Artikeln im Internet, die ich damals überflogen habe, als ich den Roman rund um Ranger Tristan übersetzt habe. Ich wollte wissen, wo sich die heißen Szenen abspielten, damit ich das Ganze besser vor meinem geistigen Auge hatte. Die Fotos, durch die ich mich damals geklickt habe, sahen wirklich reizvoll aus, und auch jetzt, als unser Wagen endlich die Straßen des Ortes entlangrollt, bin ich sehr angetan von den schmucken Villen im Ostküstenstil: Teils aus Holz, teils aus rotem Backstein gebaut säumen sie die Straßen und sind größtenteils von alten Bäumen und blühenden Büschen umgeben. Auf überdachten Veranden stehen weiße Schaukelstühle oder Korbsessel, in Vorgärten wehen amerikanische Flaggen in der leichten Brise, die vom Meer heraufweht.

»Mein Gott, ist das hier schön!«, schwärmt Jette alle zehn Meter und reckt begeistert ihren Kopf aus dem Beifahrerfenster. Ja, schön ist es hier wirklich, denke ich beeindruckt. Aber ein verschlafenes Städtchen, wie mir die Internetartikel suggeriert haben, ist es nicht. Nicht mehr. Vor ein paar Jahren mag es so gewesen sein, überlege ich und lasse meinen Blick an den Schaufenstern zahlloser Souvenirläden entlanggleiten, über die Köpfe von wahren Touristenmassen hinweg, die sich über die Bürgersteige vorwärtsschieben, in dieselbe Richtung, in die auch wir fahren: zum Meer.

»Ist das voll hier«, murmele ich mit einem Kopfschütteln, während ich versuche, mich aufs Navi zu konzentrieren, damit wir zum Bar Harbor Inn finden. Das Hotel, in dem das Foto mit unserer Mutter aufgenommen wurde, muss am Hafen liegen, so viel steht fest.

»Schau mal! Ein Kreuzfahrtschiff!« Ich sehe in die Richtung, in die Jette deutet und, richtig, als die hügelabwärts führende Straße den Blick auf den Hafen von Bar Harbor freigibt, erkennen wir ein riesiges Passagierschiff, das in der Bucht vor Anker liegt.

Das erklärt dann wohl die Touristenmassen, die sich gen Hafen wälzen.

»Fast wie in Venedig«, murmele ich und starre wieder konzentriert aufs Navi. »Das Hotel müsste hier irgendwo …«

»Da!«, ruft Jette aufgeregt und deutet mit der Hand nach rechts. »Da vorn, da ist es! Wow, Polly, sieh dir das an!«

Ich muss meiner Schwester recht geben. Das Hotelgebäude selbst ist zwar nicht unbedingt spektakulär, aber es zieht sich mit seinen Rasenflächen und weitläufigen Veranden direkt am Wasser entlang. Obwohl ich bisher ziemlich ruhig geblieben bin, beginnt mein Herz mit einem Mal, sehr viel schneller zu schlagen, während ich den Parkplatz des Hotels ansteuere. Was, wenn wir unserer Mutter gleich wirklich gegenüberstehen?

Mein Herzschlag beruhigt sich kein bisschen, als wir schließlich die Lobby des Bar Harbor Inn betreten. Im Gegenteil. So nervös, wie ich mich umsehe, könnte man meinen, dass ich kurz davor bin, das schmucke Hotel zu überfallen. Dabei haben Jette und ich doch nur eine recht harmlose Frage.

»Nein, tut mir leid«, sagt die freundliche Rezeptionsmitarbeiterin mit dem flammenroten Pferdeschwanz, als sie unser Foto betrachtet hat, und schüttelt mit einem professionellen Lächeln den Kopf. »An die Dame kann ich mich nicht erinnern. Bei mir hat sie nicht ein- oder ausgecheckt.« Als sie unsere enttäuschten Gesichter sieht, fügt sie rasch hinzu: »Aber ich bin natürlich nicht immer hier. Es kann gut sein, dass einer meiner Kollegen sich an sie erinnern kann.«

Doch auch die zwei jungen Männer, die sich das Bild pflichtbewusst ansehen, als wir ihnen unsere Geschichte – dass wir nach einer verschollenen Verwandten suchen, was ja stimmt – erzählt haben, können uns nicht helfen.

»Vielleicht wohnt die Dame in Bar Harbor und war nur in unserem Restaurant essen«, schlägt die Rezeptionsmitarbeiterin vor.

»Aber – der Ort ist doch gar nicht so riesig, wenn man die Touristen mal weglässt«, werfe ich ein. »Würden Sie die Frau nicht kennen, wenn sie eine Einheimische wäre?«

Die Rothaarige lacht und schüttelt den Kopf. »Nein, ich bin ja selbst gar nicht von hier«, erklärt sie. »Ich wohne eigentlich in San Francisco und jobbe nur in den Semesterferien hier. Mein Freund kommt nämlich aus Maine, aber auch nicht direkt aus Bar Harbor.«

»Ach so«, meine ich, und Jette sieht fragend in die Richtung der beiden jungen Kollegen. »Und die zwei …?«

»Paco ist Spanier, und Victor kommt aus der Ukraine. Hier sind viele Saisonkräfte aus Übersee«, erklärt die Rothaarige, bevor sie sich entschuldigend abwendet, weil zwei neue Touristen angekommen sind und einchecken wollen.

Mit hängenden Schultern wende ich mich Jette zu. Die flatternde Nervosität hat sich gelegt und schlagartig purer Erschöpfung Platz gemacht. Was haben wir uns bloß dabei gedacht, so Hals über Kopf nach Maine zu reisen? Ich sehne mich nur noch nach einem Bett, um mich ausschlafen zu können. Nein, genau genommen sehne ich mich nicht einfach nach irgendeinem Bett, sondern nach meinem Bett, nach meiner kleinen, ruhigen Dachwohnung in Stuttgart, nach meinem gewohnten Umfeld, nach meinem vorhersehbaren Alltag. Ich hätte mich niemals auf diese neueste von Jettes zahlreichen Schnapsideen einlassen dürfen!

Aber meine Schwester scheint entschlossen zu sein, sich nicht so schnell entmutigen zu lassen.

»Also ich gehe ins Restaurant. Vielleicht kann sich dort jemand an unsere Mutter erinnern. Magst du noch einen Kaffee?«

»Ich bräuchte eher was Vernünftiges zu essen«, brumme ich und trotte ergeben hinter Jette her, durch die elegante Lobby, in die Richtung des Hotelrestaurants.

Im Restaurant selbst vergeht mir der Appetit allerdings ziemlich schnell, sobald ich die Preise auf der Speisekarte sehe.

»Ach du Schande«, murmele ich und schiebe die Karte rasch von mir. Frustriert werfe ich einen Blick nach draußen, wo sich ein strahlend blauer Himmel über dem Atlantik spannt. Kleine bewaldete Inseln mit felsiger Küstenlinie sind hier und da zu sehen, und als ein majestätisches Segelschiff mit vier Masten stolz in den Hafen von Bar Harbor einläuft, bekomme ich trotz meiner missmutigen Stimmung tatsächlich eine Gänsehaut. Ohne Frage, dieser Ort ist wunderschön.

»Sieh mal, eine Hochzeit!«, reißt mich Jettes aufgeregte Stimme aus meinem gedankenverlorenen Starren. Wenig enthusiastisch sehe ich in die Richtung, in die sie deutet – Hochzeiten können mich nie in Aufregung versetzen. Während Jette bei jeder royalen Eheschließung mit Gummibärchen und Taschentüchern vor dem Fernseher klebt, habe ich noch nie viel für Baiserträume in Weiß und das ganze verlogene Geschnulze übrig gehabt. Man muss sich doch nur die Scheidungsstatistik ansehen, um zu erkennen, dass sich diese armen Irren etwas vormachen! Aber das da draußen sieht tatsächlich nach ganz großem Kino aus, denke ich fast widerwillig, als mein Blick auf die Szene fällt, die sich auf der gepflegten Rasenfläche vor dem Hotel abspielt: Just in diesem Moment wird eine Braut mit langem Spitzenschleier von ihrem Vater einen Gang zwischen mehreren weißen Klappstuhlreihen hindurchgeführt, auf einen blumengeschmückten Hochzeitsbogen zu, der nur wenige Schritte von der Uferböschung entfernt aufgestellt worden ist – und hinter diesem Hochzeitsbogen erstreckt sich der tiefblaue Atlantik. Der gütig lächelnde Pfarrer, die Brautjungfern in diversen Rosaschattierungen, der sichtlich aufgeregte Bräutigam und das Segelschiff, das zu allem Überfluss gerade an einem Pier unweit des Hotels anlegt – all das ist wirklich wildromantisch.

Aber das heißt noch lange nicht, dass ich selbst romantisch veranlagt bin. Oder dass ich mir so einen Zirkus wünsche. Schon gar nicht mit Brautjungfern in Rosatönen!

»O Mann, Polly, sieh dir das an«, höre ich Jettes vor Rührung zitternde Stimme. »Wie unfassbar schön, oder? So zu heiraten, das ist doch der absolute Traum!«

Ich brumme etwas vor mich hin und sehe mich nach der Kellnerin um, die eben noch geschäftig den Nachbartisch abgewischt hat. Jetzt steht sie auch am Fenster und sieht sehnsüchtig auf das Spektakel unten auf der Rasenfläche hinab. Sind denn alle Frauen außer mir so naiv, an die große Liebe zu glauben?

»Entschuldigung?«, frage ich, und als die Kellnerin nicht reagiert, wiederhole ich lauter: »Dürfen wir Sie etwas fragen?«

Jetzt zuckt die junge Frau erschrocken zusammen und kommt hastig an unseren Tisch. »Ja, natürlich, möchten Sie etwas bestellen?«

Ihr Akzent sagt mir deutlich, dass unsere Kellnerin wohl aus Osteuropa stammt. Der Name »Svetlana« auf dem kleinen Messingschild an ihrer Uniform bestätigt meine Theorie. Vermutlich eine weitere Saisonkraft.

»Jette? Kannst du bitte mal das Foto rüberreichen?«, frage ich und sehe meine Schwester an, aber Jette starrt immer noch wie hypnotisiert aus dem Fenster. »Hallo? Erde an rosarote Herzchenbrille! Das Foto!«

Jette, die ihre Sonnenbrille auf den Kopf geschoben hat, um besser das Geschehen auf dem Rasen verfolgen zu können, dreht sich sichtlich genervt zu mir um und lächelt dann die Kellnerin an. »Sie müssen entschuldigen, meine Schwester hat es nicht so mit Romantik.«

»Nein?«, fragt mich Svetlana erstaunt und reißt ihre Augen weit auf. »Aber das da unten, das ist doch …« Sie scheint nach der richtigen englischen Vokabel zu suchen, und Jette kommt ihr zu Hilfe: »Das ist wunderschön, oder?«

»Ja, genau!«

»Hier«, sage ich, greife nach dem Foto und halte es unserer Kellnerin unter die Nase. »Haben Sie zufällig diese Frau hier im Lokal gesehen?«

Konzentriert betrachtet Svetlana das Foto. Mein Herz schlägt schon wieder schneller vor Aufregung, und selbst Jette scheint die Hochzeit für einen Moment vergessen zu haben. Gespannt starren wir die junge Frau an, bis diese langsam den Kopf schüttelt und ich enttäuscht die Luft aus meiner Lunge entweichen lasse.

»Nein, tut mir leid, an die Dame kann ich mich nicht erinnern.« Svetlana betrachtet erst Jette ernst, dann mich, dann wieder das Foto. Ich könnte schwören, dass sie ahnt, warum wir diese Frau suchen, denn als sie uns erneut in die Augen sieht, glaube ich da eine Spur Mitleid erkennen zu können. Diesen Ausdruck habe ich schon so oft bei meinen Mitmenschen gesehen. Ich mag ihn nicht, diesen Ausdruck, auch wenn er natürlich nicht böse gemeint ist, das ist mir klar. Rasch senke ich den Blick und will mich schon dem Fenster zuwenden, als Svetlana leise sagt: »Die Frau saß auf jeden Fall an Tisch 18. Dort drüben.« Sie deutet in die andere Ecke des Restaurants, und als ich hinübersehe, erkenne ich, dass sie recht hat. »Dort drüben kellnern Rafael, Zoya und Barbara. Rafael ist erst seit einer Woche hier in Bar Harbor, und dieses Bild … wann war die Frau hier im Lokal?«

»Vor über drei Wochen«, erklärt Jette rasch, und ich sehe deutlich neue Hoffnung in ihr aufkeimen, während ihr Blick an Tisch 18 hängt.

»Okay, dann fällt er weg. Barbara könnte etwas wissen – oder Zoya, aber sie fängt heute mit ihrer Schicht erst um 18 Uhr an. Möchtet ihr etwas bestellen?«

»Nein, danke«, beeile ich mich zu sagen und erhebe mich rasch, während mich Jette erstaunt mustert.

»Ich dachte, du hättest Hunger?«

»Wenn du mich einlädst, gern«, knurre ich auf Deutsch, lächele die Kellnerin dann betont fröhlich an und marschiere in den Teil des Restaurants, wo unsere Mutter vor Kurzem gegessen hat.

Doch auch die dunkelhaarige Barbara mit dem olivfarbenen Teint kann sich leider nicht an sie erinnern.

»Tut mir leid, hier gehen jeden Tag so viele Menschen ein und aus, da verliert man echt den Überblick«, entschuldigt sie sich mit starkem italienischem Akzent. »Aber Zoya, die hat ein Elefantengedächtnis – wenn sich jemand erinnern kann, dann sie. Kommt doch einfach in drei Stunden wieder, dann fängt ihre Schicht an.«

Kapitel 3

Sobald Jette und ich wieder in der Hotellobby stehen und uns ratlos ansehen, werden mir mein Hunger und meine Müdigkeit wieder deutlich bewusst.

»Wir sollten uns dringend ein Zimmer suchen«, sage ich und gähne erschöpft. Jette nickt und kaut nachdenklich am Nagel ihres kleinen Fingers. Das hat sie auch als Kind schon getan. Angeblich fing dieser Tick mit dem Verschwinden unserer Mutter an, habe ich meine Oma später mal sagen gehört. An die Zeit, als Jette mit dem Nägelkauen begann, kann ich mich allerdings nicht erinnern, ich war schließlich erst zweieinhalb. Und an unsere Mutter ja auch nicht.

Ach, doch, an eine Sache kann ich mich tatsächlich vage erinnern: dass unsere Mutter nach Nivea Bodylotion duftete. Ich habe mich lange gewundert, warum dieser Duft mich immer traurig machte. Irgendwann habe ich das Papa gegenüber erwähnt, und er hat spontan gemeint, ihm ginge es ähnlich, seit Eva abgehauen sei. Ich habe sofort nachgehakt, ob SIE also diese Bodylotion benutzt habe, aber mein Vater tat nach seiner unbedachten und für ihn völlig untypischen Bemerkung das, was er leider in den letzten Jahrzehnten zu oft getan hat: Er wechselte das Thema und weigerte sich stur, weiter über unsere Mutter zu sprechen. Papa muss wirklich sehr verletzt worden sein, als sie damals einfach verschwunden ist und ihn mit zwei kleinen Kindern zurückgelassen hat, aber er hat nie darüber geredet. Zumindest nicht mit uns.

Ja, ich erinnere mich also an ihren Duft. Aber woran ich mich nicht mehr erinnere, ist die Stimme meiner Mutter. Oder an ihr Aussehen, als sie damals ging. Doch, natürlich kenne ich Fotos, auf denen sie zu sehen ist – aber nur sehr wenige. Jettes und meine Fotoalben aus unserer frühen Kindheit sind jeweils nur ein paar Seiten lang. Ich vermute stark, dass Papa den größten Teil der Fotos aus dieser Zeit irgendwo unter Verschluss hält. Erst ab meinem dritten Geburtstag gibt es plötzlich jede Menge Bilder – mein erster Kindergartentag, Jettes Einschulung, mein erstes Fahrrad mit Stützrädern, Jettes erste Zahnlücke, unser erster Hamster.

Momente in unserem Leben, die Eva Michaelis alle verpasst hat.

Wie aus dem Nichts ist da wieder diese Kälte, die in mir hochsteigt, die sich wie eine eisige Faust um meine Eingeweide legt, um mein Herz, es zusammendrückt. Mich nach Luft schnappen lässt. Wie sollte ich jemals von jemandem geliebt werden, wenn meine eigene Mutter mich nicht lieben konnte? Diese Frage hämmert wie so oft in meinem Kopf, ohne dass ich es verhindern könnte. Ohne dass ich eine Antwort wüsste.

Du bist geliebt worden, sage ich mir im Stillen. Du wirst immer noch geliebt. Von Papa, von Jette, ja, vermutlich sogar von Inge. Jette und ich, wir hätten es in puncto Stiefmutter wirklich schlechter treffen können. Sie hat sich immer Mühe mit uns gegeben, auch wenn wir ihr oft Grund gegeben haben, uns zum Teufel zu wünschen. Besonders ich.

Aber von meiner Mutter bin ich nicht geliebt worden, wispert die erbarmungslose Stimme in meinem Kopf, die wie üblich gemeinsam mit der Kälte Einzug gehalten hat. Nicht genug, um bei mir zu bleiben. Vielleicht, weil ich so ein schwieriges Kind war. Ich soll als Baby sehr viele Koliken gehabt und ständig gebrüllt haben. Daran erinnert sich Jette angeblich noch genau, und Papa hat das bestätigt. Aber als ich ihn einmal gefragt habe, ob unsere Mutter gegangen sei, weil ich so schwierig war, hat er nur unwirsch geantwortet: »Ach, Polly, was für ein Unsinn!« Und damit war das Thema erledigt, wie üblich.

Wenn er wüsste, dass wir jetzt hier sind. Dass wir SIE suchen. Wir haben Papa und Inge nur sehr vage von einer spontanen Schwestern-Auszeit an der amerikanischen Ostküste erzählt. Dass Maine unser Ziel war und unsere Reise einen bestimmten Grund hat, das haben wir mit keinem Wort erwähnt. Warum, weiß ich auch nicht. Vielleicht, weil wir das Thema nicht anschneiden wollten, da es vor allem Papa mehr belastet, als er uns gegenüber zugibt – das merkt man immer wieder, wenn die Sprache mal auf Eva kommt. Darum ist das ja so selten der Fall. In meiner Familie wird dieses Thema sorgfältig umschifft. Totgeschwiegen.

»Lass uns gehen«, sage ich jetzt zu Jette und haste auch schon durch die Lobby, auf den Ausgang zu, um dieses Hotel möglichst schnell zu verlassen. Diesen Ort, an dem SIE erst vor Kurzem war. Diese Frau, die mir völlig fremd ist, auch wenn sie mich geboren und mich gestillt und mir in meinen ersten Lebensjahren Lieder vorgesungen und Geschichten erzählt hat. An deren Stimme ich mich trotzdem nicht erinnern kann.

»Polly?«, höre ich Jette hinter mir und merke, dass mir meine Schwester eilig folgt. »Wo willst du hin?«

»Keine Ahnung«, gebe ich zurück und atme tief durch, sobald ich vor dem Hotel stehe, atme die Luft ein, die wunderbar nach Meer und Nadelbäumen duftet. »Lass uns die Motels abklappern und sehen, wo wir unterkommen können.« Ich begegne Jettes Blick, sie mustert mich ernst.

»Und nachher kommen wir zurück und sprechen mit dieser Zoya?«

Ich nicke. »Ja. So machen wir es.«

Später, am Abend dieses aufwühlenden Tages, sitze ich in einem dieser typisch amerikanischen, erstaunlich bequemen Holzsessel – genannt Adirondack-Stuhl, wie ich seit meiner Maine-Übersetzung weiß – auf der Rasenfläche, die vom Bar Harbor Inn zum Atlantik hinabführt. Ich nippe an meinem Glas und fühle mich … irgendwie fehl am Platz. Dabei ist die Rasenfläche längst aufgeräumt worden, weder Stuhlreihen noch Hochzeitsbogen, sondern lediglich ein paar vereinzelte Rosenblätter zwischen den Grashalmen zeugen noch von der Trauung, die heute Nachmittag hier stattgefunden hat. Was nicht bedeutet, dass die Hochzeitsfeierlichkeiten schon vorbei wären, ganz und gar nicht: Nur wenige Meter von mir entfernt, auf der leicht erhöhten Veranda, die zu einem der Hotelrestaurants gehört und einen fantastischen Blick auf den Atlantik bieten muss, herrscht fröhliches Stimmengewirr, ertönt Gelächter, durchmischt von den Songs der Band, die im Inneren des Hotels für ausgelassene Stimmung sorgt. Ich drehe meinen Kopf und betrachte nachdenklich die Lichterketten, die entlang des Geländers gespannt worden sind, sehe einen weißen Schimmer zwischen den Gästen auf der Veranda, erkenne die Braut, die fröhlich kreischend mit ein paar Brautjungfern anstößt. Mit einem leisen Seufzer wende ich meinen Blick wieder ab und schaue stattdessen auf meinen Laptop, der geöffnet auf meinem Schoß balanciert. Wenn ich mich nicht endlich konzentriere, werde ich meine Abgabefrist niemals einhalten können. Aber mir will partout keine Formulierung für das einfallen, was der sexy Banker Jared gerade mit Leyna macht. Zumindest keine Formulierung, bei der man sich vor lauter Fremdschämen nicht krümmen müsste. Die deutsche Sprache lädt leider viel öfter zum Fremdschämen ein, als es bei der englischen der Fall ist. Was im Englischen erotisch klingen kann, hört sich auf Deutsch sehr leicht nach billigem Porno an, wenn man keine geschickte Formulierung findet. Ich stöhne leise auf und reibe mir mit einem Finger über die Falte zwischen meinen Augenbrauen. »Pollys Denkerfalte«, so nennt Papa sie immer.

»Hi«, höre ich da eine Stimme und sehe erstaunt auf. »Ist der hier noch frei?«

Ein Mann ist neben dem anderen Adirondack-Stuhl aufgetaucht, der ungefähr zwei Meter neben meinem steht. Auch er hält ein Glas in seiner Hand, aber im Gegensatz zu meiner harmlosen Coca-Cola befindet sich in seinem bestimmt Alkohol. Ich konnte mir in diesem Hotel nur eine Cola leisten. Überhaupt wollte ich mich eigentlich gar nicht so lange hier aufhalten, aber dann haben wir bei unserer Rückkehr ins Bar Harbor Inn erfahren, dass Zoya heute Abend gar nicht im Restaurant eingesetzt ist, sondern spontan auf der Hochzeitsfeier aushelfen muss, wo eine Kellnerin ausgefallen ist. Seitdem lungert Jette am Eingang des Lokals herum, wo die Feierlichkeiten stattfinden, und hofft darauf, die junge Asiatin mit dem angeblich so tollen Gedächtnis abzupassen. Natürlich wäre Jette nicht Jette, wenn sie nicht nebenbei ein Gespräch mit einem der Liftboys begonnen hätte – als ich vorhin entnervt die Lobby verlassen habe, um mit meinem Laptop ein ruhiges Plätzchen zu finden und die Wartezeit zum Arbeiten zu nutzen, ließ sich meine Schwester gerade erklären, wie man an einen Saisonjob in Bar Harbor kommt. Ich weiß also schon, wo der nächste Job auf Zeit meiner Schwester sein wird.

Wie auch immer – inzwischen habe ich es mir hier auf dem Rasen gemütlich gemacht, trinke meine überteuerte Coca-Cola, verscheuche lästige Mücken und versuche, die Überdosis Romantik, die sich schräg hinter mir auf der Veranda ballt, zu ignorieren.

Zum Glück brauche ich keine Romantik für Jared und Leyna. Wenn mir nur endlich ein passender Ausdruck einfallen würde, für …

»Sorry, ich wollte dich nicht stören«, höre ich erneut den Fremden sagen und zucke leicht zusammen, als mir klar wird, dass ich ihn nur gedankenverloren angestarrt habe, ohne auf seine Frage zu antworten. Im Dämmerlicht, das sich längst über den Rasen und den Atlantik vor mir gesenkt hat, erkenne ich einen Typen, den ich auf Anfang dreißig schätze. Er hat dunkles kurzes Haar und Augen, die … hmm, ich kann die Farbe bei diesem schwachen Licht nicht eindeutig erkennen, aber ich würde auf Braun tippen. Der Fremde trägt eine dunkle Anzughose und ein weißes Hemd, dessen Ärmel er bis zu den Ellbogen hochgerollt hat.

Das finde ich bei Männern wirklich sexy.

»Hi«, sage ich endlich und räuspere mich, weil meine Stimme etwas belegt klingt. »Klar, der Stuhl ist frei.«

Dann, noch bevor er sich ermutigt fühlen kann, ein Gespräch zu beginnen, sehe ich rasch wieder auf meinen Laptop hinab, um weiterzuarbeiten. Mir ist gerade nicht nach Small Talk zumute, nicht einmal mit einem sexy Ärmelhochroller mit verdammt angenehmer dunkler Stimme. Zu stark hat mich der heutige Tag aufgewühlt, zu sehr bin ich immer noch mit der Frage beschäftigt, ob sich unsere Mutter tatsächlich nach wie vor hier in Bar Harbor aufhält.

Aber weil ich nicht ständig über diese Frau nachdenken will, versuche ich, mich rasch wieder in meine Übersetzung zu vertiefen. Immerhin bin ich nur Jette zuliebe hergekommen. Wenn es nach mir gegangen wäre, säße ich jetzt in Stuttgart und würde dort über nicht-peinlichen Ausdrücken für die Szene in Kapitel 8 grübeln.

Doch noch während ich weiter nach der richtigen Formulierung suche, unterbricht mich der Typ in dem anderen Adirondack-Stuhl schon wieder. Zwar nicht direkt, aber indirekt, denn ich spüre deutlich seinen Blick auf mir. Als ich den Kopf drehe und ihn ansehe, ertappe ich ihn dabei, wie er auf mein Dekolleté starrt.

Zwar guckt er jetzt hastig in sein Glas, betrachtet eingehend die Eiswürfel darin, die leise klimpern, als er zum Trinken ansetzt, aber ich habe ganz klar gemerkt, wohin er vorher geschaut hat.

Ja, das T-Shirt, das ich mir vorhin aus dem Koffer geangelt habe, als wir endlich ein Motelzimmer (und zwar leider ein ziemlich heruntergekommenes) gefunden hatten, ist recht weit ausgeschnitten. Und, ja, ich habe nicht unbedingt wenig Oberweite. Was aber noch lange kein Grund ist, sich auf einer inzwischen fast dunklen Rasenfläche ungefragt in den Stuhl neben meinem zu fläzen und mich dann lüstern von der Seite anzuglotzen, während ich verzweifelt versuche, erotische Ausdrücke zu finden, die nicht zum Weglaufen sind!

»Hey«, sage ich und setze mich aufrechter in meinen Stuhl, den Blick streng auf den Fremden gerichtet, der sein Glas sinken lässt und mich erstaunt ansieht. Okay, mein Ton klingt recht ruppig, aber meine Nerven sind heute Abend einfach zu dünn, um mich jetzt auch noch in Diplomatie zu versuchen. »Ich möchte hier gern ungestört arbeiten«, erkläre ich so ruhig wie möglich. »Was ich überhaupt nicht möchte, ist, dass mir ein Fremder dabei auf die Titten starrt.«

Die Augen des Mannes weiten sich überrascht, und ich merke, dass sein Blick erneut kurz zu meinem Dekolleté flattern will, er sich aber anscheinend gerade noch zusammenreißen kann und mich stattdessen ernst ansieht. Als er nicht gleich reagiert, rede ich einfach weiter.

»Du hast dir wahrscheinlich gedacht ›Hey, die Kleine sieht so einsam aus, ich werde mich mal neben sie setzen und sie mit meiner Anwesenheit beglücken‹. Aber ich möchte gerade ganz gern einsam sein, okay? Ich arbeite, und dafür brauche ich meine Ruhe. Und natürlich sollte es mich freuen, dass du mich anscheinend kennenlernen möchtest, aber ich bin nicht interessiert. Kapiert?«

Ein paar Sekunden lang sehen wir uns stumm an, ich grimmig-entschlossen, er offensichtlich verblüfft. Schuldbewusst nicht unbedingt. Eher … eine Spur amüsiert? Wut will in mir aufwallen, als sich der Typ räuspert und mit einer Hand über seinen Mund reibt – ganz eindeutig, um ein Lächeln zu kaschieren. Ich hole tief Luft und will ihm noch ein paar Takte erzählen, damit er endlich Land gewinnt, als mir der Fremde zuvorkommt und langsam sagt: »Eigentlich habe ich mich nur in diesen Stuhl gesetzt, weil er frei war und ich ein wenig Abstand zu den anderen Partygästen gesucht habe.« Er macht eine Handbewegung in Richtung der fröhlich feiernden Gesellschaft auf der Veranda hinter uns, und mir wird klar, dass er deshalb Anzughose und Hemd trägt und nicht Shorts und T-Shirt, wie es sich bei diesem milden Abend anbieten würde: Er gehört zu den Hochzeitsgästen.

»Ich bin gern nachts am Meer …«, fährt er ruhig fort, und in seiner Stimme schwingt nach wie vor ein leicht amüsierter Tonfall mit, der mir nicht gefällt, »… und dieser Stuhl bietet einen ziemlich schönen Ausblick. Außerdem hast du so vertieft in deinen Laptop gewirkt, dass ich nicht befürchten musste, du würdest mich ansprechen und mir ein Gespräch aufdrängen.«