Selbstreflexion als soziale Kernkompetenz - Urs Weth - E-Book

Selbstreflexion als soziale Kernkompetenz E-Book

Urs Weth

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Beschreibung

Wir urteilen, beurteilen, verurteilen, kritisieren oder verachten alles, was uns aus unserem persönlichen Umfeld in die Quere kommt. Wir steigen auf die Kanzeln der Gesellschaft und predigen der Welt, was darin alles schief läuft und wie sie richtig zu sein hat! Das alles tun wir lange, lange Zeit und wir leiden unendliche Leiden, sterben unendliche kleine Tode, weil es der oder die andere einfach nicht kapiert! Oder weil man uns selbst verkennt in unserer (vermeintlichen) Größe! So vergehen Jahre oder gar Jahrzehnte unseres Lebens in der Meinung, nur Gutes tun zu wollen, bis wir schmachvoll entdecken, dass dieses Andere WIR SELBST sind!

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Seitenzahl: 210

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Copyright© 2014 Urs Weth

2. Version

(erweiterte Ebook-Ausgabe „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“)

Herausgeber: Wirkstatt-Verlag, Basel

Autor: Urs Weth

Umschlaggestaltung: Wirkstatt-Design

Illustrationen: Wirkstatt-Design

Verlag: Wirkstatt-Verlag, Basel

ISBN: 978-3-9522879-5-8

Printed in Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überHhttp://dnb.d-nb.deHabrufbar.

Erst am Ende der Erkenntnis aller Dinge wird der Mensch sich selber erkannt haben. Denn die Dinge sind nur die Grenzen des Menschen

Friedrich Nietzsche - Morgenröte

Urs Weth

Selbstreflexion als soziale Kernkompetenz

Ein Blick hinter die Kulissen der eigenen Persönlichkeit oder,

wer spricht, wenn Sie Ich sagen?

Inhaltsverzeichnis
Einführung
Ich oder Es
Persönliches Krisenmanagement
ERKENNTNISWERKZEUGE
Das aktive Denken
Intermezzo: Logik
Intermezzo: Ganzheit
Intermezzo: Interesse
Das Begreifen der Begriffe
Intermezzo Symbol
Intermezzo: Atheismus
Intermezzo: Kunst
Subjektive Werte
Die Wahrnehmung
Vorstellung und Erinnerung
Gedankenebenen
Freies Denken
Ich-Zustände
Selbstbild
Vom Sinn des Leidens
Ist Gott objektiv
Was ist „spirituelle“ Forschung
Werkzeuge der Bildungskultur
FREIHEITSWERKZEUGE
Von blinden Flecken
Achtsamkeit
Der Tatort ist das Jetzt
Der Freiheitsbegriff
Vorstellung, Idee und Ideale
Intuition und Selbstbeobachtung
SCHATTENBOXEN
Persönlichkeit
Selbst- und Fremdwahrnehmung
Identifikationsmodule
Erkenntnismöglichkeiten
Die gebundene Identität
Die freie Identität
Individualität
Individualität und Kunst
Egoismus und das Es
Antipathie und Sympathie
Ich oder Es
Weltbild
Unsere inneren Lebensbegleiter
Konzept der Teilselbste
Fehlerkultur
SOZIALE WERKZEUGE
Leben ist Prozess
Persönlichkeitsstrukturen
Wir-Gefühle
Konzentration und Konlinearität
Moral und Gesetze
Masken im sozialen Umfeld
Und die Liebe?
Die Liebeskurve
LEBENSWERKZEUGE
Das einfache Leben
Das alltägliche Leben
Und jetzt konkret…
Eine kleine Übung
Autor
Anmerkungen

Einführung

Die Einsicht in die eigene Persönlichkeitsstruktur ist eine der schwierigsten Aufgaben, die  wir uns stellen können. Die intellektuelle Analyse hilft da nur bedingt weiter. Selbst wenn ich in der Lage bin, gewisse Eigenheiten zu durchschauen, habe ich keine Veränderungen vorgenommen. Umwandlungen entstehen nicht durch Analyse, sondern durch Betroffenheit! Betroffenheit entsteht durch ein wirklichesin-den-Dingen-leben. Die lateinische Bezeichnung dafür heißtInteresse.Von Ich oder Es zu sprechen ist nur wesentlich für dasErleben. Für den Intellekt ist es irrelevant, ohne Bedeutung.

Vorstellungen, welche uns von solchen Erlebnissen trennen, bilden die Mauern dazwischen. Die Verhaftung mit ihnen stellt die größte Herausforderung dar. Und diese Verhaftung verdrängt etwas Anderes in uns.

Ermahnungen und Belehrungen, sind von geringem Nutzen. Bekehrungen sind kein guter Weg. Diese bringen etwas anderes mit sich, etwas, was sehr hinderlich ist auf dem Weg zu erlebter (Selbst-) Erkenntnis, nämlich:ein schlechtes Gewissen!

DurchSelbstbeobachtungerkennen wir die Persönlichkeit als etwas von unserem tieferen Kern verschiedenes. Viele Jahre verbringen wir damit, dieses Andere im Außen zu suchen. Wir urteilen, beurteilen, verurteilen, kritisieren oder verachten alles, was uns aus unserem persönlichen Umfeld in die Quere kommt. Wir steigen auf die Kanzeln der Gesellschaft und predigen der Welt, was darin alles schief läuft und wie sie richtig zu sein hat! Die „linke“ Partei tut dies mit derselben Überzeugung, wie die „rechte“. Wir beharren auf persönliche Rechte und ergreifen hinterlistige Methoden, um dieses Recht zu unseren Gunsten durchzusetzen. Und dabei meinen wir es ja nur gut mit unseren Mitmenschen und glauben, sie auf den rechten Pfad bringen zu müssen. Denn wir wissen es schließlich besser als jene.

Das alles tun wir lange, lange Zeit und wir leiden unendliche Leiden, sterben unendliche kleine Tode, weil es der oder die andere einfach nicht kapiert! Oder weil man uns selbst verkennt in unserer (vermeintlichen) Größe!

So vergehen Jahre oder gar Jahrzehnte unseres Lebens in der Meinung, nur Gutes tun zu wollen, bis wir schmachvoll entdecken, dass dieses Andere WIR SELBST sind!

Wir entdecken, dass wir jahrelang einen schmerzhaften Kampf gekämpft haben - gegen uns selbst! Was wir als Liebe bezeichnet haben, war nur eine egoistische Variante des Selbst. Was wir hassten, waren entäußerte Anteile unserer eigenen Persönlichkeit, denen wirDuoderEssagten, aberIchmeinten.

Wir konnten sie nicht als unser Eigenes erkennen, weil wir mit ihnen aufs Innigste verbunden waren, ohne es zu wissen. Und dennoch haben wir sie erkannt, aber nur wenn sie von außen auf uns zukamen. DasDubot uns gleichsam die Möglichkeit, auf den eigenen verdeckten Schlamm hinzublicken. Wir wollten „Es“ nicht wahrhaben. Wir verteidigten die Unversehrtheit und Reinheit unserer persönlichen Glaubensbekenntnisse aufs Schärfste und fühlten Stolz.

Und nun, da wir angefangen haben, diesen Seelenacker umzupflügen, zerbröckelt auf einmal unser Selbstbild. Es zerbricht in tausend Scherben und wir sterben tausende von kleinen Toden. Wir wollen auf einmal nicht mehr dieser Mensch sein, der wir waren. Wir wollen ihn vernichten, auslöschen, zertrümmern! Er ist unser größter Feind geworden. Er verkörpert alles, was wir früher draußen in der Welt verurteilt haben, als wir ihn noch nicht kannten. Er ist das Monster, welches wir dort draußen zu erblicken glaubten und welches wir mit aller Kraft vernichten wollten. Nun erkennen wir es:in uns selber.

Jetzt erst haben wir begonnen, dies zu begreifen!

Wenn wir denAnderen in unsentdeckt haben, verlieren wir in gewissem Sinn die Unschuld und damit die Unbefangenheit. Gleichzeitig gewinnen wir aber sehr viel: UNS SELBST - und damit mehr innere Ausgeglichenheit und Zufriedenheit im Leben.

Die Gedanken, die ich in diesem Buch mit Ihnen teile, sollen immer als Prozess, als “Wegzehrung” und als wandelbare Suchbewegung verstanden werden. Nur, wer ist Ich? Wer schreibt dieses Buch?

Wohin die Reise letztlich führt ist unwesentlich. Ich weiß es sowieso nicht. Es bleibt ein stetes Suchen. Weshalb soll ich mir also den Kopf darüber zerbrechen? Sicher, es gibt diese Ahnungen und Tendenzen, die sich im Laufe des Lebens vielleicht klarer herausschälen. Gedanken sind keine fixen Pflöcke, keine “Eisblöcke” (an denen die Titanics der Dogmen zerbrechen), sondern Schiffe in immer bewegtem Wasser. Sie navigieren stets neu und richten sich unentwegt neu aus in ihrer Hin- und Her-Bewegung.

Gedanken festzunageln ist ein Unding. Gewiss, es braucht Ausrichtungen, Strukturen, Leitplanken. Nur, jede Struktur, jeder Gedanke bringt uns wieder in eine neue Situation! Das Heute ist anders als das Gestern und schon der nächste Augenblick ist wieder anders als dieser. Die Andersheit bringt neue Bedingungen und die neuen Bedingungen verlangen wiederum neue Gedanken. Der Kreislauf schließt sich. Heraklit sagte: In denselben Fluss steigst du nicht zweimal! Und Kratylos, sein Schüler war es, der sagte: Und in denselben Fluss, steigst Du auch nicht einmal!

Gedanken sind aber nicht einfach willkürlich! Sie nehmen immer Bezug auf das Vorhergegangene. Sie verbinden die Vergangenheit mit der Zukunft. Wenn sie das nicht tun, dann sind es keine Gedanken mehr, sondern passive Vorstellungen, die von Assoziation zu Assoziation hüpfen, meist aus einem vorprogrammiertem Muster heraus und ohne logischen Bezug.

Was ich für Sie schreibe, sind keine Rechtfertigungen eigener Ideen. Nichts ist “absolute Wahrheit”. Alles muss im Kontext der Wandelbarkeit betrachtet werden. Jede „persönliche Wahrheit“ verändert sich mit Begegnungen und mit jedem Ihrer eigenen Gedanken und Gefühlen immer wieder!

Ich oder Es

Gedanken sind schwieriger zu transportieren als Emotionen und Gefühle. Wenn Sie herzhaft auf einen anderen Menschen zugehen, dann werden Sie auf der ganzen Welt verstanden. Man wird entsprechend darauf reagieren, ohne dass Sie ein Wort sprechen müssen. Alle Menschen, alle Tiere und sogar alle Pflanzen und Lebewesen, verstehen die Sprache der Gefühle unmittelbar.

Der Weg vom Begriff bis zu dessen Verarbeitung in den Hirnzellen meiner Leser ist schlicht zu komplex und mit unendlichen Hürden, genannt „Vorstellungen“, verbunden. Es gibt keine universelle verbale Sprache! Selbst wenn wir deutsch miteinander sprechen, sind zu viele Hindernisse dazwischen, die den Konsens trüben könnten. Dasselbe Wort löst unterschiedliche Gefühle aus, weil der Erfahrungshintergrund ein anderer ist. Das macht die Verständigung unendlich schwer.

Eigentlich müsste jeder Mensch mit dem gleichen Inhalt in unterschiedlicher Art und Weise angesprochen werden. Mit dem einen Freund darf ich ein Vokabular verwenden, welches einen anderen Freund auf die Palme bringt. Technische Dinge und manche alltägliche Banalitäten sind dabei weniger anfällig als Lebensthemen und Bewusstseinsfragen. Sie treffen und betreffen jeden von uns. Manchmal so sehr, dass sie ans „Lebendige“ gehen und existentiell werden.

Die andere Seite sieht so aus: Wir verbringen auch viel Zeit damit, fremde Inhalte ungeprüft zu übernehmen. Wir adaptieren Gedanken von anderen Menschen, seien es Gedanken aus Gesprächen, aus der Zeitung, von Vorträgen, aus Büchern oder aus dem Internet. Auch aus der Wissenschaft oder von einem Prof. Dr. Sowieso, übernehmen wir so manches und bauen es ungefiltert in unsere eigenen Gedankenkonzepte ein.

Wir suchen gerne nach Inhalten, die sich gut in unsere eigenen Vorstellungen integrieren lassen. Die wirklich substantiellen, tiefgreifenden Begründungen sind nicht immer maßgebend, sondern lediglich die Tatsache eines gewissen „Sympathie-Bonus“ gegenüber den Inhalten.

Der „links“ gefärbte Bürger sucht sich seine Denkanstöße eben aus der Literatur gleichgesinnter oder aus linksgerichteten Tageszeitungen. Dort findet er die Nahrung für die eigene Meinung. Gleiches gilt auch für die „rechte“ Seite oder Färbungen jeglicher Art.

Solche Vorstellungen und der (gesunde) Verstand sind ein unersetzliches Werkzeug, um uns in der Welt zu bewegen und um den Handlungen einen sinnvollen Ablauf zu geben. Sie dienen dazu, diese Handlungsabläufe zu optimieren und zugleich die Wahrnehmungen bewusst in Denkinhalte und Begriffe umzuformen.

Aus dieser täglichen geistigen Arbeit sammeln wir unsere Erfahrungen. Sie machen das Leben in jeder Beziehung einfacher, formen es mit und gestalten es effizienter. Gedankenloses Handeln würde bedeuten, dass wir zu Chaoten würden. Vom Denken verarbeitete und umgewandelte Erfahrungen und Eindrücke fördern die Bewusstseinsentwicklung.

Wenn wir fremde Inhalte aufnehmen und umsetzen oder verinnerlichen, vergleichen wir ihn zunächst mit allem, was wir selbst im Laufe der Zeit aus den Erlebnissen und Erfahrungen gewonnen haben. Wir stimmen ihn mit unseren Gedankenkonstruktionen und Denkmustern ab. Wenn es zur Übereinstimmung kommt, sind wir dem Inhalt gegenüber sympathisch gestimmt, wenn es keine Übereinstimmung gibt, neigen wir zur Skepsis.

Gedanken zu bilden heißt „Bildung“. Mit zunehmendem Alter verfestigten sich jedoch die Vorstellungen. Wir bauen damit Widerstände im Umfeld und bei uns selbst auf. Diese „Mauern“ werden zu Schutzschildern gegen Bedrohungen von außen. Es findet Abgrenzung statt. Sie kann nur bedingt - nämlich im Zustand der Übereinstimmung - durchbrochen werden. Die Fragekultur verwandelt sich so in eine Meinungskultur. Die Beweglichkeit des Denkers opfert sich an „Fest-Stellungen“ und Lehrdogmas.

Das Denken an sich ist dabei weder gut noch schlecht. Es ist ein Bewusstseinswerkzeug. Punkt. Eine Urform von Energie. Sie ist eine menschliche „Eigenheit“, die sich so in den anderen Naturreichen nicht zeigen. Erst die Verfestigung der Vorstellungen blockiert deren freies Fließen. Sie verflechten gedanklichen Inhalt mit unserer Identität und verhaften uns mit ihnen. Mit anderen Worten: die Gedanken und Vorstellungen übernehmen die Kontrolle. Das permanente und freie Ich wird daran gebunden. Solche Vorstellungen verhalten sich passiv und automatisiert. Sobald das freie Ich die Führung übernimmt, wird Denken aktiv.

Abb.: Denkmuster

Der passive Zustand des Bewusstseins wird hier und künftig Form-Ich oder besser noch gebundenes Ich genannt. Alle Inhalte, die von außen über Begriffe aufgenommen werden, haben in der Formidentität Konfliktpotential, weil Begriff und Inhalt nie identisch sein können.

Aus dieser Tatsache, die nur aus der Perspektive einer inneren Beobachtung erfahren wird, ist der Ursprung von Leid und der Verlust von Lebensenergie verwurzelt. Sie prägen uns und gestalten an pathologischen Verläufen und an psychischen Krisen mit.

Vorstellungen sind gewissermaßen die „Wolken“ des seelischen Wetters. Je mehr Vorstellungen unser gegenwärtiges Tun beschatten, umso weniger werden wir die „Sonne am Himmel“ sehen. Wir gewöhnen uns an die Finsternis und vergessen das Licht dahinter.

Dem stellt sich eine zweite Bewusstseinsstufe gegenüber. Sie bildet das Zentrum unsres Seins als freies, permanentes Ich und orientiert sich nicht an der formalen und stofflichen Welt. Das (aktive) Denken ist ein vom (freien) Ich ergriffener Akt, in welchem der Wille integriert ist.

Denken muss auf alle Fälle differenzierter betrachtet werden, als dies im Alltag gebraucht wird. Bewusstsein ist ein Seins-Zustand. Er bezeichnet (Geistes-) Gegenwart. Er ist unmittelbar und immer im Jetzt verankert. Das heißt: Wenn wir jetzt diese und jene Gedanken (passiv oder aktiv) haben, dann wird sich unsere nähere oder auch fernere Zukunft nach diesen Gedanken richten und verändert sie! Wenn wir an die Vergangenheit oder an die Zukunft denken, dann sind wir nicht im „Sein“, sondern im Geworden-Sein oder im zukünftig Werdenden. Genauer müssten wir dann nicht von Bewusst-Sein sprechen, sondern vom bewusst Gewesenem oder vom bewusst Werdendem. Aktives Bewusstsein ist immer eine Erkenntnis-tat.

Die Realität, also was real, in diesem Augenblick, anwesend ist, lebt immer im Sein und ist als das Leben an sich erfahrbar. Alles andere ist passive Vorstellung, entweder in Form einer Interpretation oder Erwägung, oder als Erinnerung.

Die Konsequenz daraus ist diese, dass die Vergangenheit sich immer wieder in die Zukunft fortpflanzt, sich ständig wiederholt und im Laufe der Zeit befestigt wird. Einmal gesetzte Vorstellungen werden selten hinterfragt. So entstehen Meinungen, Lebensprinzipien und Dogmen. Die Erfahrungen von gestern bestimmen die Planung von Morgen. Das ist unser „Normalzustand“, in dem wir funktionieren, unser „Autopilot“ sozusagen.

Erfahrungen von gestern sind in meinem Gegenwartsbewusstsein auch dann verankert, wenn sie nicht bewusst in das Morgen transportiert werden. Sie bleiben im Unbewussten liegen. Die Planung von Morgen lässt keine Abweichung mehr zu, wenn sie nicht latent, im Hintergrund, abgeglichen und reflektiert wird. Sie geschieht automatisch und in Abwesenheit vom bewussten Sein. Sie bestimmt unser Handeln. Der Wille ist eingeschränkt, passiv, gelenkt und unfrei. Freiheit kann nur aus der unmittelbaren, aktiv erlebten Geistesgegenwart heraus entstehen.

Aktive Gegenwart muss achtsam erlebt und beobachtet werden, um Vergangenheit stets in Zukunft zu verwandeln. Die Entscheidungs-Optionen und das Blickfeld werden so stets erweitert. Aus monotoner Wiederholung wird aktive Neuschöpfung. Aktives Schaffen wird imaginativ als freies Handeln erlebt. Die Vorstellungen werden nicht in neuronale Bahnen verschweißt und fixiert, sondern stets neu bewertet und umgestaltet, „neuroplastiziert“. Dies ist eine explizit künstlerische Haltung und kann in jeder sozialen Tätigkeit oder im alltäglichen Tun höchst fruchtbar sein.

Persönliches Krisenmanagement

Es hat sich bisweilen weit herumgesprochen, dass der Mensch nicht nur ein biochemisch-physikalisches Konstrukt ist. Vielmehr muss ein handlungsleitender, geistiger Hintergrund in ihm vorhanden sein. Gerade in der Pathologie zeigen sich die Einflüsse seelischer Instabilität bei vielen Krankheitsbildern zuweilen handgreiflich.

Welche Konflikte, Probleme oder Krisen auch immer dahinter stehen: Wir finden fast keine Krankheit mehr, die nicht auch den seelischen Einfluss hindurchscheinen („personare“) lässt. Damit sind nicht nur die klassischen psychischen Krankheiten gemeint. Viele physische Krankheitsbilder deuten klar auf dahinterliegende psycho-somatische Prozesse hin, welche im engeren oder weiteren Sinne seelische Instabilitäten bedingen.

Wenn ein Mensch in einer Krise steckt oder psychische Probleme hat, gibt es verschiedene Lösungsansätze, damit umzugehen. Für den Betroffenen selbst gibt es mindestens vier grundliegende Ansätze.

Die erste Möglichkeit ist, aktiv zu leiden, das Leiden zu akzeptieren und es zu ertragen. Zugegebenermaßen kein sehr verlockender Aspekt. Dennoch gibt es viele Menschen, die das Leid überall suchen, es unterhalten, nähren und pflegen! Sie fühlen sich wohl in der „Opferrolle“ und möchten nicht darauf verzichten. Diese Handlungsweise muss nicht zwingend bewusst sein. Sie haben Mangelerscheinungen, sobald sie konfliktfrei leben. Es bleibt ein Bedürfnis, im „Kind-Ich“-Zustand1 zu verbleiben.

Menschen dieses Typs gehen lange Zeit jede Woche zum Psychiater und erzählen ihm von allen Leiden und Problemen mit einer gewissen Lust. Danach gehen sie befriedigt nach Hause um sich eine weitere Woche passiv im gleichen Lebensumfeld zu wälzen. Menschen in diesem Umfeld sind geneigt, entsprechende Nahrung zuzuführen, um das Selbstbild des/der „Leidenden“ aufrecht zu erhalten. Für diesen Kreislauf werden erhebliche Geldsummen aufgewendet, letztlich nur, um das eigene Kind-Ich zu nähren! So manch ein Psychiater gibt sich mit dieser Rolle zufrieden, lehnt sich zurück, hört nickend und verständnisvoll zu, gibt ein paar Tipps für die nächste Woche, um sich dann dem nächsten „Opfer“ zuzuwenden. Dies womöglich ohne die spirale Dramatik darin zu erkennen.

Die zweite Variante einer Problemlösung schafft oft Krisen, kann aber auch Krisen überwinden. Es ist ein großer Schicksalsschlag. Diese harten Brüche im Leben eines Menschen, bringen in vielen Fällen auch bewusstseinsverändernde Erlebnisse und Impulse mit sich. Das kann durchaus neue Lösungsansätze bringen. Auch wenn diese Möglichkeit sehr schmerzlich und unter Umständen mit Depressionen begleitet wird, so ist doch das Potential in die andere Richtung, einer positiven Korrektur, gegeben.

Der dritte Weg, der uns aus Krisen hinausführen kann, ist die Selbsterkenntnis und die innere geistige Arbeit an sich selbst. Von dieser Möglichkeit wird in diesem Buch meist die Rede sein. Sie bedingt allerdings einige (mentale) „Ausdauer“ und Übung. Sie ist aber effektiv und verwandelnd.

Allerdings gibt es auch noch eine vierte Möglichkeit der Konfliktbewältigung: die Ignoranz/Projektion. Dabei werden herrschende Konflikte gar nicht erst wahrgenommen. Sie werden verdrängt oder unterdrückt. Es ist nicht derselbe Zustand, wie das Akzeptieren und Annehmen des Leides. In der Ignoranz stellt sich der Betroffene mit seiner Wahrnehmung außerhalb seines Leidensprozesses. Dadurch wird dieser nicht erkannt, sondern abgelehnt, verdrängt oder nach außen projiziert. Gleichzeitig zeigen sich aber deutliche Verhaltensweisen, welche zu Konflikten mit sich selbst und seinem Umfeld führen können. Diese Abspaltung bildet ein Wesen in der „dritten Person“, welches wir, mit Sigmund Freud2, das „Es“ nennen können. Somit haben wir den Gegenspieler benannt, der uns durch die folgenden Kapitel begleiten wird. Das Schattenboxen kann beginnen.

Zusammenfassend seien hier die 4 Möglichkeiten nochmals aufgeführt:

Leiden wollen, Leiden akzeptieren

Schicksalsschläge positiv verwerten

Selbsterkenntnis und Meditation

Ignoranz und Projektion

Erkenntniswerkzeuge

Wir erschrecken 

über unsere

eigenen Sünden,

wenn wir sie an

anderen erblicken.

Johann Wolfgang von Goethe

Das aktive Denken

Goethe sagte am Ende seines Lebens: „Hab ich es nicht gut gemacht, hab niemals übers Denken nachgedacht“. Wir sind als denkende Wesen fähig, der Natur und der Welt mit Bewusstsein gegenüberzutreten und sie in sinnvolle Zusammenhänge zu bringen. Denken ist Bewusstseinsqualität. Sie macht den Menschen erst zum Menschen. Was die Welt der Formen, die physische Welt, teilt und trennt, das wird vom aktiven Denken wieder in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht. Solches Denken ist eine direkte Brücke vom freien Ich zum „gebundenen“ Ich! Nicht die passive Vorstellung, nicht das Erinnern, nicht das Referieren von fremden Inhalten, sondern das sinnvolle Verbinden der Wahrnehmungen in neue Zusammenhänge, schafft diese Brücke.

„Am Anfang war das Wort“? Nein, es ist nicht das „Wort“, welches nach der Übersetzung Luthers am Anfang aller Entwicklung steht, wo es heißt: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. Dasselbe war am Anfang bei Gott.“ (Vers 1.1. von Johannes). Die Übersetzung „Wort“ ist aus der altgriechischen Sprache von „Logos“ abgeleitet. Aber "Logos" bedeutet nur in sekundärem Sinne „Wort“: Es ist eine abgewandelte Alltagsform desselben Begriffs. In den Urtexten steht dafür: „der Ursprung des Denkens“. Man kann durchaus von „Sinn“ sprechen, jedenfalls kann nicht das simple „Wort“ damit gemeint sein.

Der Ursprung des Denkens! WOW! Man kann sich fragen: Ist das Wort, der Ursprung des Denkens? Viel eher würden wir das Wort mit dem Produkt des Denkens in Verbindung bringen. Der Begriff bildet sich am Denken, nicht das Denken am Begriff. Demnach kann das bloße Wort nicht die Bedeutung: „Ursprung des Denkens“ haben. Wenn wir den Vers in dieser neuen Weise übersetzen, dann müsste es heißen: „Im Anfang war der Ursprung des Denkens, und der Ursprung des Denkens war bei Gott und Gott war der Ursprung des Denkens“.

Da ergibt sich neuer Sinn! Nicht das Denken selbst und schon gar nicht die passive Vorstellung steht am Anfang, sondern dessen Ursprung: die aktiveQuelle, aus welcher das Denken entspringt. Also ist Gott in uns, weil wir denkende Wesen sind. Wir haben Anteil an ihm, insofern wir denkende Wesen sind.

Gedanken wie Vorstellungen erschaffen in uns (Lebens-) Motive. Sie erschaffen in uns feste Strukturen, Muster, die unsere Gefühle und vor allem auch Emotionen erzeugen. Damit initiieren sie handlungsleitende Impulse. Was sich in dieser Weise verfestigt, ist nicht etwa die freie „Intuition“, welche aus der „moralischen Phantasie“ (Steiner: Philosophie der Freiheit3), gewonnen wird. Vielmehr sind es sichwiederholende, passive Vorstellungen, welche aus dem formalen Verstandesdenken entstehen. Gefühle, welche in diesem Kontext entstehen, werden Emotionen genannt.

Im Leben taucht immer wieder die Frage nach der Freiheit des Willens auf. Das ist eine der Grundfragen in der Philosophie überhaupt. Passive Gedanken haben in uns eine ungeheure Kraft. Das Erkenntniswerkzeug des Denkens schafft im Spannungsfeld zwischen Form, Stoff und Geist den Grundstein zur inneren Entwicklung und Reife.

Was als Ziel dessen ansteht, eine wirkliche geistige Freiheit, wird durch das „Schattenwesen“ der Formidentität verdeckt. Die wirklich freien Taten, welche aus bewussten Motiven heraus ergriffen und in die Handlung gebracht werden, bleiben dem gebundenen Ich weitgehend verdeckt und unerreichbar.

Abb.: Gedankenstrom

Erst auf dem Weg zu seiner inneren Entwicklung, erwacht es nach und nach in seinem freien Ich. Erst jetzt können freie Impulse geschaffen werden, die den Charakter der Gebundenheit durchbrechen.

Aktives Denken, wenn wir es unabhängig von unserer individuellen Wesenheit begreifen, ist universell. Persönlich gebunden und subjektiv wird es erst dann, wenn es sich mit der emotionalen Formenwelt des Individuums, passiv, verbindet. Diese aus unserer Persönlichkeit und Biographie gegossene und geprägte Formenwelt hat mitunter eine zerstörerische und einengende Wirkung.

Intermezzo: Logik

Der Spezialfall des aktiven Gedankenlebens ist die logische Schlussfolgerung. Wohl jeder Mensch wird übereinstimmen, wenn ich sage: Der pythagoreische Lehrsatz bleibt bestehen bis ans Ende aller Tage.

Das konnten sie deshalb, weil sie aus ihrer persönlichen passiven Gedankenwelt herausgetreten sind und Anteil genommen haben an universellen Gesetzmäßigkeiten. Würden die beiden nicht zum gleichen Ergebnis kommen, dann wird niemand in der Welt deswegen den pythagoreischen Lehrsatz anzweifeln!

Aristoteles4Dführte folgende Beobachtungen an: Er stellte einen Satz vor die Zuhörer, derunbedingtrichtig und unantastbar, also objektiv und allgemeingültig war. Dieser Satz lautete: „AlleMenschen sind sterblich“. Es würde nichts am Prinzip ändern, wenn wir sagen würden: „Der menschliche Körper ist sterblich“.

Jeder kann den Satz bedingungslos mitunterschreiben. Er ist objektiv und allgemein gültig. Aristoteles stellte den Folgesatz auf: „Sokrates ist ein Mensch“. Gleich dem ersten könnte ich nun sagen: „Sokrates hat einen menschlichen Körper“, weil ich auf das Körperhafte meines ersten Satzes Bezug nehmen möchte. Daraus leitete Aristoteles einen logischen Schlusssatz ab, welcher sich auf die beiden vorigen Sätze bezieht und deren Inhalt in eine zwingende, objektive Ableitung bringt.

„Also ist der Körper von Sokrates sterblich“. Das ist der logische Schluss, der sich auch ohne unsere persönliche Färbung ohne weiteres ergibt. Wir nennen ihn deshalb objektiv.

Diese Art von Schlussfolgerungen haben nichts mit Identifikationsproblemen zu tun, weil ihre Autorität außerhalb des eigenen Selbst oder Ich liegen! Nicht alle unsere Gedanken sind somit an das persönliche Ich gebunden. Es muss klar unterschieden werden zwischen passiven Vorstellungen, Interpretationen, Dogmen, Meinungen, und dem außerhalb unserer Persönlichkeit liegenden Prinzips des logischen Schlusses!

Allerdings bilden sich unsere persönlichen Gedankenfolgerungen selten innerhalb dieses „Logos“ ab. Der Alltag wird somit bestimmt durch das erste Prinzip: der Subjektivität.

Es ist das aktive Denken, welches menschliches Bewusstsein (z. B. in der Mathematik) mit dem universellen Bewusstsein verbindet. Wir sind als Menschen dadurch mit der ganzen Welt verbunden und haben Anteil an einem „göttlichen Ganzen“. Dabei ist es einerlei, ob wir es „Gott“ nennen oder „Logos“ oder „Ursprung des Denkens“ oder meinetwegen auch Kühlschrank.

Allerdings ist es im normalen Alltagsleben nicht üblich, dass sich Gedanken mit solchen universellen Schlüssen gegebenenfalls durchsetzen. Wäre dem so, dann bräuchten keine Bücher mehr geschrieben werden, es gäbe weder Konflikte, noch Kriege auf dieser Welt. Die Konfrontation der gedanklichen Auseinandersetzung mit der realen Welt ist dennoch ein „must have“ und eine Tatsache. Deshalb kann, ebenfalls mit einer gewissen Logik, geschlossen werden, dass es ein Individuelles, persönlich-subjektives Gedanken- und Vorstellungsleben in jedem Menschen gibt. Nicht immer wird es sich am Universum orientieren. Es bleibt eingeschlossen ist in der eigenen, gebundenen Formidentität.

Was als „universeller Gedanke“ am mathematischen Beispiel leicht begreifbar ist, lässt sich nicht ohne weiteres in das Alltagsleben übertragen. Die Emotionen, welche durch Sympathie und Antipathie, persönliche Gedanken färben oder von ihnen erzeugt werden, zwingen sie dadurch auch in ein formales Korsett.

Ob mir die Bluse meiner Freundin gefällt oder nicht, hat für die restliche Welt wenig Relevanz. Dieses Urteil hat nur eine Bedeutung für mich selbst und für meine Freundin natürlich. Vielleicht bekomme ich Zugeständnisse von anderer Seite? Schön! Für mich! Es ist ja immerhin möglich, dass meine Schwiegermutter diese Bluse auch schön findet. Das vermag vielleicht mein Verhältnis zu ihr verbessern, für den Weltfrieden wird es kaum maßgeblich sein. Das Urteil basiert nicht auf universeller Gesetzmäßigkeit, sondern durch eine, sagen wir mal, zufällige, persönliche Übereinstimmung. Diese hat nicht die Bedeutsamkeit eines pythagoreischen Lehrsatzes, sondern erklärt sich lediglich durch das gemeinsame Geschmacksempfinden.

In dieser Weise gibt es viele Arten von dynamischen Gruppenbildungen mit kongruenten Urteilen. Man sieht dies sowohl in der Beurteilung von Kunstwerken, wie auch in der Politik, in der Wirtschaft und in vielen anderen Bereichen des Alltagslebens. Diese Art des Denkens prägt unsere Alltagswelt nachhaltig! Es sind persönlicheVorstellungen. Innere Bilder, welche am Selbstbild und am Weltbild abgeglichen und stets neu genährt werden.

Der „naive Realismus5