Seine Schriften zur Wissenschaftslehre - Max Weber - E-Book

Seine Schriften zur Wissenschaftslehre E-Book

Max Weber

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Beschreibung

Inhalt: Seine Schriften zur Wissenschaftslehre Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie I. Roschers "historische Methode". II. Knies und das Irrationalitätsproblem. III. Knies und das Irrationalitätsproblem. Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik I. Zur Auseinandersetzung mit Eduard Meyer. II. Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung in der historischen Kausalbetrachtung. R. Stammlers "Ueberwindung" der materialistischen Geschichtsauffassung I. II. III. IV. Nachtrag zu dem Aufsatz über R. Stammlers Ueberwindung" der materialistischen Geschichtsauffassung Die Grenznutzlehre und das "psychophysische Grundgesetz" "Energetische" Kulturtheorien Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie I. II. III. IV. V. VI. VII. Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft Der Sinn der "Wertfreiheit" der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften Soziologische Grundbegriffe § I. Begriff der Soziologie und des "Sinns" sozialen Handelns. § II. Bestimmungsgründe sozialen Handelns. § III. Die soziale Beziehung. § IV. Typen sozialen Handelns: § V. Begriff der legitimen Ordnung. § VI. Arten der legitimen Ordnung: § VII. Geltungsgründe der legitimen Ordnung: Tradition, Glauben, Satzung. Wissenschaft als Beruf

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Seine Schriften zur Wissenschaftslehre

Max Weber

Inhalt:

Max Weber – Biografie und Bibliografie

Seine Schriften zur Wissenschaftslehre

Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie

I. Roschers »historische Methode«.

II. Knies und das Irrationalitätsproblem.

III. Knies und das Irrationalitätsproblem.

Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis

Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik

I. Zur Auseinandersetzung mit Eduard Meyer.

II. Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung in der historischen Kausalbetrachtung.

R. Stammlers »Ueberwindung« der materialistischen Geschichtsauffassung

I.

II.

III.

IV.

Nachtrag zu dem Aufsatz über R. Stammlers Ueberwindung« der materialistischen Geschichtsauffassung

Die Grenznutzlehre und das »psychophysische Grundgesetz«

»Energetische« Kulturtheorien

Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft

Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften

Soziologische Grundbegriffe

§ I. Begriff der Soziologie und des »Sinns« sozialen Handelns.

§ II. Bestimmungsgründe sozialen Handelns.

§ III. Die soziale Beziehung.

§ IV. Typen sozialen Handelns:

§ V. Begriff der legitimen Ordnung.

§ VI. Arten der legitimen Ordnung:

§ VII. Geltungsgründe der legitimen Ordnung: Tradition, Glauben, Satzung.

Wissenschaft als Beruf

Seine Schriften zur Wissenschaftslehre, Max Weber

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849612269

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Max Weber – Biografie und Bibliografie

Deutscher Soziologe, geboren am 21. April 1864 in Erfurt, verstorben am 14. Juni 1920 in München. Sohn eines Juristen und späteren Abgeordneten der Nationalliberalen Partei. Nach dem Abitur 1886 studiert W. an mehreren Universitäten Jura, Nationalökonomie, Philosophie und Geschichte. 1889 promoviert er zum Dr. jur. Nach seiner Hochzeit mit der Frauenrechtlerin und Soziologin Marianne Schnitger 1893 wird er ein Jahr später als Professor für Nationalökonomie an die Universität Freiburg berufen. Er wechselt 1897 nach Heidelberg und erkrankt psychisch. Nach sieben wechselvollen Jahren du einigen Reisen publiziert er ab 1904 seine wichtigsten Schriften. 1909 wird er zum Mitbegründer der "Deutschen Gesellschaft für Soziologie".

Wichtige Werke:

Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht, Stuttgart 1891Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, Leipzig 1892Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 19 (1904)Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus I. Das Problem, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik 20 (1904)Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus II. Die Berufsidee des asketischen Protestantismus, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik 21 (1905)Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik 41-46 (1915-1919), 41 (1916)Wissenschaft als Beruf, München/Leipzig 1919Politik als Beruf, München/Leipzig 1919Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 3 Bde., Tübingen 1920-1921Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1922Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922Wirtschaftgeschichte. Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, München/Leipzig 1923Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 4 Bde., Tübingen 1924Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, 4 Bde., Tübingen 1924

Seine Schriften zur Wissenschaftslehre

Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie

 Vorbemerkung S. 1.– I. Roschers »historische Methode«. Roschers Klassifikation der Wissenschaften S. 3. Roschers Entwickelungsbegriff und die Irrationalität der Wirklichkeit S. 22. Roschers Psychologie und sein Verhältnis zur klassischen Theorie S. 30. Die Schranke des diskursiven Erkennens und die metaphysische Kausalität der Organismen bei Roscher S. 33. Roscher und das Problem der praktischen Normen und Ideale S. 38.

Das nachstehende Fragment will kein literarisches Porträt unserer Altmeister sein. Vielmehr beschränkt es sich auf den Versuch, zu zeigen, wie gewisse elementare logisch-methodische Probleme, welche im letzten Menschenalter in der Geschichtswissenschaft und in unserer Fachdisziplin zur Erörterung standen, in den Anfängen der historischen Nationalökonomie sich geltend machten1, und wie sich die ersten großen Leistungen der historischen Methode mit ihnen abzufinden versucht haben. Wenn dabei vielfach wesentlich auch deren Schwächen hervortreten, so liegt das im Wesen der Sache. Gerade sie können uns immer wieder zur Besinnung auf diejenigen allgemeinen Voraussetzungen führen, mit welchen wir an unsere wissenschaftliche Arbeit herantreten, und dies kann der alleinige Sinn solcher Untersuchungen sein, welche auf ein »künstlerisches« Gesamtbild ganz geflissentlich zugunsten breiter Zergliederung wirklich oder scheinbar selbstverständlicher Dinge verzichten müssen. –

Man pflegt heute als die Begründer der »historischen Schule« Wilhelm Roscher, Karl Knies und Bruno Hildebrand zusammen zu nennen. Ohne nun der großen Bedeutung des zuletzt Genannten irgendwie zu nahe treten zu wollen, kann er doch für unsere Zwecke hier ausscheiden, obwohl gerade er, in gewissem Sinne sogar nur er, mit der heute als »historisch« bezeichneten Methode wirklich gearbeitet hat. Sein in der »Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft« niedergelegter Relativismus verwertet in den Punkten, auf die es hier ankommt, nur Gedanken, welche schon vor ihm, teils von Roscher, teils von anderen, entwickelt waren. Hingegen kann eine Darstellung der methodologischen Ansichten von Knies einer vorherigen Darlegung des methodischen Standpunktes Roschers nicht entraten. Knies' methodologisches Hauptwerk ist mindestens ebensosehr eine Auseinandersetzung mit den bis dahin erschienenen Arbeiten Roschers – dem es zugeeignet war – wie mit den Vertretern des bis auf Roscher bei uns die Universitäten beherrschenden Klassizismus, als dessen anerkanntes Haupt damals Knies' Heidelberger Vorgänger, Rau, wirkte. Wir beginnen daher mit einer Darlegung der methodischen Grundanschauungen Roschers, wie sie sich in seinem Buch über »Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides« (1842), seinem programmatischen »Grundriß zu Vorlesungen über die Staatswirtschaft, nach geschichtlicher Methode« (1843) und seinen Aufsätzen aus den vierziger Jahren finden, und ziehen auch die ersten Auflagen des ersten Bandes seines erst nach dem Kniesschen Buche erschienenen »Systems der Volkswirtschaft« (1. Aufl. 1854, 2. Aufl. 1857), sowie seine späteren Arbeiten insoweit heran, als sie lediglich die konsequente Ausgestaltung diesjenigen Standpunktes enthalten, mit welchem Knies sich auseinanderzusetzen beabsichtigte2.

Roscher3 unterscheidet zweierlei Arten der wissenschaftlichen Verarbeitung der Wirklichkeit, die er als »philosophische« und »historische« bezeichnet: begriffliche Erfassung im Wege der generalisierenden Abstraktion unter Eliminierung der »Zufälligkeiten« der Wirklichkeit einerseits, und andererseits schildernde Wiedergabe der Wirklichkeit in ihrer vollen Realität. Man fühlt sich sofort an die heute vertretene Scheidung von Gesetzes- und Wirklichkeitswissenschaften erinnert, wie sie am schärfsten in dem methodischen Gegensatz zwischen den exakten Naturwissenschaften auf der einen und der politischen Geschichte auf der anderen Seite zutage tritt4.

Auf der einen Seite Wissenschaften mit dem Bestreben, durch ein System möglichst unbedingt allgemeingültiger Begriffe und Gesetze die extensiv und intensiv unendliche Mannigfaltigkeit zu ordnen. Ihr logisches Ideal – wie es am vollkommensten die reine Mechanik erreicht – zwingt sie, um ihren Begriffen die notwendig erstrebte Bestimmtheit des Inhalts geben zu können, die vorstellungsmäßig uns gegebenen »Dinge« und Vorgänge in stets fortschreitendem Maße der individuellen »Zufälligkeiten« des Anschaulichen zu entkleiden. Der nie ruhende logische Zwang zur systematisierenden Unterordnung der so gewonnenen Allgemeinbegriffe unter andere, noch allgemeinere, in Verbindung mit dem Streben nach Strenge und Eindeutigkeit, drängt sie zur möglichsten Reduktion der qualitativen Differenzierung der Wirklichkeit auf exakt meßbare Quantitäten. Wollen sie endlich über die bloße Klassifikation der Erscheinungen grundsätzlich hinausgehen, so müssen ihre Begriffe potentielle Urteile von genereller Gültigkeit in sich enthalten, und sollen diese absolut streng und von mathematischer Evidenz sein, so müssen sie in Kausalgleichungen darstellbar sein.

Das alles bedeutet aber zunehmende Entfernung von der ausnahmslos und überall nur konkret, individuell und in qualitativer Besonderung gegebenen und vorstellbaren empirischen Wirklichkeit, in letzter Konsequenz bis zur Schaffung von absolut qualitätslos, daher absolut unwirklich, gedachten Trägern rein quantitativ differenzierter Bewegungsvorgänge, deren Gesetze sich in Kausalgleichungen ausdrücken lassen. Ihr spezifisches logisches Mittel ist die Verwendung von Begriffen mit stets größerem Umfang und deshalb stets kleinerem Inhalt, ihr spezifisches logisches Produkt sind Relationsbegriffe von genereller Geltung (Gesetze). Ihr Arbeitsgebiet ist überall da gegeben, wo das für uns Wesentliche (Wissenswerte) der Erscheinungen mit dem, was an ihnen gattungsmäßig ist, zusammenfällt, wo also unser wissenschaftliches Interesse an dem empirisch allein gegebenen Einzelfall erlischt, sobald es gelungen ist, ihn einem Gattungsbegriff als Exemplar unterzuordnen. –

Auf der anderen Seite Wissenschaften, welche sich diejenige Aufgabe stellen, die nach der logischen Natur jener gesetzeswissenschaftlichen Betrachtungsweise durch sie notwendig ungelöst bleiben muß: Erkenntnis der Wirklichkeit in ihrer ausnahmslos und überall vorhandenen qualitativ-charakteristischen Besonderung und Einmaligkeit: das heißt aber – bei der prinzipiellen Unmöglichkeit der erschöpfenden Wiedergabe irgendeines noch so begrenzten Teils der Wirklichkeit in seiner (stets mindestens intensiv) unendlichen Differenziertheit gegen alle übrigen – Erkenntnis derjenigen Bestandteile der Wirklichkeit, die für uns in ihrer individuellen Eigenart und um derenwillen die wesentlichen sind.

Ihr logisches Ideal: das Wesentliche in der analysierten individuellen Erscheinung vom »Zufälligen« (d.h. hier: Bedeutungslosen) zu sondern und anschaulich zum Bewußtsein zu bringen, und das Bedürfnis zur Einordnung des einzelnen in einen universellen Zusammenhang unmittelbar anschaulichverständlicher, konkreter »Ursachen« und »Wirkungen«, zwingt sie zu stets verfeinerter Herausarbeitung von Begriffen, welche der überall individuellen Realität der Wirklichkeit durch Auslese und Zusammenschluß solcher Merkmale, die wir als »charakteristisch« beurteilen, sich fortgesetzt annähern.

Ihr spezifisches5 logisches Mittel ist daher die Bildung von Relationsbegriffen6 mit stets größerem Inhalt7 und deshalb stets kleinerem Umfang8; ihre spezifischen9 Produkte sind, soweit sie überhaupt den Charakter von Begriffen haben, individuelle Dingbegriffe10 von universeller (wir pflegen zu sagen: »historischer«) Bedeutung. Ihr Arbeitsgebiet ist gegeben, wo das Wesentliche, d.h. das für uns Wissenswerte an den Erscheinungen, nicht mit der Einordnung in einen Gattungsbegriff erschöpft ist, die konkrete Wirklichkeit als solche uns interessiert.

So sicher es nun ist, daß außer der reinen Mechanik einerseits, gewissen Teilen der Geschichtswissenschaft andererseits, keine der empirisch vorhandenen »Wissenschaften«, deren Arbeitsteilung ja auf ganz anderen, oft »zufälligen« Momenten beruht, nur unter dem einen oder nur unter dem anderen Zweckgesichtspunkt ihre Begriffe bilden kann – es wird davon noch zu reden sein –, so sicher ist doch, daß jener Unterschied in der Art der Begriffsbildung an sich ein grundsätzlicher ist, und daß jede Klassifikation der Wissenschaften unter methodischen Gesichtspunkten ihn berücksichtigen muß11.

Da nun Roscher seine eigene Methode als »historisch« bezeichnet, müßte offenbar der Nationalökonomie bei ihm ausschließlich die Aufgabe zufallen, nach Art der Geschichtswissenschaft und mit den gleichen Mitteln wie diese die volle Wirklichkeit des Wirtschaftslebens anschaulich zu reproduzieren, im Gegensatz zu dem Streben der klassischen Schule, das gesetzlich gleichmäßige Walten einfacher Kräfte in der Mannigfaltigkeit des Geschehens aufzudecken.

In der Tat findet sich bei Roscher gelegentlich die allgemein gehaltene Bemerkung, die Nationalökonomie habe »die Verschiedenheit der Dinge mit demselben Interesse zu studieren wie die Aehnlichkeiten«.

Mit Befremden wird man daher S. 150 des »Grundrisses« die Bemerkung lesen, daß die Aufgaben der »historischen« Nationalökonomie vor Roscher besonders durch Adam Smith, Malthus und Rau gefördert worden seien, und (das. S. V) die beiden letzteren als diejenigen Forscher bezeichnet finden, denen der Verfasser sich besonders nahestehend fühle. Nicht minder erstaunlich muß es berühren, wenn S. 2 die Arbeit des Naturforschers und des Historikers als einander ähnlich, S. 4 die Politik (deren Teil die »Staatswirtschaftslehre« ist) als die Lehre von den Entwickelungsgesetzen des Staates bezeichnet wird, wenn weiterhin Roscher – wie bekannt – geflissentlich immer wieder von »Naturgesetzen« der Wirtschaft spricht, und wenn endlich S. IV geradezu die Erkenntnis des Gesetzmäßigen in der Masse der Erscheinungen als die Erkenntnis des Wesentlichen bezeichnet12 und als einzig denkbare Aufgabe aller Wissenschaft vorausgesetzt wird13. Da nun wirkliche »Naturgesetze« des Geschehens nur auf der Grundlage begrifflicher Abstraktionen unter Eliminierung des »historisch Zufälligen« formuliert werden könnten, so müßte danach der letzte Zweck der nationalökonomischen Betrachtung die Bildung eines Systems von Gattungs- und Gesetzes-Begriffen und zwar von logisch möglichst vollkommenen, das heißt möglichst aller individuellen »Zufälligkeiten« entkleideten, also möglichst abstrakten Begriffen sein, obwohl doch Roscher gerade diesen Zweck prinzipiell abgelehnt zu haben schien. Allein, es schien eben nur so. Die Kritik Roschers richtet sich in Wahrheit nicht gegen die logische Form der klassischen Lehre, sondern gegen zwei ganz andere Punkte, nämlich 1. gegen die Deduktion von absolut geltenden praktischen Normen aus abstrakt-begrifflichen Obersätzen – dies ist es, was er »philosophische« Methode nennt –, 2. gegen das bisher geltende Prinzip der Stoffauswahl der Nationalökonomie. Roscher zweifelt prinzipiell nicht daran, daß der Zusammenhang der wirtschaftlichen Erscheinungen nur als ein System von Gesetzen begriffen werden könne und solle14. »Kausalität« und »Gesetzlichkeit« ist ihm identisch, erstere besteht nur in Form der letzteren15. Es soll aber – darauf kommt es Roscher an – die wissenschaftliche Arbeit das Walten der Gesetze nicht nur im Nebeneinander, sondern ebenso im Nacheinander der Erscheinungen aufsuchen, neben dem gesetzlichen Zusammenhang der Gegenwartserscheinungen auch und vor allem die Entwicklungsgesetze des geschichtlichen Ablaufs der Erscheinungen feststellen.

Es entsteht nun bei diesem Standpunkt Roschers die Frage: Wie denkt er sich das prinzipielle Verhältnis zwischen Gesetz und Wirklichkeit im Ablauf der Geschichte? Ist es sicher, daß derjenige Teil der Wirklichkeit, den Roscher in sein Netz von Gesetzen einfangen will, derart in das zu bildende Begriffssystem eingehen kann, daß das letztere wirklich das für unsere Erkenntnis Wesentliche der Erscheinungen enthält? Und wie müßten, wenn das der Fall sein soll, diese Begriffe in logischer Hinsicht beschaffen sein? Hat Roscher diese logischen Probleme als solche erkannt? –

Roschers methodisches Vorbild war die Arbeitsweise der deutschen historischen Juristenschule, auf deren Methode er sich, als der seinigen analog, ausdrücklich beruft. In Wahrheit handelt es sich jedoch – wie im wesentlichen schon Menger erkannt hat – um eine charakteristische Umdeutung dieser Methode. Savigny und seiner Schule kam es in ihrem Kampfe gegen den gesetzgeberischen Rationalismus der Aufklärungszeit auf den Nachweis des prinzipiell irrationalen, aus allgemeinen Maximen nicht deduzierbaren Charakters des in einer Volksgemeinschaft entstandenen und geltenden Rechtes an; indem sie dessen untrennbaren Zusammenhang mit allen übrigen Seiten des Volklebens betonten, hypostasierten sie, um den notwendig individuellen Charakter jedes wahrhaft volkstümlichen Rechts verständlich zu machen, den Begriff des – notwendig irrational-individuellen – »Volksgeistes« als des Schöpfers von Recht, Sprache und den übrigen Kulturgütern der Völker. Dieser Begriff »Volksgeist« selbst wird dabei16 nicht als ein provisorisches Behältnis, ein Hilfsbegriff zur vorläufigen Bezeichnung einer noch nicht logisch bearbeiteten Vielheit anschaulicher Einzelerscheinungen, sondern als ein einheitliches reales Wesen metaphysischen Charakters behandelt und nicht als Resultante unzähliger Kultureinwirkungen, sondern umgekehrt als der Realgrund aller einzelnen Kulturäußerungen des Volks angesehen, welche aus ihm emanieren.

Roscher stand durchaus innerhalb dieses, in seiner Entstehung in letzter Linie auf gewisse Gedankengänge Fichtes, zurückgehenden Vorstellungskreises; auch er glaubte, wie wir sehen werden, an die metaphysische Einheitlichkeit des »Volkscharakters«17 und sah in dem »Volk« dasjenige Individuum18, welches wie die allmähliche Entwickelung der Staatsform und des Rechts so die der Wirtschaft an sich erlebt als einen Teil seines nach Analogie der Lebensentwicklung des Menschen gedachten Lebensprozesses. »Die Volkswirtschaft entsteht zugleich mit dem Volke. Sie ist ein natürliches Produkt der Anlagen und Triebe, welche den Menschen zum Menschen machen«19. Der Begriff »Volk« selbst wird dabei nicht weiter erörtert. Daß er nicht als abstrakter, inhaltsarmer Gattungsbegriff gedacht werden soll, scheint sich schon daraus zu ergeben, daß Roscher gelegentlich (§12 Anm. 2) der Verdienste Fichtes und Adam Müllers gegenüber der »atomistischen« Aufassung der Nation als eines »Haufens von Individuen« gedenkt. Er ist (§13) zu vorsichtig, den Begriff »Organismus« ohne Vorbehalt als eine Erklärung des Wesens des »Volkes« oder der »Volkswirtschaft« anzusehen, betont vielmehr, daß er jenen Begriff nur als »den kürzesten gemeinsamen Ausdruck vieler Probleme« verwenden wolle; allein das eine geht aus diesen Aeußerungen jedenfalls hervor, daß ihm die rein rationalistische Betrachtung des »Volks« als der jeweiligen Gesamtheit der politisch geeinten Staatsbürger nicht genügt. An Stelle dieses durch Abstraktion gewonnenen Gattungsbegriffs trat ihm vielmehr die anschauliche Totalität eines als Kulturträger bedeutungsvollen Gesamtwesens entgegen.

Die logische Bearbeitung dieser unendlich mannigfaltigen Totalitäten müßte nun, um historische, nicht durch Abstraktion entleerte Begriffe zu bilden, aus ihnen die für den konkreten Zusammenhang, der jeweils zur Erörterung steht, bedeutungsvollen Bestandteile herausheben. Roscher war sich des prinzipiellen Wesens dieser Aufgabe wohl bewußt: ihm ist das logische Wesen der historischen Begriffsbildung keineswegs fremd gewesen. Er weiß, daß eine Auslese aus der Mannigfaltigkeit des anschaulich Gegebenen in der Richtung nicht des Gattungsmäßigen, sondern des »historisch« Wesentlichen ihre Voraussetzung ist20. Aber hier tritt nun die »organische« Gesellschaftstheorie21 mit ihren unvermeidlichen biologischen Analogien dazwischen und erzeugt bei ihm – wie bei so vielen modernen »Soziologen« – die Vorstellung, daß beides notwenig identisch sei, und also das Wiederkehrende in der Geschichte als solches das allein Bedeutungsvolle sein könne22. Roscher ist daher der Meinung, mit der anschaulichen Mannigfaltigkeit der »Völker« ohne weitere Aufhellung des Begriffes »Volk« so umgehen zu können wie die Biologen mit der anschaulichen Mannigfaltigkeit etwa der »Elefanten« eines bestimmten Typus23. Die »Völker« sind zwar – meint er – in der Wirklichkeit untereinander ebenso verschieden wie die menschlichen Individuen, – aber wie diese Verschiedenheit die Anatomen und Physiologen nicht hindert, von den individuellen Differenzen bei ihrer Beobachtung zu abstrahieren, so verbietet die individuelle Eigenart der Nationen dem Geschichtstheoretiker nicht, sie als Exemplare ihrer Gattung zu behandeln und in ihrer Entwickelung untereinander zu vergleichen, um Parallelismen derselben zu finden, die – so meint Roscher – durch stetige Vervollkommnung der Beobachtung schließlich zum logischen Range von »Naturgesetzen« erhoben werden können, welche für die Gattung »Volk« gelten. – Nun liegt es auf der Hand, daß ein Komplex von auf diesem Wege etwa gefundenen Regelmäßigkeiten, so erheblich ihr provisorischer heuristischer Wert im einzelnen Falle sein kann, nimmermehr als endgültiges Erkenntnisziel irgend einer Wissenschaft – sei sie »Natur«- oder »Geistes«-Wissenschaft, »Gesetzes«-oder »Geschichts«-Wissenschaft24 – in Betracht kommen könnte. Es würde ihr, wenn wir einmal annehmen, es sei die Auffindung massenhafter »empirischer« Gesetze im geschichtlichen Ablauf gelungen, vor allem jede Form der kausalen Durchsichtigkeit noch abgehen, und die wissenschaftliche Bearbeitung, die nun erst zu beginnen hätte, und für die jene Parallelismen nur das Material bilden würden, müßte sich dann vor allem über die erstrebte Art der Erkenntnis entscheiden. Entweder würde exakte Erkenntnis im naturwissenschaftlichen Sinn gesucht. Dann müßte die logische Bearbeitung sich auf zunehmende Eliminierung des noch verbliebenen Individuellen und zunehmende Unterordnung der gefundenen »Gesetze« unter noch allgemeinere als deren – unter relativ individuellen Voraussetzungen Platz greifender – Spezialfall, damit aber auf zunehmende Entleerung der zu bildenden Allgemeinbegriffe und zunehmende Entfernung von der empirisch-verständlichen Wirklichkeit richten, – das logische Ideal würde ein System absolut allgemeingültiger Formeln bilden, welche das Gemeinsame alles historischen Geschehens abstrakt darstellen würden. Die historische Wirklichkeit, auch ihre für uns noch so bedeutsamen »welthistorischen« Vorgänge und Kulturerscheinungen, würde selbstverständlich aus diesen Formeln niemals deduziert werden können25. Die kausale »Erklärung« würde lediglich in der Bildung allgemeinerer Relationsbegriffe bestehen, mit dem Bestreben, möglichst alle Kulturerscheinungen auf reine Quantitätskategorien irgendwelcher Art, z.B. »Intensitäts«-Verhältnisse möglichst weniger, möglichst einfacher psychischer »Faktoren«, zu reduzieren. Die Frage, ob eine erhöhte empirische »Verständlichkeit« des Ablaufs der uns umgebenden Wirklichkeit in ihrem konkreten kausalen Zusammenhang erzielt würde, wäre dabei notwendigerweise methodisch gleichgültig.

Würde dagegen geistiges Verständnis jener uns umgebenden Wirklichkeit in ihrem notwendig individuell bedingten Gewordensein und ihrem notwendigen individuellen Zusammenhang erstrebt, dann müßte die notwendige Bearbeitung jener Parallelismen unter den alleinigen Zweckgesichtspunkt gestellt werden, die charakteristische Bedeutung einzelner konkreter Kulturelemente in ihren konkreten, der »inneren Erfahrung«26verständlichen Ursachen und Wirkungen bewußt werden zu lassen. Die Parallelismen selbst könnten dann lediglich Mittel sein zum Zweck des Vergleichs mehrerer historischer Erscheinungen miteinander in ihrer vollen Individualität zur Entwickelung dessen, was an einer jeden einzelnen von ihnen das Charakteristische ist. Sie wären ein Umweg von der unübersehbaren und deshalb ungenügend verständlichen individuellen Mannigfaltigkeit des anschaulich Gegebenen zu einem nicht minder individuellen, aber infolge der Heraushebung der für uns bedeutsamen Elemente übersehbaren und deshalb verständlichen Bilde derselben. Sie wären mit anderen Worten eins von vielen möglichen Mitteln zur Bildung individueller Begriffe. Ob und wann die Parallelismen aber ein geeignetes Mittel zu diesem Zweck sein könnten, wäre durchaus problematisch und nur für den einzelnen Fall zu entscheiden. Denn dafür, daß gerade das Bedeutsame und in den konkreten Zusammenhängen Wesentliche in dem gattungsmäßig in den Parallelismen Erfaßbaren enthalten wäre, ist natürlich a priori nicht die geringste Wahrscheinlichkeit gegeben. Würde dies verkannt, dann könnten die Parallelismen zu den ärgsten Verirrungen der Forschung Anlaß geben und haben dies tatsächlich nur zu oft getan. Und vollends davon, daß als letzter Zweck der Begriffsbildung die Unterordnung der mit Hilfe der Parallelismen zu gewinnenden Begriffe und Gesetze unter solche von immer generellerem Geltungsbereich (und also immer abstrakterem Inhalt) zu denken sei, könnte dann selbstverständlich keine Rede sein.

Eine dritte Möglichkeit neben den beiden besprochenen: entweder Auslese des Gattungsmäßigen als des Erkenntniswerten und Unterordnung desselben unter generell geltende abstrakte Formeln, oder: Auslese des individuell Bedeutsamen und Einordnung in universale – aber individuelle – Zusammenhänge27, gäbe es für die Erscheinungen der historischen Kulturentwickelung offenbar dann, wenn man sich auf den Boden der Hegelschen Begriffslehre stellte und den »hiatus irrationalis« zwischen Begriff und Wirklichkeit zu überwinden suchte durch »Allgemein«-Begriffe, welche als metaphysische Realitäten die Einzeldinge und -Vorgänge als ihre Verwirklichungsfälle umfassen und aus sich hervorgehen lassen. Bei dieser »emanatistischen« Auffassung des Wesens und der Geltung der »höchsten« Begriffe ist es dann logisch zulässig, das Verhältnis der Begriffe zur Wirklichkeit einerseits streng rational zu denken, d.h. derart, daß die Wirklichkeit aus den Allgemeinbegriffen absteigend deduzierbar ist, und damit andererseits zugleich durchaus anschaulich zu erfassen, d.h. derart, daß die Wirklichkeit beim Aufsteigen zu den Begriffen von ihrem anschaulichen Gehalt nichts verliert. Inhalt und Umfang der Begriffe verhalten sich dann in ihrer Größe nicht zueinander entgegengesetzt, sondern decken sich, da das »Einzelne« nicht nur Exemplar der Gattung, sondern auch Teil des Ganzen ist, welches der Begriff repräsentiert. Der »allgemeinste« Begriff, aus dem alles deduzierbar sein müßte, würde dann zugleich der inhaltreichste sein. Zugänglich aber wäre eine begriffliche Erkenntnis dieser Art, von der uns unser analytisch-diskursives Erkennen fortgesetzt entfernt, indem es die Wirklichkeit durch Abstraktion ihrer vollen Realität entkleidet, nur einem Erkennen, welches analog (aber nicht gleichartig) dem mathematischen28 sein müßte29. Und metaphysische Voraussetzungen des Wahrheitsgehalts dieser Erkenntnis wäre, daß die Begriffsinhalte als metaphysische Realitäten hinter der Wirklichkeit stehen und diese in ähnlicher Art notwendig aus ihnen hervorgeht, wie die mathematischen Lehrsätze auseinander »folgen«. – Was nun Roscher anlangt, so war ihm das Problem, um welches es sich handelt, keineswegs unbekannt.

Sein Verhältnis zu Hegel30 war durch den Einfluß seiner Lehrer Ranke, Gervinus und Ritter31 bestimmt. Er formuliert in seinem »Thukydides« seinen Widerspruch gegen die Methode der »Philosophen«32 dahin, daß »zwischen dem Denken eines Begriffs als solchen und dem Denken seines Inhalts« ein »großer Unterschied« sei, – wenn der »höhere« Begriff des Philosophen »Ursache« des niederen, d.h. seines Gedachtwerdens im Begriffssysteme sei, so könne der Historiker dies auf die reale Welt nicht übertragen, denn jede »philosophische« Erklärung sei Definition, jede historische aber Schilderung33. Die philosophische Wahrheit und Notwendigkeit stehe der dichterischen gleich, sie habe ihre Geltung »im luftleeren Raum«34, sie müsse ebenso notwendig verlieren, wenn sie in die Sphäre des Geschichtlichen hinabsteige, wie die Geschichte, wenn sie philosophische Begriffsentwicklungen in sich aufnehmen wolle: konkrete historische Institutionen und Ereignisse können keinen Teil eines Begriffssystems ausmachen35. Nicht ein oberster Begriff, sondern eine »Gesamtanschauung« ist es, welche die Werke der Historiker – und der Dichter – zusammenhält36. Diese »Gesamtidee« ist aber nicht adäquat in eine Fomel oder einen definierten Begriff zu fassen. Die Geschichte will wie die Poesie das volle Leben erfassen37, das Aufsuchen von Analogien ist Mittel zu diesem Zweck, und zwar ein Werkzeug, »mit dem sich der Ungeschicktere leicht verletzen kann« und welches »auch dem Geschickten niemals große Dienste leisten« wird38. – Gleichviel wie man die Formulierung dieser Sätze im einzelnen beurteilt, – es scheint danach zunächst, daß Roscher das Wesen der geschichtlichen Irrationalität zutreffend erkannt habe. Allein schon manche Aeußerungen in derselben Schrift Roschers zeigen, daß ihm ihre Tragweite trotzdem nicht zum Bewußtsein gekommen ist.

Denn alle diese Ausführungen wollen nur die Hegelsche Dialektik39 ablehnen und die Geschichte auf den ihr mit den Naturwissenschaften gemeinsamen Boden der Erfahrung stellen. Einen Gegensatz in der Begriffsbildung aber zwischen der exakten Naturwissenschaft einerseits und der Geschichte andererseits kennt Roscher nicht. Sie verhalten sich nach ihm zueinander wie Plastik und Poesie in Lessings Laokoon40: die Unterschiede, welche bestehen, ergeben sich aus dem Stoffe, den sie bearbeiten, nicht aus dem logischen Wesen der Erkenntnis, die sie erstreben. Und mit der »Philosophie« – in Roschers Sinn des Wortes – teilt die Geschichte die »Seligkeit«, das »scheinbar Regellose nach allgemeinen Grundsätzen anzuordnen«41.

Da die Geschichte42 die Aufhellung der kausalen Bedingtheit der Kulturerscheinungen (im weitesten Sinn des Wortes) bezweckt, so können diese »Grundsätze« nur solche der kausalen Verknüpfung sein. Und hier findet sich nun bei Roscher der eigentümliche Satz43, daß es Gepflogenheit der Wissenschaft – und zwar jeder Wissenschaft – sei, bei kausaler Verknüpfung mehrerer Objekte »das Wichtiger-Scheinende die Ursache des minder Wichtigen zu nennen«. Der Satz, dessen emanatistische Provenienz ihm an der Stirn geschrieben steht, wird nur verständlich, wenn man unterstellt, daß Roscher mit dem Ausdruck »wichtiger« einerseits dasselbe gemeint hat, was Hegel unter »allgemein« verstand, andererseits aber das gattungsmäßig-»allgemeine« davon nicht schied. Daß dies in der Tat der Fall ist, wird sich uns im weiteren Verlauf der Betrachtung von Roschers Methode immer wieder zeigen. Roscher identifizierte die Begriffe: gattungsmäßig allgemein (generell) und: inhaltlich umfassend miteinander. Außerdem aber schied er auch nicht zwischen der mit dem universellen Zusammenhang identifizierten generellen Geltung der Begriffe und der universellen Bedeutung des Begriffenen: das »Gesetzmäßige« ist, wie wir sahen, das »Wesentliche« der Erscheinung44. Und es versteht sich ihm endlich – wie so vielen noch heute – von selbst, daß, weil man die generellen Begriffe durch Abstraktion von der Wirklichkeit aufsteigend gebildet habe, so auch umgekehrt die Wirklichkeit aus diesen generellen Begriffen – deren richtige Bildung vorausgesetzt – absteigend wieder müsse deduziert werden können. Er bezieht sich in seinem »System« gelegentlich45 ausdrücklich auf die Analogie der Mathematik und die Möglichkeit, gewisse Theoreme der Nationalökonomie in mathematische Formeln zu kleiden, und fürchtet lediglich, daß die Formeln infolge des Reichtums der Wirklichkeit zu »verwickelt« werden könnten, um praktisch brauchbar zu sein. Einen Gegensatz begrifflicher und anschaulicher Erkenntnis kennt er nicht, die mathematischen Formeln hält er für Abstraktionen nach Art der Gattungsbegriffe. Alle Begriffe sind ihm vorstellungsmäßige Abbilder der Wirklichkeit46, die »Gesetze« aber objektive Normen, denen gegenüber sich die »Natur« in einem ähnlichen Verhältnis befindet, wie das »Volk« gegenüber den staatlichen Gesetzen. Die ganze Art seiner Begriffsbildung zeigt, daß er von dem Hegelschen Standpunkt zwar prinzipiell geschieden bleibt, trotzdem aber mit metaphysischen Vorstellungen arbeitet, welche sich nur dem Hegelschen Emanatismus konsequent einfügen lassen würden. Die Methode der Parallelismenbildung ist ihm zwar die spezifische Form des Fortschritts kausal-geschichtlicher Erkenntnis47: sie führt aber nie zum Ende, und deshalb kann nie wirklich die ganze Wirklichkeit aus den so gewonnenen Begriffen deduziert werden, – wie es nach Roschers Meinung der Fall wäre, wenn wir bis zu den letzten und höchsten »Gesetzen« alles Geschehens aufgestiegen wären: es fehlt dem geschichtlichen Geschehen, wie wir es erkennen, die Notwendigkeit48, es bleibt notwendig ein »unerklärbarer Hintergrund«, und zwar ist es eben dieser, der allein den Zusammenhang des Ganzen herstellt49, offenbar: weil aus ihm die Wirklichkeit emaniert. Aber ihn denkend zu erfassen und zu formulieren – eben das, was Hegel wollte –, ist uns nicht gegeben. Ob man diesen Hintergrund »Lebenskraft oder Gattungstypus oder Gedanken Gottes« nenne – man beachte die eigentümliche Mischung modern-biologischer mit platonisierender und scholastischer Terminologie –, das, meint Roscher, sei gleichgültig. Aufgabe der Forschung sei es, ihn »immer weiter zurückzuschieben«. Also die Hegelschen Allgemeinbegriffe sind als metaphysische Realitäten vorhanden, aber wir vermögen sie, eben dieses ihres Charakters wegen, nicht denkend zu erfassen.

Fragen wir uns, wo denn für Roscher das prinzipielle Hindernis lag, die Hegelsche Form der Ueberwindung der im diskursiven Erkennen liegenden Schranke zu akzeptieren, obwohl er doch im Prinzip das Verhältnis zwischen Begriff und Wirklichkeit ähnlich denkt, so ist wohl in erster Linie sein religiöser Standpunkt in Betracht zu ziehen. Für ihn sind eben in der Tat die letzten und höchsten – im Hegelschen Sinn: »allgemeinsten« – Gesetze des Geschehens »Gedanken Gottes«, die Naturgesetze seine Verfügungen50, und sein Agnostizismus in bezug auf die Rationalität der Wirklichkeit ruht auf dem religiösen Gedanken der Begrenztheit des endlichen, menschlichen, im Gegensatz zum unendlichen göttlichen Geist, trotz der qualitativen Verwandtschaft beider. Philosophische Spekulationen – meint er (Thukydides, S. 37) ganz charakteristisch – sind Produkte ihres Zeitalters; ihre »Ideen« sind unsere Geschöpfe; wir aber bedürfen, wie Jacobi sagt, »einer Wahrheit, deren Geschöpfe wir sind«. Alle in der Geschichte wirksamen Triebfedern, führt er ebenda S. 188 aus, gehören in eine der drei Kategorien: »menschliche Handlungen, materielle Verhältnisse, übermenschliche Ratschlüsse«. Nur wenn er die letzteren zu durchschauen vermöchte, könnte der Historiker wirklich von Notwendigkeit sprechen, denn die (begriffliche) Freiheit des Willens gestattet die Anwendung dieser Kategorie für die empirische Forschung nur da, wo Zwang durch die »reale Ueberlegenheit eines fremden Willens« eintritt. Die Geschichte zerlegt aber nach Roscher wie nach Thukydides und Ranke alles in menschliche, irdische, verständliche Motive, die aus dem Charakter des Handelnden folgen: sie denkt nicht daran, »Gott in der Geschichte« finden zu wollen; und auf die Frage, was denn danach der t??? des Thukydides (und der göttlichen Vorsehung Roschers) noch zu tun bleibe, antwortet Roscher (das. S. 195) mit dem Hinweis auf die prästabilierende Schöpfung der Persönlichkeiten durch Gott: die metaphysische Einheit der »Persönlichkeit«, der wir später bei Knies wieder begegnen werden und deren Emanation ihr Handeln ist, ruht bei Roscher auf seinem Vorsehungsglauben. Die Schranken des diskursiven Erkennens erschienen ihm danach als natürlich, weil aus dem begrifflichen Wesen der Endlichkeit folgend und gottgewollt; man kann sagen, neben der Nüchternheit des gewissenhaften Forschers hat sein religiöser Glaube ihn – ähnlich wie schon seinen Lehrer Ranke – gegen Hegels panlogistisches Bedürfnis, welches den persönlichen Gott im traditionellen Sinn in einer für ihn bedenklichen Weise verflüchtigte, immunisiert51. Wenn der Vergleich erlaubt ist, so darf man sich die Rolle, welche der Glaube an Gott im wissenschaftlichen Betrieb Rankes und Roschers gespielt hat, vielleicht durch die Analogie der Rolle des Monarchen im streng parlamentarischen Staat verdeutlichen: der gewaltigen politischen Kräfte-Oekonomie, welche hier dadurch entsteht, daß die höchste Stelle im Staat, wennschon durch einen persönlich auf die konkreten Staatsgeschäfte ganz einflußlosen Inhaber, besetzt ist und so die vorhandenen Kräfte von der Bahn des reinen Machtkampfes um die Herrschaft im Staat (mindestens relativ) ab- und positiver Arbeit im Dienste des Staates zugeleitet werden, – entspricht es dort, daß metaphysische Probleme, welche auf dem Boden der empirischen Geschichte nicht lösbar sind, von vornherein ausgeschaltet, dem religiösen Glauben überlassen werden und so die Unbefangenheit der historischen Arbeit gegenüber der Spekulation gewahrt bleibt. Daß Roscher die Nabelschnur, die seine Geschichtsauffassung mit der »Ideenlehre« (im metaphysischen Sinn) verband, nicht soweit durchschnitten hat wie Ranke, erklärt sich aus der überwältigenden Macht der Hegelschen Gedankenwelt, welcher sich auch die Gegner – wie Gervinus – nur langsam und nur in Form der allmählich verblassenden Humboldtschen Ideenlehre52 zu entziehen vermochten: es beherrschte ihn offenbar die Besorgnis, bei Aufgabe jedes objektiven Prinzips der Gliederung des gewaltigen ihm zuströmenden historischen Stoffes entweder in diesem letzteren zu versinken oder zu subjektiv-willkürlichen »Auffassungen« greifen zu müssen53. Endlich wirkte, wie schon hervorgehoben, das bestechende Vorbild der historischen Juristenschule.

Verfolgen wir nun, wie sich Roschers erkenntnistheoretischer Standpunkt – soweit man von einem solchen sprechen kann – in seiner Behandlung des Problems der »geschichtlichen Entwickelungsgesetze« äußert, deren Feststellung er ja, wie wir sahen, als Ziel der Geschichte denkt.

Die Behandlung der »Völker« als Gattungswesen setzt natürlich voraus, daß die Entwicklung jedes Volkes sich als ein typischer, geschlossener Kreislauf nach Art der Entwickelung der einzelnen Lebewesen auffassen läßt. Dies ist nun nach Roschers Ansicht mindestens für alle diejenigen Völker, welche eine Kulturentwicklung aufzuweisen haben, in der Tat der Fall54 und zeigt sich in der Tatsache des Aufsteigens, Alterns und Untergangs der Kulturnationen –, nach Roscher ein Prozeß, der trotz scheinbar verschiedener Formen so ausnahmslos bei allen Nationen sich einstellt, wie bei den physischen Individuen. Als ein Teil dieses Lebensprozesses der Völker sind die wirtschaftlichen Erscheinungen »physiologisch« zu begreifen. Die Völker sind für Roscher – wie Hintze55 es ganz zutreffend ausdrückt – »biologische Gattungswesen«. Vor dem Forum der Wissenschaft ist mithin – Roscher hat das auch ausdrücklich ausgesprochen – die Lebensentwickelung der Völker prinzipiell immer die gleiche, und trotz des Anscheins des Gegenteils ereignet sich in Wahrheit »nichts Neues« unter der Sonne56, sondern immer nur das Alte mit »zufälligen« und deshalb wissenschaftlich gleichgültigen Zutaten: eine offenbar spezifisch naturwissenschaftliche 57 Betrachtungsweise.

Dieser typische Lebensgang aller Kulturvölker muß natürlich in typischen Kulturstufen zum Ausdruck kommen. Diese Konsequenz wird von Roscher in der Tat schon im »Thukydides« (Kap. IV) durchgeführt. Nach dem »Hauptgrundsatz aller historischen Kunst, daß man in jedem Werke die ganze Menschheit wiederfinden müsse«, ist es die Aufgabe des Historikers – Roscher denkt an der betreffenden Stelle zunächst an den Literarhistoriker –, die Gesamtliteratur des Altertums mit derjenigen der romanischen und germanischen Völker zum Zwecke der Ermittelung der Entwickelungsgesetze aller Literaturen überhaupt zu vergleichen. Diese Vergleichung ergibt aber, wenn sie weiterhin auf die Entwickelung der Kunst und Wissenschaft, der Weltanschauung und des gesellschaftlichen Lebens ausgedehnt wird, die Aufeinanderfolge von in sich wesensgleichen Stufen auf allen Kulturgebieten. Roscher erinnert gelegentlich daran, daß man selbst in den Weinen der verschiedenen Länder den Volkscharakter habe schmecken wollen. Die metaphysische Volksseele, welche sich darin äußert, wird einerseits als etwas Konstantes, sich selbst Gleichbleibendes vorgestellt, aus welchem die sämtlichen »Charaktereigenschaften« des konkreten Volkes emanieren58, weil sie eben ganz so wie die Seele des Individuums direkte Schöpfung Gottes ist. Andererseits gilt sie als nach Analogie der menschlichen Lebensalter einem in allen wesentlichen Punkten bei allen Völkern und auf allen einzelnen Gebieten gleichen Entwickelungsprozeß unterstehend. Typische, konventionelle und individualistische Epochen lösen sich in Poesie, Philosophie und Geschichtsschreibung, ja in Kunst und Wissenschaft überhaupt in festbestimmtem Kreislauf ab, der stets in dem unvermeidlichen »Verfall« endet. Roscher führt dies an Beispielen aus der antiken, mittelalterlichen und modernen Literatur bis in das 18. Jahrhundert hinein durch59 und interpretiert seine Theorie, daß die Geschichte deshalb Lehrmeisterin sein könne, weil die Zukunft »nach menschlicher Weise der Vergangenheit ähnlich wiederzukehren« pflege, in recht charakteristischer Weise in die bekannte Aeußerung des Thukydides über den Zweck seines Werkes (I, 22) hinein. Seine eigene Ansicht vom Wert der geschichtlichen Erkenntnis60: – Befreiung von Menschenvergötterung und Menschenhaß durch Erkenntnis des »Dauerhaften« in der Flucht des Ephemeren – zeigt eine leicht spinozistische Färbung, und einzelne Aeußerungen klingen beinahe fatalistisch61.

Auf das Gebiet, welches uns hier interessiert, übertrug Roscher diese Theorie62 in dem Aufsatz über die Nationalökonomie und das klassische Altertum (1849). Die Wirtschaft kann sich der allgemeinen Erscheinung der typischen Stufenfolge natürlich nicht entziehen. Roscher unterscheidet als typische Wirtschaftsstufen drei, je nachdem in der Güterproduktion von den drei typischen Faktoren derselben die »Natur« oder die »Arbeit« oder das »Kapital« vorherrscht, und glaubt, daß »bei jedem vollständig entwickelten Volke« drei dementsprechende Perioden sich nachweisen lassen müssen.

Unserer heutigen am Marxismus orientierten Betrachtungsweise würde es nun ganz selbstverständlich sein, die Lebensentwickelung des Volkes als durch diese typischen Wirtschaftsstufen bedingt anzusehen und die Tödlichkeit der Kulturentwickelung für die Völker – diese These Roschers einmal als bewiesen vorausgesetzt – etwa als Folge gewisser mit der Herrschaft des »Kapitals« unvermeidlich verknüpfter Folgen für das staatliche und persönliche Leben aufzuzeigen. Roscher hat an diese Möglichkeit so wenig gedacht, daß er jene Theorie von den typischen Wirtschaftsstufen63 in seinem »System« bei den grundlegenden Erörterungen lediglich als ein mögliches Klassifikationsprinzip erwähnt (§28), ohne sie weiterhin der Betrachtung zugrunde zu legen. Vielmehr ist er der Meinung, daß das Problem des zugrundeliegenden Lebensprozesses selbst, also die Frage nach dem Grunde des Alterns und Sterbens der Völker ebensowenig lösbar sei, wie sich ein naturgesetzlicher Grund für die – trotzdem nicht bezweifelte – ausnahmslose Notwendigkeit des Todes beim Menschen angeben lasse. Der Tod folgt für Roscher aus dem »Wesen« des Endlichen64, sein empirisch ausnahmsloser Eintritt ist eine Tatsache, welche wohl einer metaphysischen Deutung, aber keiner exakten kausalen Erklärung zugänglich ist65 – mit Du Bois-Reymond zu sprechen: ein »Welträtsel«.

Das logische Problem, wie nun zwischen diesem zugrundegelegten biologischen Entwickelungsschema und der in Parallelismenbildung sich bewegenden, vom Einzelnen ausgehenden empirischen Forschung eine feste Beziehung herzustellen sei, hätte nun Roscher naturgemäß, auch wenn sein geschichtsphilosophischer Standpunkt ein anderer gewesen wäre, schwerlich lösen können. Die logische Natur des Satzes vom notwendigen Altern und Sterben der Völker ist eben eine andere als die eines auf Abstraktion ruhenden Bewegungsgesetzes oder eines anschaulich evidenten mathematischen Axioms. Abstrakt vollzogen – soweit dies überhaupt möglich66 wäre –, würde jener Satz ja gänzlich inhaltsleer sein und könnte Roscher eben die Dienste nicht leisten, welche er von ihm erwartet. Denn die Zurückführung auf die Altersstufen der Völker soll ja doch offenbar nach seiner Absicht nicht eine Subsumtion der wirtschaftlichen Vorgänge unter einen generellen Begriff als Spezialfall , sondern ein kausales Eingliedern ihres Ablaufs in einen universellen Zusammenhang von Geschehnissen67 als deren Bestandteil bedeuten. Der Begriff des »Alterns« und »Sterbens« der Völker müßte mithin und selbstverständlich als der inhaltlich umfassendere Begriff gedacht werden, das »Altern« und »Sterben« als ein Vorgang von unendlicher Komplexität, dessen nicht nur empirische Regelmäßigkeit, sondern gesetzliche Notwendigkeit (wie Roscher sie annimmt) sich axiomatisch nur einem intuitiven Erkennen enthüllen würde. Für die Beziehungen des Gesamtvorgangs zu den wirtschaftlichen Teilvorgängen wären für die wissenschaftliche Betrachtung zwei Möglichkeiten gegeben: Entweder man behandelt die Erklärung des (nach Roschers Ansicht) stets sich wiederholenden komplexen Vorgangs aus gewissen, stets sich wiederholenden Einzelvorgängen als Zweck, dem man sich auf dem Wege des Nachweises der gesetzlichen Notwendigkeit in der Aufeinanderfolge und dem Zusammenhang der Teilvorgänge zu nähern sucht: – der Gesamtvorgang, den der umfassendere Begriff bezeichnet, wird alsdann zur Resultante aus den einzelnen Teilvorgängen; – das hat Roscher nicht versucht, da er vielmehr den Gesamtvorgang (Altern und Sterben) als den Grund ansah68. Wir werden noch sehen, daß er entsprechend seiner Stellung zum diskursiven Erkennen69 die umgekehrte Betrachtungsweise auch in der Nationalökonomie für nicht nur faktisch, sondern prinzipiell unmöglich hielt. Oder man stellt sich auf den Standpunkt des Emanatismus und konstruiert die empirische Wirklichkeit als Ausfluß von »Ideen«, aus denen die Einzelvorgänge begrifflich als notwendig ableitbar sein und deren oberste sich in dem komplexen Gesamtvorgang anschaulich erkennbar manifestieren müßte. Das aber hat Roscher ebenfalls (wie wir sahen) nicht getan, einmal weil er den Inhalt einer solchen »Idee«, die ihm göttliche Idee hätte sein müssen, als jenseits der Grenzen unseres Erkennens liegend ansah, und dann, weil ihn die Gewissenhaftigkeit des historischen Forschers vor dem Glauben an die Deduzierbarkeit der Wirklichkeit aus Begriffen bewahrte.

Aber freilich bleibt so sein methodischer Standpunkt gegenüber dem von ihm vertretenen Grundgedanken der geschichtlichen Entwicklungsgesetze widerspruchsvoll70. Seine umfassende historische Bildung äußert sich zwar in der Herbeischaffung und geistvollen Deutung eines gewaltigen Materials geschichtlicher Tatsachen, aber – das hat schon Knies scharf hervorgehoben – von einer konsequent durchgeführten Methode kann selbst für die von Roscher so stark in ihrer Bedeutung betonte Betrachtung des historischen Nacheinander der volkswirtschaftlichen Institutionen nicht gesprochen werden.

Ganz entsprechend verhält sich Roscher in seinen Schriften über die Entwickelung der politischen Organisationsformen71. Durch historische Parallelismen nähert er sich einer (vermeintlichen) Regelmäßigkeit der Aufeinanderfolge der Staatsformen, die nach ihm den Charakter einer bei allen Kulturvölkern anzutreffenden Entwickelung besitzt, indem die Ausnahmen, welche sich finden, durchweg derart erklärt werden können, daß sie die Geltung der Regel nicht aufheben, sondern bestätigen. Der Versuch, die (angeblich) typischen politischen Entwickelungsstufen in den Zusammenhang der Gesamtkultur der einzelnen Völker zu stellen und empirisch zu erklären, wird nicht gemacht. Sie sind eben Altersstufen, welche das Gattungswesen »Volk« in seinem Lebensprozeß an sich erlebt72, – wie aber der Vorgang dieses »Erlebens« eigentlich zustandekommt, wird trotz Beibringung eines gewaltigen Tatsachenmaterials nicht zu erklären versucht – wie wir wissen, weil es eben nach Roschers Meinung nicht erklärbar ist. –

In noch markanterer Weise tritt das gleiche hervor bei Roschers Analyse des Nebeneinander der wirtschaftlichen Vorgänge und ihres »statischen« Zusammenhangs untereinander – der Aufgabe, auf welche sich die Doktrin bisher im wesentlichen beschränkt hatte. Auch hier zeigen sich die Konsequenzen von Roschers »organischer« Auffassung sogleich bei der Erörterung des Begriffs der »Volkswirtschaft«. Es versteht sich, daß sie ihm kein bloßes Aggregat von Einzelwirtschaften ist, sowenig wie ihr Analogon, der menschliche Körper, »ein bloßes Gewühl chemischer Wirkungen« sei. – Vor wie nach ihm bildet nun das sachliche wie methodische Grundproblem der Nationalökonomie die Frage: Wie haben wir die Entstehung und den Fortbestand nicht auf kollektivem Wege zweckvoll geschaffener und doch – für unsere Auffassung – zweckvoll funktionierender Institutionen des Wirtschaftslebens zu erklären? – ganz ebenso wie das Problem der Erklärung der »Zweckmäßigkeit« der Organismen die Biologie beherrscht. Für das Nebeneinander der wirtschaftlichen Erscheinungen heißt das also: in welcher begrifflichen Form ist das Verhältnis der Einzelwirtschaften zu dem Zusammenhang, in den sie verflochten sind, wissenschaftlich zu konstruieren? Hierauf ist nach der Ansicht Roschers ebenso wie nach derjenigen seiner Vorgänger und meisten Nachfolger nur auf Grund bestimmter Annahmen über die psychologischen Wurzeln des Handelns der Einzelnen eine Antwort zu geben73. Dabei wiederholen sich nun die Widersprüche in Roschers methodischem Verhalten, die wir oben in seiner Geschichtsphilosophie hervortreten sahen. Da Roscher die Vorgänge des Lebens geschichtlich, das heißt in ihrer vollen Realität, betrachten zu wollen ankündigt, so sollte man voraussetzen, er werde, wie dies später, seit Knies, seitens der historischen Nationalökonomie im Gegensatz zu den Klassikern geschah, die konstante Einwirkung nicht ökonomischer Faktoren auch auf das wirtschaftliche Handeln des Menschen: die kausale Heteronomie der menschlichen Wirtschaft, in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellen.

Da aber Roscher an der Formulierung von Gesetzen der Wirtschaft als der wissenschaftlichen Grundaufgabe festhält, so hätte alsdann auch hier wieder das Problem entstehen müssen, wie einerseits die isolierende Abstraktion gegenüber der Realität des Lebens aufgegeben, andererseits doch die Möglichkeit gesetzlich-begrifflicher Erkenntnis gewahrt werden sollte. Was Roscher anlangt, so hat er jene Schwierigkeit gar nicht empfunden, und zwar hob ihn darüber die überaus einfache Psychologie hinweg, von der er in Anlehnung an die mit dem Begriff des »Triebes« arbeitende Aufklärungs-Psychologie ausging.

Für Roscher ist der Mensch durchweg, auch auf dem Boden des wirtschaftlichen Lebens, beherrscht einerseits von dem Streben nach den Gütern dieser Welt, dem Eigennutz, daneben aber von einem umfassenden anderen Grundtriebe: der »Liebe Gottes«, welche die »Ideen der Billigkeit, des Rechtes, des Wohlwollens, der Vollkommenheit und inneren Freiheit« umfaßt und bei niemandem völlig fehlt (Syst., Bd. I § 11).

Was das Verhältnis der beiden Triebe zueinander anlangt, so findet sich bei Roscher zunächst ein Ansatz zu einer rein »utilitarischen« Ableitung der sozialen Triebe direkt aus dem wohlverstandenen Eigeninteresse74. Allein dem wird nicht weiter nachgegangen, vielmehr ist es, entsprechend Roschers religiösen Anschauungen, der höhere, göttliche Trieb, welcher den irdischen Eigennutz, dessen Widerpart er ist und sein muß, im Zaum hält75, indem er sich mit ihm in den mannigfaltigsten Mischungsverhältnissen durchdringt und so die verschiedenen Abstufungen des Gemeinsinns erzeugt, auf denen das Familien-, Gemeinde-, Volks- und Menschheitsleben beruht. Je enger die sozialen Kreise, auf welche sich der Gemeinsinn bezieht, desto näher steht er dem Eigennutz; je weiter sie sind, desto mehr nähert er sich dem Trachten nach dem Gottesreiche. Die verschiedenen sozialen Triebe des Menschen sind also als Aeußerungsformen eines religiösen Grundtriebes in dessen Vermischung mit dem Eigeninteresse aufgefaßt.

Man sollte nun bei dieser Anschauungsweise Roschers erwarten, daß er rein empirisch die Entstehung der einzelnen Vorgänge und Institutionen aus der Wirksamkeit jener beiden Triebe, deren Mischungsverhältnis im einzelnen Fall festzustellen wäre, zu erklären versuchen würde76.

Roschers Verhalten ist aber ein anderes. Es konnte auch ihm nicht entgehen, daß auf den spezifischen Gebieten des modernen Wirtschaftslebens, im Verkehr der Börsen, Banken, im modernen Großhandel, in den kapitalistisch entwickelten Gebieten der Gütererzeugung, das wirkliche Leben von irgendwelcher Gebrochenheit des »wirtschaftlichen« Eigennutzes durch andere »Triebe« schlechterdings nichts zeigte. Demgemäß hat Roscher den gesamten auf den Eigennutz aufgebauten Begriffs- und Gesetzesapparat der klassischen Nationalökonomie ohne allen Vorbehalt übernommen. Die bisherige deutsche Theorie hatte nun – so insbesondere Hermann, auch Rau – der Alleinherrschaft des Eigennutzes im privaten Wirtschaftsleben77 die Herrschaft des Gemeinsinns im öffentlichen Leben an die Seite gestellt78, wobei einerseits die Aufteilung des gesamten Wirkungskreises des Menschen in Privatwirtschaft und öffentliche Tätigkeit79, und andererseits die Identifikation von Sein und Sollen80 das charakteristische Merkmal der »klassischen« Auffassungsweise war. Roscher hingegen lehnt diese Auffassung ab, weil, wie er im plötzlichen Fallenlassen seiner Psychologie bemerkt, Eigennutz und Gemeinsinn »weder koordinierte, noch gar erschöpfende Gegensätze« seien.

Vielmehr trägt er seinerseits noch eine dritte Auffassung über die Beziehungen des Eigennutzes zum sozialen Zusammenleben vor, indem er81 bemerkt: »Er (der Eigennutz) wird zum irdisch verständigen Mittel für einen ewig idealen Zweck verklärt«. Man fühlt sich dabei zunächst sofort auf den Boden der optimistischen »Eigennutz«-Theorien des 18. Jahrhunderts gestellt82.

Wenn aber Mandevilles Bienenfabel in ihrer Weise das Problem des Verhältnisses zwischen Privat- und Gemein-Interessen in der Formel »private vices public benefits« zugleich stellte und beantwortete, und wenn auch manche der Späteren bewußt oder unbewußt der Ansicht zuneigten, der wirtschaftliche Eigennutz sei zufolge providentieller Fügung jene Kraft, »die stets das Böse will und stets das Gute schafft«, so bestand dabei die Vorstellung, daß der Eigennutz direkt, und so wie er eben ist, ungebrochen, in den Dienst der je nach dem Sprachgebrauch »göttlichen« oder »natürlichen« Kulturziele der Menschheit gestellt sei.

Roscher hingegen weist (Anm. 6 § 11 des Systems, Band I) auch jene Auffassung Mandevilles und der Aufklärungsperiode ausdrücklich ab, und zwar liegt der Grund hierfür teils auf religiösem Gebiet83, teils aber – und damit gelangen wir wieder zum letzten Grund all' dieser Widersprüche – in den erkenntnistheoretischen Konsequenzen seiner »organischen« Auffassung. Roscher hat zwar kein Bedenken getragen, für diejenigen Erscheinungen, welche, wie Grundrente, Zins, Lohn, sich als massenhaft wiederkehrende Einzelvorgänge und unmittelbare Relationen der Privatwirtschaften untereinander darstellen, die Ableitung aus dem Ineinandergreifen des vom Eigennutz gelenkten privatwirtschaftlichen Handelns zu verwenden; allein er lehnte es ab, sie auch auf diejenigen sozialen Institutionen anzuwenden, welche in dieser Betrachtung nicht erschöpfend aufgehen und uns als »organische« Gebilde – »Zwecksysteme«, mit Dilthey zu sprechen – entgegentreten. Und zwar entziehen sich dieser Betrachtungsweise nach seiner Meinung nicht nur die auf Gemeinsinn ruhenden Formen des menschlichen Gemeinschaftslebens, wie Staat und Recht, sondern auch der Kosmos der rein wirtschaftlichen Beziehungen ist als Ganzes einer solchen, ja überhaupt einer rein kausalen Erklärung unzugänglich, und zwar, weil sich »Ursache und Wirkung nicht voneinander scheiden« lassen. Wie Roscher erläuternd hinzufügt, meint er damit, daß auf dem Gebiete sozialen Geschehens jede Wirkung ihrerseits im umgekehrten Verhältnis wieder Ursache sei oder doch sein könne, und daß alle einzelnen Erscheinungen, »im Verhältnis von wechselseitiger Bedingtheit zueinander« stehen. Jede kausale Erklärung dreht sich (nach Roscher) daher in einem Kreise herum84, aus dem ein Ausweg nur zu finden ist, wenn man ein organisches  Leben des Gesamtkosmos annimmt, dessen Aeußerungen die Einzelvorgänge sind. Unsere Analyse steht wieder vor jenem, uns schon früher begegneten, »unerklärbaren Hintergrund« der Einzelerscheinungen, und ihre wissenschaftliche Aufgabe kann, wie wir sahen, nur darin bestehen, jenen Hintergrund immer weiter »zurückzuschieben«.

Man sieht auch hier: es ist nicht, oder doch nicht unmittelbar, der »hiatus irrationalis« zwischen der stets nur konkret und individuell gegebenen Wirklichkeit und den durch Abstraktion vom Individuellen entstehenden allgemeinen Begriffen und Gesetzen, was Roscher jene prinzipielle Schranke des volkswirtschaftlichen Erkennens aufstellen läßt. Denn daran, daß die konkrete Realität des Wirtschaftslebens begrifflicher Erfassung in Form von Gesetzen prinzipiell zugänglich sei, zweifelt er nicht im mindesten. Freilich seien »unzählige« Naturgesetze – aber doch eben Gesetze – zu ihrer Erschöpfung erforderlich. Nicht die Irrationalität der Wirklichkeit, welche sich gegen die Einordnung unter »Gesetze« sträubt, sondern die »organische« Einheitlichkeit der geschichtlich-sozialen Zusammenhänge erscheint ihm als das Objekt, dessen kausale Erklärung und Analyse er nicht nur für schwieriger hält, als diejenige natürlicher Organismen85, sondern welches prinzipiell unerklärt bleiben muß. Nicht, daß die Einzelerscheinungen nicht in die allgemeinen Begriffe eingehen, und zwar notwendig um so weniger, je allgemeiner die Begriffe sind, sondern daß die universellen Zusammenhänge und die zuständlichen Gebilde zufolge ihrer Dignität als »Organismen« nicht von den Einzelerscheinungen aus kausal erklärbar seien, stellt für ihn die Grenze des rationalen Erkennens dar. Daß aber eine kausale Erklärung der Totalitäten von den Einzelerscheinungen aus (nicht nur faktisch, sondern) prinzipiell unmöglich sei, ist ihm ein Dogma, welches zu erweisen er gar nicht unternimmt. Zwar stehen ihm jene zuständlichen Gebilde und Zusammenhänge deshalb keineswegs außerhalb jener kausalen Bedingtheit. Aber sie fügen sich einem (metaphysischen)86 Kausalzusammenhang höherer Ordnung, den unser Erkennen nur in seinen Aeußerungen gelegentlich greifen, nicht aber in seinem Wesen durchschauen kann – wiederum (nach Roschers Ansicht) nach Analogie des natürlichen Lebensprozesses. Roscher glaubt (§ 13) zwar nicht, daß die Volkswirtschaft in gleichem Maße wie ein natürlicher Organismus »natürlich gebunden« sei, allein er findet die (metaphysische) Gesetzlichkeit auch jener »höheren« Erscheinungen des Wirtschaftslebens sich äußernd in dem sogenannten »Gesetz der großen Zahl« in der Statistik, welches erkennen lasse, wie die scheinbare Willkür der konkreten Einzelfälle sich, sobald man auf das Ganze des Zusammenhangs sehe, in »wunderbaren Harmonien« ausgleiche87.

Nicht eine methodisch-logische Grenze der Erfassung der Wirklichkeit in Gattungsbegriffen und abstrakten Gesetzen, sondern das Hereinragen der für unser Erkennen transzendenten Mächte in die Wirklichkeit findet also Roscher in dem Gegensatz des sozialen Kosmos gegenüber den theoretisch analysierbaren Einzelvorgängen. Wir stehen hier wieder, wie schon oben, an der Grenze des Emanatismus. Sein Wirklichkeitssinn lehnt es ab, den Gedanken, daß die »organischen« Bestandteile jenes Kosmos Emanationen von »Ideen« seien, für eine Erklärung auszugeben. Den Gedanken selbst aber weist er nicht zurück. –

Roschers Kreislauftheorie einerseits, die von ihm verwendete Kategorie des »Gemeinsinns« andererseits erklärt endlich auch seinen prinzipiellen Standpunkt88 zur Frage der wissenschaftlichen Behandlung der Wirtschaftspolitik89. Zunächst muß die Folge des untrennbaren Zusammenhangs der Wirtschaft mit dem gesamten Kulturleben die Heteronomie des wirtschaftspolitischen Zweckstrebens sein. Die »Förderung des Nationalreichtums« – diesen Begriff zu verwerfen hat sich Roscher nicht entschlossen – kann nicht der selbstverständliche und einzige Zweck der Wirtschaftspolitik, die Staatswirtschaft keine bloße »Chrematistik sein«90. Die Erkenntnis des historischen Wandels der Wirtschaftserscheinungen schließt ferner aus, daß die Wissenschaft andere als relative Normen aufstellt –, je nach der Entwickelungsstufe des betreffenden Volkes91. Allein hiermit hat der Relativismus Roschers seine Grenzen erreicht: Er geht nirgends so weit, den Werturteilen, welche die Grundlage der wirtschaftspolitischen Maximen sind, nur subjektive Bedeutung zuzugestehen92 und damit die wissenschaftlich eindeutige Auffindung von Normen überhaupt abzuweisen. Wenn Roscher seinen methodischen Standpunkt dahin zusammenfaßt, daß er auf die Ausarbeitung allgemeiner Ideale grundsätzlich verzichte (§ 26), und »nicht wie ein Wegweiser, sondern wie eine Landkarte« orientieren wolle, so heißt das nicht, daß er demjenigen, welcher auf der Suche nach »Richtung weisenden Idealen« sich an die Wissenschaft wendet, antwortet: »Werde, der du bist«. Er ist vielmehr, wenigstens theoretisch, von dem Vorhandensein objektiver Grundlagen für die Aufstellung von Normen nicht nur für jede konkrete Situation, sondern darüber hinaus auch je für die einzelnen, typischen Entickelungsstufen der Volkswirtschaft überzeugt93. Die Wirtschaftspolitik ist eine Therapeutik des Wirtschaftslebens94, – und eine solche ist natürlich nur möglich, wenn ein je nach dem Entwickelungsgrade individuell verschiedener, immer aber als solcher objektiv erkennbarer Normalzustand der Gesundheit feststellbar ist, dessen Herstellung und Sicherung gegen Störungen dann das selbstverständliche Ziel des Wirtschaftspolitikers ganz ebenso bilden muß, wie das Entsprechende für die Tätigkeit des Arztes am physischen Organismus der Fall ist.

Ob nun eine solche Annahme vom Standpunkte einer rein diesseitig orientierten Lebensauffassung aus überhaupt ohne Selbsttäuschung möglich wäre, bleibt hier vorerst dahingestellt: für Roscher war sie prinzipiell gegeben durch seine geschichtsphilosophische Auffassung des typischen Ganges der Völkerschicksale in Verbindung mit seinem religiösen Glauben, welcher für ihn die sonst unvermeidlichen fatalistischen Konsequenzen seiner Theorie ausschloß. Zwar wissen wir nach Roscher weder, in welchem Stadium der, von ihm als ein im Sinn des Christentums endlicher Prozeß gedachten, Gesamtmenschheitsentwicklung, noch in welchem Stadium der Entwickelung unserer, ja auch zum Absterben bestimmten, nationalen Kultur wir uns befinden. Aber daß wir es nicht wissen, gereicht nach Roscher uns – in diesem Fall: der Tätigkeit des Politikers – ebenso zum Vorteil, wie die Verborgenheit der Todesstunde dem physischen Menschen, und hindert ihn nicht zu glauben, daß das Gewissen und der gesunde Menschenverstand dem Kollektivindividuum die ihm jeweils von Gott gestellten Aufgaben ebenso enthüllen könne wie dem Einzelnen. Immerhin versteht sich, daß bei einem derartigen Gesamtstandpunkt für die wirtschaftspolitische Arbeit es naturgemäß nur enge Grenzen gibt: Regelmäßig dringen nach Roscher – kraft des naturgesetzlichen Charakters der wirtschaftlichen Entwickelung – die »wirklichen Bedürfnisse eines Volkes« auch im Leben von selbst durch95 –, die gegenteilige Annahme widerstreitet dem Glauben an die göttliche Vorsehung. Ein, wenn auch relativistisches, so doch in irgendeinem Sinn geschlossenes System wirtschaftspolitischer Postulate ist, da die Endlichkeit unseres diskursiven Erkennens uns die Erfassung der Gesamtheit der »Entwickelungsgesetze« versagt, etwas vielleicht schon prinzipiell Unmögliches, sicherlich aber tatsächlich ebensowenig erschöpfend zu entwickeln, wie auf dem Gebiet der politischen Arbeit, was Roscher gelegentlich (§ 25) auch ausdrücklich ausspricht. So sind denn die zahlreichen wirtschaftspolitischen Aeußerungen Roschers zwar der Ausdruck seiner milden, maßvollen, vermittelnden Persönlichkeit, in keiner Weise aber der Ausdruck klarer, konsequent durchgeführter Ideale. Wirklich ernste und dauernde Konflikte zwischen dem Schicksalszuge der Geschichte und den Lebensaufgaben, welche Gott dem Einzelnen wie den Völkern stellt, sind eben unmöglich, und die Aufgabe, sich seine letzten Ideale autonom zu stecken, tritt an den Einzelnen gar nicht heran. Roscher konnte daher auf seinem relativistischen Standpunkt verharren, ohne ethischer Evolutionist zu werden. Er hat den Evolutionismus in seiner naturalistischen Form auch ausdrücklich abgelehnt96, – daß der historische Entwicklungsgedanke eine ganz ähnliche Entleerung des normativen Charakters der sittlichen Gebote enthalten könne, mußte ihm verborgen bleiben, da er dagegen gesichert war.

Fassen wir zusammen, so sehen wir, daß Roschers »historische Methode« ein, rein logisch betrachtet, durchaus widerspruchsvolles Gebilde darstellt. Versuche, die gesamte Realität der historisch gegebenen Erscheinungen zu umklammern, kontrastieren mit dem Streben nach Auflösung derselben in »Naturgesetze«. Bei dem Versuch, die Allgemeinheit der Begriffe und die Universalität des Zusammenhanges miteinander zu identifizieren, gerät Roscher auf die Bahn der »organischen« Auffassungsweise bis an die Grenze eines Emanatismus Hegelscher Art, den zu akzeptieren sein religiöser Standpunkt ihn hindert. Bei Betrachtung der Einzelerscheinungen wird alsdann jene organische Betrachtungsweise wieder teilweise beiseite gelassen, zugunsten eines Nebeneinander von begrifflicher Systematisierung nach Art der Klassiker, mit empirisch-statistischer Erläuterung bald der realen Geltung, bald der nur relativen Bedeutung der so gefundenen Sätze. Nur in der Darstellung der wirtschaftspolitischen Systeme behält die organisch-konstruktive Eingliederung der Erscheinungen in die Altersstufen der Völker die Oberhand. – Für die Gewinnung wirtschaftspolitischer Werturteile führt sein historisch orientierter Relativismus zu wesentlich negativen Resultaten insofern, als die objektiven Normen, deren Bestehen fortwährend vorausgesetzt wird, nicht im Zusammenhang entwickelt oder auch nur formuliert werden.

Roscher bildet zu Hegel weniger einen Gegensatz als eine Rückbildung: Die Hegelsche Metaphysik und die Herrschaft der Spekulation über die Geschichte ist bei ihm verschwunden, ihre glänzenden metaphysischen Konstruktionen sind ersetzt durch eine ziemlich primitive Form schlichter religiöser Gläubigkeit. Dabei machen wir aber die Beobachtung, daß damit Hand in Hand immerhin ein Gesundungsprozeß, man kann geradezu sagen: ein Fortschritt in der Unbefangenheit oder, wie man es jetzt ungeschickt nennt, »Voraussetzungslosigkeit« der wissenschaftlichen Arbeit geht. Wenn es Roscher nicht gelang, seinen Weg von Hegel fort bis zu Ende zu verfolgen, so ist daran im wesentlichen der Umstand schuld, daß er das logische Problem der Beziehungen zwischen Begriff und Begriffenem nicht so in seiner methodischen Tragweite erkannt hatte, wie Hegel.

II. Knies und das Irrationalitätsproblem.

I. Die Irrationalität des Handelns. Charakter des Kniesschen Werkes S. 42. – »Willensfreiheit« und »Naturbedingtheit« bei Knies im Verhältnis zu modernen Theorien S. 44. – Wundts Kategorie der »schöpferischen Synthese« S. 51. – Irrationalität des konkreten Handelns und Irrationalität des konkreten Naturgeschehens S. 64. – Die »Kategorie« der »Deutung« S. 67. – Erkenntnistheoretische Erörterungen dieser »Kategorie«: 1) Münsterbergs Begriff der »subjektivierenden« Wissenschaften S. 70. – 2) »Verstehen« und »Deuten« bei Simmel S. 93. – 3) Gottls Wissenschafts-Theorie S. 95.

Das methodologische Hauptwerk von Knies »Die politische Oekonomie vom Standpunkt der geschichtlichen Methode« erschien in erster Auflage 1853, vor dem Erscheinen des ersten Bandes von Roschers »System« (1854), mit dem sich Knies in den »Göttinger gelehrten Anzeigen« (1855) auseinandersetzte. Knies' Werk fand außerhalb enger Fachkreise relativ wenig Beachtung; darüber, daß Roscher ihn nicht eingehender erwähnt und behandelt habe, glaubte er sich beklagen zu können97, mit Bruno Hildebrand geriet er in eine heftige Fehde. – Als dann in den sechziger Jahren die Freihandelsschule von Erfolg zu Erfolg schritt, geriet das Buch fast in Vergessenheit. Erst als die »kathedersozialistische« Bewegung Macht über die Jugend gewann, begann es in steigendem Maße gelesen zu werden, so daß Knies, dessen zweites in den siebziger Jahren entstandenes Hauptwerk »Geld und Kredit« der »historischen« Methode völlig fern steht, nach 30 Jahren (1883) vor einer zweiten Auflage stand. Sie erschien unmittelbar, ehe durch Mengers »Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften«, Schmollers Rezension derselben und Mengers heftige Replik der Methodenstreit in der Nationalökonomie die Höhe seiner Temperatur erreichte, und gleichzeitig in Diltheys »Einleitung in die Geisteswissenschaften« der erste groß angelegte Entwurf einer Logik des nicht naturwissenschaftlichen Erkennens vorgelegt wurde.

Eine Analyse des Kniesschen Werkes bietet nicht geringe Schwierigkeiten. Einmal ist der Stil teilweise bis dicht an die Unverständlichkeit ungelenk, dank der Arbeitsweise des Gelehrten, der in einen geschriebenen Satz, weitergrübelnd, Nebensatz auf Nebensatz hineinschachtelte, unbekümmert darum, ob die entstehende Periode syntaktisch aus allen Fugen ging98. Die Fülle der ihm zuströmenden Gedanken ließen Knies dabei gelegentlich auch die offenbarsten Widersprüche in bald aufeinanderfolgenden Sätzen übersehen, und sein Buch gleicht so einem Mosaik aus Steinen von sehr verschiedener, nur im großen, nicht immer im einzelnen aufeinander abgestimmter Färbung. Die Zusätze der zweiten Auflage, welche ziemlich unorganisch neben dem fast unveränderten Text stehen, stellen gegenüber dem Gedankengehalt der ersten teils eine Verdeutlichung und Fortentwickelung, teils aber auch eine bewußte Umbiegung zu ziemlich abweichenden Gesichtspunkten dar. Wer den ganzen Inhalt dieses eminent gedankenreichen Werkes überhaupt in voller Tiefe wiedergeben wollte, dem bliebe nichts übrig, als zunächst die gewissermaßen aus verschiedenen Gedankenknäueln stammenden Fäden, welche neben- und durcheinander herlaufen, voneinander zu sondern und sodann jeden Gedankenkreis für sich zu systematisieren99. Seine Ansicht über die Stellung der Nationalökonomie im Kreise der Wissenschaften hat Knies erst in der zweiten Auflage endgültig präzisiert100, jedoch in einer Weise, welche durchaus den Gedankengängen der ersten entspricht. Danach erörtert sie jene Vorgänge, welche daraus entspringen, daß der Mensch für die Deckung des Bedarfs »des menschlich persönlichen Lebens« auf die »Außenwelt« angewiesen ist: – eine, gegenüber dem historisch gewordenen Aufgabenkreise unserer Wissenschaft offenbar teils zu weite, teils zu enge Umgrenzung. Um nun aus diesem Aufgabenkreis der Nationalökonomie ihre Methode abzuleiten, stellt Knies neben die schon von Helmholtz je nach dem behandelten Objekt unterschiedenen Gruppen der »Naturwissenschaften« einerseits, der »Geisteswissenschaften« anderseits, als dritte Gruppe die »Geschichtswissenschaften«, als diejenigen Disziplinen, welche es mit äußeren, aber durch »geistige« Motive mit bedingten Vorgängen zu tun haben.

Von der für ihn selbstverständlichen Voraussetzung aus, daß die wissenschaftliche »Arbeitsteilung« eine Repartierung des objektiv gegebenen Tatsachenstoffes darstelle, und daß ferner dieser objektiv ihr zugewiesene Stoff es sei, der einer jeden Wissenschaft ihre Methode vorschreibe, geht nun Knies an die Erörterung der methodologischen Probleme der Nationalökonomie. Da diese Wissenschaft menschliches Handeln unter einerseits naturgegebenen, andererseits historisch bestimmten Bedingungen behandelt, so ergibt sich ihm, daß in ihr Beobachtungsmaterial als Determinanten auf der einen Seite, der des menschlichen Handelns, die menschliche »Willensfreiheit« »eingehen«, auf der anderen dagegen »Elemente der Notwendigkeit«: nämlich – erstens – in den Naturbedingungen die blinde Nezessitierung des Naturgeschehens und – zweitens – in den historisch gegebenen Bedingungen die Macht kollektiver Zusammenhänge101.

Die Einwirkung der natürlichen und »allgemeinen« Zusammenhänge faßt nun Knies ohne weiteres als gesetzmäßige  Einwirkung auf, da für ihn wie für Roscher Kausalität gleich Gesetzmäßigkeit ist102. So schiebt sich ihm an die Stelle des Gegensatzes: zweckvolles menschliches Handeln auf der einen Seite, – durch die Natur und die geschichtliche Konstellation gegebene Bedingungen dieses Handelns auf der andern, der ganz andere: »freies« und daher irrational-individuelles Handeln der Personen einerseits, – gesetzliche Determiniertheit der naturgegebenen Bedingungen des Handelns anderseits103. Die Einwirkung der »Natur« auf die ökonomischen Erscheinungen würde, so meint Knies, an sich einen gesetzlichen Ablauf derselben bedingen müssen. Tatsächlich wirken nun zwar die Naturgesetze auch in der menschlichen Wirtschaft, aber sie sind nicht Gesetze der menschlichen Wirtschaft104, und zwar, nach ihm, deshalb nicht, weil in diese in Gestalt des »personalen« Handelns die Freiheit des menschlichen Willens hineinragt.

Wir werden weiterhin sehen, daß diese »prinzipielle« Begründung der Irrationalität des ökonomischen Geschehens dem, was Knies an anderen Stellen über die Einwirkung der Naturbedingungen auf die Wirtschaft ausführt, geradezu ins Gesicht schlägt, indem dort gerade die geographisch und historisch »individuelle« Gestaltung der Wirtschaftsbedingungen als dasjenige Element erscheint, welches die Aufstellung allgemeiner Gesetze des rationalen wirtschaftlichen Handelns ausschließt.

Es verlohnt aber, auf die ganze Frage, die Knies hier berührt hat, schon an dieser Stelle etwas näher einzugehen105. Die Identifikation von Determiniertheit mit Gesetzlichkeit einerseits, von »freiem« und »individuellem«, d.h. nicht gattungsmäßigem Handeln anderseits, ein so elementarer Irrtum sie ist, findet sich nämlich keineswegs nur bei Knies. Vielmehr spukt sie auch in der historischen Methodologie gelegentlich bis in die Gegenwart hinein, und namentlich gilt dies für das Hineinspielen der »Frage« der Willensfreiheit in die methodologischen Erörterungen der Spezialwissenschaften. Noch immer wird dieses Problem, und zwar ganz in demselben Sinne wie von Knies, ohne alle Not von den Historikern in die Untersuchungen über die Tragweite »individueller« Faktoren für die Geschichte hineingetragen. Man findet dabei immer wieder die »Unberechenbarkeit« des persönlichen Handelns, welche Folge der »Freiheit« sei, als spezifische Dignität des Menschen und also der Geschichte angesprochen, entweder ganz direkt106 oder verhüllt, indem die »schöpferische« Bedeutung der handelnden Persönlichkeit in Gegensatz zu der »mechanischen« Kausalität des Naturgeschehens gestellt wird.