Wie Veränderung gelingt - Ingeborg Dietz - E-Book

Wie Veränderung gelingt E-Book

Ingeborg Dietz

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Beschreibung

Veränderung entsteht, wenn limitierende und oft unbewusste Abläufe innerlich durchlebt und bewusst betrachtet werden. Wie dies gelingt und was die entscheidenden Wirkfaktoren im Coaching und Selbstcoaching sind, wird in diesem Buch differenziert veranschaulicht. Die Autor:innen präsentieren eine Kombination aus der Arbeit mit Persönlichkeitsteilen, Achtsamkeit und Körperwahrnehmung – mit systemischem Verständnis und einem systematischen Vorgehen. Dieser einzigartige Coachingansatz ermöglicht neue Einsichten über die eigene Persönlichkeit und darüber, wie sich eingefahrene Verhaltensmuster verändern lassen. Er bietet Orientierung bei der Entfaltung von Selbstführung und beim Meistern schwieriger Wechselwirkungen im Zusammensein mit anderen. Professionelle Begleiter:innen, die erfahrungsorientiert und emotional tiefer beraten wollen, finden viele Beispiele und Anleitungen, die auf mehr als 30 Jahren Coachingerfahrung basieren.

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Seitenzahl: 387

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Ingeborg & Thomas DietzWie Veränderung gelingtSelbstführung in Coaching und Selbst-Coaching

Über dieses Buch

Achtsamkeit, Körperwahrnehmung und Arbeit mit Persönlichkeitsteilen 

Veränderung entsteht, wenn limitierende und oft unbewusste Abläufe innerlich durchlebt und bewusst betrachtet werden. Wie dies gelingt und was die entscheidenden Wirkfaktoren im Coaching und Selbstcoaching sind, wird in diesem Buch differenziert veranschaulicht. 

Ingeborg und Thomas Dietz präsentieren eine Kombination aus der Arbeit mit Persönlichkeitsteilen, Achtsamkeit und Körperwahrnehmung – mit systemischem Verständnis und einem systematischen Vorgehen. Dieser einzigartige Coachingansatz ermöglicht neue Einsichten über die eigene Persönlichkeit und darüber, wie sich eingefahrene Verhaltensmuster verändern lassen. Er bietet Orientierung bei der Entfaltung von Selbstführung und beim Meistern schwieriger Wechselwirkungen im Zusammensein mit anderen. Professionelle Begleiter:innen, die erfahrungsorientiert und emotional tiefer beraten wollen, finden viele Beispiele und Anleitungen, die auf mehr als 30 Jahren Coachingerfahrung basieren.

Ingeborg und Thomas Dietz bieten seit 1989 Coachings und Trainings für Führungskräfte an. Sie leben und arbeiten in Feldafing.

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2024

Eine Vorgängerversion dieses Buchs erschien 2008 unter dem Titel „Selbst in Führung“.

Coverbild: © hanohiki (Adobestock)

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Grafiken: Katrin Semmler

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2024

ISBN der Printausgabe: 978-3-7495-0572-2

ISBN dieses E-Books: 978-3-7495-0573-9 (EPUB), 978-3-7495-0574-6 (PDF).

Vorwort

Inge und Thomas Dietz haben ein wunderbar rundes, leicht verständliches und äußerst nützliches Buch vorgelegt, das vielen Menschen helfen wird, mit persönlichen Herausforderungen und schwierigen Veränderungen mitfühlend und effektiv umzugehen.

Als langjährige ARD-Nachrichtenmoderatorin erfahre ich es jeden Tag: Die Welt verändert sich und wir sind Zeuge der Möglichkeiten und Grenzen der Menschen, damit umzugehen. Prozesse in Politik, Gesellschaft, Umwelt und Gesundheit, in denen die individuellen Erfahrungen und mehr oder weniger reflektierten Überzeugungen der handelnden Personen ihre Wirkung entfalten, sind das Futter einer nie endenden Berichterstattung.

So kommen wir auch in unserem persönlichen Universum um Veränderungen nicht herum: Schwierige Beziehungen etwa, neue berufliche Umstände und Verantwortungen, Schicksalsschläge oder Übergänge zwischen verschiedenen Lebensphasen und vieles andere drängen uns immer wieder dazu, Herausforderungen frisch anzugehen, etwas Neues zu probieren und Altes loszulassen. Das steht fest: Ohne Veränderungsprozesse kein persönliches Wachstum, weniger Chancen auf Lebensglück, Freude und Erfüllung. Das gilt auch für erfolgreiches Handeln. Leider ist das leichter gesagt als getan. Kaum etwas ist so beharrlich wie über Jahre eingefahrene Verhaltensmuster. So kommt es oft vor, dass wir uns in unbefriedigenden Situationen wiederfinden, selbst wenn wir uns sehr um Lösungen bemühen. Wir erleben vielleicht sogar Frust und Resignation – allerdings nicht zwangsläufig, denn es gibt erprobte und konstruktive Wege für erfolgreiche Veränderungen.

Die in diesem Buch vorgestellte Arbeit von Inge und Thomas Dietz eignet sich aus meiner Sicht in idealer Weise dazu, grundlegende Veränderungsprozesse anzustoßen und diese in einer besonders zugewandten Qualität zu begleiten. Behutsam, interessiert und menschenfreundlich. Sie setzt dort an, wo die Ursachen unseres Verhaltens liegen: in der facettenreichen, spannenden und dynamischen Vielschichtigkeit unserer Persönlichkeit.

Ich spreche aus Erfahrung. Als Teilnehmerin ihrer Coaching-Weiterbildung und im Zuge meiner damit zusammenhängenden Selbsterfahrung hat mich diese Arbeit nachhaltig inspiriert und bewegt. Sowohl meine Begleitung in der Rolle als Coach als auch meine Wahrnehmung für das Mensch-Sein an sich haben sich wesentlich vertieft und differenziert. Das zugrunde liegende Modell der Persönlichkeitsteile erschien mir wie eine Offenbarung. Seitdem ich es kenne, denke ich oft: „Mir kann doch gar nichts mehr passieren!“ Durch den Kanon an Haltung, Verstehen und Methodik, der aus diesem Ansatz entsteht, habe ich einen besonders wirksamen und schnellen Zugang zu mir gefunden, ob für mich allein oder mit professioneller Unterstützung. Er hilft mir immer wieder, notwendige Anpassungen dem Leben gegenüber zu erspüren, tief zu verankern und inneren Frieden damit zu finden. 

Auch mein Herz als Medizinerin schlägt höher: Diese Art von Coaching und Selbstcoaching hält gesund. Es beugt vielen schädlichen Stressfaktoren vor, indem zu Stille und Achtsamkeit eingeladen wird. Lernen, den Körper zu spüren und genau hinzuhören – eine gute Vorrausetzung für ein gesundes Körpergefühl, Früherkennung, und Neujustierung.

Dies möchte ich Ihnen außerdem ans Herz legen: Das in diesem Buch gezeigte Menschenbild leistet einen überaus wertvollen Beitrag für mehr Verständnis, Empathie und Hilfsbereitschaft unter den Menschen im Allgemeinen. Mehr davon in der Welt – davon bin ich überzeugt – hätte die Kraft, sich beruhigend und konstruktiv auf die sich ständig ändernde Nachrichtenlage auszuwirken.

Ich wünsche Ihnen mit diesem Buch viele richtungsweisende Erkenntnisse und damit auch Impulse für ein reicheres Leben. 

Dr. Susanne Holst

1. Einstimmung

„Erst wenn du weißt, was du tust, kannst du tun, was du willst!“ Dieses Zitat von Moshé Feldenkrais begleitet uns schon sehr lange in unserer Arbeit. Denn solange wir nicht wissen, wie wir etwas auf eine bestimmte Weise erleben und tun, fällt es schwer, dies zu verändern. Eine Person, die zum Beispiel oft ungeduldig und unwirsch reagiert, kann erst dann darauf Einfluss nehmen, wenn sie erkennt, welche inneren Impulse, Gefühle und Gedanken ihr bei der Geduld im Weg stehen. Mit mehr Bewusstheit dafür, wie verschiedene Facetten unserer Persönlichkeit uns daran hindern, uns so zu verhalten und zu fühlen, wie wir es anstreben, finden sich verlässlich neue Wege. Und wenn wir verstehen, wie nachhaltige Veränderung gelingt, können wir sie bewusster ansteuern.

Als wir uns Anfang der 2000er-Jahre entschieden hatten, den Vorgänger dieses Buchs zu schreiben (Selbst in Führung), waren wir beflügelt von vielen positiven Erfahrungen bei der Begleitung unserer Klientinnen und Klienten. Heute, etwa 20 Jahre später, haben die Inhalte weiterhin Bestand. Aber wir blicken mit deutlich mehr Erfahrung und neuen Perspektiven auf die Entwicklungen der Menschen, die wir begleitet haben. Wichtige Faktoren von Veränderung herauszuschälen und zu veranschaulichen, ist eine wesentliche Motivation für dieses veränderte und deutlich erweiterte Buch.

Coaching erleben wir als eine Kunst, die auf sorgfältig erlerntem Handwerk und Wissen über psychodynamische Wirkmechanismen beruht. Als Coaches und Ausbilder von Coaches wollen wir dieser Kunst mit diesem Buch neuen und frischen Ausdruck verleihen. Wir wissen, dass Veränderung möglich ist. Es gab so viele eindrückliche Veränderungsprozesse von Menschen, von denen wir Zeuge wurden, die uns bewegt, beglückt und manchmal überrascht haben. Türen öffnen sich und neue Räume entstehen – wohin die Reise genau geht, wissen wir als Coach vorher nicht. Aber wann, wo und weshalb wir auf solchen Reisen anhalten und was wir dabei näher betrachten sollten, dieses Wissen können wir anbieten. Jede Reise in die Innenwelt ist spannend. Wir machen neue Erfahrungen, entdecken neue Möglichkeiten, erleben uns, die Menschen und die Welt auf eine neue, andere Art und Weise.

Als Coaches verstehen wir uns als Begleiter unserer Klientinnen und Klienten auf deren Reise in die Innenwelt. Die individuelle Welt ist auch für uns jedes Mal neu, aber weil wir viele, auch abenteuerliche Reisen begleitet haben, kennen wir uns mit den unterschiedlichsten Gegebenheiten aus. So können wir Hinweise geben und Sicherheit vermitteln, wenn sich Gebiete der eigenen Psyche zeigen, die noch unentdeckt, fremd und manchmal auch unberechenbar wirken. Wir können Wege begleiten, die man allein nicht gehen würde. Viele dieser Erkundungen gehen mit dem Entdecken von Schätzen und Ressourcen einher, mit denen man vorher nicht gerechnet hätte.

Unsere Hintergründe

Die seit Jahrtausenden bewährte Praxis der Achtsamkeit erscheint uns als zentrale Grundlage wirksamer Wege in die Innenwelt. Nicht zuletzt die Erkenntnisse westlicher Forscher zeigen, dass eine rein rational ausgerichtete Lebensführung ohne Berücksichtigung der emotionalen Faktoren unser Erleben und Handeln deutlich limitiert. Sokrates‘ Spruch „Erkenne dich selbst und du erkennst die Welt“ über dem delphischen Orakel im antiken Griechenland unterstreicht den Wunsch des Menschen nach Selbsterkenntnis. Die klassischen Philosophien des Abend- und des Morgenlandes haben sich intensiv damit beschäftigt und nach Wegen gesucht, das Leben bewusster und selbstbestimmter zu führen. Und auch wenn wir hier vor allem moderne Ansätze aus Psychologie und Neurobiologie zitieren: Das alte „Menschheitswissen“ liegt unserem neuzeitlichen Denken und Handeln implizit zugrunde.

Die zentrale Grundlage für einen guten Zugang zur Innenwelt verdanken wir unserem Hintergrund als Hakomi-Therapeuten – beschrieben unter anderem in dem Buch Hakomi – achtsamkeitszentrierte Psychotherapie (Weiss, Johanson & Monda 2021). Mit auf Achtsamkeit basierenden Vorgehensweisen können Gedanken, Stimmungen, Gefühle und tieferliegende Überzeugungen differenziert wahrgenommen und erkundet werden. Um sich dann in der Welt innerer Zustände zurechtzufinden und dort gut zu navigieren, nutzen wir die Theorie und Praxis der „Internal Family Systems Therapy (IFS)“. IFS erklärt die Vielschichtigkeit der Innenwelt mit einer systemischen und ganzheitlichen Sicht und bietet eine gute Struktur zur Führung verschiedenster Persönlichkeitsanteile. Dieser Ansatz zeichnet ein zur Erfahrung vieler Menschen unmittelbar passendes Bild, wie sich vordergründige, aber auch verborgene Teile der Persönlichkeit auswirken – in Beziehungen, bei Konflikten, Entscheidungen, beim Verfolgen eigener Lebensziele. Unser Buch vermittelt, wie mehr Spielräume im Handeln entstehen, wenn man diese Facetten kennenlernt, annimmt, weiterentwickelt und sie bewusst führt.

Für wen ist dieses Buch?

Wer sich selbst besser kennenlernen, persönlich weiterentwickeln und Selbstführung entfalten möchte, wird in diesem Buch fündig. In der Praxis bewährte Vorgehensweisen, viele Beispiele und ein auf das Wesentliche reduzierter theoretischer Hintergrund vermitteln leicht umsetzbare Anleitungen zum Selbst-Coaching.

Da unser Ansatz vor allem pragmatisch-praktisch ist, setzen wir kein psychologisches Fachwissen voraus. Trotzdem werden psychologisch ausgebildete Fachleute einiges für die eigene Praxis finden. Besonders Coaches, Trainer, Berater, Personalentwickler und Führungskräfte, die Menschen auch auf emotional tieferen Ebenen unterstützen möchten, erhalten eine Vielzahl an Hinweisen, wie sie psychologisch gekonnt weiterhelfen können. Da unsere Erfahrungen hauptsächlich aus dem beruflichen Kontext stammen, kommen die meisten Beispiele aus dieser Welt. Die Prinzipien lassen sich selbstverständlich auf ähnliche Herausforderungen in anderen Zusammenhängen übertragen. Apropos Beispiele: Sie beziehen sich auf reale Personen. Die Namen sind frei erfunden und die Situationen geringfügig abgewandelt.

Wer Selbst in Führung gelesen hat, kann sich in den ersten Kapiteln vor allem die Zusammenfassungen („Wirkfaktoren für Veränderung“) herauspicken. Besonders lohnend wird es dann, ab den Kapiteln 7 und 8 („Selbstführung“ und „Transformatorische Erfahrungen“) tiefer in die zum Teil ganz neuen Abschnitte einzutauchen.

Was lässt sich mit dem Buch (nicht) erreichen?

Wir sind vorsichtig hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen von Selbst-Coaching. Einerseits wollen wir nicht den Eindruck erwecken, alle Limitierungen, Spannungen und Probleme ließen sich allein bewältigen. Andererseits wissen wir, dass in der persönlichen Entwicklung vieles selbst vorangetrieben werden kann, manchmal auch muss.

Ein Buch kann ein Wegweiser sein oder eine Landkarte. Wie man es verwendet, hängt davon ab, wie gut man sich im Gelände auskennt, wie trittsicher man an heiklen Stellen ist und wie gut man einschätzen kann, ab wann ein Weg ohne kundigen Führer gefährlich wird. Es ist wie beim Wandern: Wer dazu neigt, sich selbst zu überschätzen, oder wem es unangenehm ist, nach dem Weg zu fragen, der sollte sich – früher, als er es normalerweise täte – qualifizierten Rat einholen. Wer jedoch lieber zu viel als zu wenig fragt und sich oft Unterstützung holt, dem tut es vermutlich auch mal gut, ein Stück des Wegs allein zu gehen. Wir möchten dazu anregen, Selbstfürsorge auf ein gutes Fundament zu stellen, etwas für die seelisch-mentale Fitness zu tun und dabei zu merken, dass aus eigener Kraft viel mehr geht, als man sich vorher vorgestellt hätte.

Das Beispiel des Wanderns lässt sich auch übertragen auf die Situation eines Coachs oder anderer professioneller Begleitung: Eine Landkarte genügt nicht, um andere zu führen. Je anspruchsvoller das Gelände ist und je ungeübter die Menschen sind, die man begleitet, desto wichtiger sind für die Wander- oder Bergführer eine solide Erfahrung und eine gute Ausbildung – auch um einschätzen zu können, was „gesundheitliche Ausschlusskriterien“ sind. Im Zweifelsfall empfiehlt es sich immer, eine psychotherapeutisch ausgebildete Person zu konsultieren oder ärztlichen Rat einzuholen. Wir wollen nicht den Eindruck vermitteln, dass mit Selbstführung alles machbar wäre, dass man sich sozusagen nach seinen oder fremden Vorstellungen beliebig „designen“ könnte. Wie bei der Schönheitschirurgie gelten auch hier die Einschränkungen: Kleine „Fehler“ lassen sich vielleicht ein wenig korrigieren – aber entscheidend ist die authentische Wirkung der Gesamtpersönlichkeit mit all ihren Eigenheiten.

Hinweise fürs Lesen

Angesichts des immer noch offenen Diskurses um eine gendergerechte Sprache haben wir uns entschieden, im Plural meist die männliche Version zu wählen. Wenn wir Klienten schreiben, meinen wir selbstverständlich Klientinnen und Klienten. Leichter ist es mit dem englischen Wort Coach, das beinhaltet ohnehin alle Geschlechter. Wir bitten Leserinnen und Leser mit differenzierteren sprachlichen Gendervorlieben, sich nicht zu sehr an unserem Umgang damit zu stören.

Jedes Kapitel beinhaltet einen Einführungstext und jeweils einen Abschnitt zum Selbst-Coaching und Coaching. Hier finden sich praktische Übungen, Anleitungen zum Vorgehen sowie weitere Hinweise für die professionelle Begleitung. Vieles in diesem Buch wird vertraut erscheinen. Vertraut in der Art, dass man beim Lesen bemerkt, das eine oder andere schon häufiger so wahrgenommen oder erlebt zu haben. Vermutlich werden Sie hier also einige eigene Erfahrungen wiederfinden.

Für die Reflexionen in den „Selbst-Coaching“-Abschnitten haben wir uns für die Du-Ansprache entschieden, damit unsere Leser sich persönlich angesprochen fühlen. Ebenso verhält es sich mit den Dialogen mit den Klienten in den Coaching-Abschnitten.

Wenn Sie das, was Sie auf den folgenden Seiten lesen, für sich anwenden, kann ein für Sie bedeutsamer Unterschied zu bisher Gewohntem entstehen: Dass Sie genauer wissen, was Sie tun, wie es dazu kommt, dass Sie es so tun und dass Sie vielleicht eine größere Freiheit entwickeln, das zu tun, was Sie wirklich wollen. Sie können das Buch einfach nur lesen und sich an den neuen Erkenntnissen erfreuen, Sie können es aber auch als praktischen Leitfaden nutzen, um sich und andere Menschen besser kennenzulernen und so zu einem geglückten Leben beitragen.

2. Automatische Reaktionen

Veränderungsimpulse entstehen meist über Lust oder Frust – etwas Neues ist attraktiv oder das Gegenwärtige ist unbefriedigend. Wenn es Menschen belastet, stört oder ärgert, wie sie sich verhalten oder fühlen, wenn Eigenschaften oder Verhaltensmuster negative Auswirkungen auf ihr Leben, Umfeld oder das Erreichen wichtiger Ziele haben, dann kann der Wunsch nach Veränderung wach werden. Wiederkehrende Situationen, in denen man mit sich selbst nicht zufrieden ist, hinderliche Gewohnheiten und Reaktionen sind oft Anlass, sich mit dem Thema Selbstführung zu beschäftigen. Und weil automatische Reaktionen eine so zentrale Rolle spielen, beschäftigen wir uns als erstes mit ihnen. Wir betrachten, was bei Automatismen auf der emotionalen und körperlichen Ebene geschieht, um mit mehr Bewusstheit mehr Einfluss auf limitierende Verhaltensmuster zu gewinnen.

Die meisten Handlungen und Reaktionen im Alltag laufen ohne großes Nachdenken ab. Bewährte Routinen und Verhaltensmuster sind die Grundlage für effizientes Arbeiten, die Gestaltung unseres Lebens und unserer Beziehungen. Sie machen einen großen Teil unserer Persönlichkeit aus und sind so selbstverständlich, dass wir sie nicht mehr bewusst wahrnehmen und reflektieren. Müssten wir bei allem, was wir tun und sagen, bei all unseren Impulsen und Alltagsentscheidungen Vor- und Nachteile bewusst abwägen, würde uns das viel zu viel Zeit kosten. Die meisten Gewohnheitsmuster erleichtern das Leben, sind hilfreich, wirkungsvoll und stimmen uns zufrieden. Im Folgenden schauen wir uns nur die automatischen Reaktionen und Verhaltensmuster an, die zu Problemen und schwierigen Wechselwirkungen beitragen, unter denen wir oder andere leiden und die wir verändern wollen.

Die Herausforderung dabei ist, dass viele dieser Muster so eingefahren sind, dass sie ganz unbewusst ablaufen. Bei automatischen Reaktionen werden Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen so unwillkürlich und schnell ausgelöst, dass wir nicht den inneren Raum haben, uns anders zu steuern. Wir reagieren in einer Weise, mit der wir manchmal schon währenddessen, meistens aber später unzufrieden sind.

Eine automatische Reaktion kann durch einen Trigger von außen ausgelöst werden, etwa durch einen provokanten Satz oder Tonfall, einen abfälligen Gesichtsausdruck oder eine spitze Bemerkung. Spezifische Herausforderungen wie Präsentationen, Vorträge, Konfliktgespräche, Verhandlungen, Kritik usw., ganz bestimmte Personen, Meinungen anderer oder auch Gesprächsthemen können wiederkehrende Zustände und Reaktionen hervorrufen. Aber auch bereits die Vorstellung einer heiklen Situation oder eines schwierigen Gegenübers kann uns von einem Augenblick zum nächsten in eine unangenehme emotionale Gefühlslage versetzen. In Sekundenbruchteilen läuft eine weitgehend automatisierte Reaktion ab und ein typisches Verhaltensmuster bricht durch. Zum wiederholten Mal befindet man sich im gleichen Fahrwasser und fragt sich, wie das passieren konnte: „Schon wieder habe ich jemanden unterbrochen, obwohl ich dochin Ruhe zuhören wollte. Erneut ist aus einer Verhandlung ein starrer Positionskampf geworden, dabei wollte ich doch mehr aufdie Interessen des anderen achten.“ Der Kopf weiß, dass ein anderes Verhalten besser wäre, doch innerlich reagiert etwas automatisch. Es kann sich wie „fremdgesteuert“ anfühlen – als würde man nicht mehr selbst am Lenkrad sitzen. Ist die Automatik bereits im Gang, ist es schwierig, sie zu unterbrechen. Selbst dann, wenn man realisiert, dass sie eskalierend oder destruktiv ist.

Ein Merkmal einer hinderlichen automatischen Reaktion ist, dass sie unangemessen ausfällt und man im Nachhinein frustriert, mit sich selbst unzufrieden, hilflos oder ärgerlich ist. Sekunden, Minuten oder Stunden später meldet sich deshalb oft eine andere Seite: „Du weißt doch, dass es nichts bringt, so zu argumentieren!“, „Wieso hast du dich wieder aus der Ruhe bringen lassen?“, „Das war nicht fair, das hättest du nicht sagen sollen!“ Selbstverständlich gibt es unzählige „positive“ automatische Reaktionen, die unser Leben vereinfachen und für uns sinnvoll sind. Ebenso gibt es einige, die wir akzeptieren, obwohl sie suboptimal sind.

Bildhaft gesprochen rast bei automatischen Reaktionen das Geschehen über eine Autobahn. In diesen Momenten wäre es hilfreich, abzubremsen und frühzeitig eine andere Ausfahrt zu finden. Die Plastizität des Gehirns – und die Erfahrungen mit vielen Menschen – lässt uns optimistisch sein, dass dies gut möglich ist. Der Neurobiologe Gerald Hüther (1997) spricht von „Autobahnen im Gehirn“, synaptischen Verbindungen zwischen Nervenzellen, die umso „breiter“ und stabiler werden, je häufiger sie benutzt werden. Selten begangene Wege „wuchern zu“ und verschwinden, andere Bereiche werden gar nicht genutzt. Der Nachteil dieser „Autobahnen im Gehirn“: Wir gewöhnen uns an sie, sodass wir andere Wege nicht in Erwägung ziehen, ja oft schon gar nicht mehr wahrnehmen, dass es sie gibt. Die gute Nachricht ist, dass solche Autobahnen ergänzt werden können durch alternative Pfade. Wir können neue Bahnen – sprich neue Verhaltensmuster – aufbauen. Und je häufiger wir sie benutzen, desto selbstverständlicher werden sie Teil des neuen Verhaltensrepertoires. Das menschliche Gehirn ist viel veränderbarer, viel plastischer als man früher dachte. Sehr spannend ist auch, was Ecker, Ticic und Hulley ihrem Buch Der Schlüssel zum emotionalen Gehirn (2016) zusammengetragen haben. Sie beschreiben, wie wir aufgrund der Plastizität des Gehirns Neues lernen, alte Muster verändern und sogar schwere psychische Beeinträchtigungen so gut wie vollständig überwinden können. Etwa bis zur Jahrtausendwende sind Neurowissenschaftler davon ausgegangen, dass Prägungen – lang bestehendes und vor allem früh im Leben emotional Gelerntes – nicht aus dem Gedächtnis getilgt werden kann.

Inzwischen ist nachgewiesen, dass synaptische Verbindungen durch neues Lernen aufgehoben werden. Diese Ergebnisse beschreiben einen Wendepunkt in unserem Wissen über Veränderungsmöglichkeiten durch die sogenannte „Gedächtnisrekonsolidierung“. Sie erklären, wie es möglich ist, dass bestimmte emotionale Reaktionen mithilfe von Coaching oder Psychotherapie gar nicht mehr „getriggert“ oder aktiviert werden und auch Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen, die mit diesen emotionalen Reaktionen zusammenhängen, dauerhaft ausbleiben. Die biografische Erinnerung an Ereignisse bleibt erhalten, aber die emotionale Ladung und die undifferenzierten alten Reflexe können komplett getilgt werden. Dazu in späteren Kapiteln mehr.

 Ein Beispiel:

Gerd ist Senior Consultant in einer Unternehmensberatung. Seit einigen Monaten kommt es zu frustrierenden Gesprächen mit seinem Kollegen Jürgen, mit dem er gemeinsame Kunden betreut. Jürgen ist ein impulsiver und etwas ungeduldiger Mensch, der Entscheidungen gerne schnell und spontan trifft. So kommt es vor, dass er mit Kunden Termine vereinbart und ihnen Zusagen macht, ohne diese im Vorfeld mit Gerd abzusprechen. Er kommt beispielsweise freudestrahlend in Gerds Büro und teilt ihm mit, dass er für den bevorstehenden Kundentag die bereits gebuchten Räume im Hotel am Flughafen storniert hat, weil er ein neues, schöneres Hotel im Grünen gefunden hat. Oder er berichtet voller Begeisterung, dass er einen jüngeren Kollegen, von dem Gerd nicht viel hält, für eine anstehende Kick-off-Veranstaltung bei einem gemeinsamen Kunden einsetzen wird.

In dem Moment, wo Jürgen ihm seine Entscheidungen mitteilt – in diesem überschwänglichen und überzeugten Tonfall –, fängt Gerd innerlich schon an zu kochen. Inzwischen reagiert er fast immer vorwurfsvoll und belehrend: „Moment mal Jürgen, bitte langsam! Wie kommst du denn darauf? Du kannst doch nicht unseren jüngsten und unerfahrensten Mann dort hinschicken … Du weißt doch, Qualität steht für uns an erster Stelle. Unsere Kunden erwarten bei so einer Veranstaltung einen erfahrenen Profi. Das war mal wieder vorschnell von dir!“ Jürgen zählt dann eine Vielzahl von guten Gründen auf, wieso just dieser Kollege am besten zu diesem Kunden und dieser Veranstaltung passt und warum die Entscheidung so stehen bleiben muss. Gerd kann zu dem Zeitpunkt allerdings schon gar nicht mehr zuhören. Er hat innerlich zugemacht, beharrt auf seiner Meinung und oft fängt er dann an, abwertend zu werden.

Gerd hat diese Situation so oder so ähnlich mehrmals in den vergangenen Monaten erlebt. Ihm ist sehr bewusst, dass seine belehrenden und abfälligen Kommentare das Ganze eskalieren lassen. Er kennt Jürgen inzwischen gut genug, um zu wissen, dass Sätze wie: „Jürgen, da warst du mal wieder vorschnell“ oder „Du weißt doch, dass bei uns Qualität an erster Stelle steht“ diesen auf die Palme bringen und das Rechtfertigen noch weiter anheizen. Er ist frustriert und fragt sich, warum er trotz besseren Wissens so vorwurfsvoll und belehrend reagiert. Warum kann er damit nicht souveräner umgehen und nüchtern-sachlich argumentieren, wie er es sich immer wieder vornimmt? Als empathischer Mensch, dem Augenhöhe wichtig ist, ärgert er sich am meisten darüber, dass er so oberlehrerhaft und abwertend wird und es ihm nicht gelingt, dies zu unterlassen. Vom Kopf her ist ihm bewusst, dass es stimmiger und klüger wäre, seine Wünsche direkter auszudrücken oder Jürgens Interessen mehr zu hinterfragen. Stattdessen wird er stur und Jürgen wirft ihm – zu Recht – vor, dass er zunehmend zum „Abblocker“, „Besserwisser“ und „Bedenkenträger“ wird.

Möglicherweise würden einige Absprachen, Regeln und Vereinbarungen die Zusammenarbeit zwischen den beiden Kollegen optimieren. Bei genauerer Betrachtung ist der wesentliche Faktor für diesen Konflikt jedoch das, was in der Innenwelt der beiden geschieht.

2.1 Ablauf einer automatischen Reaktion

Untersucht man Automatismen, ist ein relativ konstanter Ablauf augenfällig: Innerlich wird etwas getroffen oder „getriggert“ und sofort gibt es eine Reaktion. In Bruchteilen von Sekunden reagieren der Körper und die Gefühlslage, das Denken verändert sich und Handlungsimpulse werden ausgelöst. Das heißt: Ohne es uns bewusst zu machen, sind wir im alten Fahrwasser. Je heftiger uns die emotionale Reaktion überfällt, desto weniger Zugang haben wir zum „besseren Wissen“.

Auslöser für eine Automatik sind vielfältiger Natur. Es kann etwas aus der Außenwelt Kommendes sein – ein Satz, eine spezielle Geste, ein Reizthema, ein bestimmter Mensch, ein spezifisches Verhalten oder eine Einstellung von jemanden. Bei Gerd ist es ein Auslöser, wenn er übergangen und mit vollendeten Entscheidungen konfrontiert wird. Und auch Jürgens überschwängliches, von sich selbst überzeugtes Argumentieren ist für ihn ein rotes Tuch. Trigger können auch spezifisch gelagerte Situationen sein – Meetings mit einem bestimmten Personenkreis, wenn man etwas präsentiert oder im Mittelpunkt steht, ungerechte Kritik usw.

Der wunde Punkt: Einer automatischen Reaktion liegt immer eine persönliche Empfindsamkeit oder Disposition zugrunde. Oft wird auch von einem „wunden Punkt“ gesprochen. Das, was im Kern so empfindlich getroffen ist, worauf wir so sensibel oder heftig reagieren, wird in vielen Fällen nicht erkannt. So paradox es klingt: Obwohl wir ein Verhaltensmuster manchmal jahrelang erlebt und reflektiert haben, verstehen wir nicht, was uns in der Tiefe verletzt. Es gibt Trigger, auf die man ausgesprochen empfindsam reagiert – immer wieder aufs Neues treffen, verletzen und provozieren sie. Doch es bleibt verborgen, was das eigentlich Unangenehme ist.

Eine automatische Reaktion wird stärker – im Sinne von stabiler –, wenn der wunde Punkt in der Vergangenheit schon oft getroffen wurde. Aufgrund negativer Vorerfahrungen reagieren wir umso „allergischer“ auf die Situation und das Gegenüber. Und wenn wir außerdem in gereizter Stimmung oder im Stress sind, wird ein Automatismus noch schneller ausgelöst. Für das Beispiel von Gerd und Jürgen heißt das: Wenn Gerd von den getroffenen Entscheidungen hört und dabei Jürgens strahlendes, selbstzufriedenes Gesicht sieht, reagiert etwas in ihm hyperempfindlich. Ein starker Ärger kocht hoch. Weil aber alles so schnell abläuft, bekommt er nicht mit, dass die erste unmittelbare unangenehme Empfindung die ist, sich übergangen und überrollt zu fühlen. In Bruchteilen von Sekunden überlagert die aufflackernde Wut alles andere. Aber während des ganzen Gesprächs ist dieses empfindsame und ungerechte Grundgefühl latent da, auch wenn er es im weiteren Verlauf – im Zustand des Belehrens – nicht mehr wahrnimmt.

Emotionale Reaktion mit Körperempfindungen: In dem Moment, wo der „wunde Punkt“ getroffen und Emotionen ausgelöst werden, ist der Körper beteiligt. Dieser reagiert sofort. Bei einem empfundenen Angriff beispielsweise spannen sich die Muskeln an, Gesicht und Extremitäten werden stärker durchblutet, das Herz klopft heftiger und der Atem stockt. Bei Gerd zieht sich der Bauch zusammen, Hitze steigt in den Kopf und der Atem wird flacher. Sein Körper bereitet sich auf einen Kampf vor, auch wenn er es nicht bemerkt.

Innere Verarbeitung mit Gedanken und Gefühlen: Innerhalb von Sekunden schießen unterschiedliche Gedanken durch den Kopf. Sie können gekoppelt sein an frühere Ereignisse mit den beteiligten Personen und entsprechende Bewertungen beinhalten: „Schon wieder der!“ Sie können auch gegen sich selbst gerichtet sein: „Warum habe ich das nicht klarer gesagt?“ Und sie können Handlungen initiieren: „Lass dir das nicht gefallen!“ Auch solche emotional eingefärbten Gedanken jagen schnell und oft außerhalb der bewussten Wahrnehmung durch den Kopf. Gerd befürchtet, dass der junge Kollege für den Auftrag weder die entsprechende Lebenserfahrung noch das notwendige Standing hat und beim Kunden nicht gut ankommt. Gedanklich ist er aber primär damit beschäftigt, wie er sich gegenüber Jürgen besser behaupten und Einflussmöglichkeiten zurückgewinnen kann. Dieser Drang überlagert das Wahrnehmen seiner Sorgen.

Die innere Verarbeitung bei automatischen Reaktionen ist darauf ausgerichtet, die zugrunde liegenden unangenehmen Zustände irgendwie zu regulieren – beispielsweise durch inneres Rationalisieren, Wegschieben, Kontrollieren, Ignorieren. Der spontane erste Impuls ist meistens, die Empfindsamkeit abzuschirmen, sie möglichst nicht zu fühlen und vor allem, sie nicht nach außen zu zeigen. Verletzliche, unangenehme Gefühle werden oft so stark zurückgedrängt, dass man sie innerlich nicht wahrnimmt. So kann beispielsweise Unsicherheit durch inneren Rückzug oder Verteidigung nach außen unterdrückt oder überspielt werden. Überlegene Teile der Persönlichkeit können getriggert sein, um Ohnmachts- oder Unterlegenheitsgefühle abzuwehren. Gerd schottet sich innerlich ab, lässt nichts mehr an sich ran und schaltet auf Abwehr. Das, was von außen als „Mauern“ wahrgenommen wird, ist im Grunde genommen eine spontane Schutzreaktion.

Verhalten: All diese Gefühle, Körperempfindungen und Gedanken steuern jetzt das Verhalten. Wie wir handeln, ist das Ergebnis des zuvor blitzschnell abgelaufenen Verarbeitungsprozesses im Gehirn. Als Verhalten folgt meist eine mehr oder weniger ausgeprägte Variante des Kampf-Flucht-Totstell-Reflexes: Angriff, Verteidigung, Rückzug, Erstarrung. Aber häufig sind auch vermeintlich vernünftigere Reaktionen letztlich Schutzstrategien: cool und überlegen reagieren, rationalisieren oder argumentieren. Wenn Gerd auf sein Verhalten in diesen Situationen blickt, erlebt er sich wie ein „Oberlehrer“. In der Regel ist uns schon bewusst, wie wir uns verhalten, aber, in der Automatik gefangen, können wir oft den Schalter nicht mehr umlegen.

Wirkung, Wechselwirkung und Eskalation: Das Verhalten hat natürlich eine Wirkung auf den anderen. Häufig triggert es die andere Person und löst bei ihr eine automatische Reaktion aus. So kommt es zu eskalierenden Wechselwirkungen. Gerd wirkt auf Jürgen abweisend, abblockend und belehrend, und speziell diese belehrende Art trifft auf eine Empfindsamkeit. Er fühlt sich abgewertet, abgewürgt und blockiert, in seinem Entscheidungsraum eingeschränkt und kontrolliert. Auch bei ihm läuft jetzt eine Automatik ab. Je belehrender und abfälliger Gerd wird, desto vehementer vertritt Jürgen seine Position. So kommt es zu einer Wechselwirkung, die sich immer weiter hochschaukelt.

Abbildung 1: Was bei einer automatischen Reaktion passiert: schematisch dargestellter Ablauf

2.2 Umgang mit einer automatischen Reaktion

Bei automatischen Reaktionen kommt es uns manchmal so vor, als würden wir von Emotionen und den sie begleitenden Gedanken regelrecht „überfallen“. Um uns da bewusster steuern zu können, brauchen wir einen guten Zugang zur Innenwelt. Die folgenden Schritte, die ausführlich in den späteren Kapiteln beschrieben werden, helfen dabei:

Achtsamer werden, innehalten und wahrnehmen, was passiert

Den wunden Punkt besser verstehen

Sich bewusster regulieren

Teile der eigenen Persönlichkeit besser kennen und führen

Auf die eigene Wirkung und negative Wechselwirkungen achten

1. Achtsamer werden, innehalten und wahrnehmen, was passiert

Erhöhte Achtsamkeit hilft, auf eine bislang automatisch ablaufende Reaktion mehr Einfluss zu gewinnen. Ein Moment des achtsamen Wahrnehmens verlangsamt die übliche Automatik. Indem wir innehalten, verschaffen wir uns einen inneren Abstand und versetzen uns in die Lage, zu beobachten, was gerade passiert, ohne gleich hineingezogen zu werden. Bildlich gesprochen: Wir sind nicht mehr die Person, die gerade mit 180 auf der Autobahn fährt, sondern können sie beobachten und mitbekommen, wie sie gerade beschleunigt und gar nicht sieht, dass da vorne eine Ausfahrt ist.

Wenn es Gerd gelingen würde, bei den ersten Sätzen von Jürgen innezuhalten und sich bewusst zu machen, dass er jetzt gerade getriggert ist, hätte er ein klein wenig mehr Abstand zum inneren Geschehen. Innezuhalten ist so entscheidend, weil dies bereits die Automatik unterbricht und etwas Abstand schafft. Zwischen Reiz und Reaktion entsteht eine Lücke, und das kann reichen, einen anderen Weg einzuschlagen. Tieferes Atmen, eine kurze Pause, eine Frage, den Blick kurz schweifen lassen, die Aufmerksamkeit auf den Körper lenken … Es gibt einiges, das das Innehalten fördert. Diesen kurzen Zeitgewinn können wir nutzen, um wahrzunehmen: Was passiert jetzt gerade innerlich? Wie reagiert der Körper (Spüre ich z. B. Druck, Anspannung oder Wärme?) und was für eine Art von Gefühl ist das? Welche Gedanken tauchen auf, und welche Impulse bahnen sich an?

Vor dem kurzen Innehalten konnten wir vielleicht nur eine Möglichkeit sehen und jetzt eröffnen sich uns mehrere. Es schafft die Basis für bewussteres Entscheiden und Handeln. Wie wir dann reagieren, wird von Situation zu Situation ganz unterschiedlich sein. Manchmal sind wir allein durch das Innehalten schon in der Lage, uns so zu verhalten, wie wir es uns im Nachhinein betrachtet oft wünschen. Gerd könnte beispielsweise sagen: „Jürgen, mir ist wichtig, bei Entscheidungen, die auch mich betreffen, einbezogen zu werden. Es ist sehr ärgerlich, wenn ich mit vollendeten Tatsachen konfrontiert werde.“ Oder er könnte ihn fragen, wie es dazu kommt, dass er eine Entscheidung getroffen hat, ohne Rücksprache mit ihm zu halten.

Bei bereits lang andauernden und eingefahrenen Mustern ist der Weg zur Veränderung oft etwas länger, etwa, weil man das Geschehen noch differenzierter erforschen muss. Es könnten tiefere Schichten der Persönlichkeit und entsprechende Gefühle getriggert sein, die bewusst wahrgenommen und verstanden werden müssen. Manchmal spielen hinter den vordergründigen Gefühlen verborgene Emotionen und Prägungen eine wichtige Rolle. Das tiefere Gefühl hinter Gerds Ärger ist Ohnmacht. Als er klarer fühlen und erkennen kann, dass er auf diese Ohnmacht bislang mit Gegenangriff reagiert, kann er sich innehaltend der Ohnmacht stellen, ohne die übliche Angst, ihr ausgeliefert zu sein. Wenn wir wissen, was im Feinbereich innerlich passiert, fällt es uns leichter, auf ähnliche Situationen besser vorbereitet zu sein und bewusster zu reagieren.

2. Den wunden Punkt besser verstehen

Manchmal fragt man sich bei einer automatischen Reaktion: „Warum regt mich das eigentlich so auf? Wieso trifft mich das so stark? Wie kommt es dazu, dass ich dermaßen empfindlich reagiere?“ Obwohl die Automatik so vertraut ist, versteht man die Empfindlichkeit und die Gründe dafür nicht. Und solange wir etwas nicht verstehen und begreifen können, sind wir ihm mehr ausgeliefert. Das liegt vor allem daran, dass Menschen tendenziell verletzliche, unangenehme Gefühle nicht wahrhaben wollen. Diese Empfindsamkeiten werden oft gut beschützt und kontrolliert. So ist Ärger – als sekundäres Gefühl – leichter und schneller zu spüren als z. B. eine dahinterliegende Ohnmacht. Oder ein Gefühl von Ungerechtigkeit ist leichter wahrnehmbar als das dahinterliegende Gefühl von Ausgeliefertsein. In der Regel spüren wir beim Beginn einer automatischen Reaktion nicht, wie der „wunde Punkt“ getroffen wird. Was die meisten als Erstes mitbekommen, sind die Zustände, die die unangenehmen, verletzlichen Gefühle überlagern: Ärger, Unverständnis, Anspannung, Widerstand. Es sind Anteile unserer Persönlichkeit, die eine Schutzfunktion übernehmen. Über dieses Prinzip schreiben wir ausführlicher im Kapitel 6 „Innere Dynamik von Persönlichkeitsteilen“.

Der wunde Punkt springt umso schneller an, je ähnlicher die aktuellen Auslöser den Verursachern früherer schmerzhafter Erfahrungen sind. Je verwandter das gegenwärtige Geschehen mit ähnlichen Situationen aus der Vergangenheit ist und je stärker der emotionale Gehalt des damaligen Erlebens, desto herausfordernder ist es, automatische Reaktion zu entschärfen oder zu unterbrechen. Die Ursachen unserer „wunden Punkte“ und Empfindsamkeiten sind oft nicht leicht zugänglich. Viele leben jahrelang mit emotionalen Reaktionen, ohne sich bewusst zu sein, wo die Wurzeln dafür liegen. Wir wollen anhand eines Beispiels betrachten, wie hilfreich es sein kann, eine Empfindsamkeit achtsam und differenziert zu erforschen. Dieses Beispiel greifen wir im Abschnitt „Coaching“ am Ende des Kapitels wieder auf, um zu veranschaulichen, wie man im Coaching zum wunden Punkt hinsteuern kann.

 Ein Beispiel:

Gabi (30) ist eine ehrgeizige und anspruchsvolle Abteilungsleiterin im Bereich Marketing. Seit einem halben Jahr arbeitet sie mit einem älteren Kollegen an einem gemeinsamen Projekt, das enge Absprachen zwischen den beiden erfordert. Rudolf ist bereits 25 Jahre im Unternehmen und seit 15 Jahren Abteilungsleiter. Im Lauf der Zeit hat er viele Kolleginnen und Kollegen kommen und gehen sehen und erlebt, wie sie sich „die Hörner abstießen“. Auf Gabi wirkt er souverän, überlegen und auch ein Tick dominant. Im Kontakt mit ihm fühlt sie sich oft nicht ernst genommen. Er setzt sich mit ihren Beiträgen wenig auseinander und behandelt sie von oben herab. Die Arbeitstreffen mit ihm werden für sie zum Gräuel. Bei Meinungsverschiedenheiten gerät sie immer wieder in die Defensive. Am allermeisten stört sie, dass sie sich ihm gegenüber wie eine junge, unerfahrene Praktikantin fühlt. Das wird typischerweise dann bei ihr ausgelöst, wenn er auf einen ihrer Vorschläge in seinem sonoren und etwas selbstgefälligen Tonfall sagt: „Aber Gabi, du solltest doch inzwischen wissen, dass …“ Oder: „Liebe Gabi, das hat bis jetzt immer gut funktioniert, das kannst du einem erfahrenen Kollegen schon glauben.“ In diesen Augenblicken kommt es ihr so vor, als würde sie körperlich kleiner werden. Sie merkt, dass sie sich verteidigt statt überzeugend ihre Meinung zu vertreten. Ihren Argumenten fehlen die notwendige Kraft und Klarheit. Sie hat das Gefühl, blockiert zu sein. Manchmal erstarrt sie fast wie das Kaninchen vor der Schlange. Das alles ärgert sie noch mehr. So eine Zusammenkunft hinterlässt sie mit einer ohnmächtigen Wut. Wut auf ihn, Wut auf sich selbst, Wut darüber, sich nicht besser im Griff zu haben.

Sie entscheidet sich für ein Coaching, um Wege zu finden, mit diesen unbefriedigenden und frustrierenden Begegnungen anders umgehen. Anlässlich eines Vorfalls vor wenigen Tagen erforschen wir, was genau innerlich geschieht. Sie taucht dabei nochmal ein in die vergangene Situation mit Rudolf – mit der Ermutigung, achtsamer wahrzunehmen, welche Qualität ihre Wut hat und was da noch alles mitschwingt. Der Coach unterstützt sie, das Gefühl der Unterlegenheit und Ängstlichkeit tiefer zu erkunden: Was für eine Art von Unterlegenheit ist das und wie zeigt sie sich? Nach einer Weile bemerkt Gabi, dass dieser Zustand sich sehr vertraut anfühlt, wie etwas Altes, das sie gut kennt. Sie bleibt auf der Spur dieser Empfindung und ahnt recht bald gefühlsmäßig einen Zusammenhang: Die Situation mit Rudolf erinnert sie an frühere Gespräche mit ihrem sieben Jahre älteren Bruder, der sie oft kleingemacht hat. Nie fühlte sie sich ihm gewachsen und hatte in Streitgesprächen richtiggehend Angst vor ihm. Sie war oft gekränkt und enttäuscht, weil sie von ihm so wenig Anerkennung bekam. Gabi ist überrascht über diese Ähnlichkeiten und ihr wird bewusst: Allein Rudolfs geringschätzender Blick erinnert sie an die Überlegenheit und das Desinteresse ihres Bruders. Das so deutlich zu spüren, ist für sie eine große Erleichterung, denn mit dieser Einsicht macht ihr ihre Reaktion jetzt mehr Sinn.

3. Möglichkeiten der Selbstregulierung bewusst anwenden

Mit differenzierter Selbstwahrnehmung lassen sich automatische Reaktionen bewusster regulieren. Selbstregulierung ist die Fähigkeit, etwas Abstand zu inneren Reaktionen herstellen zu können – zu den gegenwärtigen Gefühlen, Gedanken und Impulsen – und diese positiv zu beeinflussen. Das kann bedeuten, Gefühle deutlicher auszudrücken, anstatt sie wie üblich wegzuschieben oder aber spontane Impulse etwas mehr zu zügeln. Wir verfügen über viele Möglichkeiten der Selbstregulierung und nutzen diese im Alltag fortwährend, wenn wir uns unwohl fühlen. Das Problem bei einer Automatik ist, dass die spontane und unbewusste Art der Regulierung meistens hinderlich ist. Wie bereits beschrieben, sind es häufig Schutzreaktionen, mit denen wir unangenehme Gefühle „wegmanagen“ und die wiederum zu ungünstigen Wechselwirkungen führen. Erst später fällt uns ein, was möglich und besser gewesen wäre.

Um ein paar Möglichkeiten der Selbstregulierung aufzuzeigen, bleiben wir bei Gabis Beispiel. Von einer Kollegin, die die Interaktion zwischen Gabi und Rudolf beobachtet hat, bekommt sie eine interessante Rückmeldung: Schon beim Betreten des Zimmers ließe sie die Schultern hängen und richte den Blick nach unten, sitze nicht aufrecht auf ihrem Stuhl, sondern eher zusammengefallen. Ihre Stimme werde leiser und zaghafter als sonst; sie wirke einerseits eingeschüchtert, andererseits aber auch abweisend, denn sie wehre Rudolfs Vorschläge sofort ab. Daran arbeiten wir im Coaching, erkunden in einem achtsamen Zustand neue Möglichkeiten der Selbstregulierung und probieren diese in der Vorstellung aus. Ihre Erkenntnisse und Erfahrungen motivieren Gabi, sich im nächsten Gespräch mit Rudolf genauer zu beobachten und dann etwas anderes auszuprobieren. Sie spürt jetzt, wie sich bereits auf dem Weg zur Besprechung ein Gefühl der Unterlegenheit und Unsicherheit einstellt. Es ist eine Resignation, als hätte sie sowieso keine Chance ihm gegenüber. Als sie diese Gefühle genauer wahrnimmt, stellt sie fest, dass sie mit einer subtil veränderten Körperhaltung einhergehen. Sie fühlt sich körperlich schwächer, als ginge die Kraft verloren. Sie erinnert sich jetzt an die Erfahrung im Coaching: Auszuprobieren, mehr auf die Körperhaltung zu achten und Rudolf mit erhobenem Kopf und aufrechter Haltung zu begegnen und anstatt im Stuhl zu versinken, sich ihm bewusst zuzuwenden. Und tatsächlich spürt Gabi, wie sie sich in dieser veränderten Haltung Rudolf gegenüber mehr „gewachsen“ und auf Augenhöhe fühlt.

In einem herausfordernden Moment, als er sich wieder auf seine Erfahrungen beruft, beobachtet sie, wie das Unterlegenheitsgefühl auftaucht. Und sie nimmt auch wahr, dass sich gleichzeitig etwas Trotziges in ihr meldet: „Von dem lasse ich mich nicht klein machen!“ Aus der Rückmeldung der Kollegin und der Reflexion mit dem Coach weiß sie, dass ihr abweisendes Verhalten ihn und sein Dominanzgehabe vermutlich noch mehr provoziert. Sie atmet ein paar Mal tiefer durch. Das beruhigt das Gemüt etwas. Jetzt kann sie offen ansprechen, was sie eigentlich empfindet – ruhiger, klarer, selbstbewusster: „Rudolf, ich finde es bedauerlich, dass du so wenig von meinen Vorschlägen hältst. Das führt bei mir dazu, dass ich mich auch mit deinen nicht näher auseinandersetzen mag. Und das ist für mich, aber wahrscheinlich auch für dich, sehr unbefriedigend.“ Im folgenden Coaching berichtet Gabi sehr zufrieden davon, wie sie sich bewusster wahrnehmen und regulieren konnte und auch darüber, wie Rudolf reagierte: Er schaute sie wohl etwas überrascht an und nickte dann nachdenklich. Zwar hat er sich erneut auf seine Erfahrung berufen, sie aber dann doch gebeten, ihren Vorschlag genauer zu erklären. Er hörte ihr aufmerksamer zu und wirkte sichtlich bemüht, zu beweisen, dass er konstruktiver sein kann. Und besonders glücklich war sie über ihr eigenes neues Verhalten.

Gabi half es, mehr auf Körpersignale und Körperhaltung zu achten. Und das Verändern der Körperhaltung wirkte sich positiv auf ihre Stimmung und emotionale Haltung aus. Statt ihre Gefühle sich untergründig anstauen zu lassen, konnte sie sie besser regulieren, indem sie sie ausdrückte. Da der Körper an emotionalen Zuständen immer beteiligt ist, können unsere emotionalen Zustände auch über den Körper reguliert werden.

Ohne Unterstützung einer Freundin, eines empathischen Begleiters oder Coachs ist es nicht so einfach, gute neue Ansätze zu finden. Im Coaching können wir mit Klienten innerlich an dem Punkt verweilen, an dem die Automatik üblicherweise startet und diesen Moment langsam und sehr genau erforschen. Während sie innerlich im Kontakt mit den ausgelösten Empfindungen und Gefühlen sind, können wir gemeinsam erkunden, was in diesem Moment hilfreich wäre. In einem achtsamen Zustand können Klienten mehr Abstand zu den auftauchenden Gefühlen und Reaktionen halten und sie zugleich sehr differenziert beobachten. Mit diesem Abstand lassen sich Möglichkeiten der Regulierung entdecken und im Weiteren neue Verhaltensoptionen entwickeln.

Mit Christa, einer anderen Klientin, bereiten wir auf diese Weise das Gespräch mit einem Kollegen vor, der sie vor kurzem sehr enttäuscht hat. Ihr Ziel ist, ihm bei der nächsten Begegnung mitzuteilen, wie sehr sie der Vorfall belastet, ärgert und wie viel Unruhe sein Verhalten im Team ausgelöst hat. Beim „Probehandeln“ dieses bevorstehenden Gesprächsabschnitts mit dem Coach beschreibt Christa ihre Empfindungen sehr zurückhaltend und fast nüchtern. Sie nimmt wahr, dass sich bereits bei der Vorstellung, den Ärger und die Enttäuschung auszusprechen, etwas dazwischen schiebt. Sie fühlt sich nicht mehr klar, sondern diffus und etwas gedämpft. Dieser Zustand ist ihr sehr vertraut. Nicht nur im Kontakt mit diesem Kollegen, sondern auch in anderen Situationen, in denen sie etwas Kritisches oder Unangenehmes mitteilen will, gibt es eine gefühlt riesige Hürde, das zu tun. Beim Innehalten mit der Frage, was ihr jetzt, genau in diesem Moment, helfen würde, spürt sie deutlich: Sie müsste in so einer Situation den Fokus auf sich lenken, sich nicht auf die Gefühle des anderen fokussieren, sondern auf ihre eigenen und diese ernst nehmen. Sie erkennt: Wenn ihre Aufmerksamkeit stärker bei ihr ist und weniger beim anderen, kann sie klar und deutlich ausdrücken, was sie empfindet. Gerade in Konfliktsituationen richtet sie sich normalerweise sehr verständnisvoll und empathisch auf den anderen aus und weniger auf ihre Empfindungen und Interessen. Diese Erkenntnis und die neue Möglichkeit der Regulierung durch den veränderten Fokus erweisen sich für Christa in der Auseinandersetzung mit dem Kollegen als sehr hilfreich. Zu einem späteren Zeitpunkt wird es im Coaching zudem wichtig, im Interesse einer nachhaltigen Veränderung dieses vertrauten Musters die Teile ihrer Persönlichkeit näher kennenzulernen, die sie so oft dabei blockieren, ihre Gefühle und Interessen in Konfliktsituationen klar zu adressieren.

4. Teile der eigenen Persönlichkeit besser kennen und führen

Manchmal laufen die Muster weiterhin ab, obwohl wir die emotionalen Hintergründe und Zusammenhänge besser verstehen. Trotz guter Selbstwahrnehmung können wir in Automatismen gefangen bleiben, denn wir haben es bei automatischen Reaktionen und hartnäckigen Gewohnheitsmustern manchmal mit ausgeprägten, bereits langandauernden inneren Dynamiken zu tun. Dahinter stecken oft starke Prägungen, innere Überzeugungen und Befürchtungen von Teilen unserer Persönlichkeit, die eine Weiterentwicklung verhindern können. Erst eine intensivere Beschäftigung mit der eigenen Persönlichkeit kann hier eine nachhaltige Entwicklung anstoßen. Was das beinhaltet und welche Schritte wir dabei gehen können, werden wir in den folgenden Kapiteln weiter ausführen.

5. Auf die eigene Wirkung und negative Wechselwirkungen achten

Bei unseren automatischen Reaktionen kommt es häufig zu Wechselwirkungen mit dem anderen. Und nicht selten geht beim Wunsch nach Veränderung der Blick zuerst zum anderen: Wenn die Person nicht so und so wäre, könnte ich viel offener sein. Wenn sie nicht so stur und unkooperativ wäre, könnte ich effektiver die Themen mit ihr abstimmen. Wäre der andere eigenverantwortlicher, könnte ich mehr abgeben. Verändern können wir aber natürlich nur uns selbst und hier liegt unsere Freiheit und Einflussmöglichkeit. In Ergänzung zu den ersten vier Schritten können wir solche Wechselwirkungen auch positiv beeinflussen, wenn wir mehr über die eigene Wirkung in den besagten Momenten wissen und wenn wir untersuchen und verstehen, wie genau die Wechselwirkung entsteht. Mit Verständnis für die „wunden Punkte“ des anderen ist es leichter, bewusster darauf zu achten und gegebenenfalls manche Auslöser automatischer Reaktionen zu vermeiden. Im Beispiel von Christa könnte das bedeuten: Wenn sie ihre Interessen, Ziele und Empfindungen deutlicher und nachdrücklicher mitteilt, wird sie transparenter und greifbarer und ihr Gegenüber wird sie eher sehen und ernst nehmen.

Wie Wechselwirkungen eskalieren und wie sie entschärft werden können, schauen wir uns im Kapitel 10 „Wirkung und Wechselwirkung“ genauer an.

Wirkfaktoren für Veränderung

Achtsamkeit und Bewusstheit sind entscheidend beim Regulieren automatischer Reaktionen. Sie sind Voraussetzung dafür, dass wir Reaktionen früher wahrnehmen und weniger von ihnen vereinnahmt werden. Wer geistesgegenwärtig ist, kann sich besser steuern. Die Kunst des Innehaltens ist unserer Erfahrung nach die wesentliche Schlüsselkompetenz, die als grundlegender neuer Automatismus hilfreich ist.

Studien haben gezeigt: Der Einzelaspekt, der den Erfolg einer Psychotherapie am besten vorhersagt, ist die Fähigkeit des Klienten, gegenüber der eigenen Erfahrung präsent zu bleiben. Im Bereich des Coachings und Selbst-Coachings hat dies sicher dieselbe Relevanz.

Achtsamkeit und der Zugang zu Teilen der Persönlichkeit sind besonders wirkungsvolle Ansatzpunkte, um hinderliche Automatismen und Gewohnheitsmuster genauer zu erforschen und besser zu verstehen.

2.3 Automatische Reaktionen in Coaching und Selbst-Coaching

Selbst-Coaching

 Ablauf einer automatischen Reaktion

Zweck: Zusammenhänge und Wirkung einer automatischen Reaktion untersuchen

Grobstruktur: Schriftliche Reflexion mit Reflexionsblatt

Rahmen: 20 Minuten – allein oder mit einem Partner

Reflektiere für eine Weile, welche automatischen Reaktionen dir bewusst sind. Lass Situationen aus dem Alltag auftauchen, in denen es zu diesen ungünstigen Reaktionen kommt, oder die Momente, in denen ein für dich vertrautes und unbefriedigendes Muster abläuft. In den meisten eskalierenden Konfliktgesprächen spielen automatische Reaktionen eine Rolle, aber auch bei hinderlichen Gewohnheiten, wie etwa die Tendenz, zu schnell nachzugeben oder rechthaberisch zu sein. Gib dieser Automatik innerlich eine Überschrift, beispielsweise „Ich verteidige mich“ oder „Bestimmend werden“. Wähle eine dieser automatischen Reaktionen aus, die du jetzt erkunden möchtest.

Reflektiere als Erstes, was typische Auslöser für die Automatik sind. Was sind Verhaltensweisen, Einstellungen oder Gefühle anderer, die spontan stärkere Reaktionen in dir auslösen? Vielleicht gibt es auch ein Reizthema oder bestimmte Sätze, einen speziellen Tonfall oder eine ganz bestimmte Person, die Anlass für die Automatik sind.

Versetze dich in diese Situation und tauche darin ein, als würde sie jetzt passieren. Versuche, möglichst differenziert und genau wahrzunehmen, was innerlich passiert. Lass die Situation in deiner Vorstellung sehr langsam, wie in Zeitlupe, ablaufen.

Vergegenwärtige dir die konkreten Auslöser und nimm wahr, was als Erstes innerlich geschieht. Verändert sich dein körperlicher Zustand? Was für Gefühle tauchen zuerst auf? Welche Gedanken schießen dir spontan durch den Kopf? Verweile einen Moment lang dabei und untersuche, was noch alles mitschwingt.

Betrachte als Nächstes, wie du reagierst. Was sagst du, wie sprichst du, was genau tust du? Wenn du dich in einem Film sehen könntest, wie würdest du dein sichtbares Verhalten beschreiben?

Versuche eine Einschätzung zu bekommen, wie deine Wirkung ist. Wie kommt dein Verhalten beim Gegenüber an? Wenn du dich in die Person hineinversetzt, wie könnte es ihr gehen? Was löst du vermutlich aus? Was an deinem Verhalten könnte die Person triggern?

Wenn du auf diesen Ablauf und die Wirkung schaust, was ist für dich dabei besonders problematisch?

Hilft dir die Reaktion in dem Moment auf irgendeine Weise, hat sie Vorteile für dich? Oder anders gefragt: Was wäre, wenn du diese Reaktion nicht hättest?

Was wäre anders, wenn du in diesen Situationen früher wahrnehmen würdest, was innerlich passiert und sich gerade anbahnt? Wann wäre es hilfreich, achtsamer zu sein und innezuhalten?

Angenommen, du könntest im entscheidenden Moment innehalten: Was wäre anders, wie würdest du reagieren?

Was könnte dir in zukünftigen Situationen bei ähnlichen Auslösern helfen? Was brauchst du innerlich (z. B. eine andere Einstellung, dir Zeit lassen) und was könnte dich unterstützen?

Coaching

Den wunden Punkt ansteuern und dort verweilen