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Ein erfolgreicher Ehemann, zwei zuckersüße Kinder und ein Eigenheim im Grünen - doch eine junge, hübsche und vor allem gertenschlanke Kollegin schlägt Romys heile Welt in Scherben. Sofort ist ihr klar: Die Babypfunde müssen von den Hüften verschwinden. Und verbrennt die schönste Nebensache der Welt nicht jede Menge Kalorien? Romy lässt sich von der Affäre ihres Mannes nicht ins Bockshorn jagen und will sich ihr eigenes Leben zurückholen. Das Angenehme mit dem Nützlichen verbindend, stürzt sie sich in ihre eigens erfundene "Seitensprungdiät" - soweit zumindest der Plan. Romy entdeckt witzige, romantische und skurrile Menschen - und am Ende sich selbst.
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Seitenzahl: 292
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Tanja Griesel
Seitensprungdiät
Roman
© 2019 Tanja Griesel
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7497-7624-5
e-Book:
978-3-7497-7625-2
Cover:
Mug Cake von Elisabeth Coelfen mit Canva
Lektorat:
Dr. Katrin Scheiding (www.katrinscheiding.de)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Buchbeschreibung
Ein erfolgreicher Ehemann, zwei zuckersüße Kinder und ein Eigenheim im Grünen – doch eine junge, hübsche und vor allem gertenschlanke Kollegin schlägt Romys heile Welt in Scherben. Sofort ist ihr klar: Die Babypfunde müssen von den Hüften verschwinden. Und verbrennt die schönste Nebensache der Welt nicht jede Menge Kalorien?
Romy lässt sich von der Affäre ihres Mannes nicht ins Bockshorn jagen und will sich ihr eigenes Leben zurückholen. Das Angenehme mit dem Nützlichen verbindend, stürzt sie sich in ihre eigens erfundene „Seitensprungdiät“ – soweit zumindest der Plan. Romy entdeckt witzige, romantische und skurrile Menschen – und am Ende sich selbst.
Über die Autorin
Tanja Griesel lebt, schreibt und liebt in Berlin. Von ihr sind bereits die kulinarischen Krimis Nur eine Prise Mord und Kleine Morde unter Köchen erschienen.
Erster Teil
Kreuzberg, 7. Juli 2015, 21.50 Uhr
«Ich bin fett»,
jammerte Romy und pulte umständlich mit der linken Hand einen Schokoriegel aus dem Papier.
«Seit meiner Schwangerschaft halten sich die Pfunde hartnäckig auf meiner Hüfte. Mindestens fünf Kilo zu viel.»
«Wenn ich mich recht erinnere, hast du zwei Schwangerschaften hinter dir», lachte Suse.
«Meinst du, es sind zehn?»
Romys Entsetzen war nicht gespielt. Wann hatte sie sich das letzte Mal gewogen? Sie biss ein Stück Schokolade ab.
«Wenigstens kein Jojo-Effekt wie bei mir», sagte Suse, «isst du gerade?»
«Eine Reiswaffel», log Romy und steckte sich den Rest der Schokolade in den Mund.
«Du hast eine super Figur, von wegen Jojo-Effekt!» Sie kaute und sprach gleichzeitig.
«Das hört sich aber gar nicht nach Reiswaffel an, Romy.»
Ertappt. Sie war eine miserable Lügnerin. Ihre Hand griff nach dem nächsten Riegel Schokolade.
«Vielleicht sollte ich es mit Sport versuchen? Ich habe online eine Anfrage bei einem Fitnessstudio gestartet. Das ist doch ein Anfang, oder?»
«Zum Schwitzen musst du dann aber persönlich erscheinen.»
«Du glaubst mir nicht, dass ich das durchziehe, oder?»
Romys iPhone vibrierte. Sie sah kurz auf das Display.
«Suse, sei mir nicht böse. Ich muss Schluss machen. Tim ruft an. Ich melde mich bei dir!»
Sie ließ die Schokolade auf den Tisch fallen und nahm das Gespräch an ihrem Handy an.
«Falsche Zeit.» Sie sparte sich eine Begrüßung.
«Die Mädchen schlafen längst!»
Romy versuchte, ihren Tonfall leicht klingen zu lassen und nicht nach dem Vorwurf, der in ihren Worten mitschwang. Lotta und Lilli hatten sich so gewünscht, ihrem Vater von einem Experiment zu erzählen, das sie in der Kita durchgeführt hatten. Wie kommt ein gekochtes Ei in eine leere Milchflasche? Die Mädchen gaben keine Ruhe, bis Romy ein Ei kochte und sie den Versuch zu Hause wiederholten. Die brennenden Streichhölzer erloschen jedes Mal, wenn einer der beiden sie in die Flasche warf. Dann versuchten sie es mit einem Stück Papier, zündeten es an, ließen es vorsichtig in die Flasche gleiten und legten das Ei auf den Flaschenhals. Als der Schnipsel verglühte, wurde das Ei wie durch Zauberhand in die Flasche gesogen. Freudentanz. Die Mädchen hüpften durch die Wohnung, klatschten, johlten und rannten zurück in die Küche. Dort starrten sie auf den Flascheninhalt. Wie bekam man das Ei wieder heraus?
Romys Blick fiel auf die Glasflasche auf dem Esstisch und das Ei auf dem Flaschenboden. Es gibt für alles eine Lösung. Das war Tims Devise. Konnte er das Unmögliche möglich machen und das Ei aus der Flasche herausholen?
«Wir haben dich vorhin nicht erreichen können. Die Mädchen waren ganz aufgeregt, weil sie dir unbedingt etwas erzählen wollten.»
«Ich muss dir auch etwas erzählen.»
Seine Stimme klang belegt. Er schwieg. Ihm fehlten die Worte. Normalerweise gab es kein Schweigen. Es gab immer etwas. Holst du die Mädchen ab oder ich? Denkst du an die Verabredung am Freitag? Bringst du frische Milch aus dem Bioladen mit und ein kleines Kastendinkelbrot? Meine Mutter hat angerufen und lässt dich grüßen. So etwas in der Art. Aber heute?
Tim saß fast sechshundert Kilometer weit weg von ihr in einem Hotelzimmer, weil er für das Softwareunternehmen, für das er arbeitete, an einem Kongress teilnahm. Sonntag war er aufgebrochen. Ihr Blick ging zur Uhr. Zehn vor elf. Schlafenszeit. Sie hatten sich seit mehr als vierzig Stunden nicht gesehen. Romy lauschte angespannt. Tim ließ sich Zeit.
«Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.»
Normalerweise hätte sie ihn spätestens jetzt bedrängt, endlich mit der Sprache rauszurücken. Der hektische Alltag einer Familie verlangte es, ohne Umschweife auf den Punkt zu kommen. Und sie waren gut darin, beide. Romy bedrängte Tim nicht, obwohl sie ihre Ungeduld kaum zügeln konnte. Ohne darüber nachzudenken, begann sie, an ihren Fingernägeln zu kauen. Wollte sie das, was Tim zu sagen hatte, überhaupt hören?
«Ich bin mit Katja hier. Ich wollte, dass du das weißt.»
Romy ließ von ihrem Fingernagel ab.
«Katja?»
Wie meinte er das?
«Natürlich ist Katja bei dir.»
Romy verstand nicht. Hatte Tim erwähnt, dass er mit einer Kollegin an dem Kongress teilnahm?
«Es tut mir so leid.»
Seine Stimme brach. Er zog die Nase hoch. Es hörte sich an, als weine er.
«Tim?»
Der Mann, der nicht einmal bei der Geburt seiner Töchter eine Träne vergossen hatte, heulte Rotz und Wasser. Er brauchte einen Moment, bis er sich gefasst hatte.
«Scheiße», presste er hervor und schnäuzte sich.
«Kannst du bitte so mit mir reden, dass ich verstehe, was du mir sagen willst?»
Sie sprach jedes Wort überdeutlich und langsam aus. Tim hasste diesen Tonfall. Seine Stimme gewann wieder an Kraft.
«Ich kann so nicht weitermachen.»
Und etwas leiser: «Ich wollte, dass du weißt, dass ich mich mit Katja auch außerhalb der Firma treffe.»
Romys Finger schlossen sich fester um das flache Telefon. Die drahtlose Übertragungstechnik war ihr genauso unbegreiflich wie der Inhalt seiner Worte. Romy wünschte, sie hätte sich verhört.
«Du triffst sie?»
In schnellen Schritten durchmaß sie ihre Zwei-Zimmer-Altbauwohnung. Er traf sie außerhalb der Firma? Was genau bedeutete das? Sie verließ die große Wohnküche und betrat den Flur. Die Dielen knarzten. Sie war barfuß. Das Wohnzimmer diente gleichzeitig auch als Schlafzimmer. Fünf Schritte bis zum Sofa, das sie noch ausziehen musste, um darauf schlafen zu können, drei weitere Schritte bis zur Balkontür. In der Wohnung gegenüber stand ein Mann mit dem Rücken zum Fenster, in der Hand ein Glas, eine Frau betrat den Raum, um kurz darauf wieder zu verschwinden. Der Mann stellte das Glas auf die Fensterbank, zog ein Handy aus der Gesäßtasche, beschäftigte sich mit dem Gerät, ohne aufzusehen. Romy lehnte ihre Stirn an den sonnenwarmen Türrahmen.
«Bist du noch dran?», fragte Tim.
Bedeutet es das, was ich denke? Sie hob den Kopf, um ihn noch einmal fest auf das Holz knallen zu lassen. Hat ja gar nicht wehgetan, hörte sie die Stimme von Lotta in ihrem Kopf, die niemals zugeben würde, wenn ihre Schwester es geschafft hatte, sie zu verletzen.
«Romy?»
Er hat was mit ihr? Von wegen, er trifft sie! Er fickt sie. Das war es, was er ihr sagen wollte. Jetzt würde sie ihn zu gern ohrfeigen, ihn an den Schultern packen und schütteln. Aber er war nicht da. Romy legte die flache Hand auf die Stirn und schloss die Augen. Dieser feige Hund nutzte das Telefon, um ihr in diesem Moment nicht in die Augen blicken zu müssen. Ein Feigling, ja, aber noch schlimmer wog der Vertrauensbruch. Er war ein mieser Verräter!
«Ist sie jetzt gerade bei dir? Hört sie unser Gespräch mit?»
Flüstert sie dir ein, was du sagen sollst? Katja, diese dumme Schlampe!
«Nein, sie ist nicht da. Ich bin allein», antwortete er.
Romy glaubte ihm nicht. Dieser Mann war ihr von der einen zur anderen Sekunde völlig fremd. Scheinbar irritierte ihn ihre Einsilbigkeit.
«Willst du noch etwas sagen?», fragte er.
Sie schwieg.
«Dann reden wir, wenn ich wieder da bin?»
Er sagte nicht, wenn ich wieder zu Hause bin. Sie ging vor der Balkontür in die Knie und sagte mit dem kläglichen Rest ihrer Fassung:
«Ja, lass uns dann reden.»
Das iPhone glitt ihr aus der Hand. Am liebsten hätte sie es vom Balkon auf die Straße geworfen. Miststück!
Zwei Tage früher
Kreuzberg, 5. Juli 2015, 13.05 Uhr
«Aber wir haben doch eben erst gefrühstückt!», rief Romy vom Balkon aus.
Sie stellte ihre Milchkaffeeschale auf das winzige Bistrotischchen neben sich und nahm ein Buch zur Hand.
«Das war Frühstück. Jetzt will ich Mittagessen», protestierte erst Lilli, dann stimmte ihre ein Jahr und vier Monate jüngere Schwester mit ein.
«Hunger!»
«Wir haben Hunger, Hunger, Hunger, Hunger, Hunger», riefen sie im Duett und sprangen dabei durch die Wohnung. Tim kam aus dem Bad und versuchte die Mädchen zu übertönen:
«Was wollt ihr denn essen?»
«Pfannkuchen!», riefen die Mädchen und flitzten zu Romy auf den Balkon zurück. «Darf es heute Pfannkuchen geben, bitte, liebe Mama!»
Romy lachte und schüttelte den Kopf.
«Aus dieser Nummer bin ich raus. Ihr wisst, dass ich keine Pfannkuchen mag. Fragt euren Vater.»
Tim stand in der offenen Tür.
«Romy!»
Seine Stimme klang gequält.
«Ich habe noch nicht einmal gepackt.»
Er ließ sich in den Rattansessel fallen, den sie aus dem Wohnzimmer an die offene Balkontür geschoben hatten.
«Du bist derjenige, der jetzt fast eine Woche weg ist. Apropos: Als du im Bad warst, hat ein Kollege angerufen, Falk, glaube ich, du sollst ihn bitte zurückrufen.»
Sie reichte ihm das Telefon.
«Kenne ich ihn?»
Tim schüttelte den Kopf. Romy widmete sich wieder ihrer Lektüre. Die Mädchen kamen laut schreiend angestürzt. Sie warf Tim einen Blick zu, der hieß: Du bist dran. Tim erhob sich. Mit vereinten Kräften zogen ihn die Mädchen in Richtung Küche.
«Gibt es noch genug Eier?», drehte er sich noch einmal zu Romy um, die ihre Beine jetzt auf das Balkongeländer gelegt hatte und alles daransetzte, die Zeit, die sie hier für sich hatte, auszukosten.
«So viele ihr wollt.»
Sie warf ihm eine Kusshand zu.
«Dafür bügele ich dir noch schnell deine Hemden.»
Romy fand, dass das ein faires Angebot war.
«Wenn ich das Kapitel beendet habe», fügte sie hinzu.
Sie hasste es, Hemden, Blusen und Co. zu bügeln. Dafür fand sie es außerordentlich entspannend, Handtücher und Bettwäsche zu plätten, wobei es fraglich war, ob das überhaupt Sinn hatte. Romy legte das Buch aus der Hand und verließ ihren Sonnenplatz auf dem Balkon.
«Für jeden Tag ein Hemd?», rief sie über den Flur.
«Ja, die blauen.»
«Besitzt du auch andere?»
Tims Outfit war schnell zusammengestellt: Jeden Tag dunkle Bluejeans und ein hellblaues Hemd dazu. Einen bodenständigen Typ, nannte Suse ihn. Er war weder eitel, noch erlaubte er sich Extravaganzen.
Prenzlauer Berg, 5. Juli 2015, 15.22 Uhr
Tim hielt in der zweiten Reihe. Er sah Katja von Weitem. Sie wartete neben ihrem Rollkoffer in einem blassroten Sommerkleidchen. Ihr linker Arm ruhte auf dem herausgezogenen Griff, in der rechten das Handy, das ihre Aufmerksamkeit fesselte. Auf knapp sechzehn mal acht Zentimetern und 128 Gigabyte trug sie ihr Leben stets bei sich. Vielleicht las sie einen Artikel, ein Buch, eine Korrespondenz, was auch immer. Er hätte hupen oder das Fenster herunterlassen und rufen können, entschied sich aber dafür, ihr eine Nachricht zu senden. Er war kein Mann der lauten Töne. Katja sah auf. Er stellte den Motor ab und stieg aus. Sie umarmten sich.
«Du duftest nach – lass mich überlegen – nach Pommes? Oder Kartoffelpuffer?»
«Pfannkuchen!»
Tim fuhr sich durchs Haar.
«Das ist mir echt unangenehm. Dabei habe ich ein frisches Hemd angezogen.»
«Der Geruch hängt in deinen Haaren. Macht nichts. Aber ich habe Hunger!», lachte sie, «ich hatte heute nur ein Müsli.»
«Dann schlage ich vor, unterwegs anzuhalten. Worauf hast du Lust: Italienisch? Griechisch? Französisch?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Doch nicht etwa Bayrisch?»
«Warum nicht? So lange es fleischlos ist.»
«Das wird schwierig. Dann musst du wohl hierbleiben», scherzte Tim.
«Kriegst du kalte Füße?»
Sie küsste ihn, aber Tim war nicht bei der Sache. Er rechnete jeden Augenblick damit, einem Bekannten oder, viel schlimmer, einer Freundin von Romy über den Weg zu laufen.
«Entspann dich», flüsterte Katja ihm ins Ohr.
Tim griff sich ihren Koffer und verstaute ihn in seinem Kombi, direkt neben einer Tüte schmutziger Kindergummistiefel und zwei Matschhosen, die ihrem Namen alle Ehre machten und leider nicht separat verstaut waren: Der mittlerweile getrocknete Schlamm fiel ab und verteilte sich im Kofferraum. Er wischte mit der Hand den groben Dreck zur Seite.
Was war nur mit ihm los? Er kannte sich selbst nicht mehr. Normalerweise ließ er keine Sachen der Kinder im Auto liegen. In der Regel spritzte er die Gummistiefel und Buddelhosen sofort in der Dusche ab, damit sich der Schmutz nicht festsetzen konnte. Romy fand das vollkommen übertrieben. Für sie reichte es, die Sachen in den Keller zu werfen und dort liegen zu lassen, bis sie sie das nächste Mal brauchten. Nicht einmal das hatte er auf die Reihe gekriegt.
Und wenn Romy die Sachen für die Mädchen benötigte? Sollte er jetzt noch einmal nach Hause fahren? Wohl kaum. Am liebsten hätte er das ganze Zeug gepackt und weggeworfen. Tim knallte die Heckklappe zu, obwohl es dafür einen automatischen Mechanismus gab.
«Ich freue mich auf München», sagte Katja, die längst bemerkt hatte, wie nervös er war. Die Spuren seines Familienlebens ließ sie unkommentiert. Sie legte ihm die Hand auf die Brust und sah ihn an.
«Du musst nichts sagen, echt jetzt, es ist okay.»
Sie lächelte.
«Du weißt doch: Keep it simple.»
Dann drehte sie sich um und öffnete die Beifahrertür. Beim Einsteigen verlor sie einen Flipflop. Er hob ihn auf. Ihre Zehennägel waren perfekt rot lackiert. Das Leben pulsierte in seinen Fingerkuppen, als er Katjas warme Haut streifte. Tims Laune hob sich. Keep it simple. Das war doch genau das, was er wollte. Bevor er selbst einstieg, riss er die Hintertür auf, packte die zwei Happy-Meal-Tüten, die die Mädchen liegengelassen hatten, samt Plastikspielzeug und warf sie in den Blecheimer an der Straße.
Maxvorstadt, 7. Juli 2015, 18.20 Uhr
«Eine Kollegin», wiederholte der Wachtmeister, der die Aussage in den Computer tippte. Spätestens jetzt war Tim klar, dass die Geschichte aus dem Ruder lief.
«Sagt man heute eigentlich noch Wachtmeister?», versuchte Tim das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
Er hatte doch gewusst, dass es keine gute Idee war, gleich die Polizei heranzuziehen. Zwar waren sein Laptop und Katjas Handtasche aus dem Hotelzimmer gestohlen worden, aber das hätte man auch anders … Ihm war absolut nicht wohl dabei, dass das kleine Techtelmechtel nun einen offiziellen Anstrich bekam. Das war doch alles ganz anders gedacht. Was, wenn … Der Polizeibeamte unterbrach Tims Grübeleien.
«Ich bin Polizeihauptmeister. Lassen Sie den Dienstgrad weg. Eckhart ist mein Name.»
War das sein Vorname oder sein Nachname, überlegte Tim.
«Dann nehmen wir zuerst Ihre Personalien auf.»
Er sah ihn freundlich an. In seinem Blick konnte Tim keinen Argwohn erkennen. Entspann dich, sagte er sich, das hier ist eine reine Formsache.
«Ihr Name?»
«Tim Landin.»
«Alter?»
«Einundvierzig.»
«Beruf?»
«Scrum Master bei Sonotec.»
Eckhart hob fragend eine Augenbraue.
«Schreiben Sie Diplommathematiker.»
«Abteilungsleiter bei Sonotec», mischte sich Katja ein.
Tim verzog das Gesicht.
«Das ist nicht korrekt. Diese Bezeichnung gibt es nicht mehr, seit wir vor …»
«Für mich sind das Spitzfindigkeiten», unterbrach sie ihn.
Tim hob die Schultern und ließ es auf sich bewenden. Eckhart notierte etwas auf seinem Zettel, dann klingelte das Telefon und er nahm das Gespräch an. Katja nutzte die Gelegenheit, sich auf ihrem Handy durch die Textnachrichten zu scrollen. Für die Verschnaufpause war Tim dankbar. In seinem Kopf herrschte ein völliges Durcheinander. Er dachte an das Zimmer der Mädchen und wie es dort aussah, wenn sie eine Kiste Legosteine auf dem Boden ausgeschüttet hatten und ihn dann baten, doch bitte das Feuerwehrauto zusammenzubauen. Das war ein Ding der Unmöglichkeit, denn es existierten weder Bauanleitung, noch waren die Einzelteile vollzählig vorhanden. Um ein annähernd passables Ergebnis zu erzielen, musste er erst einmal alle vorhandenen Teile in Augenschein nehmen.
Eine Bestandsaufnahme. Also gut, sagte er sich, was waren die Fakten? Er saß hier mit einer Kollegin, einer Freundin, seiner Geliebten. Der Status ihrer Beziehung blieb unscharf. Bisher hatte es keiner weiteren Klärung bedurft. Wo andere sich nach einem Leben im Hier und Jetzt sehnten und sich zur Erinnerung Carpe-diem-Schriftzüge oder andere Poesiealbum-Weisheiten an Wände pinselten, erlebte Tim die Zeit mit Katja so intensiv, als gäbe es kein Morgen. Nichts von dem, was sie beide hatten, musste festgeschrieben werden. Keine Versprechen. Keine Erklärungen. Keine Pflichten. Katja legte das Smartphone auf den Tisch und sah zu ihm herüber. Er unterdrückte den Impuls, sie zu berühren, ihre Wange oder ihren Handrücken zu streicheln.
«Herr Landin?»
Eckhart hatte ihm eine Frage gestellt.
«Entschuldigung, in Gedanken war ich gerade woanders.»
«Was ist der Grund für ihren Aufenthalt in München?»
«Wir nehmen an einer Fortbildung teil, einem Kongress mit Workshops und so.»
Eckhart zog eine Augenbraue hoch und sah von Tim zu Katja und wieder zu Tim.
«Dann übernimmt ihr Arbeitgeber die Zimmerrechnung?»
Tim nickte. Abgerechnet wurden zwei Einzelzimmer, obwohl sie ein Doppelzimmer bewohnten. Ein kleiner Deal mit dem Hotel. Eine Halbwahrheit, sagte sich Tim, eine Bagatelle angesichts des großen Schlamassels, in den sie sich hineinmanövriert hatten. In seiner Welt gab es jetzt falsche Hotelabrechnungen, getäuschte Arbeitgeber, gestohlene Handtaschen und Laptops, und es gab Ehefrauen und Geliebte.
Katja hatte sich zurückgelehnt und die Beine übereinandergeschlagen. Sie waren von der Sonne gebräunt und vom Sport muskulös und wohlgeformt. Hätten sie diesen Tag nicht einfach im Hotel verbringen können? Es gab so viel bessere Dinge, die sie hätten unternehmen können, als Spaziergänge im Park und ein Besuch auf der Polizeiwache.
«Und nun zu Ihnen, Frau Stein.»
Katja setzte sich auf.
«Wo lag ihre Tasche?»
«Auf dem Sessel.»
Herr Eckhart stutzte.
«Sie waren den ganzen Tag ohne Handtasche unterwegs?»
Katja ließ sich ein paar Sekunden Zeit mit der Beantwortung der Frage.
«Sie war zu schwer für einen Spaziergang durch den Park. Meine Kongressmappe, eine kleine Kosmetiktasche, eine Wasserflasche, Taschentücher, all das Zeug eben.»
«Ich dachte, Sie nehmen an einer Fortbildung teil?»
«Ist das jetzt ein Verhör?»
Katja verschränkte die Arme vor der Brust.
«Wir sind früher gegangen», erklärte Tim, «haben die Sachen ins Hotel gebracht und sind dann in den Park.»
«Sie haben vermutlich einen sehr toleranten Arbeitgeber.»
Eckhart sah Tim an, der sich zu keiner weiteren Erklärung hinreißen ließ.
«Und die Balkontür?»
Tim schüttelte den Kopf.
«Keine Ahnung.»
«Die Tür stand offen, als wir gerufen wurden.»
«Ich kann mich nicht erinnern.»
«Es gab keine Einbruchsspuren.»
Eckhart notierte etwas.
«Eine geöffnete Tür im ersten Stock ist quasi wie eine Einladung.»
Wieder sah er von einem zum anderen.
«Sie war in Kippstellung», sagte Katja, «wenn ich mich recht erinnere.»
«Sind sie sicher?»
«Nein. Nicht hundertprozentig sicher. Wir haben uns nicht aufgehalten, im Zimmer, meine ich.»
Tims Smartphone vibrierte. Romy. Sie versuchte nicht das erste Mal an diesem Tag, ihn zu erreichen. Er schaltete das Telefon aus. Ohnehin nahm er gerade offiziell an einem Workshop über Algorithmus basiertes Bidding teil, zumindest hatte er sich heute Morgen in eine Liste zu diesem Thema eingetragen. Die Inhalte konnte er später im Skript nachlesen. Was interessierten ihn Werkzeuge, um die Angebote von Agenturen zu optimieren und flexibel zu halten? Sein Leben besaß im Augenblick eine ganz eigene Dynamik, die seine volle Aufmerksamkeit benötigte. Und Optimierungsbedarf war hier ebenfalls von Nöten.
«Beschreiben Sie mir bitte Ihre Tasche, Frau Stein.»
«Eine Firmentasche aus roter LKW-Plane mit einem großen weißen S für Sonotec auf dem Umschlag.»
«Die Tasche an sich war also nicht besonders wertvoll?»
Katja nickte.
«Und der Inhalt?»
«Schlüsselbund und Portemonnaie.»
«Bargeld, Kreditkarten, Ausweise?»
«Mein Personalausweis. Meine Bankkarte, keine Kreditkarte.»
«Und wie viel Bargeld in etwa?»
«So genau kann ich das nicht sagen. Einen Fünfziger, ein paar Zwanziger und Zehner, etwas Münzgeld. Vielleicht hundertfünfzig Euro?»
Der Polizeibeamte sah sie an und wartete, ob sie sich korrigierte, aber Katja nickte noch einmal bekräftigend. Tim staunte, wie gelassen Katja wirkte, so als wäre sie in einem Meeting und gäbe Auskunft über den Stand eines Projektes. Während der Arbeit am Computer agierte Katja stets souverän und professionell. Linux schien sie mit der Muttermilch aufgesogen zu haben. Sie setzte Vorgaben intuitiv und gleichzeitig präzise um. Und wenn der Druck am größten war, ein neues Tool oder ein Update bis zur gesetzten Deadline fertig werden musste, dann lief sie zur Höchstform auf. Tim hatte versucht, Romy die Schichtenarchitektur eines Kernel begreiflich zu machen, vergeblich. Dabei hatte sie Kunst studiert. Und was war es anderes als Kunst, was Katja und er durch Kolonnen an Zahlen, Zeichen und Ziffern erschufen? Aber für die kreativen Prozesse innerhalb eines Betriebssystems fehlte Romy offenbar die Vorstellungskraft.
«Welche Schlüssel waren denn in der Tasche?»
Die Befragung zog sich. Immer neue Details kamen zur Sprache.
«Schlüssel für die Haustür, für das Fahrrad, den Briefkasten.»
«Ist der Büroschlüssel auch weg?», schaltete sich Tim ein.
Wenn ja, müsste dann nicht die komplette Schließanlage der Firma ausgetauscht werden? Verfluchte Scheiße! Tim rieb sich die trockenen Augen. Katja nickte. Ihre Schlüssel befanden sich an einem Schlüsselbund, auch der Firmenschlüssel. Jetzt war es amtlich. Sie waren am Arsch.
«Und Ihr Laptop wurde entwendet. Auch Firmeneigentum?», fragte Eckhart.
Die Dimension, die diese dumme Geschichte mittlerweile annahm, überforderte Tim. Die Lügen, die Folgen, die unheilvolle Gemengelage von Beruflichem und Privatem.
«So, dann sind wir hier fertig», sagte Eckhart aufmunternd, «jetzt geht Ihre Anzeige ihren Weg. Viel Hoffnung kann ich Ihnen allerdings nicht machen.»
Als Tim vorhin den Diebstahl bemerkt hatte, hatte er zunächst daran gedacht, den Laptop einfach zu ersetzen. Und ein x-beliebiger Einbrecher interessierte sich sicherlich nicht für Sonotec-Projekte, sondern setzte den Computer neu auf und versuchte, die Hardware zu verticken. Aber Katja bestand darauf, die Sache zur Anzeige zu bringen.
«Das ist doch keine Bagatelle», schimpfte sie, «hier hört der Spaß auf. Ich lasse mir doch nicht von irgendeinem dreisten Penner die Tasche stehlen und erstatte keine Anzeige.»
Tim war nicht überzeugt, aber Katja auch nicht am Ende ihrer Argumentation.
«Außerdem waren da meine Papiere und Ausweise drin. Das muss ich alles neu beantragen.»
«Sag, dass du sie verloren hast.»
Sein Hirn fühlte sich wie Wackelpudding an.
«Meine Schlüssel sind auch weg, Tim. Das hat etwas mit Versicherung zu tun und so. Ich muss das melden.»
Welche Kreise zöge die Sache dann, überlegte Tim. Ließe es sich einrichten, dass die Kollegen nichts von ihm und Katja erfuhren? Und da gab es auch noch Falk.
«Stell dir vor», sagte Katja, «wenn jemand jetzt bei mir zu Hause einbricht. Meine Adresse steht doch im Ausweis. Schlüssel hat er auch.»
«Du meinst, da ist jemand von München nach Berlin unterwegs, um bei dir einzubrechen?»
«Wie genial, oder? Da kann doch eine Einbrecherbande ungestört arbeiten.»
Maxvorstadt, 7. Juli 2015, 19.14 Uhr
«Ich werde es ihr sagen.»
Sie waren zu Fuß in Richtung des Hotels unterwegs.
«Wann?», murmelte Katja, ohne den blau pulsierenden Punkt im Fenster des Routenplaners aus den Augen zu lassen.
Wie oft hatten sie die Lage nun durchgekaut? Und am Ende kamen sie immer wieder zu der Schlussfolgerung, dass es eigentlich keinen anderen Weg – und, was viel schwerer wog, keine andere Zeit gab, als es jetzt zu tun.
«Überleg mal», fing Katja wieder an, «wenn die Polizei sich zu Hause bei dir meldet.»
Tim blieb stehen.
«Die haben meine Handynummer. Warum sollten die sich auf der Festnetznummer melden?»
«Sie haben aber auch deine Festnetznummer.»
Katja deutete stumm auf das Straßenschild. Theresienstraße. Er folgte ihr.
«Oder sie schicken dir eine Abschrift des Protokolls und deine Frau öffnet die Post.»
Eine Apotheke. Tim überlegte, ob er sich Schmerzmittel besorgen sollte. Hinter seinen Schläfen spielten die Synapsen Squash.
«Sie würde keine Post, die an mich adressiert ist, öffnen.»
Aber hatte es nicht bereits kleinere Ausnahmen von dieser Regel gegeben?
«Sie würde sich sicher wundern, warum du von der Polizei angeschrieben wirst. Das wirft Fragen auf. Sie würde dich löchern. Keine Ruhe geben. Das könnte doch sein, oder etwa nicht?»
Erst jetzt, wo Tim darüber nachdachte, kam es ihm merkwürdig vor, dass Romy tatsächlich mehr als einmal seine Post geöffnet und gelesen hatte. In beiden Fällen ging es dabei um Geld. Eine Steuerrückerstattung und eine nicht unerhebliche Summe, die er zahlen musste, weil er auf der Landstraße das Tempo-Achtzig-Schild ignoriert hatte. Romy hatte ihm eine Predigt gehalten. Ob er auch so rase, wenn die Mädchen im Auto säßen?
Und wenn er längst mit Katja im Auto geblitzt worden war? Vielleicht auf der Fahrt hierher. Das könnte doch sein. Wenn Romy dann seine Post öffnete und sofort, auch bei schlechter Qualität, eine fremde Frau neben ihm erkannte? Oder zeigte das Bild nur den Fahrer? Er hatte keine Ahnung. Aber dann hieße es: nicht nur bei einer Geschwindigkeitsübertretung, nein, auch beim Ehebruch erwischt. Zwei Sünden auf einmal.
«Vielleicht rufen die morgen bei Romy an. Und du bist erst Freitagabend wieder zurück.»
Katja ließ offen, wohin Tim zurückkehren würde. Der Kongress dauerte nur bis Mittwochabend, das Hotel hatte er bis Freitag gebucht. Vielleicht hatte sie recht. Besser in die Offensive gehen und es nicht darauf ankommen lassen, dass ein dummer Zufall sein Verhältnis zu Katja ans Licht brächte. Wobei sich Romy auch an das Briefgeheimnis halten könnte. Jetzt, wo er so darüber nachdachte, fiel Tim wieder ein, dass der Brief des Finanzamtes an die Eheleute Tim und Romy Landin adressiert gewesen war. Damals hätte er ihn nur gern als Erster geöffnet. Die Steuernachzahlung war sowieso fest eingeplant gewesen. Das, was Romy mit ihrem Minijob verdiente, mehr war es ja nicht, diese wenigen Stunden im Museum, war nicht der Rede wert. Taschengeld.
Katja beobachtete ihn schweigend.
«Du sagst ja gar nichts.»
Er raufte sich die dunklen Haare, die sich über den Ohren in kleinen Locken kräuselten. Wenn sein Haar zu lang wurde, wellte es sich. Er dachte an Lilli, die seine Haare geerbt hatte, und den allerersten Termin zum Haareschneiden, bei dem er ihre Hand gehalten hatte. Lillis dunkle Locke und Lottas hellere Strähne hatte Romy auf ein Gemälde der Mädchen geklebt. Die Haare zierten nun ungelenke Strichmännchen mit übergroßen Händen und viel zu vielen Wurmfingern, die in alle Richtungen abstanden. Das Bild hing im Flur. Wenn man die Tür aufschloss, war es das Erste, was man sah.
«`tschuldige, ich bin völlig durch den Wind.»
Sie gingen langsam weiter.
«Mir geht es auch nicht gut. Aber wir müssen eine Entscheidung treffen.»
«Ich rufe Torsten an.»
«Bist du dir sicher?»
Katja blieb stehen.
«Du willst Torsten von uns erzählen?»
Sie sah ihn überrascht an.
«Was ist mit deiner Frau?»
«Erst mal brauch ich Torstens Rat.»
Tim wählte schon die Nummer seines besten Freundes.
«Ich geh dann mal vor.»
Katja schlenderte langsam weiter. Tim lauschte dem Tuten in der Leitung, bis nach einer gefühlten Ewigkeit endlich jemand dranging.
«Christina?»
Er verzog das Gesicht. Warum besaßen eigentlich immer noch die Frauen die Hoheit über das Festnetztelefon? Und warum ging Torsten nicht an sein Handy? Er hätte eine Textnachricht verfassen und um Rückruf bitten sollen, zu spät!
«Ist Torsten in der Nähe? Ich meine, ist er zu Hause? Kannst du ihn mir mal geben?»
«Ist was passiert?»
Christina klang besorgt.
«Nein, nein, ich muss ihn nur etwas fragen.»
«Du klingst so gehetzt.»
«Das kommt dir nur so vor, weil ich zu Fuß unterwegs bin und etwas außer Atem.»
Wo steckte Toto denn bloß? Christina lief offenbar mit dem Telefon durchs ganze Haus. Er hörte, wie sie die Treppe zur Galerie nahm. Währenddessen versuchte sie, ein Gespräch am Laufen zu halten.
«Ich dachte, du bist in München.»
«Bin ich auch.»
«Wir sehen uns doch am Samstag, oder? Geht es um den Termin? Passt er euch nicht mehr?»
«Nein, alles gut. Wenn du Torsten nicht findest, rufe ich später noch einmal an.»
Wenn du Torsten nicht findest? Wie blöd war er eigentlich? So groß war das Haus, das die beiden gebaut hatten, nun auch nicht. Eher eine teure Schuhschachtel.
«Wo brennt’s?»
Endlich. Torsten.
«Mensch, Alter! Wo treibst du dich rum? Ist dein Handy im Arsch oder warum gehst du nicht ran? Da braucht man einmal einen Freund!»
«Bist du nicht in München? Die Kinder sehen noch Wissen macht Ah und dann bin ich dran mit der Gutenachtgeschichte. Du hast zehn Minuten.»
«Ich habe Mist gebaut.»
«Aha.»
«Stell dir einen riesigen dampfenden Kackhaufen vor.»
«Ja.»
«Ich bin der Kackhaufen.»
«Hat man dich gefeuert?»
«Warum? Nein.» Tim suchte nach Worten. «Ich bin mit Katja in München.»
«Dieser Kollegin?»
«Ja. Nein. Ich meine, sie ist nicht als meine Kollegin mit in München, nicht nur.»
«Du hast was mit ihr?»
Tim hörte, wie sein Freund eine Schiebetür aufzog.
«Bullshit, du verarscht mich!»
Anscheinend war er auf die Terrasse getreten. Tim stellte sich vor, wie Torsten auf hundert Quadratmeter Rollrasen blickte.
«Ja, ich. Mensch, Toto, was mache ich denn jetzt?»
Sein Handy meldete einen eingehenden Anruf. Tim sah kurz auf das Display.
«Romy. Sie versucht schon den ganzen Nachmittag, mich zu erreichen. Ob sie es schon weiß?»
«Frag sie!»
«Hast du mir eben nicht zugehört?»
«Was ist dein Problem? Ich meine, außer, dass du Romy betrügst, du Vollhorst!»
«Du fragst nach dem Problem, im Ernst?»
«Ich weiß ja nicht, wie lange da schon was zwischen dir und dieser Katja läuft, aber es hat dich vorher auch nicht in akute Panik und Kopflosigkeit gestürzt. Also, was ist passiert?»
Tim holte tief Luft.
«Wir waren spazieren. An der Eisbachwelle, durch den Park, du weißt schon.»
«Und dieser Kongress?»
«Das ist doch jetzt völlig nebensächlich», stöhnte Tim, «als wir wieder ins Hotel kommen, ist in unser Zimmer eingebrochen worden.»
«Und?»
«Katjas Handtasche war weg. Und mein Laptop.»
«Soll heißen?»
«Bist du schwer von Begriff oder verstehst du wirklich nicht, wo der Hase im Pfeffer liegt?», fragte Tim ungehalten.
«Wir waren auf der Polizeiwache!»
«Es ist ein warmer Sommertag, du warst mit einer Kollegin im Park spazieren, anstatt in einem stickigen Auditorium zu sitzen, und man hat währenddessen in dein Hotelzimmer eingebrochen. So, what?»
«Wäre ich mal so abgeklärt wie du.»
Tim blieb stehen und rieb sich die Augen.
«Was hat Romy damit zu tun? Das ist ein Fall für die Versicherung. So ein Laptop ist doch über die Firma versichert, oder?»
«Romy denkt, ich sei allein hier. Ich habe nicht erwähnt, dass Katja mitkommt, beruflich meine ich. Wie soll ich ihr erklären, warum ich ihr das verschwiegen habe?»
«Erzählst du sonst immer alles?»
«Was meinst du?»
«Na, hörst du Telefonnachrichten ab und vergisst dann, den Inhalt weiterzugeben? Mir passiert das ständig. Oder erzählst du, womit dir die Erzieherin beim Abholen der Kinder das Ohr blutig quatscht? Ben hat heute wieder einmal dem kleinen Leo die Sandschippe auf den Kopf gehauen», äffte er die Erzieherin nach, «bitte klären Sie das mit ihrer Frau und überlegen Sie, ob wir uns nicht mal zu einem Gespräch zusammensetzen sollten.»
Seine Stimme wurde wieder normal.
«So etwas gebe ich grundsätzlich nicht weiter. Das soll sich Tine mal aus erster Hand berichten lassen, wenn überhaupt. Sonst stehen wir hier kurz vor der Familientherapie …»
«Alles klar, verstehe», gab Tim vor, «zurück zu meinem Problem.»
«Das noch einmal worin genau besteht, du stinkender Kackhaufen?»
«Mach dich ruhig lustig über mich!»
«Für Leute wie dich hat man den Beziehungsstatus Es ist kompliziert erfunden.»
«Wenn Romy durch die Polizei oder die Versicherung erfährt, dass ich mir mit Katja in München ein Hotelzimmer teile, bin ich am Arsch.»
«Ihr habt ein Doppelzimmer gebucht?»
«Ja und Nein», er stöhnte, «offiziell haben wir zwei Zimmer gebucht. Aber in Wirklichkeit gibt es nur ein Doppelzimmer.»
«Und du hast zu Protokoll gegeben, dass du deine Kollegin knatterst?»
«Ich bin blöd, aber nicht schwachsinnig.»
«Dann erzähle es Romy am Wochenende, face to face. Wenn du meinst, dass du das unbedingt tun musst.»
Offenbar hegte Torsten daran Zweifel.
«Wir können gern den Grilltermin verschieben», bot er an, «solltest du die Bombe wirklich platzen lassen.»
Tim ließ das Angebot unbeantwortet.
«Hast du Surfer gesehen?»
Tim verstand nicht.
«An der Eisbachwelle.»
«Surfer? Ist das jetzt wichtig?»
Torsten holte tief Luft.
«Seit wir Eltern sind, war ich nicht mehr surfen. Und im Park komme ich nicht weiter als bis zum Spielplatz. Ich dachte, das wäre bei dir nicht anders. Wie konnte ich denn ahnen, dass du … ach, egal!»
Er seufzte. Die Schiebetür lief geräuschvoll über die Schienen.
«Die Pflicht ruft.»
Tim bezweifelte, dass er es schaffen würde, Romy von Angesicht zu Angesicht seine Affäre zu gestehen.
Maxvorstadt, 7. Juli 2015, 19.55 Uhr
Katja hatte an einer Kaffeebar etwas weiter auf ihn gewartet. Zusammen überquerten sie den Odeonsplatz. Genauso gut hätte es die Bahnhofsstraße in Wanne-Eickel sein können. Tim schenkte weder König Ludwig noch dem Café Tambosi und auch nicht dem Gewimmel der Touristen seine Aufmerksamkeit. Achtlos trat er auf die Straße und lief geradewegs in einen Fahrradfahrer. Der musste ausweichen, schlingerte und brüllte Tim ein paar Schimpfwörter hinterher; Depp war noch das Netteste.
«Torsten», begann er, «war nicht ganz bei der Sache.»
«So wie du gerade?» Katja lachte.
«Ihn interessieren bloß Spielplätze und Gutenachtgeschichten.»
«Ach, wirklich? Zum Glück interessiert dich das nicht die Bohne.»
Es war scherzhaft dahingesagt, aber Katja hatte damit – absichtlich oder nicht – einen wunden Punkt getroffen. Vielleicht hätte er in diesem Augenblick bei Lilli und Lotta auf dem Spielplatz sein sollen, um ihnen zuzusehen, wie sie rutschten und schaukelten, um ihnen zu helfen, eine Stadt aus Sand und Steinen und Dreck zu bauen. Hätte, hätte Fahrradkette … Schade, schade Schokolade bekäme er darauf von den Mädchen als Antwort.
«Ich bin hier, oder etwa nicht?»
Sein Ton klang schärfer, als er es beabsichtigt hatte. Katja verdrehte die Augen.
«München war nicht meine Idee.»
Tim wandte den Blick ab. Sein schlechtes Gewissen meldete sich. Die Ausreden. Die Geschichten, die er erfunden hatte. Die vielen Überstunden, die er in den letzten Monaten vorgetäuscht hatte, Verspätungen, Termine, Konferenzen, Seminare, Fortbildungen. Romy hatte Verständnis gezeigt, genickt, manchmal gestöhnt, aber in der Regel nicht nachgefragt. Sie verlangte ihm keine außerordentliche schauspielerische Leistung ab. Es war einfach gewesen. Zu einfach? Welchen Anteil trug sie daran, dass er Katja vorgeschlagen hatte, mit nach München zu kommen?
«Torsten versteht nicht, warum ich es ihr überhaupt beichten will.»
Und er hatte recht, oder? Romy war nicht sein Beichtvater und er war nicht darauf aus, dass sie ihm Absolution erteilte. Überrascht stellte er fest, in welchen antiquierten Kategorien er dachte, dabei war er vor Jahren aus der Kirche ausgetreten.
Auf Katjas ebenmäßigen Gesicht zeigte sich eine Sorgenfalte.
«Ist es nicht besser, wenn sie es von dir und nicht von der Polizei erfährt?»
«Das ist doch gar nicht gesagt.»
Er lief schnellen Schrittes voraus.
«An deiner Stelle würde ich das Risiko nicht eingehen.»
Katja schloss wieder zu ihm auf.
«Ich gehe jeden Tag für dich Risiken ein.»
Katja hielt ihn am Arm fest.
«Und dafür mag ich dich so.»
Das Wort Liebe hatte bisher keiner von beiden in den Mund genommen. Tim war froh, dass Katja es auch jetzt nicht gesagt hatte. Er hätte es nie zugegeben, aber er hatte Angst vor der Macht dieses Wortes.
«Gib zu», neckte ihn Katja, «du liebst das Risiko!»