Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Veränderungen des Selbst- und Welterlebens bei Menschen mit Schizophrenie sind in den letzten Jahren in den Fokus der Erforschung und Behandlung der Erkrankung gerückt. Das Buch enthält die erste deutsche Übersetzung der beiden ausführlichen phänomenologischen Interviews EASE und EAWE zur Erfassung dieser oft nur schwer beschreibbaren Erfahrungen. Einführende Texte, Interview-Leitfäden und Auswertungshinweise ergänzen das Werk, das in der Schizophrenie-Früherkennung ebenso wie in der Versorgung von Erkrankten aus dem Schizophrenie-Spektrum Einsatz findet.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 352
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Die Herausgeber/innen
Prof. Dr. Dr. Thomas Fuchs, Psychiater und Philosoph, Karl-Jaspers-Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie, Universität Heidelberg.
Dr. Sanneke de Haan, Philosophin an der Universität Tilburg/NL.
Dr. Max Ludwig, Psychiater und Psychotherapeut am Zentrum für Seelische Gesundheit, Gesundheitszentrum Odenwaldkreis, Erbach.
Lily Martin, Psychologin und Doktorandin an der Psychiatrischen Klinik sowie am Psychologischen Institut der Universität Heidelberg.
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.
Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.
Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.
Englische Originalausgaben:Parnas J, Møller P, Kircher T, Thalbitzer J, Jansson L, Handest P, Zahavi D (2005) EASE: Examination of Anomalous Self-Experience. Psychopathology 38: 236–258.Sass L, Pienkos E, Skodlar B, Stanghellini G, Fuchs T, Parnas J, Jones N (2017) EAWE: Examination of Anomalous World Experience. Psychopathology 50: 10–54.
Alle Rechte vorbehalten:
©2005/2017 S. Karger AG
Für die deutschsprachige Ausgabe:
1. Auflage 2022
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-038408-8
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-038409-5
epub: ISBN 978-3-17-038410-1
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Vorwort
Vorwort zur deutschen Übersetzung des EASE-Interviews
Josef Parnas
Übersetzt aus dem Englischen von Lily Martin
1 Schizophrenie – eine Störung des basalen Selbsterlebens
Lily Martin, Max Ludwig und Thomas Fuchs
1.1 Einleitung
1.2 Das basale Selbst
1.3 Schizophrenie als Selbststörung – ein historischer Rückblick
1.4 Die Renaissance der Phänomenologie
1.5 Schizophrenie heute: Prodromalphase, Basissymptome und Selbststörungen
1.6 Zusammenfassung
Literatur
2 Entkörperung und Entfremdung in der Schizophrenie – eine phänomenologische Analyse zweier Fallstudien
Sanneke de Haan und Thomas Fuchs
2.1 Einleitung
2.2 Phänomenologie von Leib und Körper
2.3 Selbststörungen und Leiblichkeit in der Schizophrenie
2.4 Fallstudien
2.5 Weitergehende Analysen
2.6 Resümee
Literatur
3 EASE – Examination of Anomalous Self Experience
Josef Parnas, Paul Møller, Tilo Kircher, Jørgen Thalbitzer, Lennart Jansson, Peter Handest und Dan Zahavi
Übersetzt aus dem Englischen von Max Ludwig, Daniel Vespermann und Thomas Fuchs
Zusammenfassung
3.1 Einleitung
3.2 Allgemeine Leitlinien zur Durchführung des Interviews
3.3 EASE: Domänen und Item-Beschreibungen
3.4 EASE Itemliste und Ratingbogen
Übersetzt aus dem Englischen und angepasst durch Lily Martin und Thomas Fuchs
3.5 EASE Rating-Kriterien
Übersetzt aus dem Englischen und angepasst durch Lily Martin und Thomas Fuchs
3.6 Validierung der deutschsprachigen Version der EASE (Ludwig 2013)
Literatur
4 EASE Interviewleitfaden mit Beispielfragen
Lily Martin und Sanneke de Haan
4.1 Allgemeine Hinweise
4.2 Reichweite
4.3 Ablauf des Interviews
4.4 Vorgehensweise
4.5 Haltung der Interviewerin
4.6 Auswertung
4.7 Beispielfragen
Literatur
5 EAWE: Examination of Anomalous World Experience
Louis Sass, Elizabeth Pienkos, Borut Skodlar, Giovanni Stanghellini, Thomas Fuchs, Josef Parnas und Nev Jones
Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Vespermann und Tim Schnitzler
Zusammenfassung
5.1 Einleitung
5.2 Allgemeine Leitlinien zur Durchführung des Interviews
5.3 EAWE: Domänen und Item-Beschreibungen
5.4 EAWE Itemliste
Stichwortverzeichnis
Herausgeber/innen:
Prof. Dr. Dr. Thomas Fuchs
Klinik für Allgemeine Psychiatrie, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Universitätsklinikum Heidelberg
Dr. Sanneke de Haan
Tilburg School of Humanities and Digital Sciences, Department of Culture Studies,
Universität Tilburg, Niederlande
Dr. Max Ludwig
Zentrum für Seelische Gesundheit, Gesundheitszentrum Odenwaldkreis, Erbach
Lily Martin
Klinik für Allgemeine Psychiatrie, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Universitätsklinikum Heidelberg
Fakultät für Verhaltens- und empirische Kulturwissenschaften, Universität Heidelberg
Autoren/innen:
Dr. Peter Handest
Department of Psychiatry, Hvidovre Hospital, University of Copenhagen, Copenhagen, Denmark
Prof. Dr. Lennart Jansson
Department of Psychiatry, Hvidovre Hospital, University of Copenhagen, Copenhagen, Denmark
Dr. Nev Jones
Felton Institute, SanFrancisco, CA, USA
Prof. Dr. Tilo Kircher
Klinik für Psychiatrie, Psychiatrie und Psychosomatik, Universitätsklinik RWTH
Aachen, Aachen
Dr. Paul Møller
Unit for Mental Health Research and Development, Division of Psychiatry, Buskerud
Hospital, Lier, Norway
Prof. Dr. Josef Parnas
Department of Psychiatry, Hvidovre Hospital, University of Copenhagen, Copenhagen, Denmark
Danish National Research Foundation,Center for Subjectivity Research, University
of Copenhagen, Copenhagen, Denmark
Prof. Dr. Elizabeth Pienkos
University of Hartford, West Hartford, CT, USA
Prof. Dr. Louis Sass
Rutgers University, Piscataway, NJ, USA
Prof. Dr. Borut Skodlar
University of Ljubljana, Ljubljana, Slovenia
Prof. Dr. Giovanni Stanghellini
G. d’Annunzio University, Chieti, Italy
Diego Portales University, Santiago, Chile
Dr. Jørgen Thalbitzer
Department of Psychiatry, Hvidovre Hospital, University of Copenhagen, Copenhagen, Denmark
Prof. Dr. Dan Zahavi
Danish National Research Foundation, Center for Subjectivity Research, University
of Copenhagen, Copenhagen, Denmark
Übersetzer:
Dr. Tim Schnitzler
Klinik für Allgemeine Psychiatrie, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Universitätsklinikum Heidelberg
Daniel Vespermann
Klinik für Allgemeine Psychiatrie, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Universitätsklinikum Heidelberg
Die phänomenologische Erforschung der Schizophrenie hat in den letzten zwei Jahrzehnten große Fortschritte gemacht. Zahlreiche neuere theoretische und empirische Arbeiten haben basale Störungen des Selbsterlebens als ein charakteristisches Merkmal oder sogar als den Kern der Erkrankung identifiziert. Sie liefern gute Evidenz dafür, dass die genaue Beschreibung dieser Selbststörungen auch zur Früherkennung und -behandlung der Erkrankung genutzt werden kann, d. h. in Phasen, in denen die charakteristischen produktiven Symptome wie Wahn oder Halluzinationen noch nicht hervorgetreten sind. Von Betroffenen werden Selbststörungen zunächst als subtiles Gefühl der Entfremdung, der inneren Leere oder als Verlust der eigenen Natürlichkeit erlebt. In akut-psychotischen Zuständen können sie sich bis zu einer existenziell bedrohlichen »Ich-Auflösung« steigern. Phänomenologisch orientierte Psychopathologen verorten den Ursprung der schizophrenen Selbststörungen in einer mangelnden Verkörperung des Selbsterlebens (disembodiment). Dementsprechend lassen sich bei Menschen mit Schizophrenie meist Störungen des Körper- und Bewegungserlebens erheben, die mit Interaktionsschwierigkeiten sowie einem hohen Leidensdruck einhergehen. Dieses alternative Verständnis der basalen schizophrenen Symptomatik ist nicht nur für die Früherkennung wertvoll; es eignet sich besonders dazu, körperorientierten Therapieverfahren, die z. B. bei bislang therapieresistenten Negativsymptomen Wirkung zeigen, eine konzeptuelle Basis zu geben.
Mit der Entwicklung einer strukturierten Erhebung von Erlebnisveränderungen bei Betroffenen haben Josef Parnas, Louis Sass und ihre Teams maßgeblich zu den beschriebenen Fortschritten beigetragen: Die zwei phänomenologischen Interviews Examination of Anomalous Self Experience (EASE) und Examination of Anomalous World Experience (EAWE) sind semistrukturierte Tiefeninterviews zu verschiedenen Bereichen des Selbst- und Welterlebens, die eine Erfassung feiner Veränderungen der Erfahrung sowie eine eingehende Untersuchung der basalen Symptomatik von Betroffenen mit Schizophrenie erlauben. Die heute übliche manualisierte Diagnostik nach ICD-10 und DSM-5 erfährt dadurch eine wesentliche Erweiterung und Bereicherung, enthält sie doch kaum Items zum Selbsterleben, zu subtilen Veränderungen des Wahrnehmens und Handelns oder zu den existenziellen Erfahrungen der Betroffenen. Die phänomenologische Psychiatrie sieht aber gerade in solchen, oft nur rand- oder vorbewussten Veränderungen die eigentliche Grundlage der Erkrankung.
Um die Exploration und Erfassung dieser essenziellen Erlebnisdimension auch in deutschsprachigen Kontexten zu ermöglichen, stellen wir im vorliegenden Band die beiden Interviews erstmals in vollständiger deutscher Übersetzung vor. Die Übersetzungen wurden von der Forschungssektion »Phänomenologische Psychopathologie und Psychotherapie« an der psychiatrischen Universitätsklinik der Universität Heidelberg erarbeitet. Für ein besseres Verständnis phänomenologischer Konzepte und Entwicklungen stellen wir die Interviews in einen historischen Kontext. Darüber hinaus sollen phänomenologische Befunde aus der eigenen Arbeit als Beispiele für die Forschung mit den Instrumenten dienen. Im Rahmen der Forschungsarbeit an der Sektion ist zudem ein Interviewleitfaden mit Beispielfragen zu den einzelnen Items des EASE-Interviews entstanden, der die Vorbereitung und Durchführung des Interviews erleichtern kann.
Um eine nicht-stigmatisierende Sprache im Deutschen aufrechtzuerhalten, mussten wir an einigen Stellen vom Originaltext abweichen. Dies ist mit Fußnoten im Text markiert. Hinsichtlich der Vereinbarkeit geschlechtergerechter Sprache mit einem ungestörten Lesefluss haben wir uns nach einiger Diskussion im Herausgeberteam für einen Kompromiss entschieden. Wo es die Übersetzung ermöglichte, haben wir geschlechtsneutrale Begriffe gewählt. In den anderen Fällen alternieren männliche und weibliche Personenbezeichnungen von Seite zu Seite. Personenbezeichnungen im Plural haben wir im generischen Maskulinum belassen, um die Lesbarkeit der ohnehin komplexen Texte nicht zu erschweren.
Unser abschließender Dank gilt Ruprecht Poensgen und Anita Brutler vom Kohlhammer Verlag für die bewährte gute Zusammenarbeit bei der Vorbereitung des Bandes. Weiter danken wir Daniel Vespermann, Damian Peikert und Jannik Kuhn für die sorgfältige Redaktion des Manuskripts. Nicht zuletzt danken wir den vielen Betroffenen, die ihre Erfahrungen in zahlreichen Interviews und Studien mit uns geteilt haben.
Wir hoffen nun, dass der Band für alle in der Schizophrenie-Forschung Tätigen ebenso wie für alle, die eine intensivere therapeutische Arbeit mit Betroffenen phänomenologisch begründen möchten, eine wertvolle Unterstützung darstellen wird.
Heidelberg/Amsterdam, im November 2021
Lily Martin, Sanneke de Haan, Max Ludwig und Thomas Fuchs
Es ist mir eine besondere Freude, nun die deutsche Übersetzung der Examination of Anomalous Self Experience (EASE) in den Händen zu halten.
Die ursprüngliche Veröffentlichung des Interviews im Jahr 2005 stieß besonders bei europäischen Psychiaterinnen und Psychiatern, die im klinischen Alltag mit der Diagnose und Behandlung von Schizophrenie zu tun haben, auf große Resonanz. Wir hatten den Eindruck, dass diese Publikation eine Lücke fülle oder gar die Sehnsucht nach einer Wiederbelebung der phänomenologischen Psychopathologie bediene. Die EASE traf auf eine diagnostische Landschaft, die wie ausgelaugt schien von einer Flut behavioral ausgerichteter Symptom-Checklisten und psychopathologischer Simplifizierungen. Zu diesem historischen Kontext gehört auch, dass zu jener Zeit eine weltweite Zunahme an Studien zur Früherkennung und -intervention bei Schizophrenie zu verzeichnen war. Diese Studien, auch als »Prodromalforschung« bezeichnet, richteten den Fokus auf das Erleben von Patienten vor der ersten Psychose. Das EASE-Interview soll jedoch nicht dazu dienen, die Entwicklung von Wahnvorstellungen und Halluzinationen vorherzusagen. Eher noch weist es eine konzeptuelle Nähe zu früheren Hochrisikostudien bei Vorläufern der Schizophrenie-Spektrum-Störungen auf (typischerweise bei Nachkommen von Eltern mit der Diagnose Schizophrenie), in denen der Schwerpunkt auf Vulnerabilitätsmerkmalen liegt, die Schizophrenie und schizotype Störungen gemeinsam haben.
Wir freuen uns besonders, das Ergebnis unserer Arbeit ins Deutsche übersetzt zu sehen, eine Sprache, die (gemeinsam mit dem Französischen) entscheidend zur Entstehung der modernen Psychiatrie, wie wir sie heute kennen, beigetragen hat, und in welcher die wichtigsten psychopathologischen Ideen und Begriffe zuerst formuliert wurden. Wir haben die Idee des beeinträchtigten Selbsterlebens in der Schizophrenie also sicherlich nicht erfunden – es gibt sie schon lange und sie ist nicht nur, aber hauptsächlich in den Schriften zahlreicher deutschsprachiger Psychopathologen gegenwärtig. Tatsächlich neu an unserer Arbeit ist, dass wir den Begriff der beeinträchtigten Selbstwahrnehmung in der Schizophrenie nicht primär durch gelehrte Lehnstuhlreflexionen wiederentdeckt haben, sondern dass der konkrete, alltägliche klinische Kontext den Anlass dazu gegeben hat. Der Begriff hat sich im Rahmen der täglichen klinischen Arbeit mit schizophrenen Erstaufnahmepatienten in Dänemark und Norwegen gewissermaßen von selbst nahegelegt. Wir haben lediglich für seine phänomenologische Präzisierung gesorgt und ihm eine empirische Validierung und klinische Substanz anhand systematisch erhobener Daten verschafft.
Nachfolgend werde ich versuchen, einige der wichtigsten klinischen und phänomenologischen Fragestellungen zusammenzufassen, die in Anbetracht unserer fast 15-jährigen Forschungs- und Lehrerfahrung mit der EASE besondere Aufmerksamkeit verdienen. Einige dieser Fragestellungen sind bereits in der Einleitung des ursprünglichen EASE-Interviews erwähnt worden, da sie jedoch die Tendenz aufweisen, den Lesern zu entgehen, möchte ich sie hier noch einmal besonders hervorheben.
Obwohl wir die in der EASE beschriebenen Selbststörungen als sehr spezifische Aspekte von Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis verstehen, kann die EASE allein – in einem operationalen Kontext – nicht alsDiagnoseinstrumentverwendet werden. Das Interview fokussiert ausschließlich auf Beeinträchtigungen des Selbsterlebens und abstrahiert somit von anderen psychopathologischen Domänen. In unseren Forschungsprojekten sind die EASE-Interviews typischerweise in umfassendere Interviews wie beispielsweise das SCAN (Schedule for Clinical Assessment in Neuropsychiatry) eingebettet. Zudem geht dem Interview immer eine detaillierte Erfassung der psychosozialen Geschichte unserer Patienten voraus.
Das subjektive Erleben mithilfe einer geeigneten Fragetechnik zu ermitteln, ist nicht einfach. Seitens der Interviewerin oder des Interviewers bedarf es eines grundlegenden Verständnisses der phänomenologischen Beschreibungen von Bewusstseinsvorgängen. Um also Phänomene wie beispielsweise die »Verräumlichung des Denkens« herauszuhören und zu bewerten, muss man über das Hintergrundwissen darüber verfügen, dass der übliche Bewusstseinsstrom weitestgehend transparent ist, also keine objektförmigen Qualitäten aufweist, und dass sich z. B. ein Gedanke nicht buchstäblich so anfühlen kann, als befinde er sich vor einem anderen Gedanken. Es braucht ein informiertes Zuhören, um diese Art von Phänomenen heraushören und erfassen zu können, ein Zuhören, das durch einige grundlegende begriffliche Differenzierungen, wie Jaspers hervorgehoben hat, apperzeptiv unterstützt wird. Wir wissen zwar alle, was es heißt, etwas bewusst zu erleben, d. h. phänomenales Bewusstsein zu haben. Das explizite Erfassen von Anomalien der Erfahrung erfordert jedoch zusätzliche empathische, konzeptuelle und analytische Fähigkeiten. Was in der Erzählung der Patientin oder des Patienten letztendlich als abgegrenztes psychopathologisches Phänomen (oder Symptom) hervortritt, kann nicht unabhängig von der Person verstanden werden, die ihm zuhört. Um ein hinreichendes Niveau an psychopathologischer Professionalität und eine zufriedenstellende Inter-Rater-Reliabilität zu erlangen, sind demnach Erfahrung wie auch ein Training notwendig, das die theoretische Dimension einschließt.
Das subjektive Erleben kann nicht durch Abfragen, mittels bestätigender oder verneinender Antworten, das heißt in Form eines strukturierten Interviews erfasst werden. Es kann nur im Verlauf eines Gesprächs untersucht werden, das die Spontaneität der Patienten unterstützt und Raum für die Verbalisierung von Beispielen gibt. Dennoch gehört es zur Charakteristik des semi-strukturierten Interviews, alle Symptomdomänen mithilfe gründlich nachforschender Fragen ins Visier zu nehmen, Fragen, die idealerweise nicht aus heiterem Himmel gestellt werden, sondern sich in den übergreifenden Zusammenhang des Interviews einfügen. Diese Anforderungen halten die Passivität des Interviewers in Grenzen.
Das EASE-Interview erfasst anomale strukturelle Aspekte des Selbsterlebens. Was ist hierunter aber genau zu verstehen? Es bedeutet im Grunde, dass wir im Rahmen des Interviews nicht so sehr am spezifischen semantischen Gehalt (worüber die Patientin oder der Patient nachdenkt, z. B. der Inhalt seines Grübelns interessiert sind, sondern vielmehr an der Art und Weise, wie sich Erfahrungsmodalitäten des Denkens, Wollens, Fühlens etc. ausdrücken (z. B. im Fall des Denkens: Kommt es zur Gedankensperrung, Gedankeninterferenz oder Gedankenlautwerden?).
Die Unterscheidung zwischen Form (Struktur) und Inhalt ist nicht immer eindeutig und wird ab einer bestimmten Tiefe der phänomenologischen Analyse unscharf. Im Allgemeinen lässt sich jedoch festhalten, dass sich der Begriff »strukturell« auf fortdauernde Ermöglichungsbedingungen einer normalen Entfaltung von Kognition und Affektivität bezieht. Dazu gehören z. B. das präreflexive Selbstgewahrsein, das die Erste-Person Perspektive, das Gefühl einer fortdauernden lebendigen Selbstgegenwart sowie die Transparenz und Verfügbarkeit des eigenen Bewusstseins als Medium und Quelle einschließt (Parnas und Sass 2010). »Zeitlichkeit«, »Verkörperung« und »Intentionalität« des Bewusstseins sind weitere derartige strukturelle Bedingungen.
Die einzelnen EASE-Items lassen sich am besten als wiederkehrende Manifestationen einer Störung des präreflexiven Selbstgewahrseins verstehen. Aus dieser phänomenologischen Perspektive sind die einzelnen Items keine voneinander unabhängigen Symptome, wie es im medizinisch-operationalistischen Modell der Psychopathologie der Fall ist, sondern eher aspekthafte Eigenschaften eines größeren Ganzen – der ›Gestalt‹ einer veränderten Struktur des Selbstgewahrseins. Daher kann die anomale Form des Erlebens nicht ausschließlich in der atomistischen, isolierten Erfahrung als solcher (oder an sich) verortet werden, sondern ist abhängig von einem Kontext anderer, vorgängiger oder nachfolgender (diachroner) sowie gleichzeitiger (synchroner) Erfahrungen, das heißt, sie muss in Abhängigkeit vom gesamten Bewusstseinsfeld verstanden werden. Mit anderen Worten: Die mereologische (d. i. Teil-Ganzes-)Struktur dieser Gestalt impliziert, dass jede einzelne, besondere Erfahrung von jenem Ganzen geprägt ist, von dem sie sich ableitet. Jede anomale Erfahrung enthält sozusagen im Kern ein potenzielles Modell des Ganzen (der generellen Struktur).
Umgekehrt bilden die individuellen Komponenten und ihre wechselseitigen, dynamischen Beziehungen die Gesamtgestalt, die jedoch nicht in eine einfache Ansammlung einzelner Eigenschaften zerlegt werden kann. Die Gesamtgestalt oder generelle Struktur bezieht von den einzelnen Beispielen den Charakter konkreter, klinischer Verwurzelung, da die Konzeptualisierung oder Formalisierung der wesentlichen Merkmale einer Gestalt (in unserem Fall die Beeinträchtigung des Selbstgewahrseins) immer von konkreten Beispielen anomalen Erlebens gewissermaßen beherrscht wird.
Wir können uns erneut dem Beispiel der »Verräumlichung des Denkens« zuwenden. Es handelt sich bei diesem Phänomen nicht um ein isoliertes Symptom, sondern eher um eine implizite Konsequenz von Denkprozessen, die ihrer selbstverständlichen »Meinhaftigkeit« beraubt sind und so eine Art Kluft zwischen dem Subjekt und seinen Gedanken entstehen lassen, also einen Raum, einen Riss oder eine Distanz, in der das nun introspizierte Denken nicht umhin kommt, sozusagen in einzelnen Teilen zu erscheinen, wodurch sich Beschreibungen mit quasi-räumlichen Begriffen nahezu aufdrängen.
Phänomenologisch ausgedrückt ist es die gesamte Gestalt (die veränderte Struktur des Gewahrseins), die dem psychopathologischen Profil des Schizophrenie-Spektrums seine charakteristische Typizität verleiht (eine Gestalt, die im Laufe der Zeit mit variierender Terminologie bezeichnet wurde). Diese grundlegende Auffassung wurde von nahezu allen klassischen Psychopathologien geteilt. Verstehen wir diese spezifische Gestalt als eine Strukturveränderung, dann ist sie, logisch betrachtet, eine überdauernde Eigenschaft (trait), die oft mit bestimmten Beschwerden oder Verhaltensschwierigkeiten einhergeht, die bis in die Jugend oder gar frühe Kindheit zurückreichen und andauern oder aber, auch im Falle jahrelanger Krankheit, leicht und schlagartig wiederkehren können. Da die Patienten sich in chronischen Stadien an die basalen Störungen anzupassen scheinen, erreicht ihre phänomenologische Intensität in den ersten Jahren der Erkrankung ihren Gipfel und schwindet allmählich, wenn sie in weiteren Symptombildungen aufgehen (Sass und Parnas 2003; Parnas und Sass 2008).
In der empirischen Forschung können die EASE-Items aufsummiert und in einem Gesamtscore zusammengefasst werden. Dies schließt Scores für die einzelnen Subdomänen der EASE mit ein. Gesamt- oder Subscores können dann, abhängig vom jeweiligen Forschungsinteresse, mit anderen Variablen in Verbindung gebracht werden (z. B. in Forschungsarbeiten zur Pathogenese, Krankheitslehre oder Behandlung von Schizophrenie). In derartigen Ansätzen werden Phänomene zum Teil auf Symptome reduziert, was für empirische Zwecke jedoch unumgänglich scheint. Eine derartige Reduktion ist nur dann zu rechtfertigen, wenn die Daten zunächst auf eine phänomenologisch informierte Art und Weise erhoben wurden. Mit anderen Worten: Nur phänomenologisch erhobene Daten werden Veränderungen in der Gestalt des Selbstgewahrseins überhaupt widerspiegeln. Deshalb sind ein Interviewtraining und eine solide psychopathologische Auffassungsgabe unabdingbar, um eine zufriedenstellende Reliabilität des EASE-Interviews im Rahmen von Forschungsarbeiten zu gewährleisten.
Die Höhe des Gesamtscores der EASE (welcher bestenfalls eine ordinalskalierte Variable darstellen kann) spiegelt wider, wie schwerwiegend und durchgängig die Veränderung des Selbstgewahrseins ist. Es widerspricht dem Gestaltverständnis, einzelne Items auf der Suche nach einem »pathognomonischen Symptom« hin zu prüfen – ein solches Symptom existiert nicht. Wie bereits erwähnt, ist es die Gesamtgestalt, in der die diagnostische Nützlichkeit und Spezifität der EASE liegt. Die Auswahl statistischer Methoden wird natürlich durch die Gegebenheiten des Analysekontextes und die jeweils aufgeworfenen Forschungsfragen bestimmt. Angesichts der Tatsache, dass EASE-Scores maximal als ordinalskaliert verstanden werden können, lässt sich dennoch festhalten, dass die angemessenste Herangehensweise für die EASE eine nicht-parametrische ist.
Wir möchten außerdem vor der verbreiteten, oft auf nicht ausreichenden Kenntnissen beruhenden Tendenz warnen, Faktorenanalysen vorzunehmen. Abgesehen davon, dass eine Faktorenanalyse parametrischer Natur ist und ein Verhältnis von 10 zu 1 zwischen der Anzahl von Patienten und der Anzahl der Items voraussetzt, besteht die EASE nicht aus kontingent zusammengesetzten, voneinander unabhängigen Items. Wie bereits festgehalten, weist die EASE Wiederholungstendenzen auf; ferner stellen Beziehungen wechselseitiger Implikation (die sich in den Bewertungsvorgaben widerspiegeln) ein wesentliches Element dar, und schließlich ist das Instrument in rational strukturierte Domänen unterteilt.
Die klinische Bedeutsamkeit des EASE-Interviews liegt in der eingehenden Einschätzung der Betroffenen sowie in der Etablierung einer therapeutischen Beziehung und therapeutischer Ziele. Das Interview gewährt uns in erster Linie einen Einblick in die grundlegenden Dynamiken der Erkrankung unserer Patienten. Gleichzeitig signalisiert es ihnen, dass der Kliniker bzw. die Klinikerin sich mit der Eigenart ihres Erlebens auskennt. Dies vermag das schmerzhafte Gefühl einer einzigartigen, existenziellen Einsamkeit bei den Betroffenen zu mildern und hilft, die spezifischen Probleme zu umreißen, die therapeutisch anzugehen sind.
Parnas J, Sass LA (2008) Varieties of »phenomenology«. On description, understanding, and explanation in psychiatry. In: Kendler KS, Parnas J (Hrsg.) Philosophical Issues in Psychiatry: Explanation, Phenomenology, and Nosology. Baltimore: John Hopkins University Press. S. 239–277.
Parnas J, Sass LA (2010) The structure of self-consciousness in schizophrenia. In: Gallagher S (Hrsg.) The Oxford Handbook of the Self. Oxford: Oxford University Press. S. 521–546.
Sass LA, Parnas J (2003) Self, consciousness, and schizophrenia. Schizophrenia Bulletin 29(3): 427–444.
Störungen aus dem schizophrenen Spektrum sind nach ICD-10 und DSM-5 als eine Agglomeration von Symptomen definiert, die sich in erster Linie an der akuten Psychose orientieren (ICD-10 und DSM-5). Retrospektive Studien an Patienten mit einer erstmaligen Episode haben jedoch gezeigt, dass den meisten psychotischen Erstmanifestationen eine im Durchschnitt etwa fünf Jahre währende Prodromalphase voraus geht (Häfner et al. 1995). Präpsychotische, subklinische Störungen von Antrieb, Affekt, Wahrnehmung und Denken wurden schon in den 1960er Jahren im Rahmen des »Basissymptom-Konzepts« von Gerd Huber und seinen Mitarbeitern beschrieben (Huber 1966). Diese subtilen Veränderungen der Selbstwahrnehmung konnten mithilfe der 1987 veröffentlichten »Bonner Skala für die Beurteilung von Basissymptomen – BSABS« erfasst werden (Gross et al. 1987).
Eine Arbeitsgruppe um den dänischen Psychiater Josef Parnas und den amerikanischen Psychologen Louis Sass integrierte diese Basissymptome seit etwa 2000 in eine umfassendere phänomenologische Theorie, die die Schizophrenie als eine Störung des basalen Selbsterlebens versteht (Sass und Parnas 2003). In ihrem Zentrum steht eine Schwächung des präreflexiven Selbstempfindens und der Selbstpräsenz, die phänomenologisch auch als »Ipseität« (Selbstheit) bezeichnet wird. Damit einher geht ein Verlust des »Common Sense« und eine sogenannte »Hyperreflexivität« (Sass 2003; Fuchs 2011). Individuelle Veränderungen der Wahrnehmung, des Leiberlebens und des Kontakts mit anderen ergeben sich danach aus einer tiefgreifenden Veränderung der Erlebnisstrukturen. Auch die Symptome ersten Ranges in der akuten Psychose (Ich-Störungen, Wahn und Halluzinationen) sind demnach als vorübergehende Manifestation der zugrundeliegenden Selbststörungen anzusehen. Dieses Modell speist sich aus Konzepten phänomenologischer Philosophen wie Maurice Merleau-Ponty und Michel Henry sowie Psychiatern wie Eugène Minkowski und Wolfgang Blankenburg.
Um die Störungen des basalen Selbsterlebens zu erfassen, entwickelte die Arbeitsgruppe um Parnas die »Examination of Anomalous Self Experience – EASE« (Parnas et al. 2005). Das semistrukturierte, qualitative Interview bildet in den fünf Domänen »Kognition und Bewusstseinsstrom«, »Selbstgewahrsein und Präsenz«, »Leiberleben«, »Demarkation und Transitivismus« sowie »Existenzielle Reorientierung« mit insgesamt 94 Items das veränderte Selbsterleben differenziert ab. Da das Leiden von Menschen mit Schizophrenie bis heute nicht in befriedigendem Maße gelindert werden kann – es gibt beispielsweise kaum Therapieverfahren, die belastende Negativsymptome nachhaltig verringern (Martin et al. 2016b) – , lohnt es sich, mithilfe der EASE die Störung des basalen Selbst als möglichen pathogenetischen Kern der Schizophrenie zu untersuchen. Dadurch können Symptomzusammenhänge erkennbar werden, die für die weitere Aufklärung der Pathogenese, für eine verbesserte Früherkennung und nicht zuletzt für die Entwicklung innovativer, z. B. körper- und kreativtherapeutischer Interventionen bedeutsam sind. 2017 veröffentlichte eine weitere Arbeitsgruppe um Louis Sass die »Examination of Anomalous World Experience – EAWE1« (Sass et al. 2017), die sich mit insgesamt 75 Items den fünf weiteren Domänen »Raum und Objekte«, »Zeit und Ereignisse«, »Sprache«, »Atmosphäre« und »Existenzielle Orientierung« widmet. Damit werden die EASE-Kategorien bedeutsam ergänzt und erweitert.
Das vorliegende Buch beinhaltet die bislang unveröffentlichten deutschsprachigen Versionen der EASE und der EAWE. Die Übersetzung der EASE wurde im Rahmen einer Fall-Kontroll-Studie am Universitätsklinikum Heidelberg erstmals an einer Stichprobe von 33 Menschen mit einer Ersterkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis sowie an 24 Kontrollprobanden angewandt, inhaltlich analysiert sowie klinisch validiert (Ludwig 2013). Die Validierung geschah unter Einbezug bereits etablierter Instrumente wie der PANSS (Positive and Negative Symptom Scale; Kay et al. 1987), der CDS (Cambridge Depersonalisation Scale; Michal et al. 2004) und dem M.I.N.I. (Mini-International Neuropsychiatric Interview; Sheehan et al. 1998). Eine Validierung der deutschsprachigen EAWE steht noch aus.
Das Buch bettet die beiden Interviews in einen historischen und psychopathologischen Kontext ein. Die EASE wird zudem durch einen ausführlichen Interviewleitfaden ergänzt, der zum Einsatz im Klinikalltag sowie für die Forschung genutzt werden kann, ferner durch eine mehrstufige Auswertungsskala zur quantitativen Be- und Auswertung der EASE-Items. Selbstverständlich können und sollen die Inhalte des Interviews aber auch mithilfe qualitativer Methodik ausgewertet werden.
Die phänomenologische und ontologische Natur des Selbsterlebens wird in verschiedenen Wissenschaften kontrovers diskutiert (Berrios und Marková 2003; Fuchs 2020). Es besteht kein Konsens darüber, ob so etwas wie »das Selbst« real erfahrbar ist oder eher eine theoretische Konzeption der Philosophie darstellt. Viele verstehen das Selbstempfinden als einen integralen Bestandteil des Bewusstseins (Damasio 1999; Zahavi 1999), der z. B. bei der Suche nach neuronalen Korrelaten von bewusstem Erleben zu berücksichtigen sei. Andere dagegen behaupten, dass es weder notwendig noch logisch sei, die Existenz eines Selbst anzunehmen (Metzinger 2003). Darüber hinaus bestehen divergierende Vorstellungen davon, aus welchen Komponenten sich das menschliche Selbsterleben konstituiert: James (1890/1950) unterscheidet zwischen einem materiellen, sozialen und geistigen Selbst; Neisser (1988) definiert ein ökologisches, ein interpersonelles, ein erweitertes, ein privates und ein konzeptuelles Selbst. Daneben gibt es Ausführungen zum ›autobiografischen, ›relationalen‹, ›fiktionalen‹ und ›neuronalen‹ Selbst ebenso wie zu einem ›Kernselbst‹, einem ›verkörperten‹, ›minimalen‹ oder ›basalen‹ Selbst (z. B. Damasio 1999; Strawson 1999; Zahavi 1999). Das Disparate der Konzepte ist sowohl problematisch als auch produktiv: Es erzeugt einen Reichtum an methodologischen Zugängen – sie reichen von der Introspektion und phänomenologischen Analyse über Gedankenexperimente, linguistische Analysen, empirische Experimente bis hin zu Studien von pathologischen Zuständen –, verhindert jedoch eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse und Befunde sowie die Entwicklung einer einheitlichen Theorie.
Kircher und David (2003, S. 2) definieren das Selbst als »die allgemein geteilte Erfahrung, dass wir wissen, dass wir über die Zeit hinweg die gleiche Person sind, dass wir der Autor unserer Gedanken/Handlungen sind, und dass wir uns von der Umwelt unterscheiden«. Dies umfasst das sehr grundlegende, unmittelbare und implizite Empfinden, als Person eine Ganzheit zu bilden, verschieden von anderen zu sein und über die Zeit hinweg ein kontinuierliches Zentrum der eigenen Erfahrungen darzustellen. Bezug nehmend auf neuere phänomenologische, entwicklungspsychologische und neurowissenschaftliche Konzepte wollen wir im Folgenden zwei grundlegende Formen dieses Selbsterlebens unterscheiden: (1) das basale, präreflexive oder leibliche Selbst und (2) das erweiterte, reflexive oder personale Selbst (Damasio 1999; Gallagher 2005; Rochat 2004; Zahavi 1999).
1. Das basaleSelbst ist ein inhärenter Bestandteil aller Bewusstseinsprozesse. Es ist charakterisiert durch ein implizites, präreflexives (dh. unbewusstest) und verkörpertesSelbstgewahrsein (›Ich bin ich und ich selbst mache diese Erfahrung‹), das in jeder Erfahrung mitgegeben ist, ohne dass dafür eine explizite Introspektion oder Reflexion erforderlich wäre. Einen Baum zu sehen oder zu berühren, schließt immer auch das implizite Bewusstsein des eigenen Sehens oder Spürens und des eigenen Leibes im Hintergrund ein. Darin besteht die ›Erste-Person-Perspektive‹ oder ›Ipseität‹ (Klawonn 1991; Henry 1963). In der Literatur wird auch von einem »minimalen Selbst« (minimal self) oder »Kernselbst« (core self) gesprochen (Zahavi 2011; Cermolacce et al. 2007), da das basale Selbst das Minimum an Selbstsein beschreibt, das für ein subjektives Erleben erforderlich ist. Das basale Selbsterleben lässt sich nach Fuchs (2012) weiter in das ›primäre leibliche‹, das ›ökologische‹ (auf die Umwelt bezogene) und das ›soziale‹ (auf die anderen bezogene) Selbst differenzieren.
2. Das erweiterte, personale oder reflexive Selbst ist durch eine Reihe von eng miteinander verknüpften Fähigkeiten charakterisiert: (a) durch ein höherstufiges Bewusstsein der eigenen Zustände und Erlebnisse (introspektives oder reflexives Selbstbewusstsein), (b) durch die Fähigkeit, andere als intentionale Wesen zu verstehen und ihre Perspektive nachzuvollziehen (Perspektivenübernahme) (Tomasello 2002; Fuchs 2013); (c) durch die Fähigkeit, die eigenen Erfahrungen zu kohärenten Geschichten zu verknüpfen (narrative Identität) (Carr 1986; Schechtman 1996); (d) durch ein begriffliches und biografisches Wissen von sich selbst (Selbstkonzept).
Eine Großzahl neuerer theoretischer und empirischer Forschungsarbeiten beschreibt eine Störung des basalen Selbsterlebens als charakteristisch für die schizophrene Erkrankung (Ardizzi et al. 2015; Benson et al. 2019; Fuchs 2005; Møller und Husby 2000; Parnas und Handest 2003; Parnas und Sass 2011; Thakkar et al. 2011). Vielfach werden die Veränderungen des Selbsterlebens der Betroffenen auch unter dem Begriff der Entkörperung (disembodiment) zusammengefasst und als psychopathologischer Kern oder Grundstörung der Erkrankung verstanden (Laing 1960; Fuchs 2001, 2005; Stanghellini 2004; Fuchs und Röhricht 2017). Störungen der Reflexivität oder der Perspektivenübernahme (»Theory of Mind«)sind nach dieser Konzeption eher als sekundäre Folgen der basalen Selbststörung zu verstehen. Dieser Grundstörung wollen wir im Folgenden anhand der historischen Entwicklung des Schizophreniekonzepts sowie aktueller psychopathologischer Erklärungsansätze nachgehen.
Frühe Beschreibungen von Selbstentfremdung oder Depersonalisation in der Psychopathologie waren nicht auf die heute im Schizophreniespektrum versammelten Erkrankungen beschränkt: Ein Sich-selbst-Fremdwerden im weiteren Sinne zeigte sich als so charakteristisch für psychische Erkrankungen, dass bereits der Psychiater Wilhelm Griesinger (1861) die Entfremdung als ihr Grundmerkmal ansah und die französische Psychiatrie sie generell mit dem Begriff aliénation (Entfremdung) bezeichnete.
Die Frage nach der Grundstörung in der Schizophrenie beginnt mit deren erstmaliger Konzeption bei Emil Kraepelin. Er unterteilte die endogenen Psychosen 1896 in zwei Gruppen: einerseits die phasisch verlaufenden Psychosen mit vorherrschender affektiver Symptomatik, die er als »manisch-depressives Irresein« bezeichnete (Kraepelin 1899, S. 160); andererseits die Psychosen mit paranoid-halluzinatorischen, katatonen oder desorganisierten Syndromen und progressiv-chronischem Verlauf, für die er den Begriff »Dementia praecox« wählte2. Neben der psychotischen Symptomatik beschrieb Kraepelin verschiedene prodromale Anzeichen, die der Produktivsymptomatik vorausgingen:
»Oft gehen schon lange Zeit Erscheinungen von ›Nervenschwäche‹ voraus. Die Kranken werden still, gedrückt, teilnahmslos, ängstlich, dabei reizbar und widerspenstig, klagen über […] Erschwerung des Denkens, Mattigkeit, verlieren Schlaf und Esslust, ziehen sich von ihrer Umgebung zurück, wollen ins Kloster gehen, hören auf zu arbeiten, bleiben viel im Bett liegen. Dieser Zustand der unbestimmten Vorboten kann kürzere oder längere Zeit andauern« (Kraepelin 1899, S. 160).
Die eigentliche Psychose verstand er als eine Manifestation psychischer Funktionsstörungen, der »Grundstörungen der seelischen und geistigen Leistungen«. Sie führten zu einem Verlust der »inneren Einheitlichkeit von Verstandes-, Gemüts- und Willensleistungen«. Eine Abschwächung des Wollens und eine »Zersplitterung des Bewußtseins« sei die Folge, sodass das psychische Leben einem »Orchester ohne Dirigenten« gleiche (Kraepelin 1913, S. 668–747). Kraepelin hob darüber hinaus immer wieder die »Schädigung des Gemütslebens« hervor und sprach von einer gemütlichen Stumpfheit und Gleichgültigkeit, grundlosem Lachen, einem Verlust des Mitleids, Schwinden des Feingefühls und paradoxen Gefühlen (Kraepelin 1913, S. 668). Zusammengefasst äußerte sich die »Dementia praecox« für Kraepelin in kognitiv-dynamischen Beeinträchtigungen nach Art eines persistierenden Grundsyndroms (Kraepelin 1913, S. 177). Paranoid-halluzinatorische, katatone und hebephrene Symptome stellten nur vorübergehende Überlagerungen dieses Grundsyndroms dar. Kraepelin blieb in der Ausdifferenzierung dieser Grundstörung jedoch sehr unbestimmt. Darüber hinaus fand der Frühverlauf der Dementia praecox trotz seiner eindeutigen Erwähnung insgesamt wenig Beachtung.
1. Störung der Assoziation (Bleuler 1911, S. 10), wie Gedankenabbrechen, -drängen, -sperren, paralogische Verknüpfungen oder Ideenarmut;
2. Störung der Affekte (Bleuler 1911, S. 31) wie Gemütsverödung, Gleichgültigkeit, Stimmungen der Depression, Angst, Wut oder Manie, Fehlen einheitlicher Gefühlsäußerungen und Labilität der Affekte;
3. Autismus: Die »Loslösung von der Wirklichkeit mit dem relativen oder absoluten Überwiegen des Binnenlebens nennen wir Autismus« (Bleuler 1911, S. 52).
Die Auseinandersetzung des Erkrankten mit diesem kognitiv-affektiven Grundsyndrom führt nach Bleuler zu den sogenannten akzessorischen oder Sekundärsymptomen der Schizophrenie, d. h. zu Halluzinationen, Wahnideen, Katatonie oder funktionellen Störungen von Gedächtnis und Sprache (Bleuler 1911), die er für grundsätzlich reversibel hielt.
Bleuler schrieb der Schizophrenie keinen zwingend negativen Verlauf zu und legte deshalb ein besonderes Augenmerk auf den Frühverlauf der Erkrankung. Für die schleichend auftretenden und wenig charakteristischen Frühstadien, die auch lebenslang auf einem Niveau unterhalb der akuten Psychose verbleiben könnten, wählte er den Begriff der »latenten Schizophrenie«. Sie ist heute unter der Bezeichnung »schizotype Störung« (F21) in der ICD-10 als eine der schizophrenen Spektrumsstörungen berücksichtigt und kann sowohl im familiären Umfeld von Menschen mit Schizophrenie als auch im individuellen Vorfeld der akuten Psychose vorkommen. Auch Bleuler beschrieb schon 1911 einige Merkmale des schizophrenen Prodroms:
»Gelingt es, eine gute Anamnese zu erheben, findet man vor dem Ausbruch der Psychose meist Änderungen im gewohnten Wesen: Die späteren Kranken werden empfindsamer und zurückgezogener, geben persönliche Beziehungen und Interessen auf, beschäftigen sich mit abstrakten Wissenschaften, die ihnen früher fernlagen, entwickeln verschrobene hypochondrische Ideen und versagen mehr und mehr in ihrer Arbeit und familiären Aufgaben. Sie zeigen mannigfache Symptome, wie sie bei Neurosen vorkommen« (Bleuler 1911, S. 447–448).
Auch der österreichische Psychiater Josef Berze vertrat Kraepelins und Bleulers Konzept einer Grundstörung der Schizophrenie. Er verstand darunter eine »Insuffizienz der psychischen Aktivität« oder eine »Hypofunktion des eigentlichen Denkapparates (der intentionalen Sphäre)«, für die er auch den Begriff der »Hypophrenie« gebrauchte (Berze 1914, IV). Psychopathologisch sei diese Grundstörung schwer zu fassen, da sie oft durch Positivsymptome und Affektstörungen überlagert und von den Betroffenen nur schwer zu beschreiben sei (Berze 1914, S. 1).
Berze versuchte zu zeigen, dass alle Symptome der Psychose aus der »Herabsetzung der psychischen Aktivität« bzw. aus der Störung der Intentionalität abgeleitet werden können. Eine »Steigerung des Passivitätsgefühls« führe zum Verlust der Intentionalität der Wahrnehmung und des Denkens, mit der Folge einer Entfremdung von Gedanken bis hin zur völligen Abspaltung im Sinne des Stimmenhörens. Mögliche Depersonalisationsphänomene erstrecken sich aber auch auf die Motorik, resultierend in dem Gefühl, ein Automat oder ein Instrument zu sein. Insgesamt zeige sich in der Schizophrenie eine »Lockerung des Ichverbandes, aus welcher sich die verschiedenen Arten der Spaltung der Persönlichkeit ergeben,« bis hin zum völligen Ichverlust (Berze 1914, S. 138).
Berze verstand somit die Transformation des Selbsterlebens als die Wurzel der Schizophrenie und leitete daraus die Vielfalt ihrer Symptome ab. Darunter finden sich viele der heute im EASE-Interview versammelten Selbststörungen, etwa die verringerte Transparenz und Präsenz des Bewusstseins (»Störungen des Persönlichkeits- oder Ich-Bewußtseins«) oder Störungen der Affektivität mit Verarmung des Gefühlslebens und der Affektmodulation, bis hin zur Dissoziation der Ausdrucksbewegungen und zur Parathymie (Berze 1914, S. 181–186). Zusammen mit Hans Gruhle entwickelte Berze später seine Konzeption weiter. In dem gemeinsamen Buch »Psychologie der Schizophrenie« wird zwischen Prozess- und Defekt-Symptomen unterschieden und die Prodromalphase der Erkrankung besonders hervorgehoben: Die »schizophrene Grundstimmung« entspreche einer sich mitunter Jahre vor einer Psychose vollziehenden »Umwandlung der Persönlichkeit« (Berze und Gruhle 1929, S. 87).
Etwa gleichzeitig mit Berze schlug Karl Jaspers in seiner »Allgemeinen Psychopathologie« (1913) erstmals eine nähere Bestimmung des »Ichbewusstseins« nach vier formalen Merkmalen vor: (1) Aktivität, (2) Einheit, (3) Identität des Ich und (4) Ichbewusstsein im Gegensatz zum Außen (Jaspers 1973, S. 101 ff.).
1. Als »Aktivität des Ich« verstand Jaspers eine alle Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gedanken und Gefühle begleitende Tönung »des ›mein‹, des ›ich‹, des ›persönlichen‹, des eigenen Tuns«, die er auch als »Personalisation« bezeichnete (Jaspers 1973, S. 101). Störungen der Personalisation bestimmte er dementsprechend als »Depersonalisationserscheinungen« (Jaspers 1973).
2. Die beim Gesunden vorhandene »Einheit des Ich« könne im Sinne der Ich-Spaltung und Ich-Verdoppelung gestört sein, wobei Betroffene mit zunehmender Distanzierung vom eigenen Erleben ihre eigene Wahrnehmung, ihr eigenes Denken und Handeln wie von Außen beobachteten.
3. Die »Identität des Ich« verstand Jaspers (1973, S. 103) als das Bewusstsein, »in der Zeitfolge identisch derselbe zu sein«. Er bezog sich damit auf die häufige Erfahrung von Menschen mit Schizophrenie, in der Psychose eine andere Person geworden zu sein.
4. Als »Ichbewußtsein im Gegensatz zum Außen« bezeichnete Jaspers die Demarkation von Ich und Nicht-Ich. Ihre Beeinträchtigung führe zu Verschmelzungen der Betroffenen mit Objekten oder Personen der Umwelt (Transitivismus nach Bleuler) oder zu Phänomenen der Gedankenausbreitung (1973, S. 106).
Von diesen formalen Merkmalen des Ichbewusstseins grenzte Jaspers das »Persönlichkeitsbewußtsein« als inhaltlich ausgestaltete, auch in ihrer psychologischen Genese verstehbare Dimension ab. Er benannte Veränderungen der Persönlichkeit und nicht integrierte Triebregungen in der Pubertät, aber auch die Labilität des Persönlichkeitsbewusstseins bei Patienten mit Schizophrenie, die sich z. B. als bestimmte historische Personen erleben können (Jaspers 1946, S. 106 f.). Schließlich definierte Jaspers noch die »abgespaltenen Personifikationen«, die Betroffenen als eigenständige Anteile der eigenen Persönlichkeit innerlich oder in Halluzinationen gegenübertreten (Jaspers 1946, S. 107 f.).
Jaspers’ Klassifikation hatte nachhaltigen Einfluss, insbesondere auf das Konzept der Ich-Störungen, denen bereits im Lehrbuch der Psychiatrie von Oswald Bumke (1932) ein maßgeblicher Status für die Diagnose der Schizophrenie beigemessen wurde. Kurt Schneider verwies in seiner 1950 erstmals erschienenen »Klinischen Psychopathologie« auf Jaspers’ Kriterien, stellte aber fest, dass in der klinischen Praxis de facto nur der Aktivitätssinn gestört sei (Schneider 1950/1959). Da der Begriff der Aktivität jedoch kaum auf Gefühle und spontane Gedanken angewandt werden könne, ersetzte er das Aktivitätsgefühl durch den Begriff der »Meinhaftigkeit«. Störungen der Meinhaftigkeit wurden nun gleichbedeutend mit den schizophrenen Ich-Störungen bzw. Erlebnissen der Fremdbeeinflussung. In der letzten Ausgabe von 1992 fasste Schneider Gedankeneingebung, -entzug, -übertragung und alle Phänomene »gemachter« Gefühle, Empfindungen und Handlungen unter dem Begriff der Ich-Störungen zusammen und charakterisierte sie als eine abnorme Durchlässigkeit der Grenze zwischen Ich und Umwelt. In seinem bis heute wirksamen System nahmen die Ich-Störungen den Status von Symptomen ersten Ranges für die Diagnose der Schizophrenie ein, während subtilere, prodromale Störungen des basalen Selbsterlebens unberücksichtigt blieben.
In jüngerer Zeit schlug der Psychopathologe Christian Scharfetter eine durch »deskriptive, phänomenologische, existenzanalytische und psychoanalytisch-psychodynamische« Ansätze modifizierte Klassifikation des Selbsterlebens nach Jaspers vor (Scharfetter 1995, S. 71 ff.). Danach setze sich das Ich-Bewusstsein aus fünf basalen Dimensionen zusammen: (1) Vitalität, (2) Aktivität, (3) Kontinuität, (4) Demarkation und (5) Identität.
1. Die »Ich-Vitalität« stellt die Gewissheit der eigenen Lebendigkeit dar. Ihre Störung manifestiert sich im Gefühl des Absterbens bzw. in einem darin begründeten hypochondrischen Wahn, in der Angst vor dem Weltuntergang oder dem Nicht-mehr-Sein.
2. »Ich-Aktivität« ist das Erleben der Selbstbestimmung des eigenen Erlebens, Denkens und Handelns. Ihre Beeinträchtigung geht mit dem Erleben von Fremdbeeinflussung oder -steuerung des Fühlens, Denkens oder Handelns einher und kann in einen Beeinflussungswahn münden. Auch eine Beeinträchtigung der Intentionalität des Denkens, Gedankenabreißen oder -entzug, Echopraxie, Echolalie oder Stereotypien erklärte Scharfetter durch eine mangelnde Ich-Aktivität.
3. »Ich-Konsistenz« oder -Kontinuität bezeichnet die Zugehörigkeit wechselnder Zustände und unterschiedlicher Selbstanteile zu einem einheitlichen Selbsterleben. Störungen der Ich-Konsistenz führen zur Desintegration von Selbstanteilen oder Selbstfunktionen, wie etwa bei der Entfremdung von Leibempfindungen (Coenästhesien), von Gedanken (Stimmenhören) oder Handlungen (Willensbeeinflussung), bis hin zur Persönlichkeitsverdoppelung oder -auflösung.
4. Die »Ich-Demarkation« entspricht der Ich-Umwelt-Abgrenzung bei Jaspers und Schneider. Ihre Beeinträchtigung äußert sich in Appersonierung oder Transitivismus, Gedankenausbreitung sowie, in Reaktion darauf, in eigenweltlichem Rückzug als Schutz vor dem drohenden Selbstverlust.
5. Die »Ich-Identität« schließlich stellt die Gewissheit der eigenen personalen, leiblichen, sexuellen und biografischen Identität dar. Ihr drohender Verlust manifestiert sich in Angst vor oder der Wahrnehmung von physiognomischen und Gestaltveränderungen (Spiegelphänomen),Geschlechtswechsel, Veränderung der Herkunftsidentität (Abstammungswahn) oder Verwandlung in ein anderes Wesen.
Scharfetter kommt der Verdienst zu, die noch primär auf die Diagnostik bezogenen Störungen des Selbsterlebens in der Schizophrenie bei Jaspers und Schneider um existenzielle Aspekte erweitert und sie zum Teil einer Psychopathologie gemacht zu haben, die die persönliche Wirklichkeit der Betroffenen berücksichtigte und daraus therapeutische Schritte ableitete. Seine Ich-Psychopathologie lässt auch viele Überschneidungen mit der Psychopathologie des Selbsterlebens erkennen, auf der das EASE- und das EAWE-Interview aufbauen. Allerdings unterscheidet seine Einteilung nicht klar zwischen den gravierenden Selbststörungen – vor allem den wahnhaften Ich-Störungen – in der akuten Psychose und den subtileren Störungen des basalen Selbsterlebens, wie sie für die neuere phänomenologische Psychopathologie der Schizophrenie in erster Linie relevant wurden. Diese tiefer liegende Ebene der Erkrankung erschließt sich erst phänomenologischen Ansätzen, wie sie in erster Linie von Eugène Minkowski und Wolfgang Blankenburg entwickelt wurden.
Anders als Jaspers und Schneider stellte Eugène Minkowski, ebenfalls Psychiater und Philosoph, nicht die produktiven Symptome, sondern den »schizophrenen Autismus« als Ausdruck einer tiefgreifenden Störung des Selbst in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen. 1927 erschien sein erstes Werk »La Schizophrenie«, 1933 sein Hauptwerk »Le temps vécu« (»Die gelebte Zeit«, 1971). Darin beschrieb er den Verlust des »vitalen Kontakts mit der Wirklichkeit« als die Grundstörung der Schizophrenie (»perte du contact vital avec la réalité«; Minkowski 1928/1997, S. 106). Diese führe schließlich zu einer fortschreitenden Verarmung und Erstarrung der Persönlichkeit – einer Art »verarmtem Autismus« (»autism pauvre«, Minkowski 1928/1997, S. 191), in dem die Erkrankung in Reinform in Erscheinung trete.
In seinen umfangreichen Untersuchungen des alltäglichen Lebens führte Minkowski aus, was unter dem »vitalen Kontakt« zu verstehen sei, nämlich die Fähigkeit, mit der Welt und mit anderen in Resonanz zu treten, von ihnen affiziert zu werden und angemessen zu reagieren, oder mit anderen Worten, eine präreflexive »Immersion« in die soziale Welt. Von dem französischen Lebensphilosophen Henri Bergson übernahm Minkowski darüber hinaus den Begriff des »élan vital«, ein vitalistisches Prinzip der Lebensenergie, das Minkowski auch im menschlichen »élan personnel« wirksam sah; gemeint ist der Grundantrieb, das eigene Leben zu führen und zu gestalten (Minkowski 1928/1997, S. 165 ff.). Dieser personale Elan sei durch eine Polarität zwischen zwei Prinzipien charakterisiert, nämlich Verbundenheit und Trennung, die Minkowski nach Bleuler auch als »Syntonie« und »Schizoidie« bezeichnete (Minkowski 1928/1997, S. 74 ff.).