14,99 €
Liebe ist Freiheit – der erste Roman über Beate Uhse Mit ihrem biografischen Roman über die Unternehmerin, die sich für die sexuelle Befreiung der Frau einsetzte, setzt Charlotte von Feyerabend einer Pionierin der Frauenbewegung ein leidenschaftliches Denkmal. Schon als Kind träumt Beate vom Fliegen – und lernt von ihrem Vater, dass sie alles erreichen kann, wenn sie es nur richtig will. Mit achtzehn macht sie ihren Pilotenschein und trifft ihre große Liebe. Doch die Idylle währt nur kurz, denn ihr Mann, ebenfalls Pilot, wird im 2. Weltkrieg abgeschossen. Im Deutschland der Nachkriegszeit steht Beate Uhse mit ihrem kleinen Sohn ohne alles da und muss als Handelsreisende durch das ganze Land tingeln, um zu überleben. Dabei wird sie auf die Sorgen der Frauen aufmerksam, die in dieser elenden Zeit nicht schwanger werden wollen. Als Tochter einer der ersten Ärztinnen Deutschlands beschließt Beate, ihnen zu helfen. Für ein paar Pfennige verkauft sie eine Aufklärungsschrift, die sie bald mit Artikeln für die »Ehehygiene« ergänzt. Denn Beate Uhse hat einen Traum: Jede Frau soll das Recht auf einen Orgasmus haben! So wird nicht nur ihr unternehmerisches Talent geweckt, sondern auch ihr Wunsch, für die sexuelle Befreiung der Frau zu kämpfen – die Geburt einer Legende und der Beginn eines Imperiums, das jeder kennt … Der biografische Roman über die Kunstfliegerin, Unternehmerin und Pionierin der Frauenbewegung Beate Uhse bietet hochspannende Unterhaltung für die Leser*innen von Romanen über starke Frauen oder Unternehmer*innen-Biografien wie von Laura Baldini und Romy Seidel.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 503
Charlotte von Feyerabend
Roman nach dem abenteuerlichen Leben der Beate Uhse
Knaur eBooks
Schon als Kind träumt Beate vom Fliegen – und lernt von ihrem Vater, dass sie alles erreichen kann, wenn sie es nur richtig will. Mit achtzehn macht sie ihren Pilotenschein und trifft ihre große Liebe. Doch die Idylle währt nur kurz, denn ihr Mann, ebenfalls Pilot, stirbt im Zweiten Weltkrieg. Im Deutschland der Nachkriegszeit steht Beate Uhse mit ihrem kleinen Sohn ohne alles da und muss durch das ganze Land tingeln, um Waren zu verkaufen und Geld zu verdienen. Dabei wird sie auf die Sorgen der Frauen aufmerksam, die in dieser elenden Zeit nicht schwanger werden wollen. Als Tochter einer der ersten Ärztinnen Deutschlands beschließt Beate, ihnen zu helfen. Für ein paar Pfennige verkauft sie eine Aufklärungsschrift, die sie bald mit Artikeln für die »Ehehygiene« ergänzt. Denn Beate Uhse hat einen Traum: Jede Frau soll das Recht auf einen Orgasmus haben! So wird nicht nur ihr unternehmerisches Talent geweckt, sondern auch ihr Wunsch, für die sexuelle Befreiung der Frau zu kämpfen – die Geburt einer Legende und der Beginn eines Imperiums, das jeder kennt …
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Vorwort
Motto
Widmung
Start frei
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Nachwort
Glossar
Danke
Anhang
Schmandkartoffeln
Masurischer Käsekuchen
Bärenfang
Glumse als Brotaufstrich oder zu Pellkartoffeln
Gefüllte Keilchen
Kalte Fruchtsuppe
Gebackene Purzelchen
Literaturverzeichnis (Auszug)
Gode Dag,
willkommen, liebe Leserin und lieber Leser, vielen Dank, dass mein historischer Roman den Weg zu dir gefunden hat! Enthalten ist neben sorgfältiger Recherche auch einiges an Herzblut. Dabei bin ich beim Schreiben so nah an der Realität geblieben, wie es mir möglich war, doch sind die Handlungen, Gespräche und Zusammentreffen natürlich frei erfunden.
Im Glossar findest du die Übersetzungen der ostpreußischen Begriffe. Weiterführende Informationen stehen in den Endnoten und auf meiner Homepage: https://vonfeyerabend.de/
Ich verbleibe mit den besten Grüßen und wünsche viel Spaß beim Lesen!
Deine Charly von Feyerabend
Freiheit und Selbstbestimmung sind die wichtigsten Güter, die sich die Menschen, insbesondere die Frauen, erst mühsam erkämpft haben. Mögen wir sie bewahren und dafür wieder anfangen aufzustehen!
Für meine Kinder und all die anderen mutigen und starken Menschen da draußen!
»Der kostbarste Besitz der Frau ist die Phantasie des Mannes.«
Beate Uhse
Selbst der Himmel hatte die Farbe von Blut angenommen. Hellrote Schlieren glitten ins Lilafarbene und rissen die Sonne mit sich in die aufkommende Dunkelheit.
Blut tränkte die Erde zwischen den Kleinflugzeugen, glitzerte in den Cockpitscheiben. Unter die Gewehrschüsse mischte sich ein Donnern. Panzerfäuste. Noch klangen sie entfernt. Dreißig bis fünfzig Meter war ihre Reichweite, die Russen näherten sich dem Flughafen Gatow.
Hektisch blickte Beate sich um. Sie stand inmitten fluguntauglicher Maschinen. Kaputte Motoren, zerschossene Tragflächen, fehlende Ruder und eingeknickte Fahrwerke. Unfähig zu fliegen, zum Sterben zurückgelassen.
Sie riss ihren Kopf in den Nacken, schaute kurz dem letzten flugtüchtigen Flugzeug, einer dreimotorigen Junkers Ju 52, hinterher, das vollgestopft mit Wehrmachtshelfern und Verletzten gen Norden jagte. Anstelle von fünfzehn Menschen als Maximalfracht barg sie achtzehn. Braver, zäher Flieger. Rotes Licht leckte kurz über seine silbernen Wellblechflügel, dann verschwand er im Tiefflug. Von der Schwärze verschluckt.
Panik stieg in ihr auf. Sie hatte das Kindermädchen mitsamt ihrem Sohn Klaus in den Luftschutzkeller hier auf dem Gelände geschickt. Sie brauchte eine Lösung, einen Plan. Sofort. Übelkeit schlich sich in ihren Bauch, kroch die Kehle hinauf.
»Es muss doch eine Maschine geben! Muss!« Beate stieß die Worte aus wie Pressluft. Sie stürmte die Reihen entlang, als wäre der Leibhaftige hinter ihr her. Atmen, sagte sie sich, so wie sie es als Jugendliche in der eiskalten Nordsee gelernt hatte. Langsames Einatmen. Langes Ausatmen. Sie bückte sich, um ein Loch in einem Flugzeugbauch zu begutachten. Unmöglich. Als sie sich wieder aufrichtete und umdrehte, rannte sie in eine dunkle Gestalt.
»Jesus. Maria. Gottverdammter Bastard, kannst du nicht aufpassen, du Affenarsch?« Die Gesichtszüge des Mannes lagen im Dunkeln, aber so fluchte nur einer auf der ganzen Welt.
Beate fasste ihn am Arm. »Hans. Hans, ich bin es. Maxe.«
Von den Fliegerkollegen wurde Beate nur mit Maxe angesprochen. Das kam davon, wenn man eine von wenigen Pilotinnen war und besser fliegen konnte als so mancher Mann.
»Wo ist unsere Staffel?«, fragte Beate. »Was ist passiert?« Sie selbst hatte sich von ihnen getrennt, um ihren Sohn und das Kindermädchen von zu Hause zu holen.
»Die Schweine haben mich sitzen lassen. Ich war ein paar Minuten zu spät. Solche Schweine!« Hans Vedder war der Bordmonteur der zweiten Staffel. Ein ölverschmierter Mann mit Händen wie Pranken. »Komm mit«, fuhr er fort. »Es soll hier noch eine Siebel 104 geben.«
Hans preschte weiter und kam vor einem Hangar, der etwas abseits lag, wieder zum Stehen. Eine aufrecht gereckte Flugzeugnase begrüßte sie mit einem Propeller, an dem ein Schild hing. Unklar stand hastig hingekritzelt darauf.
Beide schauten sich an. Zuckten zusammen, als eine Gewehrsalve im Wald neben ihnen erklang.
»Bekomm sie hin! Ich besorg Benzin!« Beate wusste, was zu tun war. Es gab noch weitere Verletzte, die beim Kampfkommandanten waren. Die Siebel Fh 104 war zwar nur für vier Passagiere ausgelegt, aber ein Maximalgewicht konnte man auch etwas dehnen. Musste!
Ein paar Stunden später riss sie das Flughandbuch aus der Klappe im Flieger. Es war das erste Mal, dass sie eine Siebel fliegen würde. Was hatte ihr Vater damals in Ostpreußen über die Himmelsfarben gesagt? Abendrot – gut Wetter – Brot. Immerhin hätten sie am Morgen gutes Flugwetter. Verbissen lief sie die Startbahn ab. Sobald Hans mit dem Check fertig war, musste es schnell gehen. Die Startbahn hatte einige Beschädigungen abbekommen. Löcher klafften wie Wunden in der asphaltierten Bahn. Wenn sie da hängen blieb, wäre es eine sehr kurze Flucht.
Wieder ein paar Stunden später wich das Himmelsschwarz einem dunklen Blau. Der Sonnenaufgang war zu erahnen. Das Donnern der Panzerfäuste kam bedrohlich nah.
»Hans!« Beates Stimme klang schrill. Sie durften den Russen nicht in die Hände fallen, das hier war ihre letzte Chance. Ihr Blick fiel auf das kleine Kind, das sich ängstlich im Arm der Kinderfrau Hanna barg. Es war ihr Erstgeborener. Gezeugt während des Kriegs, nachdem sie aufgegeben hatten, auf das Ende der Kämpfe zu warten. Es hätte die Krönung ihrer Liebe sein sollen, doch hatte der Krieg sie bereits zur Witwe gemacht.
»Jetzt!« Hans wischte sich seine Hände an der Hose ab, nickte. Es war fünf Minuten vor sechs. Nach einem anfänglichen Tuckern schnurrte der Motor wie ein Kätzchen. Beate ließ die Luft zwischen ihren zusammengepressten Lippen ausströmen. Hinten saßen zusammengepfercht wie Schlachtvieh auf engstem Raum zwei deutsche Soldaten, auf deren verschmutzten Verbänden sich rote Flecken ausbreiteten. Sie mussten dringend zu einem Arzt, sonst wäre der Russe auch bald egal. Rot, so viel Rot überall. Daneben Hanna, zitternd und leise wimmernd. Neben Beate saß Hans, auf dessen Schoß der kleine Klaus, mit großen, angsterfüllten Augen.
Adrenalin durchströmte Beates Körper, ihre Sinne schienen zu prickeln, sich aufzuladen. Sie startete die beiden Motoren schnell nacheinander, prüfte kurz den Öldruck und erhöhte zügig die Drehzahl, um die Motoren auf Betriebstemperatur zu bringen. Kurz die Zündung und die Verstellpropeller prüfen, diese in Startstellung bringen. Handgriffe, die sie gefühlt bereits tausendmal ausgeführt hatte. Jetzt funktionierte sie, wusste, was sie machen musste, jetzt hatte sie wieder das Gefühl, die Situation zu kontrollieren. Ausgeblendet waren die Gefahr, die Schüsse, die rennenden Gestalten, die nur noch wenige Schritte entfernt zu sein schienen, das Schreien ihres Kindes, das Schluchzen der Kinderfrau, das unterdrückte Stöhnen der Soldaten. Jetzt war sie ganz bei sich. Doch die Maschine war überladen. Wollte nicht abheben. Geschickt rollte Beate an einem breiten Riss vorbei, der nächste kam in zehn Schritt auf der linken Seite. Sie hielt die Radbremsen für einen Moment fest, während sie an beiden Triebwerken maximale Leistung setzte. Nach dem Lösen der Bremsen beschleunigte die Maschine dadurch schneller. Sie musste den Flieger noch etwas länger am Boden rollen lassen, um dann mit etwas Fahrtreserve vorsichtig im flachen Winkel abheben zu können. Nur noch ein Stück weiterrollen.
Sie spürte, wie der Flieger in einem höheren Ton antwortete, fühlte, wie er vibrierte, er wollte in die Luft, er wollte, genauso wie sie, in sein natürliches Habitat. Die Schwingen ausbreiten, sich tragen lassen, alles unter sich lassen. Einfach weg.
Und die Maschine fügte sich, verschmolz mit ihr zu einem einzigen Körper, wurde zu einer äußeren Schutzhülle. Fünfzehn Schritte bis zum nächsten Schlagloch, die Siebel zog nach oben, zäh und langsam. Sie kämpfte mit dem Gewicht, gab dem Ziehen nach hinten nicht nach, drängte weiter.
Aus dem Wald preschten Gestalten heran. Drei, fünf, zehn. Gewehre wurden auf sie gerichtet. Sie gewannen an Höhe, waren fast über den Baumkronen, als die ersten Kugeln einschlugen. Klaus’ helles Schluchzen vermischte sich mit den schrillen Schreien der anderen. Doch sie hatten es geschafft. Sie waren über dem Wald. Beate zog die Nase der kleinen Maschine tief, küsste fast die Wipfel der Bäume. Du schaffst das, sagte eine Stimme in ihrem Kopf, du schaffst das. Noch nie hatte eine Maschine sie im Stich gelassen. Und sie wusste, dass im Norden ihr Glück lag.
»Dass die Welt im Ganzen immer zum Besseren fortschreite, dies anzunehmen berechtiget ihn keine Theorie, aber wohl die reine praktische Vernunft, welche nach einer solchen Hypothese zu handeln dogmatisch gebietet.«
Immanuel Kant (1724–1804)
Angezeigt
Beates Gesicht war unter Kontrolle. Nur die kleine Falte auf der Stirn deutete darauf hin, dass sie sich konzentrierte. Ihre blonden Haare hingen ordentlich gekämmt bis über die Ohren. Die leichte Welle war ein Hinweis auf ihre Eigenwilligkeit, so hatte zumindest früher ihr Vater gescherzt.
Doch hörte sich ihre Stimme gepresst an. »Bitte, ich verstehe immer noch nicht, warum Sie mich hierherbestellt haben. Ich weiß, dass eine Anzeige vorliegt, aber die ist doch nicht tragbar.« Sie biss sich auf die Zunge. Abwarten, was ihr vorgeworfen wurde. Sich selbst keine Blöße geben. Füße stillhalten. Nur reagieren, nicht agieren.
In dem kleinen Flensburger Polizeipräsidium ging es laut und hektisch zu. Sie saß in einem Großraumbüro an einem fahlgrauen Tisch. Ihr gegenüber ein Polizist, der mit einem Kugelschreiber auf ein Dokument pochte, als ob er es erdolchen wollte. Er ließ den Stift in der Luft verharren und näherte seine Nase dem Schriftstück, um davon abzulesen: »Es ist mehr als eine bloße Taktlosigkeit, wenn eine fremde Firma zum Zwecke des Gelderwerbs derartige Angebote in offenen, auch Jugendlichen zugänglichen Postwurfsendungen an jeden zugehen lässt.« Er machte eine Pause und sah Beate abschätzend an, als ob er auf einem Viehmarkt einem Pferd ins Maul schaute, um das richtige Alter und damit den Preis zu bestimmen. Das konnte sie nicht irritieren, wer als Flüchtling alles verloren hatte, die Heimat, Besitztümer und auch ein Stück der Seele, den ließen Meinungen anderer kalt.
Der Beamte räusperte sich. »Es geht um Ihre Broschüre, diese … diese sogenannte Schrift X. Sie sei kränkend, taktlos und zudem maßlos überteuert. Sie haben eine Anzeige wegen groben Unfugs, betrügerischer Absicht und Verstoßes gegen die Preisvorschriften am Hals.« Der Beamte tippte mit dem Finger auf ein Exemplar, das vor ihm lag, und unterdrückte ein Gähnen. »Neben dem Strafrechtsprofessor aus Münster, der die Anzeige erstattete, liegen uns weitere Beschwerden vor. Wie kommt es überhaupt, dass Sie als Frau mit so etwas … so etwas Geschmacklosem Ihr Geld verdienen wollen?«
Beate schaute den Polizisten aus ihren klaren, hellen blauen Augen an. Machte er sich lustig über sie, oder wollte er sie provozieren? Ein süffisantes Lächeln flackerte um seine Lippen. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, dass er keinen Ehering trug. An seinem weißen Kragen prangte dazu ein Fleck, und so richtig gut rasiert war er auch nicht. Alleinstehend, nahm sie an. Nach einer kleinen Pause erwiderte sie: »Wenn Sie eine Partnerin finden, dann vermute ich, dass Sie Geschlechtsverkehr nicht nur dazu durchführen wollen, um Kinder zu zeugen, oder? Vielleicht hilft Ihnen dann genau meine Schrift X. Lesen Sie ruhig mal rein.« Sie stand auf. »Wenn Sie keine weiteren Fragen haben, kann ich wohl gehen?«
Aus dem Gesicht des Polizisten war das überhebliche Schmunzeln verschwunden. Er nickte nur und rief ihr hinterher: »Ich bin mir sicher, dass wir uns wiedersehen. So Leute wie Sie, die landen hier immer wieder … immer wieder!«
Beate drehte sich nicht um. Würde sie für jeden abfälligen Blick oder jede geringschätzige Bemerkung einen Pfennig bekommen, wäre sie bereits reich. Reich sein, das musste sie nicht unbedingt, aber finanziell unabhängig. Zu wissen, wo das nächste Mahl auf dem Tisch für alle fünf Mäuler herkommen würde, das hätte sie schon gerne. Der Weg bis jetzt war steinig genug gewesen, und sie wusste, sie war gerade erst am Anfang. Da war noch eine Menge Luft!
Kurz darauf stand Beate ein Stück entfernt vom Polizeipräsidium, das mit seinem gründerzeitlichen Charme und den schnörkeligen Verzierungen an seiner Fassade aus der Zeit gefallen schien. Die hohen Räume mit dem verspielten Stuck an der Decke passten so gar nicht zu den polizeilichen Aktivitäten. Mit einem Seufzen streckte sie ihr Gesicht gen Sonne. Wie es dazu komme, dass sie damit Geld verdienen wolle, hatte er gefragt. Um das zu beantworten, müsste sie weit in die Vergangenheit reisen. Weit, weit zurück. Um exakt zu sein, bis nach Gut Wargenau in Ostpreußen, zu ihren Eltern, zu ihren beiden älteren Geschwistern, zurück zu ihrer eigenen Kindheit. Drei Dinge waren es damals gewesen, die ihr Leben in eine Richtung gelenkt hatten, die es für immer verändern sollten. Nur drei Dinge, die auf sie als Achtjährige einen immensen Einfluss haben sollten, die bis heute lichterloh in ihrem Herzen brannten und sie stark machten, der Welt ihre Stirn mitsamt Zornesfalte zu bieten. Sie war eine geborene Köstlin, Tochter eines famosen Gutsbesitzers und der dritten Frau in Deutschland, die als Ärztin praktizierte. Aber das waren nicht die drei Dinge, das kam nur noch obendrauf.
Ostpreußenlied (Erich Hannighofer)
Land der dunklen Wälder
und kristallnen Seen;
über weite Felder
lichte Wunder gehn.
Starke Bauern schreiten
hinter Pferd und Pflug;
über Ackerbreiten
streicht der Vogelzug.
Und die Meere rauschen
den Choral der Zeit;
Elche steh’n und lauschen
in die Ewigkeit.
Tag ist aufgegangen
über Haff und Moor;
Licht hat angefangen,
steigt im Ost empor.
Wurzeln der Leichtigkeit
»Na, war meine Manka brav?« Margarete Köstlin-Räntsch trat vor das Gutshaus und schaute ihrer Tochter entgegen, die gemütlich auf dem Rücken eines Pferdes saß und im Schritt angeritten kam. Weit über ihr segelten Möwen hinweg, wehten mit ihren lauten, krächzenden Rufen ein Stück Meeresbrise herbei.
Mit einem breiten Lachen, das das Gesicht des Kindes komplett erhellte und die Sonne in Verlegenheit brachte, sprang das Mädchen ab. »Manka schon«, sie tätschelte die Stute am Hals. »Aber du hättest mal die Klassenkameraden erleben sollen, die waren vielleicht komisch. Als ob sie noch nie ein Pferd gesehen hätten!«
»Das wohl nicht«, antwortete die Mutter. »Du bist ja heute zum ersten Mal hoch zu Ross in die Schule gekommen … und es sind hauptsächlich Stadtkinder, die haben nicht das Glück …«
»… im Grünen unter dem weiten Blau aufzuwachsen, ja, ja. Habt ihr mir die Zeitung aufgehoben?«
»Ja, mein Schatz, wir haben sie für dich in die Küche gelegt. Aber versorge erst das Pferd, lass es auf die Weide. Manka stand lange genug vor deiner Grundschule2 und hat auf dich gewartet. Bestimmt brauchte sie genauso viel Geduld dabei wie du heute beim Stillsitzen in der Klasse! Und denk an deine Schulaufgaben, nicht dass du sie wieder kurz vor dem Schlafen machen musst.« Damit ging Margarete Köstlin-Räntsch zurück ins Innere des Gutshauses.
»Immerhin darf sie schnauben und tänzeln, wann immer sie mag«, moserte Beate. Und dann noch Schulaufgaben! Gut, dass man die Seite aus der Fibel in Druckschrift schnell abschreiben konnte, das mit den fünf Aufgaben rechnen war etwas anderes.
Sie streichelte der Stute über die Nüstern. Warum quietschten eigentlich Mädchen ihres Alters, wenn sie ein Pferd sahen? Manchmal waren ihr die männlichen Klassenkameraden lieber, die hatten das Pferd gemustert, festgestellt, wo vorne und hinten war, es vielleicht mal kurz gestreichelt, sich über die Menge der Pferdeäpfel und deren Brennwert unterhalten und sich dann wieder anderen Dingen zugewendet. Aber die Louise, die hatte sie regelrecht unsanft von den Hufen fernhalten müssen, als ob das ein Holzschaukelpferd wäre! Ein Tritt, und es hätte sich ausgelouiset.
Beate schüttelte ihren Kopf und ging mit dem Pferd um das Gutshaus herum, vorbei an dem Eiskeller und dem Karpfenteich, zu den Stallungen und den Rossgärten direkt neben dem großen Apfelgarten. Die Stute schnaubte, und Beate wusste, dass das ein Ausdruck von Zufriedenheit war. Zufrieden darüber, wieder in vertrauter Umgebung zu sein und die Arbeit für heute beendet zu haben. Beate hatte von ihrem Vater schon eine Menge über Pferde gelernt, zum Beispiel, dass sie nicht durch den Mund atmen konnten und dass man der Pferdenase verschiedene Gefühle ansah: Gerunzelt zeigte sie Unwillen und aufgebläht Nervosität. Am besten von allen Sinnen funktionierte der Geruchssinn. Es gab sogar ein sogenanntes Superschnuppern, das Flehmen, das ein Pferd machte, indem es die Oberlippe über die Zähne hochzog. Es sah aus, als ob das Pferd versuchte, lauthals zu lachen, aber ihr Vater hatte erklärt, dass ein Pferd auf diese Weise aus einer ganzen Geruchswolke feinste Duftnoten unterscheiden konnte, wobei die Hengste damit meist herauszufinden versuchten, ob eine der Stuten gerade rossig war.
»Gleich«, besänftigte Beate die Stute und lief weiter. Neben ihr trottete einer der Hofhunde und hechelte mit heraushängender Zunge. Ihr Zuhause war ein altes Rittergut, das lang gestreckt den Stürmen seiner Zeit trotzte. Zwei Giebel ragten hoch gen Wolken und zeigten der Umgebung, wer hier seit langer Zeit das Sagen hatte. Ihre zehn Jahre ältere Schwester bezeichnete das ganze Anwesen als scheußlich, doch hatte es Charme, auch wenn es ein ganz eigener war. Einer, der an alte Zeiten und alte Geschichten erinnerte. Die Eltern hatten es ja auch nicht der Schönheit wegen gekauft, sondern weil die fruchtbaren Böden eine reiche Ernte versprachen, und sie hatten Glück. Die achtzehnhundert Morgen Land hielten ihr Versprechen. Von verschiedenen Getreidesorten, Rüben bis zu Kartoffeln konnten sie so viel einfahren, dass sie über dreißig Pferde benötigten, um all die Gespanne bewegen zu können. Dazu noch über hundert fette Milchkühe, die so viel Geld mit ihrer Milch erwirtschafteten, dass die laufenden Kosten damit gedeckt werden konnten. Weißes Gold nannten sie sie. Obendrauf erzeugte das Milchvieh ein beruhigendes Muhen, das durch sämtliche Ritzen der Gebäude kroch und an jeder Ecke und Kurve zu hören war, auch über oder unter der Bettdecke. Wenn man Beate damals gefragt hätte, wie sich Landleben anfühlte, dann hätte sie gesagt: wie eine Mischung aus Honigkuchen und tröstendem Muhen.
Sie lief an der Wohnstube vorbei und hörte aus dem geöffneten Fenster ein lautes Knacksen, das anzeigte, dass jemand den Schallplattenspieler angestellt hatte. Ein paar flotte Klaviertakte waren zu hören, bis eine raue Stimme das R rollend sang:
»Mir hat ja die Natur verliehn
die scheensten Beene von Berlin.
Nach meine Beene is ja janz Berlin verrückt,
mit meine Beene hab ick manches Herz jeknickt.
Und zeig ick meine Beene voller Intell’jenz
dann schlag ick aus dem Feld jede Konkurrenz.«
Das konnte nur die Mutter sein, doch bevor sie mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit zusammen mit dem Ehepaar Astaire Stücke aus dem Gershwin-Musical Lady, Be Good anstimmen konnte, war Beate um die Ecke gebogen. Ihre Mutter liebte Musik, die entweder sofort in die Beine ging, sie zum Lachen brachte oder die Büroarbeit vorantrieb.
Beate löste den Sattelgurt und ließ den Sattel geübt auf den rechten Arm rutschen, um an die schweißnasse Stelle frische Luft zu lassen. Mit einem »Bis morgen, mein kleiner Schmisser. Buttschche«, drückte sie der Stute einen Schmatzer auf die Nüstern, entließ sie auf die Weide und schaute hinterher, wie sie Bocksprünge wie eine junge Ziege vollführte. Freude pur über ihre zurückgewonnene Freiheit. So glücklich war Beate auch, wenn sie auf dem Rücken eines Pferdes in den Galopp wechselte. Das fühlte sich fast wie ein bisschen Schwerelosigkeit an. Und das Reiten lag ihr quasi im Blut. Denn bevor sie laufen konnte, hatte sie bereits sicher auf den Rücken der Pferde gesessen. So erzählte das zumindest ihr Vater, auch wenn das nicht so ganz den Tatsachen entsprach. Er übertrieb hin und wieder bei Geschichten, die er vor Bekannten und Nachbarn zum Besten gab, um sich daran zu ergötzen, wenn diese ungläubig staunten. Beate war immerhin schon drei Jahre alt gewesen, als sie in den Sattel der braven Manka gehoben worden war, und konnte natürlich bereits laufen, vorwärts und rückwärts, und besaß einen nicht zu verachtenden Sprachschatz, mit dem sie ihr Umfeld löcherte. Vor allem mit Fragen und vor allem ihre Schwester Elisabeth und ihren Bruder Ulrich, der noch mal zwei Jahre älter war als Elli, es somit auf insgesamt zwölf Jahre Altersunterschied schaffte. Beate war auch die Einzige aus der ganzen Familie, die hier auf dem Gut geboren worden war, sie war somit durch und durch ein Kind Ostpreußens.
Als sie als Kleinkind aufs Pferd gehoben wurde und ihre Mutter einwarf, dass sie das nicht so gut finde, sagte ihr Vater Otto nur: Wer mit Tieren aufwächst, der soll sich auch früh damit vertraut machen. Manka war Vaters Hochzeitsgeschenk gewesen, ein Araber-Trakehner-Schimmel. Ein wunderbar sanftes Tier, das so zärtlich gegen die Handfläche schnaubte, als ob es damit alle Sorgen der Welt wärmen könnte. Die Mutter verwies auf die Hühner und den Jagdhund Schuft, das seien Tiere genug, aber Vater bestand aufs Reiten. Er ritt täglich die Felder ab, um zu kontrollieren, ob seine Angestellten ihre Aufgaben richtig erfüllten, da wollte er seine jüngste Tochter dabeihaben. Zur Gesellschaft, und um sie mit den Pflanzen und der Erde vertraut zu machen. Ihr Vater Otto war Landwirt mit Leib und Seele, genauso wie sein Vater es gewesen war, doch hatte der älteste Bruder den elterlichen Hof in Württemberg geerbt, was auch der Grund dafür gewesen war, dass sie auf Umwegen im weit entfernten Ostpreußen gelandet waren. Vater konnte minutenlang die Erde durch seine Finger zerkrümeln. Das sei das Fundament, die Keimzelle allen Daseins. Die Hälfte davon bestand aus Luft und Wasser, und in der anderen Hälfte mit den mineralischen Anteilen tummelte sich das nackte Leben. In zwei Händen Erde befanden sich mehr Mikroorganismen, als es Menschen auf der ganzen Welt gab. Je feiner man die Erde zwischen den Fingern verreiben konnte, desto fruchtbarer war sie, dabei ging es um die Fähigkeit, Wasser zu binden. Beate liebte die kurzen Vorträge ihres Vaters. Neben seiner Naturverbundenheit und seinen Zuchtversuchen mit den verschiedensten Feldfrüchten war er auch dem Fortschritt zugeneigt und sorgte dafür, dass das Gut neben Elektrizität, fließendem Wasser und einer Spültoilette auch ein Telefon besaß. Ein seltenes Exemplar in freier Wildbahn. Die Nachbarn hatten noch alle Kerzen und Petroleumlampen und kamen zum Telefonieren zu ihnen.
Aber runtergefallen war Beate nicht. Also von Manka. Zumindest hatte der Vater das verneint, und auch die Mutter pflegte zu sagen, dass sie ganz und gar nicht auf den Kopf gefallen sei. Dann musste das ja auch stimmen.
Beate lief an den drei Söhnen der Feldarbeiter vorbei, die sie kurz mit einem »Goden Dag!« begrüßten und fragten, ob sie Kodderball mitspielen wolle. Da sie die Tochter des Chefs war, durfte sie fast immer mitspielen, obwohl sie ein Mädchen war. Konnte sie doch Spielorte ermöglichen, die sonst verboten waren, wie in der Scheune im Stroh herumzutoben. Oder sie konnte Strafen reduzieren, wie zuletzt, als sie Lehmklumpen an die Wand des Stalls geschmissen hatten. Karl, Fritz und Ernst unterbrachen sogar ihren Streit, wer jetzt den Knüppel bekommen solle, um den aus alten Lumpen zusammengenähten Ball auf die anderen schmettern zu können. Aber Beate hatte schon was vor, sie verneinte, eilte weiter zur Küchentür und drückte die Klinke herunter. Ein erdiger Geruch kam ihr entgegen. Kartoffeln kochten in zwei riesigen Töpfen, die auf einem Herd thronten, und aus denen lustig heiße Blubberblasen über den gusseisernen Rand quollen und zeitweise den Duft von Dill, Kardamom und Kümmel verdrängten, der sich sonst dort breitmachte. Zwei Küchenmägde wuselten fleißig herum, verquirlten Mehl mit Milch und Schmand und schnitten Zwiebeln. Die Hauswirtschafterin Frau Romeike rumorte in der Speisekammer und schimpfte: »Welcher Lorbas hat seine Finger nicht von der Wurst lassen können?« Etwas rumpelte, und Beate vermutete, dass sie vom Holzfass den Deckel lüpfte, um nach dem eingesalzenen Fleisch zu schauen, aber heraus kam sie mit einem Arm voller Würste.
Beate zog aus einer der Küchenschubladen eine Schere. Da würde es heute sehr zur Freude der Angestellten Schmandkartoffeln mit frischer Wurst geben. Wenn im Sommer alle da waren, saßen sie zu achtzehnt am Esstisch. Eine Gruppe weiterer Arbeiter hauste im kleinen Dörfchen, das sich ein paar Gehminuten entfernt befand, und kochte ihre eigenen Speisen.
Beate rückte am Tisch einen Stuhl zurecht und breitete die Zeitung vor sich aus.
Mit einem Schnaufen, das den stärksten Zuchtbullen hätte zusammenzucken lassen, blieb Frau Romeike neben ihr stehen. »Gnaschelchen, wat machst du denn da?«
Beate zeigte auf die großen schwarzen Lettern, die auf der ersten Seite den Schriftzug: Königsberger Hartungsche Zeitung3 bildeten. Ihr ausgestreckter Zeigefinger wanderte weiter die verschiedenen Artikel entlang, bis er bei dem Wort Lindy hängen blieb, die einzelnen Buchstaben langsam antippte, sich dann zusammen mit den anderen vier Fingern um die Schere schloss, um den Artikel auszuschneiden.
»Wat schneidest du denn die ganzen lieben Tage lang da rum?« Die rundliche Frau beugte sich über den Tisch, um besser sehen zu können. »Öh … wer ist denn Luc… Lucky Lin… Lindy?«
Das Mädchen lachte. »Aber Frau Romeike, das ist doch der Spitzname der Presse für Charles Lindbergh!«
»Ei, kick dem. Der mit dem Flugzeug?«
»Ja! Eine einmotorige Ryan, die hieß … die hieß Spirit of St. Louis. Und fast hätte er seine Katze mitgenommen! Aber dann hat er sie doch zu Hause gelassen.«
»Sin Katze, na Gott sei Dank ist die nicht ersoffen! On Mäuse hätte es da oben ja auch nich gegeben, oder? Da ist mir ons Kant doch bodenständiger.«
Die Hauswirtschafterin nickte stolz in Richtung Kalender, der neben dem Fenster an der Wand hing. Im Masurenkalender prangten immer mal wieder Zitate des Philosophen Immanuel Kant, wohl dem bekanntesten Sohn Ostpreußens, auch jetzt stand von ihm zu lesen: Große Männer sind wie hohe Kirchentürme – um beide ist viel Wind.4 Leiser fügte Frau Romeike hinzu: »Auch wenn ich sin Bücher nu wirklich nich verstehe.«
Beate ließ sich nicht stören, sie erzählte mit schneller Stimme: »Dreiunddreißig Stunden und zweiunddreißig Minuten hat er gebraucht, stell dir das mal vor. An einem Stück über den riesigen Atlantik!«
»Mhm, man muss auch nich alles versuchen, nur weil man denkt, dass man es kann, Marjell. Du weißt ja, wer viel wagt, der kommt sogar bis nach Allenstein, on wer zu viel …«
»Ja, ja, … wer zu viel wagt, der kommt nach Kortau«, ergänzte Beate. Den Spruch kannte sie in- und auswendig. Auch wenn sie nicht daran glaubte, dass Menschen, die zu viel wagten, automatisch in die Irrenanstalt nach Kortau kamen.
Die Haushälterin sagte besänftigend: »Wat soll öck streiten?«, und stellte ihr frisches Roggenbrot hin, das noch lauwarm war. Eine erwiesene Köstlichkeit, wonach sich alle Kinder hier die Finger abschleckten. Etwas Schmalz oder Butter darauf zerlaufen lassen, und das Festessen war gesichert.
Die Tür öffnete sich, und zwei Knechte kamen herein, blieben in der Ecke stehen, nahmen ihre Mützen ab und drehten sie in den Händen. Während der eine mit dem gelockten schwarzen Haar der jüngeren Küchenmargell schöne Augen machte, schimpfte der andere über die Smorra, und wie viel Arbeit sie gerade gehabt hätten. Beate wusste, dass sie einfach nur das frisch gebackene Brot gerochen hatten und etwas davon abhaben wollten. Von wegen Smorra. Wobei diese eine der ersten Märchenfiguren war, mit denen Beate in Berührung gekommen war. Eine grässlich buckelige verfilzte Gestalt, die die Mähnen der Pferde verknotete und Albträume bescherte. Das Buch, in dem sie als grässliche Hexe mit Zahnfäule abgebildet war, hatte Beate vor Jahren hinter dem Schrank versteckt. Dann waren auch die Albträume verschwunden, die das Bild heraufbeschworen hatte.
Beate betrachtete den ausgeschnittenen Artikel und entzifferte mühsam die Worte, stolperte immer wieder über so manche Länge oder über seltsam aneinandergereihte Buchstabenkombinationen. Sie schob sich das letzte Stückchen Brot in den Mund, wischte sich die fettigen Finger an ihrer Hose ab und sagte kauend zu Frau Romeike: »Weißt du, wenn ich mal groß bin, dann werde ich auch Pilotin5 und fliege über das Meer!«
Lautes Gelächter ertönte von hinten. Die beiden Knechte spuckten dabei Brotkrümel auf den Fußboden, sodass Frau Romeike schimpfte: »Nu beeil di ein bisschen.«
Worauf der Knecht mit den schwarzen Haaren antwortete: »Öck beeil mi schon, awer langsam.« Und zur Küchenhilfe gewandt: »Bis morje.«
Die allerdings nur etwas mit »Glumskopp« zurückzischte.
»Pilotin will die Kleine werden, die ist doch nur ein Mädchen«, hörte Beate die beiden Männer noch draußen lachen. »De es dumm wie Hoawerstroh.« Als die Stimmen so leise geworden waren, dass der Wind die letzten Laute in Fetzen zerriss, hatte sich Beates Herz zusammengeballt und schmerzte. Tränen liefen ihr über die Wangen und hinterließen eine helle Spur in einer feinen Schicht Staub.
Frau Romeike tupfte mit der Küchenschürze über ihr Gesicht und sagte in einem tröstenden Tonfall: »Er kann de Mund nich hole. Nich weine, min Marjellchen.« Je mehr sich die Köchin aufregte, desto mehr verfiel sie ins Ostpreußische, vor allem Schimpfwörter rutschten ihr in der Muttersprache besser aus dem Mund.
Die Haustür rumste laut, und die tiefe Stimme von Beates Vaters dröhnte durchs Haus. Mittagspause. Schnell griff sich Beate den ausgeschnittenen Artikel und rannte in die Arbeitsstube des Vaters, auf den rettenden vertrauten Schoß, den Kopf an der warmen Brust geborgen, die immer angenehm nach Pferd und nasser Erde roch.
Der Vater, Otto Köstlin, tätschelte ihren Kopf. »Was ist denn los, Attei?«
Beate wischte mit dem Handrücken über ihre Augen. »Nichts.«
»Für nichts laufen aber viele Tränen.«
»Papa, warum können Mädchen denn nicht auch Pilotin werden?«
Der Vater kratzte sich über seine glatt rasierten Wangen. »Wer sagt denn so was?«
Beate zog die Nase hoch und zuckte mit den Schultern.
»Mhm … weißt du, mein Schatz, Menschen glauben an Dinge, die sie sich vorstellen können. Und manche können sich leider nur sehr wenig vorstellen. Aber du weißt doch, was deine Mama von Beruf ist?«
»Ja, die ist Ärztin und kümmert sich doch um uns alle hier, gestern hat sie mich erst mit einem Saft zu Jakob geschickt, der mit Fieber im Bett liegt.«
Mit seiner großen rauen Hand streichelte Otto Köstlin dem Mädchen übers Haar. »Ja, und als deine Mama damals jung war, haben alle gesagt, dass Mädchen keine Ärzte werden können, aber darauf hat sie nicht gehört, sie hat sich durchgebissen und wurde die dritte Frau6 in Deutschland, die sich regulär immatrikuliert hat. Dazu war sie die Erste, die überhaupt in Medizin promovierte! Die Allererste! Sie ist mir ein echtes Vorbild mit ihrer Willensstärke.«
Lange schaute Beate in das liebe Gesicht ihres Vaters. »Warum sagen Menschen dann so was?«
»Vielleicht, weil sie es sich selbst nicht zutrauen, aber das ist ja nicht der Maßstab für uns, oder?« Er kitzelte ihr Ohr, sodass sie zusammenzuckte und kichern musste. Er fuhr fort: »Du wirst sehen, wenn du an dich selbst glaubst, dann kannst du alles schaffen, so, wie Mama Ärztin wurde …«
»Und du dir diesen Hof geholt hast«, ergänzte eine vertraute Stimme von hinten. Die Mutter war dazugekommen und küsste ihren Mann auf den Mund, die Tochter auf das Köpfchen. »Weißt du, Beate, weil Papas ältester Bruder den Hof zu Hause geerbt hat, sagten alle, es lohne sich nicht, Landwirtschaft zu studieren. Aber dein Vater glaubte an seinen Traum, pachtete erst einen fremden Hof, bis wir Wargenau kauften. Und jetzt bekommt er Auszeichnungen für seine neuen Züchtungen wie die Köstlin’sche Rotgranige Sommergerste, und uns geht es gut.«
»Richtig gut«, sagte der Vater und zog seine Frau in eine Umarmung. Er strich kurz über die fingerlange Bernsteinbrosche, die er seiner Frau erst vor Kurzem geschenkt hatte und die diese seitlich an ihrer Bluse trug. Das Gold des Meeres, hatte er damals gesagt. Tränen aus längst vergangener Erdenzeit, uns zurückgegeben, um das Leben in seinem ganzen Zauber zu schätzen, so wie man Frauen als Schöpfer des Lebens ehren sollte. Beate vermutete, dass ihre Mutter das Schmuckstück sogar beim Schlafen trug.
»Mama, was ist prom… probomiert?«
Margarete antwortete: »Promoviert. Das ist, wenn man seinen Doktor erhält. Ich besuchte ja in vier Städten Vorlesungen, aber in Würzburg habe ich dann meine Doktorarbeit geschrieben. Über das Glätten von Kleiderstoffen. Mein Professor dort, Herr Lehmann, hat mich mit verschiedenen Materialien experimentieren lassen …« Sie machte eine kurze Pause. »Und später arbeitete ich in Kiel als Kinderärztin.«
Der Vater fuhr fort: »Drei gesunde Kinder, und meine Frau ist Ärztin, was kann mir da schon passieren?« Er drückte Beate fest an sich, wobei der Zeitungsausschnitt zu Boden fiel. Otto hob ihn auf und grinste. »Weißt du, Attei, gerade dein Lindbergh, der jetzt überall als Held gefeiert wird und zu dem sich die Presse vor Lob überschlägt, über den wurde vorher gelacht. Die verspotteten ihn richtig. Aber auch er hat sich nicht unterkriegen lassen. Und jetzt schau ihn dir an. Kein anderer Mensch wird gerade so gefeiert wie er.«
»Papachen, ich weiß, was mir gute Laune geben wird.«
»So?«
»Nimm mich mit auf den nächsten Pferdemarkt, nicht?«
Und mit einem Brummton unterlegt, nickte der große bärige Mann und legte seiner Tochter die Hand auf die Schulter. Ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit durchströmte den kleinen Körper, und sie wusste, dass alles gut war und immer sein würde. So sicher wie die Sonne morgens aufging und der Mond sich den Nachthimmel mit den Sternen teilte.
»Was will ich? Fragt der Verstand.
Worauf kommt es an? Fragt die Urteilskraft.
Was kommt heraus? Fragt die Vernunft.«
Immanuel Kant
Summen und Surren
Passend zum Beginn des Sommers7, wenn das ganze Land nur noch aus einem arbeitsamen Summen und Surren zu bestehen schien, waren neue Laute zu den Hofgeräuschen hinzugekommen: das Brummen, Rattern und Schnurren von kleinen, leichten Flugzeugen. Zwei Piloten hatten dem Vater die Erlaubnis abgerungen, das brachliegende Stoppelfeld als Start- und Landebahn für ihre beiden Flieger benutzen zu dürfen. Zumindest für einige Wochen, zogen sie doch durchs Land und verdienten ihr Geld damit, der umliegenden Dorfbevölkerung die luxuriöse Abwechslung anzubieten, einen Flug über die vertrauten Bäche und Berge zu machen und dabei auf ihr eigenes Hausdach spucken zu können. Wer tiefer in die Tasche griff, flog nicht nur bis nach Cranz, sondern entlang der Kurischen Nehrung. Ein dünner, langer Schlangenkörper, der das Haff von der Ostsee abtrennte. Eine gelbliche Linie zwischen zwei Blautönen. Der schmale Landstrich beherbergte neben Waldstücken, in denen sich Elche und Rothirsche versteckten, die größte Wanderdüne weit und breit. Sie sah aus wie eine kleine Wüste, die von beiden Seiten bewässert wurde. Behäbige Kurenkähne zogen dort mit ihren langen, schmalen Segeln ihre Bahnen, um mit reicher Fischbeute in die winzigen Dörfer zurückzukehren.
Aus der Luft konnte man unzählige Vogelschwärme beobachten, die sich auf dem windgeschützten Brackwasser zwischen all den kleinen grünen Inseln niederließen und Unruhe in den Wohlklang aus Frieden und Licht brachten. Der Artenreichtum zog nicht nur eine Vogelwarte an, sondern das verträumte Glitzerspiel mit den warmen Farben lockte auch etliche Dichter und Maler in die Gegend. Frau Romeike hatte Beate die Legende erzählt, wie die Riesin Neringa die Nehrung aus Sand aufgeworfen hatte, um sich vor dem eifersüchtigen Wellengott zu schützen. Sie soll so blondes Haar wie Beate gehabt und stets den Fischern geholfen haben.
Es gab aber auch andere Routen. Wenn die Fluggäste über dem Land bleiben wollten, konnte man über Rudau bis nach Königsberg fliegen, zu der Stelle, wo die Pregel in die Ostsee mündete, die sich als blaues Band weit hinein ins Land zog. Königsberg war eine alte Siedlung der Preußen. Derjenigen, die sich dieses Land zuerst untertan gemacht und Handel mit den Wikingern und deutschen Kaufleuten betrieben hatten. Später erblühte die Stadt zur Provinzhauptstadt Ostpreußens und führte mit einer direkten Zugverbindung nach Berlin nicht nur Frischluftsuchende in die Weite, sondern lockte auch mit ihrer Universität. Als dritte Strecke konnte der Passagier beides verbinden. Einmal an der Küste entlang von Cranz bis nach Königsberg. Von oben sah dieser Küstenabschnitt aus wie ein Quader, der ins Meer hineinragte, mit unendlichen Sandstränden und Wäldern, die stellenweise bis direkt ans Wasser reichten, als ob die Bäume ihre Wurzeln zum Trinken direkt hineinstrecken wollten. Schroffe Felsen boten Brutplätze für krächzende Möwen, und kleine Städte verbanden sich mit baumfreien Schneisen, um sich gegenseitig besuchen zu können. Vorbei an der Bernsteinhochburg Palmnicken, die Gegend, wo Kinder mit Hosentaschen voll dem honiggelben Gold von Strandausflügen zurückkehrten, und vorbei an Pillau mit seiner Festung und der zweiten Nehrung, der Frische Nehrung, die sich in die andere Richtung wie eine Vogelschwinge ausstreckte und das Frische Haff von der Ostsee trennte. Doch munkelte man, dass die Fische hier nicht so frisch waren wie die aus dem anderen Haff, trotz des Namens.
Vor den Augen Beates rollte sich etwas gänzlich Neues aus. Es versprach Abenteuer und schmeckte nach Leichtigkeit, nach etwas Unmöglichem. Menschen, die den Gesetzen der Schwerkraft trotzten und den Vögeln Konkurrenz machten. Direkt hier, auf dem Gutshof Wargenau, ihrem Zuhause. Die beiden Fremden waren zwar nicht Lindy und hatten nicht dieses heldenhafte Profil, aber sie scherzten gerne und behandelten sie nicht wie ein frisch geschlüpftes, dummes Küken, sondern gingen auf ihre neugierigen Fragen geduldig ein. Auch wenn sie zum dritten Mal wissen wollte, wie so ein kleiner Motor so einen großen Flugapparat in der Luft halten konnte oder was die englischen Begriffe bedeuteten, die ständig fielen. Englisch, das war Beate bald bewusst, war die Sprache der Flieger, die Sprache der Freiheit.
Während ihre Spielkameraden die letzten grau-grün gesprenkelten Kräheneier aus den Nestern holten, die als Delikatesse geachtet wurden, übernahm Beate die persönliche Betreuung der Piloten, vor allem die Versorgung mit Getränken und Essen aus der Küche. Als Dank durfte sie immer mitfliegen, wenn ein Platz in der Maschine frei war. Vier Personen passten pro Flieger hinein, minus dem Piloten, somit war Beate ein Dauerbegleiter für Paare, die hinten zusammensaßen, die Hände ineinander verschränkt, sich schüchterne Küsse stahlen, verzückt über die ameisengroßen Gestalten sprachen und sich gegenseitig die bunten Feldstücke zeigten, die wie aus farbigen Resten gestrickte Teppiche aussahen. Und Beate war in der Luft. Zwischen den Wolken, spürte das Vibrieren der Leichtflugzeuge bis zu den Haarspitzen, genoss das Kribbeln im Bauch, wenn durch das Können des Piloten die metallene Hülle vom festen Untergrund abließ und sich erhob. Genoss es, wenn sie durch Luftlöcher flogen und die Maschine kurz herabsackte, als würde sie fallen, um kurz darauf aufgefangen und mit sicherer Hand weitergesteuert zu werden. Aber am meisten Spaß machte es ihr, wenn sie sich in Kurven legten und mit einem lauten Brummen fast so kunstvolle Luftschwünge unternahmen wie die Möwen und Turmfalken, die sie erstaunt anblickten, wenn sie aufgescheucht und aufgeschreckt von dannen eilten. Weg von dem silbernen Himmelskonkurrenten. Der Himmel erschien endlos, und die Piloten zeigten, dass man alles erreichen konnte, wahrscheinlich sogar die Sonne.
Am Abend war Beate zwar müde, aber zu viele Dinge gingen ihr durch den Kopf, sodass sie nicht zur Ruhe kam. Da konnten ihre Eltern sie noch so oft auf ihr Zimmer schicken, manchmal klappte das halt einfach nicht.
»Du kannst nicht schlafen?« Beates Bruder Ulrich fasste sie an der Hand und zog sie aus der Wohnstube, in der die Eltern mit einem Gast lautstark über die gestiegenen Preise von Saatgut diskutierten, nach oben ins Kinderzimmer. Draußen schien der Mond und tauchte das Bett, den Schreibtisch nebst Stuhl, das Regal voller Bücher und Spielsachen in ein milchig bläuliches Hell.
»Ikarus!«, sagte Beate und legte sich ins Bett.
»Schon wieder, kleine Schwester? So langsam kennst du die Geschichte doch schon besser als ich! Sag mal, die Eltern erzählen, dass du von der Wäscheleine ein Hemd stibitzt hast, um dich wie Tarzan an den Alleebäumen entlangzuschwingen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Hat geklappt.«
Der große Bruder lachte leise vor sich hin und zog den Stuhl näher heran. »Ich hab eine neue Geschichte von dem Wassermann, vom Dobnik. Der mit der roten Jacke und Hose und dem grünen algenfeuchten Vollbart, wie er die unschuldigen …«
»Aber nee!« Die Kleine hörte sich so trotzig an, dass ihr Bruder theatralisch seufzte und anfing: »Daedalus wollte fliehen, aber wie sollte er es anstellen? Er …«
»Nein, nein, nein, du musst schon von vorne anfangen.«
Jetzt klang das Seufzen von Ulrich echt. »Puuh, in Ordnung. Es gab bei den alten Griechen eine fürchterliche Bestie, den Minotaurus, der sah aus wie ein riesiger Mensch mit einem Stierkopf. Aus seinen Nüstern quoll Feuer, und sein Brüllen war so durchdringend, dass die Kühe saure Milch gaben und die Singvögel ihren Gesang vergaßen und nur noch krächzten. Außerdem legten die Hühner keine Eier mehr und die Ernte …«
»Nee, oder?« Beate legte den Kopf schief.
»Erzähle ich die Geschichte oder du? Also, um ihn einzusperren, ließ der König Minos den geschicktesten Erfinder und Handwerker im ganzen Reich kommen …«
»Daedalus und seinen Sohn Ikarus«, unterbrach ihn Beate.
»Genau. Die beiden bauten ein Labyrinth, in das der Minotaurus reingesteckt wurde. Aber statt der königlichen Belohnung wurden Vater und Sohn selbst in das Labyrinth bugsiert, damit sie nicht verraten konnten, wo der Ausgang war.8 Sollten sie es wagen zu fliehen, würden die Häscher des Königs sie finden und erdolchen.« Der Bruder schmunzelte kurz über Beates empörtes Gesicht und fuhr fort: »Aber Daedalus ließ sich das nicht gefallen. Zuerst wurde er knallrot im Gesicht, bekam keine Luft vor lauter Ärger, genauso wie du, liebstes Schwesterlein, er stampfte mit dem Fuß auf und kniff die Augen zusammen und …«
Beate beugte sich aus dem Bett und zwackte ihren Bruder ins Bein.
»Ist ja schon gut. Also. Nachdem er wieder schnaufen konnte, ohne dass sein Kopf explodierte, trat er ans Ende des Labyrinths und schaute in die Luft. Fliegen müsste man können, fliegen, um das Land zu verlassen, dachte er. Und da er nicht umsonst der bekannteste, berühmteste und begabteste Erfinder seiner Zeit war, hatte er eine Idee.« Er machte eine kleine Pause und grinste. »Weißt du, Beate, über diese Stelle habe ich lange nachgedacht. Ich glaube, dass ihm einfach ein Vogel auf den Kopf gekackt hat, genauso wie das letzte Woche Elli passiert ist!«
Beate musste lachen. »Das wär’s. Aber erzähl weiter, jetzt kommt meine Lieblingsstelle.«
»Er sammelte alle Federn ein, derer er habhaft werden konnte, schickte Ikarus los, Nester zu plündern. Sie holten mit Schleudern die Vögel vom Himmel, was ganz praktisch war, da sie ja auch was essen mussten, oder? Und Daedalus konstruierte vier prächtige Flügelarme, so hoch wie Mamas Stute, wenn sie steigt, und so strahlend wie deine Augen, wenn es Süßigkeiten gibt. Er ordnete die Federn so an wie bei echten Flügeln, von klein bis groß, nahm Schnüre, um sie zu befestigen, und Wachs, damit die Schafte zusammenhielten. Als er die Flügel anlegte und seine Arme ausbreitete, sie hin und her bewegte, löste er einen richtigen Sturm bei den Kleinviechern aus, die auf dem Boden krabbelten.«
»Kleinviechern?«
»Ja, halt Ameisen und so. Und Daedalus hob ab, er schwebte über dem Boden und wusste, dass er es geschafft hatte. Vorerst zumindest. Er sagte zu Ikarus: ›Pass auf, mein Sohn, auf die Winde, Orkane, Vögel, die kacken, und vor allem auf die Sonne. Du weißt, dass die Federn nur mit Wachs am Schaft zusammengehalten werden, und wenn du der Sonne zu nahe kommst, dann schmilzt das. Dann sind die Flügel futsch. Bitte pass auf!‹ Und sie hoben ab. Bald hatten sie es raus und konnten zwischen den Wolken Purzelbäume schlagen, den Möwen hinterherjagen, und als sie über das Meer flogen, ließen sie sich fallen wie schwere Gewehrkugeln, um ihre Nase kurz ins Wasser zu tunken und dann wieder die Flügel nach oben zu reißen und wie ein Drache aufzusteigen. So muss sich Freiheit anfühlen. Unendliche Freiheit, Attei. Blaues Wasser unter dir und blauer Himmel um dich rum. Du kannst überall hinfliegen, wo du willst, und Ikarus … tja, das war so, als ob die Eltern dir etwas verbieten. Du machst es trotzdem. Ikarus wurde übermütig, dachte, er wäre der Chef, und flog höher und höher und immer weiter, bis das Wachs an seinen Flügeln schmolz und er abstürzte. Als Daedalus ihn fand, hatte ihn das Meer bereits an den Strand einer Insel gespült. Tot.«
Beate schwieg, schüttelte den Kopf.
»Was denn?«
»Wie kann man so doof sein und der Sonne so nah kommen? Das merkt man doch, wenn es heiß wird. Blöd, oder? Ich hätte das anders gemacht.«
»Ich weiß, kleine Schwester.« Ulrich strich ihr über den Kopf, wünschte eine gute Nacht und ging leise zur Zimmertür hinaus. Dort blieb er stehen und schaute zu, wie ihr die Äuglein zufielen und ein gleichmäßiges Atmen davon zeugte, dass sie eingeschlafen war. Er lächelte und zog die Tür zu.
Am nächsten Tag kam Beates Schwester Elisabeth zu Besuch. Sie machte eine Ausbildung zur Erzieherin in Berlin und ließ sich, wenn es ihr zeitlich möglich war, an den Wochenenden gerne bekochen und mit frischer Wäsche ausstaffieren. Während die Eltern auf dem Hof unterwegs waren, schnappte sie sich Beate. »Weißt du, was ich die Woche gelernt habe?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, stellte sie einen kleinen Korb ab, aus dem ihre alten Puppen herausschauten. »Bitte schön. Mädchen sollen mit Puppen spielen. Ich weiß ja nicht, warum das Mutter durchgehen lässt, dass du das so gar nicht machen willst. Mit deinem Teddybären kannst du schließlich nicht üben, wie man ein Baby schaukelt oder es richtig auf dem Arm hält. Na ja, jetzt bin ich ja da.«
»Du bist dümmer als das hinterste Ende vom Ferkel, das rennt immerhin noch dem vorderen Teil nach.« Beate schaute sie an, als ob ihr ein Geweih auf dem Kopf wachsen würde. Am liebsten würde sie ihr den stets angriffslustigen Ganter vom Teich auf den Hals schicken.
»Hä?« Elli schob ihre kleine Schwester ins Badezimmer, schubste den Korb hinterher und schloss von außen ab. »Du bleibst jetzt so lange da drin, bis du eine Puppenmutter geworden bist, ja!«
Beate wusste, dass lautes Rufen nichts bringen würde. Sie musterte die beigefarbenen Kacheln, den halb blinden Spiegel über dem Waschbecken, in dem sie das Augenzukneifen geübt hatte. Die Küche war zu weit entfernt, und alle anderen befanden sich bei den Ställen oder für Feldarbeiten auf den Schlägen. Wenn ihre Schwester wollte, dass sie mit ihren Puppen spielte, um das Muttersein zu üben, dann bitte.
Eine halbe Stunde später kam Elli zurück, mit einem Buch unter dem Arm, klopfte gegen die Tür und rief: »Und? Hast du mit den Puppen gespielt?«
»Ja.«
»Wirklich?« Ungläubig öffnete die große Schwester die Tür, für den Bruchteil mehrerer Sekunden herrschte eine Stille, die Beate nutzte, sich an ihr vorbeizudrängeln und im Freien zu verschwinden. Dann durchbrach ein markerschütternder Schrei den vermeintlichen Frieden. Die Puppen saßen ordentlich am Rand der Badewanne. Mit kurz geschnittenen Haaren oder kopflos. Nur eine steckte im Klo und streckte ihren Plastikpo in die Luft. Von draußen drang Beates Gesang »Alle meine Entchen schwimmen in der See, schwimmen in der See, Köpfchen in das Wasser, Hintern in die Höh« herein.
»Was? Ihr lasst ihr das durchgehen?« Elisabeths Stimme überschlug sich, als sie in der Wohnstube mit ihren Eltern diskutierte. »Das ist doch gestört. Das ist doch nicht mehr normal! Die ist nicht ganz dicht!«
Der Vater musste ein Schmunzeln unterdrücken und bekam von der Mutter einen strengen Blick zugeworfen. Sie sagte: »Weißt du, Schatz, du kannst doch keinen zwingen, mit etwas zu spielen, worauf er keine Lust hat! Sie wird für den Schaden aufkommen, aber du kannst nicht verlangen, dass wir sie bestrafen.«
»Sie hat meine Puppe geköpft, das ist krank!«
»Mein Schatz, jemanden einzusperren, damit er das tut, was du willst, ist weniger krank?«
In den nächsten Wochen kam die Schwester etwas spärlicher zu Besuch.
Die Piloten waren weitergezogen und hatten nicht nur ihre Flugzeuge, sondern auch ein Stück von Beates Herz mitgenommen. Beate brütete nun über einem Plan, der so langsam Gestalt annahm. Sie stand in der Küche neben dem Herd, atmete den Duft von in Butter angedünsteten Zwiebeln und Speck ein und schaute Frau Romeike zu, wie sie zwei große eingefettete gusseiserne Auflaufformen mit Teig auslegte, um danach abwechselnd die Zwiebelmasse und gehobelten Käse darin zu verteilen. Der Magen des Mädchens meldete sich mit einem Knurren. Das roch ja jetzt schon herrlich.
»Gnaschelchen, hast du schon Hunger?« Frau Romeike schenkte ihr ein Lächeln, wobei die Falten um ihre Augen Polka tanzten.
Beate sagte: »Nein, das ist es nicht. Frau Romeike, kannst du für mich Federn aufheben? Bitte!«
Die Köchin schaute sie musternd an. »Ich hab Madamchen gehört …« Mit Madamchen meinten die Dienstmädchen und Angestellten Beates Mutter. »Du hast wirklich die Haare von den schönen Puppen abgeschnitten?« Sie schüttelte den Kopf, was in ein Nicken überging. »Ja, wenn öck das nächste Mal die Ente oder Hehn rupfe, hebe ich dir was auf. Ich werde zum Wochenende wohl mal wieder Brade moake.«
Beate bedankte sich höflich mit einem Knicks, ihre Eltern legten auf gute Manieren viel wert, auch wenn sie mit Lederhosen draußen rumrennen durfte und mit den Jungs Ball kickte, als wäre sie selber einer. Das mit den Lederhosen war auch eine Frage der Wirtschaftlichkeit. Wenn man jeden Tag kaputte Strümpfe und zerrissene Röcke hatte, musste halt eine andere Lösung her. Mit Wirtschaftlichkeit waren ihre Eltern immer einzufangen.
Sie lief weiter zum Stellmacher des Hofes. »Ich bräuchte einen Hammer und ein paar Nägel und Leim. Könnte ich vielleicht das von dir bekommen, bitte?« Dabei blickte sie so lieb, als ob es einen gefüllten Honigkuchen geben würde.
»Marjellchen, für wat brauchst du denn den ganzen Kroam?«, fragte er zurück.
»Ich will mir was bauen.«
»Mhm, öck helf dir, ja? Sonst muss öck deinen Eltern erklären, warum du nur noch nein von tiee Fingere hast.«
Zwei Wochen später war es geschafft: Beate hatte eine Zeichnung gemacht, nach der sie zusammen mit dem Stellmacher zwei Flügel9 konstruiert hatte. Zwei Flügel, so schön wie die von Daedalus, nur ohne Wachs. Sie hatten richtige Schlaufen für die Arme und Griffe für die Hände. Das Gerüst bestand aus Peddigrohr aus der Rattanpalme, aus dem sonst Körbe oder geflochtene Möbel hergestellt wurden. Drachenpapier wurde darauf gespannt und mit den von Beate gesammelten Federn versehen.
Der Stellmacher hatte ihr bei dem gemeinsamen Hämmern und Kleben stolz erzählt, dass auf der Kurischen Nehrung ein Verwandter von ihm den Segelflugsport eingeführt habe. Der Ferdinand Schulz10 komme zwar aus dem Ermland, aber es gebe halt kein besseres Fleckchen Erde für frische Luft als hier.
Als Beate die Flügel anlegte und damit hin und her wedelte, entfachte sie einen kleinen Orkan, vielleicht eher ein klitzekleines Orkänchen, aber der Staub wurde aufgewirbelt, und ein Marienkäfer, der sich im Anflug auf eine Blume vor Beates Füßen befand, wurde ordentlich aus der Bahn gefegt. Das Mädchen stand auf dem Hof, lauschte dem Topfgeklapper, das aus der Küche drang, und schaute am Haus entlang. Sie brauchte etwas zum Runterspringen. Ihr Blick schweifte zum Vordach der Küche. Mhm, dachte sie, um kurz darauf das Fenster darüber zu öffnen. Vorsichtig ließ sie die beiden Flügel auf das Dach gleiten, kletterte hinterdrein, zog sich die Federgebilde über, schielte über die Kante, schluckte, schloss die Augen bis auf einen schmalen Schlitz, fing an, die Arme auf und ab zu bewegen, und sprang. Es dauerte vielleicht gerade einmal zwei Augenblicke, da stand sie schon wieder unten. Wie sie es beim Sprung vom Pferderücken gelernt hatte, stand sie abgefedert mit gebeugten Knien da, nur ein paar der Federn waren geknickt.
»Das war so was von nichts«, sagte sie schmollend zu sich selbst und machte sich auf zur nächsthöheren Absprungmöglichkeit.
Über der Veranda war ein Balkon. Darunter ein umgepflügtes Gartenbeet. Als sie dort stand, mit ihrer Federpracht, verließ sie der Mut. Das war ziemlich hoch. Mindestens fünf große Schritte. Sie hatte zwar schon etliche Mutproben hinter sich, wie von einer hochschwingenden Schaukel oder von einer der oberen Sprossen einer Leiter abzuspringen, aber das hier? Die Stimme ihres Bruders kam ihr in den Sinn: So muss sich Freiheit anfühlen. Unendliche Freiheit. Und sie konzentrierte sich. Auf drei Punkte kommt es an, dachte sie: anfangen zu wedeln, abspringen, schneller wedeln. Sie stellte sich an den Rand der Brüstung, spuckte hinunter, schloss die Augen diesmal komplett und dachte: eins. Sie wedelte. Dann: zwei … Und bis sie drei denken konnte, war sie bereits aufgekommen. Mit einem lauten Schmerzensschrei, der nicht nur die Mutter und zwei Handvoll der Angestellten auf den Plan rief, sondern auch das Lachen ihres Bruders sowie einen verstauchten Fuß nebst Bänderzerrung und Prellungen. Immerhin musste sie dann nicht in Mathe und wurde mit Honigkuchen aus der Küche getröstet. Gefüllter Honigkuchen und frisch gebackene Purzelchen. Auf Frau Romeike war Verlass. Und Beate hatte Glück, keiner schimpfte so richtig mit ihr.
»Was hast du dir denn nur dabei gedacht, Attei?«, wollte Beates Mutter ungeduldig wissen, als sie feuchte Wickel um ihre Fußgelenke legte.
»Ich wollte fliegen. Nur fliegen, Mama. Ich hab doch kein Flugzeug mehr hier. Und der Sonne wäre ich nicht zu nah gekommen! Ich pass auf, versprochen.«
Margarete klemmte ihre Haare hinter die Ohren, holte eins ihrer Medizinbücher zum Bett und schaute sich zusammen mit ihrer Tochter den zerbrechlichen Aufbau des Sprunggelenks an, um weitere solcher Unternehmungen im Keime zu ersticken.
Als die Mutter draußen vor der Kinderzimmertür stand, lehnte sie sich an die Wand. Die große, starke Hand Ottos streichelte ihre Wange. »Sie wird es nicht mehr tun. Nicht nach dem Verbot. Auch wenn sie uns das Versprechen abgerungen hat, fliegen zu dürfen, wenn sie älter ist … Du bist so schweigsam. Was denkst du, Madamchen?«
»Ich denke, wir sollten uns überlege, auf welche weiterführende Schule wir Beate schicken wollen. Das Kind kommt aus Langeweile ja auf die abstrusesten Ideen.«11
»O Welt, vor deinem hässlichen Schlund
Wird guter Wille selbst zunichte.
Scheint das Licht auf einen schwarzen Grund,
So sieht man nichts mehr von dem Lichte.«
Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)
Die Schule am Meer
Es war ein zusammengewürfelter Haufen von einfachen länglichen und zweistöckigen Häusern, die sich den Platz zwischen den Dünen streitig machten. Kein Wunder, dass sie um jeden Meter Land zankten, war die Insel hier doch höchstens achthundert oder siebenhundert Meter breit, vielleicht sogar noch weniger. Beate und ihre Mutter waren vor über einer halben Stunde von dem Fähranleger des Dorfes Juist losgelaufen. Das Tosen des Meeres, das lauter und leiser werdende Rauschen hüllte jeden ihrer Schritte ein. Schweißperlen standen ihnen auf der Stirn, bis sie nahe genug waren, um das Licht in den Fensterscheiben der Schulgebäude glitzern zu sehen. In der Mitte des sandigen Landstreifens bildeten vier große Häuser einen Innenhof, sie formten quasi das Herz des Schulgeländes. Den Kern. Um dahin zu gelangen, mussten die beiden noch an zwei Häusern und zwei kleinen Schuppen vorbei, zwischen denen sich einige Kinder tummelten.
»Was ist das denn?« Beate ließ ihren kleinen Reisekoffer sinken und zeigte auf ein wuchtiges Gebäude, das nördlich zwischen den Dünen und dem Hauptkomplex stand. Es war über drei Stockwerke hoch, hatte ein flaches Dach und sah mehr aus wie ein Quader denn wie ein Haus. Prägnant waren die drei Reihen Fenster, die sich nur auf der linken Hälfte befanden. Ganz unten winzige quadratische Fenster, darüber riesige längliche, durch die selbst ein Titan hätten schauen können, und darüber eine Reihe, die halb so groß waren. Grimmig starrten sie über die Dünen auf die weißen Schaumkronen der Wellen. Das Ganze war so klotzig, dass es nicht einmal ein Sturm hätte wegpusten können.
Von einem der Gebäude löste sich eine Gestalt und kam mit schnellen Schritten auf sie zu.
Die Mutter sagte: »Keine Ahnung, aber ich bin mir sicher, das werden wir gleich erfahren. Mhm … gibt es hier keine Bäume, oder täusche ich mich?«
Zu Recht konnte man die Insel als karg bezeichnen. Um Bäume zu finden, musste man diese suchen gehen. Dafür gab es jede Menge Möwen, die sich krächzend vom Aufwind in die Luft reißen ließen. Innerhalb von Sekunden befanden sie sich direkt über der Nordsee, schlugen mit den Flügeln, um sich dann ins Blaue zu stürzen. Beate fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schmeckte das Salz darauf. So frisch. Ein Stück draußen auf der See sah man das Weiß von mehreren Segeln aufblitzen. Diese Weite. Die Jollenkreuzer trotzten den weltlichen Bedingungen der Erdanziehungskraft und flogen scheinbar so frei wie die Vögel über ihnen.
Es war ein Junge, der ihnen entgegengelaufen kam. Seine braunen Haare hingen ihm ohrenlang zottelig um den Kopf, und seine Sommersprossen hüpften auf der Nase fröhlich auf und ab. »Herzlich willkommen in der Schule am Meer.12 Herr Luserke schickt mich, euch abzuholen.« Unverhohlen musterte er Beate. »Interessierst du dich fürs Segeln? Ja? Dann bist du hier genau richtig. Ich bin übrigens Peter.«
Beate zog ihre Schultern hoch. Sie war sich noch nicht ganz sicher, ob sie sich fürs Segeln interessierte. Abitur sollte sie machen. Nur so stünden ihr die meisten Türen zu Studium und Beruf offen. Dabei wusste sie eigentlich ja schon, was sie werden wollte, und dafür bräuchte sie gar kein Abi. Anstelle von diesem Landerziehungsheim hätte sie in Königsberg auf ein Gymnasium gehen können, aber dort wäre sie alleine bei irgendeiner Pensionswirtin untergebracht worden. Da kam diese Schule mit den reformpädagogischen Ansätzen und dem Zusammenleben in Kameradschaft gerade recht. Das meinte zumindest ihre Mutter. Das am Ganzheitlichen Orientierte sei das Liberalste, was das Schulwesen im deutschsprachigen Raum zu bieten habe. In einem Prospekt über die Schule hatte Margarete mit einem Bleistift Kreuze gemacht, eines davon an der Stelle, wo man Schüler mit einem Lehrer vor mehreren gläsernen Kästen voller Wasser und Fische sehen konnte und Biologiestunde im Aquarium der Schule stand. Unter einem anderen Bild, das ein Schulorchester auf einer Bühne zeigte, prangte Eine Kantate, die im Schulleben entstand, wird im Hallenbau aufgeführt. Ihre Mutter hatte dem Vater begeistert erzählt, dass die musikalische Leitung der Schule in Händen des Komponisten und Musikers Eduard Zuckmayer liege, dem älteren Bruder des Schriftstellers Carl Zuckmayer, der gerade mit seinem Drama Der Hauptmann von Köpenick deutschlandweit in den Theatern für Aufsehen und Gelächter sorgte. Der ehemalige Konzertpianist setzte in der Schule Ideen der Jugendmusikbewegung um. Es hieß, dass ein Volk, das musiziere, der Nährboden für eine künftige Musikkultur sei. Und wo fing man da am besten an? Natürlich bei der Jugend. Das Konzept kam so gut an, dass hier sogar Jugendliche aus dem Ausland angespült wurden.
Peter nahm Beates Mutter den Koffer ab und sagte: »Komm, ich führ euch kurz rum, und dann sollt ihr zum Chef ins Diesseits kommen.«
»Diesseits?«, wiederholte Beate und beeilte sich, sich dem schnellen Schritt des Jungen anzupassen.
»Genau.« Peter zeigte auf die vier Häuser, die den Innenhof bildeten. »Rechts ist das Diesseits, dort wohnt das Lehrerpaar Aeschlimann. Aber noch wichtiger ist der Speisesaal dort. Stell dich gleich mit Frau Franke gut, die ist hier die wichtigste Person.«
»Warum denn?«, fragte die Mutter lächelnd.
»Sie ist die Wirtschaftsleiterin und hat das Sagen über Wurst und Schokolade.«
Beate kicherte und beschloss, dass sie Peter schon mal leiden konnte. Immerhin bereits einen. Der Kloß, der sich seit der Abfahrt von zu Hause in ihrem Hals festgesetzt hatte, drückte doch mächtig. »Gibt es hier auch Pferde?«, fragte sie.
»Da hast du Glück, schau mal.« Peter zeigte nach links in Richtung Watt. Man konnte etwas weiter entfernt ein Pferd erkennen, das einen Karren hinter sich herzog, auf dem ein paar Gestalten saßen und standen. »Wir haben hier verschiedene Arbeitsdienste. Die dort beliefern unsere Aquarien mit Frischwasser und Futter, dafür braucht es auch ein paar Pferdestärken. Warum fragst du?«