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Sein E-Book

Adyashanti

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Beschreibung

Warum wünschen wir uns Erleuchtung? Und wie kommt es eigentlich dazu? Wieso verliert man diesen glücklichen Zustand, sobald man wieder ins Alltägliche zurückkehrt? Oder was passiert mit einem, wenn man sogar in der Erleuchtung "steckenbleibt"? Adyashanti gibt vor dem Hintergrund seiner langjährigen Erfahrung als spiritueller Lehrer genaue Anleitungen, wie man den Pfad in die eigene Tiefe sicher gehen kann und weist auf typische Fallstricke hin. Er motiviert, immer wieder über sein kleines Ego hinauszugehen und hineinzuwachsen in die Welt der Ungetrenntheit. Viele spirituelle Sucher sind seither in Adyashantis Umfeld zu ihrem wahren Wesen erwacht. In seinen Vorträgen und Retreats lehrt er in einer Weise, die man mit den großen Meistern des Zen und des Advaita-Vedanta vergleicht. Er selbst sagt jedoch: "Wenn ihr meine Worte durch die Brille irgendeiner Tradition oder eines '-ismus' versteht, bekommt ihr nicht mit, was ich eigentlich sage. Die befreiende Wahrheit steht nicht ein für allemal fest, sie ist lebendig."

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Adyashanti

Sein

Die wahre Natur der Erleuchtung

Aus dem Englischen von Jochen Lehner

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungVorwort1. KapitelZeit des ErwachensDauerhaftes und vorübergehendes ErwachenDas Erwachen ist nicht das, wofür du es hältstWie ändert sich das Leben nach dem Erwachen?Sind wir bereit, alles in Frage zu stellen?2. KapitelEchtes Erwachen erkennt man daran, dass es die Suche beendetFlitterwochenOrientierungslosigkeit nach dem Erwachen3. Kapitel»Ich bin wach, aber …«Nach dem Erwachen geht es um mehrDie Durchsetzungskraft unserer KonditionierungDie richtige Frage stellenFixierung auf das Absolute: Wie wir unserem Menschsein ausweichen4. KapitelFreiheit durch forschendes Fragen5. KapitelDas Geschenk der FreiheitWahrhaftigkeit ist entscheidendFlucht in die Transzendenz6. KapitelÜberlegenheitsgefühleDie Falle der SinnlosigkeitIn der Leere gefangen7. Kapitel8. KapitelBemerken, zulassen, aufmachen, loslassen9. KapitelWas bedeutet es, ungeteilt zu sein?Auf der Geist-Ebene erwachenErwachen auf der Ebene des HerzensWie können Gefühle die Illusion des gesonderten Ichs aufrechterhalten?Erwachen auf der Bauch-Ebene10. Kapitel11. Kapitel12. KapitelEin Interview mit AdyashantiDank
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Dieses Buch widme ich den kalifornischen Sierra Mountains. Auf euren Höhen, wo die Luft dünn wird, habe ich meine natürliche Kirche und Kathedrale gefunden.

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Vorwort

Als ich Adyashanti im Herbst 2004 kennenlernte, fiel mir als Erstes die frische und originelle Art auf, in der er sich über das spirituelle Erwachen äußerte. Er hielt seine Zen-Herkunft in Ehren, betonte aber zugleich auch, dass wir die Verwirklichung nicht von bestimmten Lehrern oder Methoden abhängig machen dürfen. Wichtiger sei es, unsere unmittelbare eigene Erfahrung zu betrachten und die Landschaft unseres eigenen Lebens furchtlos zu erkunden.

Darüber hinaus bezeichnete er es als ein Märchen, dass es nur wenige Auserwählte bis zum spirituellen Erwachen bringen, nämlich Leute, die Jahrzehnte meditierend in Höhlen verbringen oder besondere Gewänder tragen. Dieses Märchen von der Seltenheit des Erwachens, fuhr er fort, kann sich bei unserer eigenen Entdeckungsreise als sehr hinderlich erweisen, weil es uns eingibt, an Grenzen zu glauben, die nicht real vorhanden sind.

Rückblickend scheint mir heute, dass Adya, wie er von Freunden und Schülern genannt wird, als einer sprach, der auf dem Kamm einer Welle reitet – und ich glaube, wir alle werden noch erleben, wie sich diese Welle zu brechen beginnt. Adya spricht es im ersten Kapitel an: Mehr und mehr Menschen jeglicher Herkunft und religiösen Ausrichtung berichten heute vom spirituellen Erwachen als dem größten und wichtigsten Umbruch ihres Lebens. Gerade in den letzten Jahren verändert sich die kollektive Wahrnehmung dessen, was möglich ist, besonders deutlich. Das spirituelle Erwachen – eine unerschütterliche Gewissheit, dass wir die Ganzheit und Einheit des Lebens sind – ist nicht mehr einer Elite von spirituell hoch entwickelten Wesen vorbehalten, sondern auf einmal uns allen zugänglich.

Als Verlegerin, die sich seit über zwanzig Jahren die Verbreitung spiritueller Lehren auf die Fahnen schreibt, nehme ich diese neue Welle des Interesses am spirituellen Erwachen mit Begeisterung, manchmal aber auch mit einer gewissen Besorgnis wahr, da gerade dieses Thema mit so vielen Unklarheiten, Missverständnissen und entstellenden Darstellungen behaftet ist. Es beginnt damit, dass man den Begriff »Erwachen« ganz unterschiedlich auffassen kann. Manchmal frage ich mich, ob die Leute nur sehen, was da zu gewinnen ist, oder auch – und das könnte noch wichtiger sein – was da verlorengeht. Dann ist es auch so, dass immer mehr Menschen in dieser Zeit der einsetzenden Popularisierung des Erwachens aus der Perspektive des Egos über ihre spirituellen Erfahrungen sprechen und durchblicken lassen, dass sie jetzt besser dran und »erleuchteter« sind als andere. Vor allem aber macht mir zu schaffen, dass so viele Menschen alles an »niederen Regungen« – wie Zorn, Depression oder Familienprobleme – leugnen, was nicht zu ihrer Vorstellung von einem Erwachten passt.

Als ich vor einiger Zeit einmal mit Adya telefonierte, erwähnte ich diese Bedenken und erzählte von meinen vielen Begegnungen mit Leuten, die das Erwachen offenbar falsch verstehen und sich eher von ihrer realen Erfahrung distanzieren, wie sie sich Augenblick für Augenblick abspielt. Adya erwiderte, genau zu diesem Thema der Fehleinschätzungen, Fallgruben und verblendeten Vorstellungen nach einem ersten Erweckungserlebnis spreche er sehr häufig. Ich griff augenblicklich und begeistert zu und fragte ihn, ob er nicht eine Reihe von Vorträgen zu diesem Thema halten wolle, die ich dann in meinem Verlag Sounds True als Buch und Hörbuch veröffentlichen würde. Er stimmte zu, und das Ergebnis halten Sie jetzt in Händen.

Es gibt, wie Adya im ersten Kapitel aufzeigt, nicht sehr viel, worauf Menschen nach einem ersten Erweckungserlebnis zurückgreifen können, um sich ein Bild von Dynamik und Verlauf dieses Geschehens zu machen. Ich wünsche diesem Buch, dass es im doppelten Sinn – Aufschluss gebend und als Katalysator – ein Führer zum größten aller Abenteuer wird.

 

Tami Simon

Verlag Sounds True

Boulder, Colorado

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1

Das Leben nach dem Erwachen

Es tut sich etwas in unserer Welt. Immer mehr Menschen »erwachen«, sie erhaschen echte Einblicke in die wahre Wirklichkeit. Damit meine ich, dass die Menschen Augenblicke erleben, in denen sie aus ihrem gewohnten Ich-Gefühl hochschrecken und aus der ihnen vertrauten Weltwahrnehmung in eine weitaus umfassendere Realität eintauchen, größer, als sie je für möglich gehalten hätten.

Jeder erlebt das Erwachen auf seine ganz eigene Art. Einige bleiben wach, während andere nur einen kurzen Eindruck bekommen, vielleicht nicht mehr als einen Sekundenbruchteil lang. Aber in diesem Augenblick ist das, was wir als »Ich« erleben, einfach weg. Und auch die Welt erleben wir urplötzlich ganz anders, es scheint auf einmal keinen Unterschied mehr zwischen mir und der Welt zu geben, keine Trennung. Es hat etwas vom Aufwachen aus einem Traum – einem Traum, den wir erst im Moment des Hochschreckens überhaupt als Traum erkennen.

Als ich zu lehren begann, suchten die meisten von denen, die zu mir kamen, diese tiefe spirituelle Verwirklichung. Sie wollten gern aus ihrem alten Ich-Gefühl aufwachen, in dem sie sich begrenzt und vereinzelt wähnten. Es ist die Sehnsucht, die alle spirituelle Suche antreibt. Wir möchten bestätigt finden, was wir bereits ahnen: dass es mit dem Leben mehr auf sich hat, als wir bisher wahrgenommen haben. Inzwischen kommen jedoch immer mehr Menschen zu mir, die schon Eindrücke von dieser so viel mehr umfassenden Realität bekommen haben.

Zeit des Erwachens

Was ich hier ansprechen möchte, wird je nach Tradition als »Erleuchtung« oder »spirituelles Erwachen« bezeichnet, weil wir dabei aus dem Traum der Getrenntheit erwachen, den unser ichbezogenes Denken träumt, unser Ego-Geist. Uns geht auf, und das vielfach ganz abrupt, dass unser aus Vorstellungen, Überzeugungen und Bildern konstruiertes Ich-Gefühl nicht wirklich dem entspricht, was wir sind. Unser Ich mag wohl als eine Folge auftauchender und vergehender Gedanken, Glaubenssätze, Aktionen und Reaktionen existieren, aber es besitzt darüber hinaus keine eigene Identität. Letztlich erweisen sich alle unsere Vorstellungen von uns selbst und der Welt als Schutzvorrichtung gegen das schiere Sosein aller Dinge, und das sogenannte Ego ist einfach der Mechanismus, mit dem sich unser Bewusstsein gegen das Leben stemmt. Und so gesehen ist das Ego weniger ein Ding als vielmehr ein Vorgang, es besitzt Verb-Charakter. Es repräsentiert den Widerstand gegen das, was ist. Es schiebt weg oder es greift auch aus. Und der Bewegungsimpuls dieses Herholens und Zurückweisens lässt den Eindruck eines Ichs entstehen, das von der Welt ringsum nicht nur verschieden, sondern getrennt ist.

In der Zeit des Erwachens nun scheint uns diese Außenwelt wegzubrechen. Wenn unser altes Ich-Gefühl uns verlässt, ist es so, als ginge uns auch die Welt verloren, wie wir sie bisher kannten. Das mag ein kurzzeitiger oder dauerhafter Eindruck sein, jedenfalls ist auf einmal sonnenklar, dass wir unendlich viel mehr sind als dieses kleine Ich, für das wir uns immer gehalten haben.

Über dieses Erwachen zur Wahrheit oder Realität ist schwer zu sprechen. Worte erreichen es nicht. Dennoch ist es schön, so etwas wie Wegmarken zu haben. Dann lässt sich über die Erfahrung des Erwachens immerhin sagen, dass sie sich als eine Veränderung der Wahrnehmung zeigt. Das ist eigentlich der Kern des Erwachens, das Wesentliche daran: eine Verschiebung in unserer Wahrnehmung, durch die wir uns nicht mehr als isoliertes Individuum sehen, sondern – sofern nach dieser Verschiebung überhaupt noch von einer Sicht unserer selbst die Rede sein kann – als etwas Allumfassendes, in das alles und alle überall und jederzeit eingeschlossen sind.

Eigentlich ist das aber nichts revolutionär Neues, nichts wesentlich anderes, als am Morgen in den Spiegel zu blicken und intuitiv zu wissen, das dieses Gesicht dein Gesicht ist. Das ist keine mystische Erfahrung, es ist einfach Erfahrung. Du schaust in den Spiegel, und da ist ein simples Wiedererkennen: »Ah, das bin ich.« Mit der Verschiebung unserer Wahrnehmung, die wir »Erwachen« nennen, ist es dann so, dass wir alles, womit unsere Sinne in Berührung kommen, als unser Ich erleben. Mit allem, was uns begegnet, geht dieses »Ah, das bin ich« einher. Wir erfahren uns dann nicht mehr als ein Ego-Ich, einen vereinzelten Jemand oder etwas getrennt Existierendes. Es fühlt sich eher so an, als würde das Eine oder der universale Geist sich selbst erkennen.

Das Erwachen ist ein Erinnern. Wir werden dabei nicht etwas, was wir bis dahin nicht waren. Wir verwandeln uns nicht. Wir verändern uns nicht einmal. Wir erinnern uns, was wir sind, als hätten wir es schon längst gewusst und nur vergessen. Im Augenblick des Erinnerns, wenn es echt ist, wird das Erwachen nicht als etwas Persönliches erlebt. Ein »persönliches« Erwachen gibt es eigentlich gar nicht, denn »persönlich« würde ja Trennung implizieren. Es würde bedeuten, dass da ein Ich erwacht, dass ein Ego Erleuchtung findet.

Beim wahren Erwachen zeigt sich sehr klar, dass es sich nicht um etwas Persönliches handelt. Vielmehr erwacht universaler Geist oder universales Bewusstsein zu sich selbst. Da wacht kein Ich auf, sondern das, was wir wirklich sind, wacht vom Ich auf. Es erwacht von der Suche und vom Sucher.

Mit allem, was wir über das Erwachen sagen können, ist es leider so, dass der denkende Verstand sich daraus eine neue Vorstellung von dem zimmert, was die höchste Wahrheit und Wirklichkeit nun eigentlich ist – und dann ist es wieder nur eine Idee. Und sobald eine solche Vorstellung aufgebaut ist, wird unsere Wahrnehmung schon wieder in dieser Richtung verbogen. Deshalb ist es wirklich unmöglich zu beschreiben, was Realität eigentlich ist; wir können allenfalls sagen, dass sie nicht ist, was wir glauben, und nicht das, was uns beigebracht worden ist. Tatsächlich ist es einfach nicht möglich, uns eine Vorstellung von unserem wahren Wesen zu machen – dieses wahre Wesen übersteigt jegliches Vorstellungsvermögen. Wir sind das, was allem zuschaut, dieses Bewusstsein, das uns bei dem Bemühen zuschaut, eine gesonderte Person zu sein. Unser wahres Wesen hat jederzeit an aller Erfahrung teil, und es gibt keinen Augenblick, in dem und für den es nicht wach wäre.

Im Erwachen offenbart sich uns, dass wir weder ein Ding noch eine Person, noch überhaupt ein Etwas sind. Wir sind das, was sich als alle Dinge, als alle Erfahrungen, als alles Personenhafte manifestiert. Wir sind das, was diese ganze Welt erträumt. Kurz, im Erwachen wird offenbar, dass wir in Wahrheit das Unaussprechliche und Unerklärliche sind.

Dauerhaftes und vorübergehendes Erwachen

Wie ich schon sagte, kann das Erwachen ein vorübergehender Augenblick der Einsicht sein oder etwas, das bleibt. Da wird mancher sagen, ein Moment des Erwachens sei kein echtes Erwachen. Bei einem echten Erwachen, glauben sie, erschließt sich unserer Wahrnehmung das wahre Wesen der Dinge ein für alle Mal. Ich verstehe diese Auffassung insofern, als die spirituelle Reise uns letztlich zum vollkommenen Erwachen führt. »Vollkommenes Erwachen« bedeutet ja, dass wir dann alles und ausschließlich aus der Sicht des universalen Geistes wahrnehmen, dass wir jederzeit alles aus der Perspektive des Einen wahrnehmen. In dieser erwachten Sicht der Dinge existiert nirgendwo Trennung, nicht in der Welt, nicht im Universum, nicht in irgendeinem Universum. Die Wahrheit ist überall, jederzeit, in allen Dimensionen und für alle Wesen die Wahrheit, und sie ist Grund und Ursprung von allem, was in diesem Leben oder danach, in dieser Dimension oder irgendeiner anderen je erfahren werden kann.

Aus der Sicht des Höchsten offenbaren sich alle Dinge als Manifestationen des universalen Geistes, gleich ob in höheren oder niederen Dimensionen, hier oder dort, gestern, heute oder morgen. Was da erwacht, ist der Geist selbst. Deshalb ist der Weg, den wir nehmen, letztlich immer ein Weg zum vollkommenen Erwachen, ob es uns bewusst ist oder nicht. Es ist ein Weg, auf dem wir schließlich erkennen und aus eigener Anschauung wissen, was wir sind; ein Weg zur Einheit, zum Einen.

Der Augenblick des Erwachens kann sich zu einem dauerhaften Sehen ausweiten oder nicht. Wie gesagt, manche Leute meinen, das Erwachen sei nur echt, wenn es anhält. Als Lehrer erlebe ich aber, dass jemand, der den Schleier der Dualität nur für einen Augenblick durchdringt, nichts anderes sieht und erlebt als ein anderer, der zu einer dauerhaften, beständigen Erkenntnis gelangt ist. Der eine erlebt es für einen Augenblick, der andere auf Dauer. Aber wenn es sich um ein echtes Erwachen handelt, wird in beiden Fällen das Gleiche erlebt, nämlich dass alles eins ist, dass wir kein bestimmter Jemand sind, der sich einem bestimmten Punkt im Raum zuordnen lässt, dass wir sowohl nichts als auch alles sind.

Aus meiner Sicht spielt es also eigentlich keine Rolle, ob ein Erwachen kurzzeitig oder dauerhaft ist. Natürlich sind Unterschiede zu konstatieren, wenn wir den Verlauf betrachten, denn man wird sich erst wirklich angekommen fühlen, wenn das Sehen der Wahrheit stetig geworden ist – aber ein Erwachen ist ein Erwachen, dauerhaft oder nicht.

Zu diesem kurzzeitigen Erwachen oder nicht dauerhaften Erwachen, wie ich gern sage, kommt es in dieser Zeit immer häufiger. Es hält einen Augenblick, ein paar Stunden, einen Tag, eine Woche an, vielleicht einen ganzen Monat oder zwei. Das Bewusstsein weitet sich, und das Gefühl, ein getrennt existierendes Ich zu sein, verschwindet, doch dann zieht sich das Bewusstsein wieder zu wie der Verschluss einer Kamera, und statt der eben noch erlebten Nicht-Zweiheit oder Nondualität, der wahren Einheit, herrscht jetzt überraschenderweise wieder der dualistische »Traumzustand«. Da tauchen wir dann wieder in das alte Ich-Gefühl ein, in dem wir uns begrenzt und vereinzelt fühlen.

Dennoch, wenn wir einmal einen Augenblick des klaren Sehens erlebt haben, kann sich die »Blende« unserer Wahrnehmung nie wieder ganz schließen. Es mag uns wohl so erscheinen, doch tatsächlich schaltet unser Bewusstsein jetzt nie wieder ganz ab. Ganz in der Tiefe vergessen wir nicht. Selbst wenn wir nur einen ganz kurzen Blick auf die wahre Wirklichkeit erhascht haben, ist etwas in uns dauerhaft verändert.

Realität hat etwas Unwiderstehliches, sie ist von unglaublicher Wucht, sie vermag mehr, als wir uns vorstellen können. Jemand sieht die Wirklichkeit aufblinken, vielleicht nur für die Dauer eines Lidschlags, und doch werden dadurch Energien mobilisiert, die sein Leben verändern. Mit einem Augenblick des Erwachens beginnt die Auflösung unseres verblendeten Ich-Gefühls und dann auch die Auflösung unserer gesamten Weltwahrnehmung.

Das Erwachen ist nicht das, wofür du es hältst

Was bringt uns das Erwachen? Nun, es ist in einem sehr handgreiflichen Sinn angemessener zu fragen, was wir verlieren. Wir verlieren nämlich nicht nur uns selbst, also das, was wir zu sein glaubten, sondern auch unser gesamtes Weltbild. Trennung ist etwas lediglich Wahrgenommenes, und eigentlich ist es mit dieser ganzen Welt so, dass sie einfach nur etwas Wahrgenommenes ist. »Meine Welt« ist nicht wirklich eine Welt, sondern nur eine Wahrnehmung. Deshalb meine ich, dass wir im Zusammenhang mit dem spirituellen Erwachen vor allem über das sprechen sollten, was wir verlieren, auch wenn das vielleicht erst einmal negativ klingt. Wir verlieren das, wovon oder woraus wir erwachen. Wir sprechen also von der Auflösung des Bildes, das wir von uns selbst hatten, und eben der Demontage dessen, was wir zu sein glaubten. Das ist das Überraschende, ja Bestürzende am Erwachen.

Und es ist wirklich überraschend. Es ist überhaupt nicht so, wie wir es uns vorgestellt hatten. Kein einziger meiner Schüler hat je zu mir gesagt: »Weißt du was, Adya, ich habe einen Blick hinter die Schleier der Trennung geworfen, und es ist ungefähr so, wie ich es erwartet habe. Es entspricht ziemlich genau dem Bild, das mir vermittelt worden ist.« Nein, sie sagen: »Es ist so völlig anders, als ich es mir vorgestellt hatte.«

Das ist auch deshalb interessant, weil die Leute, mit denen ich als Lehrer zu tun habe, sich schon viele Jahre mit Spiritualität beschäftigt haben und oft mit ziemlich ausgeformten Ideen über das Erwachen daherkommen – wie es sein wird, wenn es dann eintritt. Tatsächlich ist es dann immer ganz anders, in mancher Hinsicht welterschütternd, aber andererseits auch einfacher als gedacht. Und recht betrachtet, muss das Erwachen ja auch anders sein, als wir es uns vorstellen, sonst kann es ja kein echtes Erwachen sein. Unsere Vorstellungen davon spielen sich schließlich alle im Traumzustand ab, und wir können uns schlecht etwas jenseits dieses Traumzustands vorstellen, solange unser Bewusstsein dort noch verankert ist.

Wie ändert sich das Leben nach dem Erwachen?

Mit dem Erwachen wird unsere Sicht des Lebens völlig umgekrempelt, zumindest setzt es eine Neuordnung in Gang. Auch wenn das Erwachen eine wunderbare und staunenswerte Sache ist, es bringt doch auch eine gewisse Desorientierung mit sich. Du bist zwar als das Eine erwacht, aber da ist auch noch alles, was dein Menschsein ausmacht – der Körper, das Denken, die ganze Persönlichkeit. Für diese menschliche Verfassung kann das Erwachen schon ziemlich verwirrend sein.

Ich möchte also gern erörtern, was nach dem Erwachen passiert. Für ganz wenige Menschen ist mit dem Augenblick des Erwachens alles vollendet. Der Augenblick ist in gewissem Sinn definitiv, und es müssen sich keine weiteren Prozesse anschließen. Vielleicht kann man sagen, dass diese Menschen mit außerordentlich geringer karmischer Belastung unterwegs waren. Sie können vor dem Erwachen großen Leiden ausgesetzt gewesen sein, aber es ist doch zu sehen, dass ihr karmisches Erbe, ihre Konditionierung, nicht allzu tief oder schwerwiegend war. So etwas ist jedoch selten. Es gibt in jeder Generation nur wenige, die so erwachen und bei denen dann nichts weiter erforderlich ist.

Ich sage gern: Verlass dich nicht darauf, dass du so einer bist. Geh lieber davon aus, dass du wie die allermeisten anderen bist und nach dem ersten Erwachen noch einiges zu tun hast, dass deine Reise damit noch nicht abgeschlossen ist. Deshalb möchte ich hier eine Richtung aufzeigen, die sich als hilfreich erweisen könnte, die euch vielleicht Orientierung gibt, nachdem ihr euch auf den Weg gemacht habt. Wie meine Lehrerin gern sagte: Es ist so, als wärest du gerade in deine Wohnung eingetreten und du hättest noch kein Licht gemacht. Beim Eintreten weißt du noch nicht unbedingt, wie du dich in dieser neuen Welt, in die du beim Erwachen gelangst, zurechtfinden kannst.

Ich bin sehr froh, dass mir diese Vorträge zum Thema (und das daraus entstandene Buch) ausführlich Gelegenheit geben, mich der Frage zuzuwenden, was nach dem Erwachen kommt. Wie sich das Leben nach dem Erwachen gestaltet, das sind Dinge, die nicht unbedingt an die Öffentlichkeit gelangen, sondern im Austausch zwischen dem spirituellen Lehrer und seinen Schülern behandelt werden. Deshalb gibt es leider für die zunehmende Zahl derer, die Augenblicke des Erwachens erleben, wenig an zusammenhängenden Unterweisungen, worauf sie zurückgreifen könnten. Diesen Zweck soll dieses Buch erfüllen, es soll alle in dieser neuen Welt der Einheit willkommen heißen.

Mancher wird wohl jetzt denken: »Also ich habe noch keinen solchen Moment der Klarheit erlebt, ich glaube nicht, dass ich erwacht bin.« Es gibt sicher auch andere, die nicht so recht einzuschätzen wissen, ob sie bereits ein echtes Erwachen erlebt haben. Aber was dieses Buch zu sagen hat, ist, glaube ich, für jeden relevant, an welchem Punkt des Weges er oder sie auch gerade sein mag. Es zeigt sich nämlich, dass alles, was dem Erwachen folgt, starke Bezüge zu dem hat, was dem Erwachen vorausgeht.

Im Grunde ist der spirituelle Weg nach dem Erwachen derselbe wie vor dem Erwachen, nur dass man die Dinge nach dem Erwachen von einer anderen Warte aus sieht, vielleicht aus der Vogelperspektive, wo man die Dinge zuvor aus der Froschperspektive betrachtet hat. Vor dem Erwachen wissen wir nicht, wer wir sind. Wir sehen uns als getrennt und vereinzelt existierendes Wesen in einem bestimmten Körper, das sich in einer von uns verschiedenen und getrennten Welt bewegt. Auch nach dem Erwachen bewegen wir uns noch in der Welt, nur ist uns dann bewusst, dass wir nicht ausschließlich diese bestimmte Person in diesem bestimmten Körper, sondern in Wirklichkeit nicht von der uns umgebenden Welt verschieden sind.

Wichtig ist auch die Feststellung, dass wir nach einem Augenblick des Erwachens keineswegs vor falschen Vorstellungen gefeit sind. Manche Prägungen und Fixierungen bleiben auch dann bestehen, wenn wir die Dinge bereits aus der Perspektive des Einen zu betrachten gelernt haben. Dann besteht der Pfad des Erwachens darin, unsere verbleibenden Fixierungen zu lösen, unsere »Hänger«, wie man so sagt. Und das ist nicht gar so verschieden von dem Wegabschnitt, der zum Erwachen geführt hat, denn da haben wir bestimmte Fehlwahrnehmungen oder sogar Wahnvorstellungen gelöst, bestimmte Formen der Abwehr und des »Einigelns«. Vor dem Erwachen fühlt sich unsere gesamte Ich-Struktur lastender, schwerer, kompakter an, weil wir so ganz und gar mit unserer Konditionierung identifiziert sind. Nach dem Erwachen wissen wir, dass unsere körperlich-geistige Konditionierung eigentlich nichts Persönliches hat, sie ist nicht das, was wir sind. In diesem Wissen fühlen wir uns vom Wegfall unserer Illusionen nicht mehr gar so sehr bedroht.

Spirituell gesehen ist also das, was vor dem Erwachen geschieht, nicht gar so verschieden von dem, was anschließend kommt, aber vor dem Erwachen kommt alles aus einer Haltung der Trennung, während wir nach dem Erwachen wissen, dass es eigentlich keine Trennung gibt. Unsere Haltung ist nachher eine andere als vorher, aber das Geschehen, der Prozess, ist eigentlich ganz ähnlich. Man könnte sagen, es geschehe auf verschiedenen Seins-Ebenen, und unter diesem Gesichtspunkt lässt sich alles, was ich in den weiteren Kapiteln sagen werde, auf den Standort zuschneiden, an dem sich ein jeder gerade befindet. Es lässt sich in die persönliche Erfahrung jedes Einzelnen übersetzen.

Sind wir bereit, alles in Frage zu stellen?

Ich erinnere meine Schüler immer wieder daran, dass ich das, was ich lehre, nicht als »Wahrheitsaussagen« aufgefasst wissen möchte. Die Wahrheit in Worte fassen – das ist ein müßiges Unterfangen. Vor dem Erwachen geraten wir gern auf solche Abwege, wir versuchen die Wahrheit begrifflich zu erfassen und glauben dann an unsere eigenen Vorstellungen. Nein, ich lehre keine Theologie oder Philosophie, sondern versuche Strategien aufzuzeigen – Strategien des Erwachens und Strategien für die Zeit danach.

Meine Worte wollen als Hinweise verstanden werden. Im Zen sagt man: Verwechsle den auf den Mond deutenden Finger nicht mit dem Mond. Selbst wenn wir das hundertmal gehört haben, neigen wir doch dazu, diesen Fehler wieder und wieder zu machen. Ich benutze hier eine Menge Wörter, ich stelle Zusammenhänge her und verwende Metaphern, aber es bleibt stets zu beachten, dass alles, was ich sage, erst wirklich gilt, wenn es realisiert ist. Es muss gelebt werden, erst dann ist es real. Nichts, was ich sage, ersetzt die unmittelbare Erkenntnis dessen, was ihr wahrhaft seid. Dazu braucht es die Bereitschaft, einmal innezuhalten und alles zu hinterfragen: »Weiß ich wirklich all das, was ich zu wissen glaube, oder eigne ich mir nur die Meinungen und Überzeugungen anderer an? Was weiß ich tatsächlich, und was möchte ich lediglich glauben oder mir einbilden? Was weiß ich sicher?«

Das ist eine Frage von gewaltiger Durchschlagkraft: »Was weiß ich sicher?« Lasst euch tief auf diese Frage ein, und sie wird eure Welt aus den Angeln heben. Sie zerstört eure Ich-Vorstellung, und das soll sie auch. Dann geht euch auf, dass alles, was ihr über euch selbst und die Welt zu wissen glaubt, letztlich auf Annahmen, Überzeugungen und Meinungen beruht – auf lauter Dingen, die ihr glaubt, weil sie euch so beigebracht oder als wahr hingestellt wurden. Solange wir diese Fehleinschätzungen nicht als solche erkennen, bleibt unser Bewusstsein im Traumzustand gefangen.

Im gleichen Sinn öffnet sich etwas in uns, sobald wir uns eingestehen: »Meine Güte, eigentlich weiß ich so gut wie nichts. Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich weiß nicht, was die Welt ist. Ich habe keine Ahnung, ob dies wahr ist oder jenes.« Wir sind bereit für den Schritt ins Unbekannte und die Verunsicherung, die er mit sich bringt, und wir suchen nicht gleich wieder irgendwo Deckung oder Trost – und in dieser Bereitschaft, uns dem Gegenwind zu stellen, erkennen wir endlich, was wir wirklich sind.

»Was weiß ich sicher?« Diese Frage bleibt auch nach dem Erwachen wichtig und ungemein wertvoll. Die Auseinandersetzung mit ihr hilft uns bei der Auflösung hinderlicher Ideen und Fixierungen, die ja mit dem Erwachen nicht einfach verschwinden.

Eure Bereitschaft, diese Frage zu stellen und euch ihr zu stellen und die Antwort sein zu lassen, wie sie nun mal ist – das bleibt immer das Wichtigste, einerlei, an welcher Stelle des Weges ihr seid. Der Umgang mit dieser Frage ist sozusagen das Rückgrat, das Tragende, von dem euer Erwachen und euer Leben nach dem Erwachen abhängt.

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Erwachen – und wie man sich im »Wachzustand« zurechtfindet

Manches von dem, was wir so über Erleuchtung hören, klingt ein bisschen wie Reklame. Reklamesprüche erzählen uns nur von der positiven Seite dessen, was da angeboten wird; es kommt sogar vor, dass man uns Sachen erzählt, die einfach nicht zutreffen. In der »Erleuchtungs-Reklame« bekommen wir in der Regel zu hören, Erleuchtung habe mit Liebe und Ekstase und Mitgefühl und Einmütigkeit und lauter schönen Sachen dieser Art zu tun. Oft ist das alles in fantastische oder fantasievolle Geschichten verpackt, und wir meinen dann, das Erwachen sei mit Wundern und übernatürlichen Kräften verbunden. Die am häufigsten angewandte »Verkaufsmasche« preist Erleuchtung einfach als reine Glückseligkeit an, und viele denken sich dann: »Wenn ich erleuchtet und mit Gott vereint bin, werde ich in ständigem ekstatischem Glück leben.« Das hat sehr wenig mit dem zu tun, was das Erwachen tatsächlich ist.

Sicher, das Erwachen kann mit tiefen Glückserlebnissen verbunden sein. Aber das Glück, die Seligkeit, ist nicht das Erwachen, sondern eine Begleiterscheinung, und solange wir den Begleiterscheinungen des Erwachens nachjagen, entgeht uns das Eigentliche. Das kann zu einem sehr großen Problem werden, denn viele Formen der spirituellen Praxis zielen nur auf eine Reproduktion der Begleiterscheinungen des Erwachens ab, ohne aber zum Erwachen als solchem zu führen. Wir können alle möglichen Meditationsformen erlernen – beispielsweise Mantra-Rezitation – und damit bestimmte erfreuliche Erfahrungen auslösen. Das menschliche Bewusstsein ist unglaublich formbar und anpassungsfähig, und mit vielen spirituellen Praktiken oder Andachtsübungen kann man tatsächlich allerlei Begleiterscheinungen des Erwachens hervorrufen – Öffnungen, Verzückungszustände oder wie man es auch nennen mag. Aber oft hält man am Ende nur das in Händen, und das Erwachen selbst bleibt aus.

Es ist also wichtig zu wissen, was das Erwachen nicht ist, damit wir nicht länger seinen Begleiterscheinungen nachjagen. Hören wir auf, uns mittels spiritueller Praxis in erfreuliche Gemütszustände versetzen zu wollen. Auf dem Pfad des Erwachens geht es nicht um angenehme Emotionen. Erleuchtung kann sogar alles andere als »easy« oder erhebend sein. Wenn unsere Illusionen uns entzogen werden, ist das nicht unbedingt angenehm. Wir lösen uns nicht leicht von einer Sicht der Dinge, mit der wir lange identifiziert waren. Oft fällt es uns sogar schwer, Einbildungen zu durchschauen, die uns heftige Schmerzen zufügen.

Viele, die sich auf den Weg zum spirituellen Erwachen machen, wissen nicht, was sie sich da außerdem noch »einhandeln«. Ich stelle als Lehrer bei neuen Schülern immer ziemlich bald fest, ob sie es ernst meinen mit der Wahrheit – ob sie »es wissen wollen«, wie man so sagt, oder sich einfach nur ein bisschen besser fühlen möchten. Der Weg zur Wahrheit ist nämlich nicht unbedingt ein Weg, auf dem man sich immer besser fühlt. Hier müssen wir uns den Dingen offen, ehrlich und wahrhaftig zuwenden, und das ist durchaus nicht immer unbedingt leicht.

Der echte Weckruf kommt ganz aus unserer Tiefe. Er kommt aus einer Tiefe, in der uns die Wahrheit wichtiger ist als wohlige Gefühle. Wenn wir uns einfach nur besser fühlen wollen, werden wir uns weiterhin selbst an der Nase herumführen, denn dieser Wunsch nach angenehmen Gefühlen von Augenblick zu Augenblick, das genau ist das Bestreben, mit dem wir uns selbst blenden. Wir geben uns Einbildungen hin, nur um uns ein bisschen besser zu fühlen. Um zu erwachen, müssen wir uns von diesem Klischee lösen, dass es darauf ankommt, uns besser zu fühlen. Ja, es ist ganz menschlich und verständlich, sich gut fühlen zu wollen, jeder möchte das. Wir suchen Wohlgefühl und scheuen Schmerzen, so ist es in uns angelegt. Aber es gibt einen noch tieferen Drang in uns, und das ist der Drang zu erwachen.

Dieser Drang zu erwachen gibt uns den Mut zu schauen, wie wir uns bisher hinters Licht geführt haben. Erst dann können wir wirklich die Verantwortung für unser Leben übernehmen. Wir verlassen uns nicht darauf, dass uns ein erleuchteter Lehrer schon irgendwie in die Erleuchtung befördern wird – so läuft es einfach nicht. Wenn wir uns nur irgendwo anhängen, bleiben wir blind. Es zeigt, dass wir nicht selbständig denken möchten, dass wir den Dingen nicht selbst auf den Grund gehen wollen. Wenn wir blind befolgen, was uns gesagt wird, oder wenn wir uns blind einer Lehre verschreiben, nur weil sie alt und ehrwürdig ist, werden wir genau das auch bleiben: blind.

Eine weitere Fehleinschätzung des Erwachens, der Erleuchtung, liegt in der Annahme, es handle sich um eine mystische Erfahrung. Vielleicht erwarten wir so etwas wie Vereinigung mit Gott, ein Verschmelzen mit allem, ein Aufgehen in ozeanischer Weite. Das ist aber nicht der Fall. Und das Erwachen ist auch kein überwältigender Schwall von kosmischer Erkenntnis, kein Einblick in das, was »die Welt im Innersten zusammenhält«, kein Wissen um die tieferen Abläufe dessen, was wir Wirklichkeit nennen.

Ich könnte das endlos fortsetzen, aber worauf es letztlich ankommt, ist die Erkenntnis, dass spirituelles Erwachen etwas anderes ist als mystische Erfahrung. Mystische Erfahrungen sind schön. Sie sind in mancher Hinsicht das Schönste und Erhebendste, was ein Ich erleben kann. Dieses Ich ist immer auf Vereinigung aus. Die Formen der spirituellen Praxis, auf die sich die Leute einlassen, sind vielfach dazu da, mystische Erlebnisse dieser Art zu produzieren – Gefühle eines Verschmelzens, Visionen von Gottheiten, ein Gefühl von Weitung des Bewusstseins über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg. Aber noch einmal: Erwachen ist etwas anderes.

Ich sage nicht, mystische Erfahrungen seien ohne Wert. Es ist nicht zu übersehen, dass sie von tiefer transformierender Kraft sein können. Sie können das Ego-Ich radikal neu gestalten, und das mit sehr positivem Ergebnis. In der relativen Welt der Dinge also haben mystische Erfahrungen durchaus ihren Wert, aber wenn wir vom Erwachen reden, geht es eben nicht um persönliche Erfahrung. Vielmehr geht es um das Erwachen vom persönlichen Ich. Und das ist ein radikaler Paradigmenwechsel, es ist der Übergang in eine ganz andere Welt.