Selbst in Führung - Ingeborg Dietz - E-Book

Selbst in Führung E-Book

Ingeborg Dietz

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Beschreibung

"Selbst in Führung" sein heißt, guten Zugang zu Gefühlen und Anteilen der Persönlichkeit zu haben und diese situativ bewusst zu steuern. Leser erfahren, wie gute Selbstführung sie befähigt, unabhängig von alten Mustern aus ihrem inneren Selbst heraus automatische Reaktionen, schwierige Wechselwirkungen und Konflikte souverän zu meistern. Die Kombination von Achtsamkeit, Körperwahrnehmung und Persönlichkeitsteilen - zusammen mit einem systemischen Verständnis und systematischen Vorgehen - ist in dieser Form einzigartig. Viele Beispiele und eine komprimierte Darstellung des theoretischen Hintergrundes vermitteln wirksame Vorgehensweisen zur Entfaltung von Selbstführung. Alle Kapitel beinhalten Reflexionen und Übungen zum Selbst-Coaching sowie differenzierte Anleitungen für professionelle Begleiter. Coaches und Trainer, Führungskräfte und alle, die erlebnisnah und emotional tief beraten wollen, finden wertvolle praktische Hinweise für die Arbeit mit der Innenwelt.

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Seitenzahl: 362

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Titel

Ingeborg & Thomas Dietz

Selbst in Führung

Achtsam die Innenwelt meistern

Wege zur Selbstführung in Coaching und Selbst-Coaching

Copyright © Junfermannsche Verlagsbuchhandlung, Paderborn 2007 2. Auflage 2008 3. durchgesehene Auflage 2011 Covergestaltung/Reihenentwurf: Christian Tschepp © Coverfoto: Franck Boston – FOTOLIA.com Illustrationen: Katrin Semmler, Stade

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2012

Satz und Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

ISBN der Printausgabe: 978-3-87387-682-8 ISBN dieses eBooks: 978-3-87387-852-5

Danke

Dieses Buch hätten wir alleine nicht schreiben können.

Das meiste, was wir an Vorgehensweisen und Hintergründen in unserer Arbeit verwenden, haben wir von anderen gelernt und mit anderen zusammen weiterentwickelt. Gelernt haben wir von sehr vielen, vor allem nennen wollen wir Ron Kurtz und Halko Weiss, die maßgeblich die „Hakomi – Erfahrungsorientierte Körperpsychotherapie“ gegründet haben, sowie Richard C. Schwartz, dem wir IFS – „Internal Family Systems“ – verdanken, diesen wunderbaren Zugang zum Verstehen und Führen von Persönlichkeitsteilen.

Diese beiden Konzepte haben wir mit unseren Freunden und Kollegen vom „Heidelberger Beraterkreis“ zu einem wirkungsvollen Vorgehen weiterentwickelt. Wir schätzen uns sehr glücklich über diese Zusammenarbeit und empfinden sie als großes Geschenk.

Ganz besonders danken wir unseren Klienten und Trainings-Teilnehmern, denn von und mit ihnen haben wir am meisten gelernt und letztlich alle wesentlichen Erfahrungen für dieses Buch zusammengetragen.

Sehr ermutigend waren unsere Freunde, die uns immer wieder aufgefordert haben, dieses Buch zu schreiben, und die uns dabei mit ihren guten Ideen geholfen haben.

Mit Gottfried Probst vom Junfermann Verlag haben wir einen konstruktiven Lektor und angenehm professionellen Partner gefunden.

Danke!

Ingeborg und Thomas Dietz Am Starnberger See im April 2007

Vorwort

Dieses Buch erwuchs aus den Erfahrungen, die Ingeborg und Thomas Dietz als Trainer und Berater in einer langjährigen Praxis gewannen. Zentral wurde dabei für sie die Frage, wie sich ihre Klientinnen und Klienten auf ihre Innenwelt einstimmten, wie sich diese Innenwelt beeinflussen ließ, wie sich dadurch Kreativität und Glücksempfinden verstärkten und wie dies wieder dazu beitragen konnte, innere und zwischenmenschliche Konflikte zu lösen.

Nun gibt es keinen wissenschaftlichen Zugang zu unserer Innenwelt. Wir können uns davon nur ein mehr oder weniger nützliches Bild machen. Für Ingeborg und Thomas Dietz war dies vor allem ein Bild, das ihnen der amerikanische Familienforscher und -therapeut Richard C. Schwartz anbot. Dies ist das Bild einer inneren Familie, im deutschsprachigen Raum auch „inneres Team“ genannt, deren unterschiedliche Teile immer wieder aufgerufen sind, sich so zu einigen oder sich so zusammenzuraufen, dass das Selbst – auch dies ein schwer mit Inhalt zu füllender Begriff – in Führung gehen kann.

Anhand eindrucksvoller, ihrer Praxis entnommener Beispiele illustrieren die Autoren den Wert ihres Konzeptes. Dabei verwenden sie eine Sprache, die auch den aufhorchen lassen kann, der sich bisher noch nicht mit systemischem Denken vertraut gemacht hat. Besonders beeindruckte mich, wie die Eheleute Dietz sich am Schluss des Buches von Freunden und Seminarteilnehmern zu ihrem eigenen Leben und Wirken befragen lassen. Da zeigt sich, wie sie das, was sie ihren Klienten zu vermitteln versuchen, sich selbst zu Herzen genommen haben. Kein Wunder daher, dass ich den Lesern und Leserinnen dieses Buches, seien dies Klienten, Coaches, Berater oder Therapeuten, diese Lektüre sehr empfehlen möchte.

Helm Stierlin Heidelberg, im April 2007

1. EINSTIMMUNG: DIE BEDEUTUNG VON SELBSTFÜHRUNG

„Erkenne dich selbst und du erkennst die Welt.“– Spruch über dem delphischen Orakel im klassischen griechischen Altertum – Sokrates

„Du kannst nicht tun, was du willst, solange du nicht weißt, was du tust.“– Moshe Feldenkrais

Die Bedeutung von Führung für exzellente Leistungen von Teams ist unbestritten – in der Wirtschaft, im Sport, in der Musik. Aber wie steht es mit der Fähigkeit zur Selbstführung? Gerade in schwierigen Situationen werden Menschen oft unflexibel, sind innerlich verunsichert oder aufgebracht. Automatische Reaktionen und unbeabsichtigte Wechselwirkungen treten an die Stelle von überlegtem, flexiblem Handeln. Man ist nicht mehr Herr (oder Frau) im eigenen Haus, Selbstführung bleibt auf der Strecke.

Wir beschäftigen uns seit Langem mit der Innenwelt des Menschen – mit unserer eigenen und der unserer Klienten und Seminarteilnehmer. Inzwischen haben wir eine Kombination von Vorgehensweisen gefunden, die Entwicklung und Veränderung auf dieser inneren Ebene erlauben. In den letzten Jahren sind wir immer wieder gefragt worden, wo man mehr über diese spezifische Arbeit lesen kann. Dieses Buch ist eine mit Lust und Leidenschaft geschriebene Antwort. Viele beeindruckende Erfahrungen beim Erforschen der Frage, wer oder was im Menschen sein Verhalten steuert, ihm Orientierung gibt und letztlich sein Leben sinnvoll führen lässt, haben uns dazu ermutigt.

Es gibt seit Menschengedenken den Wunsch nach Selbsterkenntnis – und auch Wege, sich und sein Leben selbstbestimmter zu führen. Die klassischen Philosophien des Abend- und des Morgenlandes haben sich intensiv damit beschäftigt. Auch wenn wir hier eher moderne Ansätze aus Psychologie und Neurobiologie zitieren, dieses alte „Menschheitswissen“ liegt unserem neuzeitlichen Denken und Handeln implizit zugrunde. Gerade die in Asien seit Jahrtausenden bewährte Praxis der Achtsamkeit erscheint uns als Königsweg zur individuellen Innenwelt. Die neuesten Erkenntnisse naturwissenschaftlich orientierter westlicher Forscher wie Antonio Damasio, Joseph LeDoux und Stanley Greenspan zeigen, dass rein rational ausgerichtete Lebensführung, ohne bewusste Berücksichtigung der emotionalen Welt, die menschlichem Verhalten zugrunde liegt, unnötig eingeengt bleibt.

Bei der Suche nach sinnvollen Navigationshilfen in der Innenwelt des Menschen überzeugten uns vor allem modernere Modelle über die Vielfältigkeit der individuellen Persönlichkeit. Sie unterscheiden sich von früheren besonders auch dadurch, dass sie jeden Einzelnen ermutigen, die eigenen einzigartigen Anteile seiner Persönlichkeit zu identifizieren und selbst zu benennen. Unser Verständnis von Selbstführung beruht vor allem auf „Internal Family Systems“ (IFS) von Professor Richard C. Schwartz. IFS erklärt die Vielschichtigkeit der Innenwelt mit einer systemischen und ganzheitlichen Sicht und bietet gleichzeitig gut strukturierte Vorgehensweisen zur Führung der Persönlichkeitsanteile durch das Selbst. Es zeichnet ein zur Erfahrung vieler Menschen unmittelbar passendes Bild, wie sich die unterschiedlichen, vordergründigen oder verborgenen Teile der Persönlichkeit auswirken – in Beziehungen, bei Konflikten, bei eigenen Entscheidungen und beim Verfolgen der eigenen Lebensziele. In diesem Buch erfährt der Leser, wie mehr Spielräume im Handeln entstehen, wenn diese Facetten kennengelernt, angenommen, weiterentwickelt und bewusst geführt werden.

Für wen ist dieses Buch?

Wer sich selbst besser kennenlernen will, wer seine Selbstführung verbessern möchte, der wird in diesem Buch fündig. In der Praxis bewährte Vorgehensweisen, viele Beispiele und ein auf das Wesentliche reduzierter theoretischer Hintergrund vermitteln eine leicht umsetzbare Anleitung zum Selbst-Coaching für jeden Interessierten.

Da unser Ansatz vor allem pragmatisch-praktisch ist, setzen wir keinerlei psychologisches Fachwissen voraus. Trotzdem werden psychologisch ausgebildete Fachleute einiges für die eigene Praxis finden. Besonders Coaches, Trainer, Berater und Führungskräfte, die immer häufiger in Situationen kommen, wo Menschen auf einer emotional tieferen Ebene Rat suchen, erhalten eine Vielzahl von Hinweisen, wie sie Klienten, Teilnehmern oder Mitarbeitern psychologisch gekonnt weiterhelfen können. Und indem der Profi für die eigene Innenwelt sensibler wird, kann er seine Kompetenz für andere noch besser nutzen. Da unsere Erfahrungen hauptsächlich aus dem beruflichen Kontext stammen, sind auch die Beispiele meist aus dieser Welt. Die Prinzipien lassen sich aber auf ähnliche Herausforderungen in anderen Zusammenhängen problemlos übertragen. Apropos Beispiele: Sie beziehen sich immer auf reale Personen. Sie sind aber, um Zuordnungen unmöglich zu machen, immer leicht von der realen Situation abgewandelt und tragen ausnahmslos erfundene Namen. Sollte sich jemand bei den Beispielen oder Namen wiederfinden, dann wäre das reiner Zufall.

Was lässt sich mit dem Buch (nicht) erreichen

Ein Punkt, mit dem wir vorsichtig sein wollen, sind die Grenzen von Selbst-Coaching. Einerseits wollen wir nicht den Eindruck erwecken, alle Limitierungen, Spannungen und Probleme ließen sich alleine bewältigen. Andererseits glauben wir, dass vieles in der persönlichen Entwicklung selbst vorangetrieben werden kann, manchmal auch muss.

Ein Buch kann ein Wegweiser sein oder eine Landkarte. Wie man es verwendet, hängt davon ab, wie gut man sich im Gelände auskennt, wie trittsicher man an heiklen Stellen ist und wie gut man einschätzen kann, ab wann ein Weg – ohne kundigen Führer – gefährlich wird. Es ist wie beim Wandern: Wer dazu neigt, sich selbst zu überschätzen, oder wem es unangenehm ist, nach dem Weg zu fragen, der sollte sich früher qualifizierten Rat einholen, als er es normalerweise täte. Wer aber ohnehin viel Unterstützung von außen bekommt und lieber zu viel als zu wenig fragt, dem tut es vermutlich auch mal gut, ein Stück des Wegs alleine zu gehen. Wir möchten die Leser anregen, etwas für die eigene seelisch-mentale Fitness zu tun und dabei zu merken, dass viel mehr aus eigener Kraft geht, als man sich vorher vorgestellt hätte.

Das Beispiel des Wanderns lässt sich auch übertragen auf die Situation des Beraters: Eine Landkarte genügt nicht, um andere zu führen. Je anspruchsvoller das Gelände und je weniger fit die zu begleitenden Menschen, desto wichtiger sind eine solide Erfahrung und eine gute Ausbildung für den Wander- oder Bergführer – auch um einschätzen zu können, was „gesundheitliche Ausschlusskriterien“ sind. Beim Coaching wie beim Selbst-Coaching sind das Suchterkrankungen, ausgeprägte Ängste, Depressionen oder Zwangssymptome. Im Zweifelsfall sollte immer ein Arzt oder Psychotherapeut konsultiert werden.

Wir wollen nicht den Eindruck vermitteln, dass mit Selbstführung alles machbar wäre, dass man sich sozusagen nach seinen (oder fremden) Vorstellungen beliebig „designen“ könnte. Das geht so wenig wie bei der Schönheitschirurgie: Kleine „Fehler“ lassen sich vielleicht etwas korrigieren – aber entscheidend ist die authentische Wirkung der Gesamtpersönlichkeit mit allen liebenswerten Eigenheiten.

Uns geht es mit diesem Buch vor allem um eine Ermutigung: Nämlich genauer herauszufinden, wer man selber ist – um von innen heraus eine selbstverständliche, natürlich stimmige Orientierung zu haben.

Hinweise fürs Lesen

Jedes Kapitel beinhaltet einen Einführungstext mit Beispielen zum Thema und einen Abschnitt zum Selbst-Coaching und zum Coaching. Diese enthalten praktische Übungen, Anleitungen zum Vorgehen sowie zusätzliche Hinweise für die professionelle Begleitung.

Vieles in diesem Buch wird Ihnen vertraut erscheinen. Vertraut in der Art, dass Sie bemerken, dass Sie das eine oder andere schon häufiger so wahrgenommen oder erlebt haben. Jeder hat seine Mechanismen zur Selbstregulierung und Selbstführung – und so werden Sie vermutlich einige davon hier wiederfinden.

Wenn Sie das, was Sie auf den folgenden Seiten lesen, für sich anwenden, kann ein für Sie bedeutsamer Unterschied zu bisher Gewohntem entstehen: Dass Sie genauer wissen, was Sie tun, wie es dazu kommt, dass Sie es so tun, und dass Sie eine größere Freiheit erwerben können, das zu tun, was Sie wirklich wollen. Sie können das Buch einfach nur lesen und sich an den neuen Erkenntnissen erfreuen, Sie können es aber auch als praktische Leitlinie nutzen, sich besser kennenzulernen und Ihrem eigenen Selbst, jenem Wesenskern, näherzukommen.

Die eigene Innenwelt zu erforschen und zu dem, was man dort findet, eine liebevolle Beziehung aufzubauen wird dadurch belohnt, dass dies die Chancen verbessert auf mehr Zufriedenheit, privaten und beruflichen Erfolg und das, was man im Rückblick ein geglücktes Leben nennt.

2. AUTOMATISCHE REAKTIONEN

(zurück zu Kapitel 9: VERÄNDERUNG DURCH SELBSTDIALOG)

„Der drückt bei mir immer wieder auf den gleichen Knopf!“ „Darauf reagiere ich absolut allergisch!“ „Da geht bei mir die Post ab.“ „Bevor ich wusste, wie mir geschieht, habe ich ...“ „Wenn ich den nur sehe, gehen bei mir die Schotten runter ...“ „Warum sag ich das? Ich weiß doch ganz genau, dass das nichts bringt!“

Merkmal einer automatischen emotionalen Reaktion ist, dass sie unangemessen ausfällt und dass man im Nachhinein mit sich selbst unzufrieden ist.

So etwas kennt jeder: Ein provokanter Satz, ein bestimmter Tonfall, ein abfälliger Gesichtsausdruck oder einfach nur eine kleine spitze Bemerkung des Gesprächspartners, und ab geht die Post. Ein empfindlicher Punkt ist getroffen, und man reagiert spontan und impulsiv – abwehrend, erklärend, mauernd, kämpferisch, rechtfertigend – mit wenig Möglichkeit, steuernd einzugreifen. In Sekundenbruchteilen läuft eine weitgehend automatisierte Reaktion ab. Es sind Situationen, in denen das gleiche eigene Verhaltensmuster immer wieder durchbricht. Man befindet sich zum wiederholten Mal im gleichen Fahrwasser und kann nicht verstehen, dass man da wieder hineingeraten ist. Zum hundertsten Mal hat man eine Mitarbeiterin in ihrem Redefluss unterbrochen, trotz des Vorhabens, ihre Meinung in Ruhe anzuhören. Schon wieder ist man in der Verhandlung mit dem Kollegen aus der anderen Abteilung in einem Positionskampf erstarrt, anstatt mehr auf die Interessen des anderen zu achten. Obwohl der Kopf weiß, dass ein anderes Verhalten besser wäre, reagiert innerlich etwas automatisch. Es kann sich anfühlen, wie „fremdgesteuert“ zu sein – als würde man nicht mehr selbst am Lenkrad sitzen. Ist die emotionale Reaktion bereits im Gang, ist es schwierig, sie zu unterbrechen. Selbst dann, wenn man realisiert, dass sie hinderlich oder destruktiv ist. Sekunden, Minuten oder auch Stunden später meldet sich oft eine vernünftigere Seite: „Du weißt doch, dass es nichts bringt, mit ihr zu argumentieren!“, „Wieso hast du dich wieder aus der Ruhe bringen lassen? Du kennst doch seine provozierende Art!“, „Das war nicht fair, wieso hast du das gesagt?“ Ein typisches Merkmal einer automatischen emotionalen Reaktion ist, dass sie unangemessen ausfällt und dass man im Nachhinein mit sich selbst frustriert, unzufrieden, hilflos oder ärgerlich ist.

Situationen, in denen man mit seinem eigenen Verhalten nicht zufrieden ist, sind oft der erste Anstoß, sich mit dem Thema Selbstführung zu beschäftigen.

Situationen, in denen man mit seinem eigenen Verhalten nicht zufrieden ist, sind oft der erste Anstoß, sich mit dem Thema Selbstführung zu beschäftigen. Hinderliche Gewohnheiten und alte Muster können ebenfalls Anlass dafür sein. Zum Beispiel, wenn jemand häufig unangenehm bestimmend wird oder Schwierigkeiten hat, sich gegenüber Forderungen von anderen angemessen abzugrenzen. Auch wiederkehrende Zustände wie Unsicherheit bei Präsentationen oder Arbeitssucht am Wochenende können ein Motiv sein, an sich zu arbeiten.

Der Nachteil von „Autobahnen im Gehirn“: Man gewöhnt sich so an sie, dass andere Wege nicht mehr wahrgenommen werden.

Viele Handlungen im Alltag laufen routiniert und ohne großes Nachdenken ab. Dieses automatische Funktionieren ist die Grundlage für effizientes Arbeiten. Müssten wir bei jedem Satz, jeder Geste, jeder kleinen Entscheidung Vor- und Nachteile bewusst abwägen, würde uns das viel zu viel Zeit kosten. Gewohnheitsmuster erleichtern das Leben. Sie machen einen großen Teil unseres Charakters aus und sind für uns so selbstverständlich, dass sie nicht mehr bewusst wahrgenommen und reflektiert werden. Manche Menschen sind so identifiziert mit ihren Gewohnheiten, dass sie glauben, als Erwachsene könnten sie sich kaum noch wesentlich verändern. Die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Neurobiologie relativieren jedoch dieses Klischee. Der Neurobiologe Gerald Hüther (1997) spricht von „Autobahnen im Gehirn“, synaptischen Verbindungen zwischen Nervenzellen, die umso „breiter“ und stabiler werden, je häufiger sie benutzt werden. Selten begangene Wege „wuchern zu“ und verschwinden. Wieder andere Gebiete werden gar nicht genutzt. Der Nachteil dieser „Autobahnen im Gehirn“: Man gewöhnt sich so an sie, dass andere Wege nicht mehr in Erwägung gezogen werden, oft schon gar nicht wahrgenommen werden. Und so empfinden die einen ihre Dominanz als völlig normal, und andere kommen nicht mehr auf die Idee, sich besser abzugrenzen. Die neue – und gute – Nachricht ist, dass solche Autobahnen ergänzt werden können durch alternative Pfade. Neue Bahnen – sprich neue Verhaltensmuster – können aufgebaut werden. Und je häufiger diese wiederum benutzt werden, desto selbstverständlicher werden sie Teil des neuen Verhaltensrepertoires. Das menschliche Gehirn ist viel veränderbarer, viel plastischer, als gemeinhin angenommen.

Das menschliche Gehirn ist viel veränderbarer, viel plastischer als gemeinhin angenommen.

Bei automatischen Reaktionen rast das Geschehen – bildhaft gesprochen – über die Autobahn. In diesen Momenten könnte es sehr hilfreich sein, frühzeitiger eine andere Ausfahrt zu finden. Die Plastizität des Gehirns – und die Erfahrungen mit vielen Menschen – lässt uns optimistisch sein, dass dies gut möglich ist.

So kann’s laufen – ein typisches Beispiel

(zurück zum Register der Beispiele)

Gerd Berger1 ist Senior Consultant in einer Unternehmensberatung. Seit einigen Monaten kommt es häufiger zu frustrierenden Gesprächen mit seinem Kollegen, Herrn Roth, mit dem er einige gemeinsame Kunden betreut. Roth ist ein impulsiver und emotional gesteuerter Mensch, der dazu neigt, Entscheidungen schnell und spontan zu treffen. So kann es passieren, dass er mit Kunden Termine vereinbart oder ihnen Zusagen macht, ohne diese im Vorfeld mit Berger abzusprechen. Er kommt zum Beispiel freudig strahlend in Bergers Büro und teilt ihm mit, dass er für den bevorstehenden Kundentag ein wunderbares, neu eröffnetes Seminarhotel im Grünen gefunden und die bereits gebuchten Räume im Hotel am Flughafen storniert hat. Oder er berichtet Berger voller Begeisterung, dass er einen jüngeren Kollegen, von dem Berger nicht viel hält, für eine anstehende Kick-off-Veranstaltung bei einem gemeinsamen Kunden einsetzen wird. In dem Moment, wo Roth ihm seine Entscheidung mitteilt – in dem begeisterten Tonfall, freudig, stolz und auch vollkommen von sich überzeugt –, fängt Berger innerlich an zu kochen. Er reagiert vorwurfsvoll und belehrend: „Moment mal, Herr Roth, bitte langsam! Wie kommen Sie denn darauf? Sie können doch nicht unseren jüngsten und unerfahrensten Mann dort hinschicken ... Sie wissen doch, Qualität steht für uns an erster Stelle. Unsere Kunden erwarten bei so einer Veranstaltung einen wirklich erfahrenen Profi. Da waren Sie mal wieder etwas vorschnell!“ Meistens rechtfertigt Roth dann sein Vorgehen und zählt eine Vielzahl von guten Gründen auf, wieso just dieser Kollege am besten zu diesem Kunden und dieser Veranstaltung passt und warum die Entscheidung so stehen bleiben muss. Berger kann zu dem Zeitpunkt allerdings schon gar nicht mehr zuhören. Er hat innerlich zugemacht, beharrt auf seiner Meinung, und oft fängt er auch an, Roth abzuwerten.

Berger hat diese Situation so oder so ähnlich mehrmals in den vergangenen Monaten erlebt. Ihm ist sehr bewusst, dass seine Reaktion das Ganze eskalieren lässt. Er kennt seinen Kollegen gut genug, um zu wissen, dass Sätze wie: „Herr Roth, da waren Sie wohl mal wieder vorschnell“ oder „Sie wissen doch, dass bei uns Qualität an erster Stelle steht“ ihn auf die Palme bringen und seine Rechtfertigungs-Tour nur anheizen. Was bringt ihn dann trotzdem dazu, sie auszusprechen? Auch wenn er das Verhalten von Roth nicht in Ordnung findet, warum reizt es ihn in diesem Ausmaß? Warum kann er damit nicht souveräner umgehen, obwohl er es sich immer wieder vorgenommen hat, gelassener zu reagieren? Als rational gesteuerter Mensch ärgert er sich am meisten darüber, dass er oberlehrerhaft und abwertend wird und es ihm nicht gelingt, dies zu unterlassen. Ihm ist vom Kopf her bewusst, dass es vernünftiger wäre, etwas zurückhaltender seine Vorbehalte und seine Wünsche direkter auszudrücken. Stattdessen wird er stur, und Roth wirft ihm – zu Recht – vor, dass er zunehmend zum „Abblocker“, „Besserwisser“ und „Bedenkenträger“ wird.

Möglicherweise würden einige Absprachen, Regeln und Vereinbarungen die Zusammenarbeit zwischen den beiden Kollegen optimieren. Bei genauerer Betrachtung ist der wesentliche Faktor für diesen Konflikt jedoch das, was in der Innenwelt von beiden geschieht.

Was passiert bei einer automatischen Reaktion?

Untersucht man solche Automatismen, dann ist ein relativ konstanter Ablauf augenfällig: Auf ähnliche Auslöser folgen mit bemerkenswerter Vorhersagbarkeit ähnliche Verhaltensweisen. Ein wunder Punkt wird getroffen, und sofort gibt es eine Reaktion. In Bruchteilen von Sekunden reagiert der Körper, die Gefühlslage und das Denken verändern sich, und ohne es zu bemerken, ist man im alten Fahrwasser. Je heftiger uns die emotionale Reaktion überfällt, desto schwieriger ist der Zugriff zum „besseren Wissen“.

Je heftiger einen die emotionale Reaktion überfällt, desto schwieriger ist der Zugriff zum „besseren Wissen“.

Auslöser: Die Auslöser für eine Automatik sind vielfältiger Natur. Irgendetwas aus der Außenwelt – ein Satz, eine spezielle Geste, ein Reizwort oder Reizthema, ein bestimmter Mensch, ein gewisses Verhalten – trifft auf die Innenwelt und verursacht eine Resonanz. Bei Gerd Berger ist der Auslöser, dass Entscheidungen getroffen werden, ohne ihn einzubeziehen. Es reizt ihn auch, wenn Herr Roth so überschwänglich, freudig und stolz darüber berichtet. Wie überzeugt er von sich ist, ist für Berger ein rotes Tuch.

Der wunde Punkt: Die Ursache einer Automatik ist eine persönliche Empfindsamkeit. Es gibt Dinge, auf die man sehr sensibel reagiert, die einen treffen, verletzen, provozieren. Eine automatische, emotionale Reaktion wird besonders rasch dann ausgelöst, wenn der empfindsame Punkt in der Vergangenheit schon oft getroffen wurde. Aufgrund von negativen Vorerfahrungen reagiert man umso „allergischer“ auf die Situation und das Gegenüber. Aber auch wenn man bereits in einer gereizten Grundstimmung oder im Stress ist, wird ein Automatismus schnell entflammt. Wenn Berger von den getroffenen Entscheidungen hört und dabei Roths strahlendes und selbstzufriedenes Gesicht sieht, reagiert etwas in ihm sehr empfindlich. Für einen Sekundenbruchteil fühlt er sich übergangen, überrollt und nicht ernst genommen. Dieses Grundgefühl bleibt während des Gesprächs die ganze Zeit latent da, auch wenn er es im weiteren Verlauf nicht mehr bewusst registriert.

Unmittelbare emotionale Reaktion mit Körperempfindungen: In dem Moment, wo der „wunde Punkt“ getroffen und Emotionen ausgelöst werden, ist der Körper beteiligt. Dieser reagiert sofort. Bei einem empfundenen Angriff beispielsweise spannen sich die Muskeln an, das Blut fließt stärker ins Gesicht oder in die Extremitäten, das Herz klopft heftiger, und der Atem stockt. Bei Berger zieht sich der Bauch empfindlich zusammen, Hitze steigt in den Kopf, und der Atem wird flacher. Auch wenn er es nicht bemerkt – sein Körper bereitet sich auf Kampf vor.

Innere Verarbeitung mit Gedanken und Gefühlen: In Bruchteilen von Sekunden schießen unterschiedliche Gedanken durch den Kopf. Sie können gekoppelt sein an frühere Ereignisse mit den beteiligten Personen und entsprechende Bewertungen beinhalten wie: „Schon wieder der!“ Sie können auch gegen sich selbst gerichtet sein: „Warum habe ich nicht klarer gesagt, dass ...“, und sie können Handlungen initiieren: „Lass dir das nicht gefallen!“ Auch solche gefühlsmäßig eingefärbten Gedanken laufen schnell und oft außerhalb der bewussten Wahrnehmung ab. Berger befürchtet, dass der junge Kollege für den Auftrag nicht die entsprechende Lebenserfahrung und das notwendige Standing hat und beim Kunden nicht gut ankommt. Gedanklich ist er damit beschäftigt, wie er sich gegenüber Roth besser behaupten kann.

Die innere Verarbeitung bei automatischen Reaktionen ist fast immer darauf ausgerichtet, die zugrunde liegenden Emotionen irgendwie zu regulieren, entweder indem man sie kommentiert, rationalisiert oder versucht, sie beiseitezuschieben. Bei den meisten Menschen entsteht der Impuls, die eigene Empfindsamkeit abzuschirmen und sie nicht nach außen zu zeigen. Verletzliche, unangenehme Gefühle werden innerlich oft so stark zurückgedrängt, dass sie nicht mehr wahrgenommen werden. Unsicherheit wird beispielsweise unterdrückt oder überspielt, und man verteidigt sich. Stärkere oder kämpferische Teile der Persönlichkeit werden aktiv, um Unterlegenheitsgefühle abzuwehren. Berger schottet sich innerlich ab, lässt nichts mehr an sich ran und schaltet auf Abwehr. Das, was von außen als „mauern“ wahrgenommen wird, ist seine spontane innere Schutzreaktion.

Verhalten: Diese gedanklich-gefühlsmäßigen Reaktionen steuern jetzt das Verhalten. Die Handlung ist das Ergebnis des zuvor blitzschnell abgelaufenen Verarbeitungsprozesses im Gehirn. Meist folgt das Verhalten einer mehr oder weniger ausgeprägten Variante des Kampf-Flucht-Reflexes: Man greift an, verteidigt sich, zieht sich zurück oder erstarrt. Gerd Berger reagiert vorwurfsvoll und besserwisserisch. Er erklärt Roth Hintergründe, die dieser selber weiß, verfällt in Verallgemeinerungen und wertet ihn ab. Eine Seite seiner Persönlichkeit reagiert wie ein „Oberlehrer“.

Wirkung, Wechselwirkung und Eskalation: Das Verhalten hat natürlich eine Wirkung auf den anderen. Bei automatischen Reaktionen führt es leider meistens zu eskalierenden Wechselwirkungen. Häufig ist das eigene Handeln dann wiederum Auslöser für eine automatische Reaktion beim anderen. Berger wirkt auf Roth abweisend, abblockend und belehrend. Dies drückt bei Roth auf seinen „wunden Punkt“. Er fühlt sich abgewertet, abgewürgt und blockiert und in seinem Handeln eingeschränkt und kontrolliert. Auch bei ihm läuft jetzt eine Automatik ab. Je belehrender und abwertender Berger wird, desto vehementer vertritt Roth seine Position. Daraus entspringt dann eine Wechselwirkung, die sich immer weiter hochschaukelt.

Was bei einer automatischen Reaktion passiert: Schematisch dargestellter Ablauf

Umgang mit einer automatischen Reaktion

Um sich bei automatischen Reaktionen bewusster steuern zu können, braucht man einen guten Zugang zur eigenen Innenwelt. Die folgenden Schritte, die ausführlich in den späteren Kapiteln beschrieben werden, helfen dabei:

Achtsamer werden, innehalten und wahrnehmen, was passiert

Die eigenen wunden Punkte besser verstehen

Möglichkeiten der Selbstregulierung bewusst anwenden

Teile der eigenen Persönlichkeit besser kennen und führen

Auf die eigene Wirkung und negative Wechselwirkungen achten

1: Achtsamer werden, innehalten und wahrnehmen, was passiert

So könnte Gerd Berger auf seine Reaktion mehr Einfluss gewinnen: Er könnte in dem Moment, in dem der Kollege ihn mit einer getroffenen Entscheidung konfrontiert, für einen Moment innehalten, bevor er handelt. Dieses Innehalten ist entscheidend, denn es unterbricht bereits die Automatik. Durch das Beobachten dessen, was passiert, bekommt Berger ein wenig mehr Abstand zum inneren Geschehen. Das alleine kann bereits genügen, um einen anderen Weg einzuschlagen. Diesen kurzen Zeitgewinn könnte er zusätzlich nutzen, um nach innen zu spüren, um sich selbst differenzierter wahrzunehmen: Was passiert jetzt gerade? Wie reagiert der Körper (z.B. Druck, Anspannung, Wärme), und was für eine Art von Gefühl ist das? Was hängt da gefühlsmäßig noch dran? Was für Gedanken tauchen auf? Was für ein Impuls bahnt sich an? Das kurze Innehalten für Bruchteile von Sekunden schafft die Basis für bewusstes Entscheiden. Berger könnte beispielsweise seinem Kollegen sagen: „Mir ist es wichtig, bei solchen Entscheidungen, die auch mich betreffen, mit einbezogen zu werden. Es ist sehr ärgerlich, wenn ich mit vollendeten Tatsachen konfrontiert werde.“ Oder er könnte ihn fragen, wie es dazu kommt, dass er eine Entscheidung getroffen hat, ohne Rücksprache mit ihm zu halten.

Innehalten ist entscheidend – es unterbricht die Automatik und schafft die Basis für bewusstes Entscheiden.

Für bereits lang andauernde und eingefahrene Muster ist der Weg zur Veränderung allerdings oft länger: Hier kann es notwendig sein, das Geschehen im Anschluss an die Situation zu reflektieren und zu versuchen, mit mehr Zeit und Achtsamkeit genauer wahrzunehmen, was innerlich reagiert hat. Berger könnte nach so einem typischen Vorfall das empfindsame Zusammenziehen im Bauch und das damit einhergehende Gefühl näher erforschen. Er könnte dabei entdecken, dass er sich nicht nur übergangen, sondern auch als Person missachtet fühlt. Und dass sich hinter dem Ärger auch eine Ohnmacht verbirgt, mit vollendeten Tatsachen konfrontiert zu werden und nichts mehr verändern zu können. Ihm könnte dadurch klarer werden, wie sich über Monate hinweg immer wieder die gleiche automatische Reaktion abspielte: „Bei Ohnmacht: Selbstverteidigung durch Gegenangriff.“ Eine differenzierte Reflexion nach einer typischen Automatik schafft Raum, neue Optionen zu entwickeln. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, künftig auf ähnliche Situationen besser vorbereitet zu sein. Das macht es wesentlich leichter, achtsamer und bewusster zu reagieren.

Gute Selbstwahrnehmung ist die Voraussetzung dafür, weniger von Reaktionen vereinnahmt zu werden und sich besser steuern zu können – kurz: geistesgegenwärtiger zu sein.

Für Selbstführung ist die Entfaltung der Selbstwahrnehmung entscheidend. Eine gute Wahrnehmung ist die Voraussetzung dafür, weniger von Reaktionen vereinnahmt zu werden und sich besser steuern zu können – kurz: geistesgegenwärtiger zu sein. Studien haben gezeigt, dass der Einzelaspekt, der den Erfolg einer Psychotherapie am besten vorhersagt, die Fähigkeit des Klienten ist, gegenüber der eigenen Erfahrung präsent zu bleiben. Im Bereich des Coachings und Selbst-Coachings hat dies sicher dieselbe Relevanz.

2: Den wunden Punkt besser verstehen

(zurück zu Kapitel 8: SELBSTFÜHRUNG)

Manchmal fragt man sich bei einer automatischen Reaktion: „Warum regt mich das eigentlich so auf? Wieso trifft mich das überhaupt so? Wie kommt es dazu, dass ich da so empfindlich reagiere?“ Solche Fragezeichen signalisieren, dass man die tiefer liegenden Hintergründe für die eigenen Empfindungen noch nicht verstanden hat.

Der wunde Punkt springt umso leichter an, je ähnlicher der jetzige Auslöser den Verursachern früherer Erfahrungen ist.

Der wunde Punkt springt umso leichter an, je ähnlicher der jetzige Auslöser den Verursachern früherer Erfahrungen ist. Je verwandter das gegenwärtige Erleben mit Situationen aus der Vergangenheit ist, in denen der Auslöser erlernt wurde, desto schwieriger wird es, die heute ablaufende automatische Reaktion zu entschärfen oder zu unterbrechen. Je stärker der emotionale Gehalt der damaligen Erlebnisse, desto herausfordernder ist es heute, daran etwas zu ändern.

Wenn sich nichts ändert, obwohl man vom Kopf her vieles weiß, geht es eher darum, Zugang zu unbewussten oder verdeckten Gefühlen und Facetten der Persönlichkeit zu bekommen.

Nur über die Ratio mehr zu verstehen ist ein Vorhaben, das selten wirklich weiterführt. Vom Kopf her weiß man schon so vieles, aber es ändert sich trotzdem nichts. Es geht vielmehr darum, mehr Zugang zu den unbewussten oder verdeckten Gefühlen und Facetten der Persönlichkeit zu bekommen. Dafür kann es wichtig sein, den wunden Punkt und die damit verbundenen verletzlichen Seiten im eigenen Wesen tiefer zu verstehen. Das wollen wir anhand eines weiteren Beispiels betrachten:

Gabi Taler ist eine 30-jährige, ehrgeizige und anspruchvolle Abteilungsleiterin im Bereich Marketing. Seit einem halben Jahr arbeitet sie mit einem älteren Kollegen, Rudolf Wüst, an einem gemeinsamen Projekt, das enge Absprachen zwischen den beiden erfordert. Wüst ist bereits 25 Jahre im Unternehmen und seit 15 Jahren Abteilungsleiter. Im Laufe der Zeit hat er viele Kolleginnen und Kollegen kommen und gehen sehen und erlebt, wie sie sich „die Hörner abstießen“. Auf Frau Taler wirkt er souverän, gelassen und überlegen. Wenn sie mit ihm spricht, fühlt sie sich oft nicht ernst genommen. Da Wüst so unerschütterlich selbstsicher auftritt und sich wenig mit ihr auseinandersetzt, hat sie zunehmend den Eindruck, dass er sie von oben herab behandelt. Die Arbeitstreffen mit ihm werden für sie ein Gräuel. Sie stellt fest, dass sie bei Meinungsverschiedenheiten immer wieder in die Defensive gerät. Was sie dabei am allermeisten stört: Sie empfindet sich ihm gegenüber wie eine junge, unerfahrene Praktikantin. Dieses Gefühl wird typischerweise bei ihr ausgelöst, wenn er auf einen Vorschlag von ihr in seinem sonoren, geschmeidigen und etwas selbstgefälligen Tonfall sagt: „Aber Frau Taler, Sie sollten doch inzwischen wissen, dass ...“ Oder: „Liebe Frau Taler, das hat hier immer gut funktioniert, das können Sie einem erfahrenen Kollegen schon glauben.“ 

Wenn sie sich in diesen Augenblicken gut beobachtet, dann kommt es ihr fast so vor, als würde sie körperlich kleiner werden. Sie hört, wie in ihrer Stimme etwas Vorwurfsvolles mitschwingt, wenn sie sich erklärt. Und sie merkt, dass sie sich eher verteidigt, anstatt überzeugend ihre Meinung zu vertreten. Ihren Argumenten fehlt die notwendige Kraft und Klarheit – etwas, worauf sie sich sonst immer gut verlassen konnte. Sie hat das Gefühl, blockiert zu sein. Manchmal kommt sie sich so vor wie das Kaninchen vor der Schlange. So eine Zusammenkunft mit Herrn Wüst hinterlässt sie dann mit einer ohnmächtigen Wut. Wut auf ihn, Wut auf sich selbst, Wut darüber, sich nicht besser im Griff zu haben.

Hintergründe von „wunden Punkten“ zu verstehen ist eine große Erleichterung, denn mit dieser Einsicht ist man ihnen nicht mehr so ausgeliefert.

Nach einem solchen Vorfall nimmt sie sich jetzt ein paar Minuten Zeit, um den unangenehmen Zustand, in den sie immer wieder automatisch hineingerät, genauer zu erforschen. Sie verweilt bei dem Gefühl. Sie versucht, die einhergehenden Gefühle differenzierter wahrzunehmen. Sie spürt nach, welche Qualität die Wut hat und was mit der Unterlegenheit noch mitschwingt. Und sie wird neugierig, denn es fühlt sich vertraut an. Was ihr nun wieder einfällt, verblüfft sie sehr: Die Situation erinnert sie an Gespräche im Elternhaus. Gespräche mit ihrem großen Bruder, der fünf Jahre älter war und der sie oft nicht ernst genommen hat. Sie hat sich ihm nie gewachsen gefühlt, in Streitgesprächen auch Angst vor ihm gehabt. Und sie war oft gekränkt und enttäuscht, weil sie von ihm so wenig Anerkennung bekam. Gabi Taler ist enorm verwundert über all die Ähnlichkeiten. Selbst der Blick des Bruders – der eine Mischung aus Überlegenheit und Desinteresse ausdrückte – erinnert sie jetzt an Wüsts Geringschätzung ihr selbst gegenüber. Das so deutlich zu spüren ist eine Erleichterung, denn mit dieser Einsicht fühlt sie sich bei Weitem nicht mehr so hilflos ausgeliefert.

Die Ursachen und Prägungen der „wunden Punkte“ und Empfindsamkeiten sind uns oft nicht zugänglich. Viele leben jahrelang mit Gefühlen und Reaktionen, ohne sich bewusst zu sein, wo die Wurzeln dafür liegen. Ausgeprägter Zynismus, Kritikunfähigkeit oder Ungeduld – viele Aspekte der Persönlichkeit sind einem sehr vertraut, aber ohne tiefere Einsicht in ihre Entstehung lassen sie sich nicht verändern.

3: Möglichkeiten der Selbstregulierung bewusst anwenden

Selbstregulierung ist die Fähigkeit, etwas Abstand zu inneren Reaktionen herstellen zu können und diese positiv zu beeinflussen.

Über den Körper kann der eigene emotionale Zustand meist gut reguliert werden.

Auf der Basis von Selbstwahrnehmung lassen sich automatische Reaktionen bewusster regulieren. Selbstregulierung ist die Fähigkeit, etwas Abstand zu den inneren Reaktionen – den gegenwärtigen Gefühlen, Gedanken und Impulsen – herstellen zu können und diese positiv zu beeinflussen. Man ist in der Lage, innerlich etwas Zeit und Raum zu gewinnen und erst dann zu regulieren. Das kann sowohl bedeuten, Gefühle deutlicher auszudrücken, oder auch Impulse etwas mehr zu zügeln. Da der Körper an emotionalen Zuständen immer beteiligt ist, können sie über den Körper auch reguliert werden. Um ein paar Möglichkeiten für Selbstregulierung aufzuzeigen, bleiben wir noch beim Beispiel von Frau Taler. Von einer befreundeten Kollegin, die bei einem Gespräch zwischen ihr und Herrn Wüst dabei war, bekommt Gabi Taler später eine interessante Rückmeldung. Was sie hört, klingt vertraut und ist für sie nachvollziehbar:

Sie lasse schon beim Eintreten in das Zimmer die Schultern hängen und richte den Blick nach unten;

sie sitze nicht aufrecht in ihrem Stuhl, sondern eher klein und zusammengefallen; 

ihre Stimme sei leiser und zaghafter als sonst;

sie wirke einerseits eingeschüchtert, aber andererseits auch abweisend Herrn Wüst gegenüber;

sie wehre Vorschläge von Herrn Wüst sofort ab.

Diese Erkenntnis motiviert Frau Taler, sich in einem folgenden Gespräch mit Herrn Wüst genauer zu beobachten und dann etwas anderes auszuprobieren. Sie spürt, dass sich bereits auf dem Weg zur Besprechung ein Gefühl der Unterlegenheit und Unsicherheit einstellt. Ihre Stimmung ist resigniert, so als ob sie sowieso keine Chance hätte. In dem Moment, in dem sie diese Gefühle genauer wahrnimmt, stellt sie fest, dass sie verbunden sind mit einer subtil veränderten Körperhaltung. Die Energie sackt nach unten, der Körper fühlt sich schwächer an, als ginge die Kraft verloren. Sie erinnert sich jetzt an die Empfehlung der Kollegin: „Probier doch mal aus, mehr auf deine Körperhaltung zu achten und Wüst mit deutlich erhobenem Kopf und aufrechter Haltung zu begrüßen. Und anstatt im Stuhl zu versinken, wende dich ihm mehr zu. Das wirkt sicher ganz anders!“ 

Und tatsächlich! Frau Taler spürt, wie sie sich in dieser veränderten Haltung Herrn Wüst gegenüber deutlich „gewachsen“ fühlt. In einem herausfordernden Moment, als er sich wieder einmal auf seine Erfahrung beruft und ihre Vorschläge nicht ernst nimmt, beobachtet sie, wie das Unterlegenheitsgefühl auftaucht. Interessant ist die Entdeckung, dass sich gleichzeitig auch etwas Kämpferisches und Trotziges in ihr meldet: „Von dem lasse ich mich nicht kleinmachen!“ Aus der Rückmeldung der Kollegin weiß sie aber, dass ihr abweisendes Verhalten ihn in seinem Dominanzgehabe wahrscheinlich noch mehr provoziert. Sie atmet ein paar Mal tiefer durch. Das beruhigt das kämpferische Gemüt etwas. Jetzt kann sie offen ansprechen, was sie eigentlich empfindet – ruhig, klar und selbstbewusst: „Herr Wüst, ich finde es bedauerlich, dass Sie so wenig von meinen Vorschlägen halten. Das führt bei mir dazu, dass ich mich auch mit Ihren nicht näher auseinandersetzen mag. Und das wäre für mich, aber wahrscheinlich auch für Sie, sehr unbefriedigend.“ Wüst schaut sie etwas überrascht an und nickt dann nachdenklich. Er beruft sich zwar noch mal auf seine Erfahrung, bittet sie aber dann doch, ihren Vorschlag genauer zu erklären. Jetzt hört er aufmerksamer zu, und seine Fragen sind mehr an der Sache orientiert. Er wirkt sichtlich bemüht zu beweisen, dass er konstruktiver sein kann.

Für Gabi Taler war es wirksam, mehr auf die Körpersignale und Körperhaltung zu achten. Das Verändern der Körperhaltung hat sich positiv auf ihre innere Haltung und Stimmungslage ausgewirkt. Sie konnte ihre Gefühle besser regulieren, indem sie diese ausgedrückt hat, anstatt sie untergründig anstauen zu lassen.

4: Teile der eigenen Persönlichkeit besser kennen und führen

Wenn aber Gabi Taler weiterhin in der Situation gefangen bleibt, wenn trotz Einsicht in die Hintergründe und trotz guter Selbstwahrnehmung immer noch das gleiche Muster abläuft, dann kann eine intensivere Beschäftigung mit der eigenen Innenwelt sinnvoll sein. Insbesondere dann, wenn sie sich auch in der einen oder anderen Situation, unabhängig von Herrn Wüst, häufiger unterlegen erlebt und kämpferisch oder trotzig reagiert. Dann taucht die Frage auf, wie sie sich langfristig und nachhaltig besser führen und mit den empfindsameren Anteilen ihrer Persönlichkeit umgehen könnte.

Ein Ergebnis besserer Selbstführung wäre, etwas mehr Abstand zu gewinnen zur empfindsamen Seite der Persönlichkeit – und so in der Lage zu sein, aus einem anderen Handlungsmuster heraus zu reagieren.

Ein Ergebnis besserer Selbstführung wäre, in der schwierigen Situation etwas mehr Abstand zu ihrem Unterlegenheitsgefühl zu gewinnen, aber auch eine annehmende Haltung diesem Zustand gegenüber zu entwickeln. Denn das Bekämpfen der Unterlegenheit verstärkt diese eher noch. Das kostet zusätzliche Energie und bindet die Aufmerksamkeit. Mit mehr Überblick über die verschiedenen Facetten der eigenen Persönlichkeit könnte Gabi Taler aus einem anderen – beispielsweise diplomatischen oder selbstbewussten – Anteil ihrer Persönlichkeit heraus reagieren.

5: Auf die eigene Wirkung und negative Wechselwirkungen achten

Bei schwierigen, konflikthaften Interaktionen mit anderen beschäftigen sich viele Menschen mehr mit dem Gegenüber als mit sich selbst. Eine typische Art zu denken ist: Wenn der Chef nicht so viel Druck und Hektik verbreiten würde, wäre ich viel gelassener; wenn der Kollege nicht so stur und unkooperativ wäre, könnte ich schneller und effektiver arbeiten; wenn die Mitarbeiterin eigenverantwortlicher wäre, könnte ich mehr delegieren. Bei diesen Schlussfolgerungen herrscht wenig Bewusstheit darüber, wie sich Anteile der eigenen Persönlichkeit auf den anderen auswirken und wie man möglicherweise selbst zu den schwierigen Wechselwirkungen beiträgt. Um Beziehungen positiv zu gestalten, hilft das Wissen über die eigene Wirkung und darüber, wie sich Wechselwirkungen entwickeln. Mit mehr Verständnis für die „wunden Punkte“ des anderen ist es leichter, diese nicht zu drücken und so die Auslöser für automatische Reaktionen zu vermeiden. Das Erkennen der Wechselwirkung mit Herrn Wüst könnte Gabi Taler weiterhelfen, sich in den Interaktionen weniger zu verstricken und sie reibungsloser zu gestalten. Ihre Neigung, sich einerseits unterlegen zu fühlen und gleichzeitig nach außen kämpferisch aufzutreten, kann sehr provozieren – besonders jemanden wie Wüst, dessen Verhalten stark von Dominanz geprägt ist. Er erhöht sich dann noch mehr, und seine abschätzigen Kommentare nehmen zu. Dies drückt natürlich wiederum verstärkt auf ihren wunden Punkt. Wie Wechselwirkungen eskalieren und wie sie entschärft werden können, schauen wir uns im Kapitel „Wirkung und Wechselwirkung“ genauer an.

Das Erkennen von Wechselwirkungen hilft, sich in Interaktionen weniger zu verstricken.

Für eine bessere Selbstführung sind Achtsamkeit und der Zugang zu Teilen der Persönlichkeit die wichtigsten und wirkungsvollsten Ansatzpunkte. Gerade weil wir so viele Routinen brauchen, um im Alltag zurechtzukommen, ist es so wichtig, die hinderlichen Automatismen und Gewohnheitsmuster zu identifizieren und genauer zu erforschen.

Der Weg zu neuen, wirksameren Verhaltensweisen erfolgt in vier Stufen.

Der Weg zu neuen, wirksameren Verhaltensweisen erfolgt in vier Stufen:

„Unbewusste Inkompetenz“:

Man ist sich der Begrenztheit seiner Automatismen noch nicht bewusst und projiziert Schwierigkeiten auf die äußeren Umstände.

„Bewusste Inkompetenz“:

Es ist einem klar, wie die eigenen Verhaltensmuster die eigene Wirkung begrenzen und wodurch man in ungünstige „Fahrwasser“ gerät.

„Bewusste Kompetenz“:

Man entdeckt und nutzt neue Ansatzpunkte, die es einem ermöglichen, in den entsprechenden Situationen befriedigender zu handeln.

„Unbewusste Kompetenz“:

Wenn das Neue wieder zur Routine geworden ist, kann das Verhalten auch wieder unbewusst und automatisch erfolgen.

Die Kunst des Innehaltens ist unserer Erfahrung nach die wesentliche Schlüsselkompetenz, die als grundlegender neuer Automatismus erstrebenswert ist.

Selbst-Coaching

Reflexion: Automatische Reaktionen

Zweck: Hinderliche automatische Reaktionen identifizieren. Zusammenhänge und Wechselwirkungen näher untersuchen. Grobstruktur: Schriftliche Reflexion mit Reflexionsblatt. Rahmen: 20 Minuten – alleine oder mit einem Partner.

Lassen Sie Situationen aus Ihrem Alltag auftauchen, in denen es zu Eskalationen kommt. Momente, in denen Sie automatisch reagieren und in denen ein für Sie vertrautes, aber unbefriedigendes Muster abläuft. In den meisten Konflikt- oder Streitgesprächen werden automatische Reaktionen eine Rolle spielen. Aber auch hinderliche Gewohnheiten können Ausgangspunkt sein, wie zu schnell nachzugeben oder rechthaberisch zu sein.

Reflektieren Sie als Erstes, was typische Auslöser für Sie sind. Was sind Verhaltensweisen, Einstellungen oder Gefühle anderer, die spontan stärkere Reaktionen in Ihnen auslösen? Vielleicht gibt es auch Reizthemen oder bestimmte Sätze, einen speziellen Tonfall oder eine ganz bestimmte Person, die Anlass für eine Automatik sind.

Versetzen Sie sich jetzt in diese Situation und versuchen Sie möglichst differenziert und genau wahrzunehmen, was innerlich passiert. Lassen Sie die Situation in Zeitlupe ablaufen. Holen Sie sich die Auslöser innerlich her und nehmen Sie wahr, wie sich Ihr körperlicher Zustand verändert, was für Gefühle als Erstes auftauchen, welche Gedanken Ihnen spontan durch den Kopf schießen. Verweilen Sie einen Moment lang dabei und untersuchen Sie, was noch alles mitschwingt.

Betrachten Sie als Nächstes, wie Sie reagieren. Was sagen Sie, wie sprechen Sie, was tun Sie? Wenn Sie sich auf einem Video-Film sehen würden, wie würden Sie Ihr Verhalten beschreiben?

Versuchen Sie eine Einschätzung zu bekommen, wie Ihre Wirkung ist. Fragen Sie sich, wie Ihr Verhalten beim Gegenüber ankommt. Was lösen Sie vermutlich bei ihm/ihr aus? Wenn Sie sich in Ihr Gegenüber hineinversetzen, wie geht es ihm/ihr vermutlich? Welche Wechselwirkung entsteht zwischen Ihnen beiden?

Coaching

Hintergründe einer Automatik erforschen

Ein häufiges Anliegen von Klienten ist, sich besser regulieren zu können. Sie erleben und beschreiben oft Zustände und Situationen, die sie besser beeinflussen, kontrollieren oder verändern wollen. Wenn sie schon alles Mögliche ausprobiert haben, aber immer wieder ins gleiche Fahrwasser geraten, es trotz Kommunikations- oder Entspannungstechniken, positivem Denken oder sonstigen Tricks nicht in den Griff bekommen, dann kann ein wirksamer Einstieg sein, den Automatismus genauer zu erforschen.

Wir kommen zurück auf das Beispiel von Gerd Berger. Angenommen, er hat dem Coach den typischen Ablauf der schwierigen Interaktion mit seinem Kollegen Roth erzählt und die beiden entscheiden, diesen unter die Lupe zu nehmen. Dann sind folgende Fragen eine hilfreiche Orientierung.

1. Coach: „Was ist für Sie besonders hinderlich/problematisch an dieser automatischen Reaktion? Wie empfinden und bewerten Sie hier Ihr Verhalten?“ Berger: „Was mich besonders ärgert, ist, dass Roth nichts an seinem Verhalten ändert, obwohl ich es schon zigmal angesprochen habe. Und unser Vorgesetzter ist nicht bereit, unsere Zuständigkeiten klarer zu definieren.“ Oft spricht der Klient über Aspekte in der Außenwelt, auf die er keinen Einfluss hat. Dann sollte der Coach den Klienten auf die Erfahrung in der Situation zurückführen und ihn bitten, sich dabei auf die eigenen Empfindungen und Reaktionen zu fokussieren:

„Und wenn Sie noch mal Ihr eigenes Verhalten betrachten – wie bewerten Sie das? Was daran halten Sie für hinderlich oder problematisch?“ Berger: „Na ja, mir ist schon bewusst, dass meine Vorwurfshaltung ihn anstachelt, sich zu rechtfertigen. Ich weiß, dass ich weniger allergisch reagieren müsste. Schließlich würde ich mich aus Roths Augen auch oft als Bremser und Bedenkenträger sehen.“

2. Coach: „Wie hilft Ihnen Ihre Reaktion in diesem Moment? Was für Vorteile hat sie? Was befürchten Sie, könnte passieren, wenn Sie diese Reaktion nicht hätten?“ Berger: „Wenn ich nicht auf meiner Position beharren würde, dann würde ich vielleicht nachgeben. Und außerdem zeige ich Roth, dass ich mir so was nicht gefallen lasse.“ Der Coach kann davon ausgehen, dass eine Automatik immer einen Sinn hat, dass es dafür gute Gründe gibt. Mit dieser Frage bekommt der Coach möglicherweise weitere wichtige Hinweise über die Ursachen der Reaktion. Berger ist es beispielsweise wichtig, sich für seine eigenen Interessen und Sichtweisen einzusetzen und sich gegenüber Roth abzugrenzen. Er befürchtet, dass er sich zu leicht „unterbuttern“ lässt. Der eingeschlagene Weg ist zwar nicht effektiv, aber die Absicht ist gut nachvollziehbar. Wenn der Coach mehr über die Hintergründe erfährt, kann er diese bei einer Lösungssuche mit berücksichtigen. Im Verlauf des Coachings können beide nach Wegen suchen, in denen Berger sich auf andere Weise durchsetzen oder abgrenzen kann.

3. Coach: „Was verstehen Sie über die Hintergründe Ihrer Reaktion? Was verstehen Sie nicht?“ (Auslöser, Zusammenhänge, wunder Punkt, Ablauf usw.) Berger: „Ich hatte schon mal eine Mitarbeiterin, mit der ich so was Ähnliches erlebt habe. Auch im privaten Umfeld kann ich schlecht damit umgehen, wenn mich jemand übergeht und mich vor vollendete Tatsachen stellt. Das kenne ich schon von mir. Was ich nicht verstehe, ist, warum ich so abwertend und oberlehrerhaft werde.“ Der Coach erfährt möglicherweise, dass es sich um etwas Grundsätzliches zu handeln scheint, dass der Klient auch in anderen Situationen so ähnlich reagiert. Manchmal wird dies dem Klienten auch erst durch die Fragen bewusst. Außerdem kann der Coach so sicherstellen, dass er sich auf die wesentlichen Aspekte konzentriert und das erforscht, wo die Neugier des Klienten liegt. Das sind eher die Bereiche, die dem Klienten noch unklar sind.

4. Coach: „Wie bewusst sind Ihnen der Ablauf und die Wirkung dieser automatischen Reaktion im Alltag? Was wäre anders, wenn Sie in diesen Situationen eine bessere Selbstwahrnehmung hätten und/oder früher wahrnehmen würden, was sich gerade anbahnt?“ Berger: „Na ja, ich kenne den ganzen Ablauf recht gut. Ich glaube schon, dass ich mich dabei beobachte. Aber was soll ich da machen?“