Selim oder Die Gabe der Rede - Sten Nadolny - E-Book

Selim oder Die Gabe der Rede E-Book

Sten Nadolny

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Beschreibung

Der eine will um jeden Preis ein großer Redner werden, obgleich ihm nichts schwerer fällt als das freie Sprechen. Der andere träumt von einem sorglosen Leben inmitten einer Schar von Freunden. Nichts scheint Alexander, den neunzehnjährigen Studenten aus Rosenheim, und Selim, den einundzwanzigjährigen Amateurringer aus der Südtürkei, zu verbinden - bis Alexander in Selim den geborenen Erzähler und seinen möglichen Lehrmeister entdeckt.

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Die Arbeit am letzten Teil des Buches wurde vom Berliner Senat durch das Stipendium »Berliner Künstler in der Türkei« gefördert.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

13. Auflage Juni 2010

ISBN 978-3-492-95792-2

© 1990 Piper Verlag GmbH, München Umschlagabbildung: Stephan Balkenhol / VG Bild-Kunst, Bonn 2005 Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Vorspann

1965

Alexander stand auf der Rosenheimer Innbrücke, blinzelte ins Schneetreiben und dachte darüber nach, wie er ein guter Redner werden könnte. Die Hindernisse kannte er nur allzu gut. Zum Beispiel durften einem, der reden wollte, nicht zu viele Gedanken gleichzeitig kommen. Aber war das zu verhindern? Wenn Alexander den Mund auftat, entstand in seinem Kopf eine Wirrheit, ein helles Gefitzel, eine gleißende Landschaft ohne Wegweiser. Oft fehlte zu einem Gegenstand, den er deutlich vor sich sah, der passende Ausdruck. Dann wieder schien der laut gesprochene Text einen inneren zu verfälschen, der den wahren Zusammenhang enthielt. Und nach dem Abitur war es auch nicht besser geworden.

»Du hast ein Panorama vor Augen und willst es auf einen Schlag herausbringen«, hatte der Musiklehrer gesagt. »Das geht nicht, du mußt dich an die Einzelheiten halten – erst die eine, dann die andere!« Aber jedes Wort, mit dem er anfing, schien ihm falsch, jede Ermutigung machte ihn krank. Irgendwie begabt.

Er wollte erforschen, wie man immer die nächstliegenden Worte fand und wie sich die Wahrheit überhaupt bewegte. Er sah auf den teiggrauen Fluß, aber der gab keine Antwort. Blicke, Fragen und die dicksten Schneeflocken versanken in ihm, als wären sie nie gewesen. Der war einfach da, immer schon, brauchte nichts zu werden, nichts zu können. Ein ungerührt und selbstverständlich dahinziehender Gebirgsfluß mit drei Buchstaben.

Alexander ging in die Stadt. Um drei Uhr fing »Lawrence von Arabien« an. Er suchte nach der Eintrittskarte, fand sie und schlitterte zum Kino.

1972

Wann er Manifeste schreiben, Lexika verkaufen oder gefährlich leben wollte, war seine Sache – einer der wenigen Vorteile des Vertreterberufs. Alexander las durch, was bis jetzt auf dem Papier stand, und änderte kein Wort. Der Text schien ihm bereits jetzt historisch, gültig für eine Epoche oder zwei.

»Es gibt keine Wahrheit für alle Tage. Nicht einmal Sätze über physikalische Vorgänge sind wahr. Wenn geredet wird, dann ÜBER DAS REDEN über die Sache, nicht über die Sache selbst. Zu lange habe ich an die jeweils behauptete Wahrheit geglaubt, dazu an den Zusammenhalt derer, die sie angeblich erkannt hatten.

Verstehen gibt es auch nicht, höchstens Respekt. Was Rede erreichen kann, ist Respekt oder die Illusion einer Anzahl von Menschen, sie hätten verstanden.

Redekurse nützen nichts, weil es in ihnen nur ums Reden geht. Sie lehren, wie man sich wichtig macht, ohne einen Grund dafür zu haben. Ab heute: mehr beobachten, wie gesprochen wird. Die Lust am Wörter-Sprechen und Wörter-Hören wiederfinden – nur sie ist wichtig. Selim studieren, er soll mein Lehrer sein, so etwas wie ein natürlicher Lehrer für Rhetorik. Nie wieder in eine Redeschule!«

Im selben Moment wußte er: er war dabei, selbst eine zu gründen! Er war durch die Realität ohnehin nicht aufzuhalten, warum also keine Schule gründen? Wie Selim würde er sein, ein Delphin mit Armen und Beinen. Fröhlich schrieb er ins Manifest: »Nur wer weiß, daß es den Konsens nicht gibt, kann ihn herstellen. Wer weiß, daß alles schwimmt, dem wachsen Flossen.«

1979

Die Kurse laufen gut, vielleicht lernen die Leute sogar was. Aber ich selbst? Ich fühle mich am ehesten unverstanden, wenn ich anderen etwas beibringe.

Du fragst, warum ich das Buch schreibe. Ich habe das Erzählen entdeckt, die Substanz aller Rede. Ich brauche es jetzt, es produziert einen bestimmten, lebensnotwendigen Ernst, wie Chlorophyll den Sauerstoff. Mir ist der Ernst in den letzten Jahren abhanden gekommen und mit ihm der Humor.

Die Romanhandlung? Viel Autobiographisches; die Vorgeschichte von »Alexanders Redeschule«; Beobachtungen, wie meine Generation redet; allerlei Menschen, die zu kämpfen haben, darunter die beiden Türken; schöne Frauen, Schiffe. Einige Pistolen, die niemandem Freude machen. Und eine BMW Isetta mit rotem Punkt an der Windschutzscheibe. Ist das nichts?

1982

Ich habe immer reden können, wenn ich über Selim sprach. Beim Schreiben stellt sich heraus: er war ein Phantom. Ich habe ihn mehr erdacht als verstanden.

Das stört mich nicht. Der Irrtum war vielleicht besser als die Wahrheit.

1983

Das also ist der wahre Selim. Ich hätte es ahnen müssen. Freundschaft? Ich würde gern wissen, wie es mit ihm weitergeht.

1988

Wer war dieser Selim, wer ist er, vor allem: wo? Wo treibt er sich herum, statt mir zu erzählen?

Erster Teil

Erstes Kapitel

Tag im Januar 1965

1.

In Istanbul regnete es. Kurz vor vier Uhr waren alle Menschen, Kartons und Koffer untergebracht, die Listen und Papiere geprüft. Allein für die Kieler Werft waren sechsunddreißig Männer bestimmt, darunter sogar ein Neunzehnjähriger, der noch nicht in der Armee gedient hatte.

Man hatte kaum damit gerechnet, daß der Sonderzug die Stadt noch am Nachmittag verlassen würde – jetzt setzte er sich doch in Bewegung, sehr langsam, als wäre er sich nicht sicher. Fast alle Männer lehnten sich so weit wie möglich hinaus und winkten ihren Familien zu. Nur gut, daß ein Zug nicht kentern konnte wie ein Fährboot. Sie blieben eine Weile an den Fenstern stehen und sahen auf das neblige Marmarameer. Als der Zug die Mauern von Yedikule passierte, nahmen sie Platz und begannen sich zu unterhalten.

An der Abteiltür saß Selim, ein nordwesttürkischer Meister im Ringen, Bantamgewicht, griechisch-römischer Stil, ihm gegenüber Mesut aus Ankara, der hundert Meter in zehn Komma zwei Sekunden lief. Mit ihnen fuhr der Friseur Ömer, ebenfalls Ringer. Die Fensterplätze nahmen der kurdische Schäfer Niyazi und der Bauer Mevlut ein, Mevlut aus der Gegend von Konya, der einen Sack Kartoffeln mitgenommen hatte, um in Deutschland keinen Hunger zu leiden. Jeder wunderte sich, wie ein so pessimistischer Mensch überhaupt eine Reise antreten konnte. Noch einige Stunden, und sie waren an der bulgarischen Grenze. Sie tranken aus ihren Wasserflaschen, rauchten und machten sich allmählich miteinander bekannt. Schlafen wollte niemand, dazu war später Zeit. Erst am übernächsten Tag würden sie in Deutschland eintreffen, und damit waren sie noch lange nicht in Kiel.

»Der Schnee fängt schon an!« bemerkte Mevlut am Fenster. Einige Schneeflecken waren da, nicht größer als Tischplatten im Kaffeehaus. »Das bißchen?« fragte Niyazi. »Deutschland ist im Winter völlig weiß, ich habe Bilder gesehen. Aber Schnee hält auch warm.« Alle sagten Zuversichtliches über Deutschland und die Deutschen, denn Mevlut hatte es übernommen, sämtliche bösen Befürchtungen und Gewißheiten vorzubringen.

»Frieren werden wir!« sagte Mevlut.

Der Sprinter Mesut schob sich eine Zigarette in den Mundwinkel. Die Art, wie er das Streichholz entzündete, zeigte seine ganze Verachtung. Mit einer schwungvollen, treffsicheren Bewegung stieß er den Kopf des Zündholzes gegen die Reibfläche, es war, als wollte er sie bei dieser Gelegenheit ermorden. Die anderen kannten das schon: wenn er die Schachtel verfehlte, machte er die gleiche Bewegung noch einmal, kompromißlos. Ein glattes, kaltes Gesicht ohne Bart, und glatte, sichere Bewegungen. Eines seiner häufigsten Wörter hieß »überflüssig«. Vielleicht ein Mann mit Zukunft.

Außer ihm gab es im Abteil nur einen, der keinen Bart trug – Selim. Sonst hatten die beiden wenig gemeinsam. Selim war freundlich, lachte und erzählte gern. Er hatte es nicht nötig, einen wichtigen Eindruck zu machen. So waren viele Ringer, und er war Meister.

Ömer behauptete, er könne ein wenig Deutsch, jedenfalls das Wichtigste. Alle beschlossen, sich an Ömer zu halten, wenn es um Wichtiges ging. Sie fürchteten sich nicht, nein. Sie hatten Kraft und Zuversicht – sogar Mevlut hinter seinem düsteren und ahnungsvollen Gehabe. Der? Der glaubte insgeheim, er könne in wenigen Monaten mit voller Brieftasche heimkehren und seine Ochsen zurückkaufen. Er tat nur so kläglich, um vom Unglück verschont zu werden. Das war Bauernart.

Aber eines ahnten alle: ab jetzt würden sie für längere Zeit nicht mehr Ringer, Läufer, Friseure oder Bauern sein, sondern stille, auf Hilfe angewiesene Arbeiter von sehr weit her.

Mit diesem Zustand hatte keiner von ihnen Erfahrung.

2.

Gegen halb sieben kam Alexander aus dem Kino und stapfte durch die verschneite Stadt. Daß überzeugende Sätze nötig waren, um irgend etwas in der Welt zu erreichen, hatte ihm auch dieser Film bewiesen. Nie würde jemand anerkennend zu ihm sagen »Deine Mutter hat sich mit einem Skorpion gepaart« wie Anthony Quinn zu Peter O'Toole. Zweifellos war auch er imstande, die Wüste Nefud zu durchqueren. Aber ohne die Gabe der Rede würde er es allein tun müssen.

Vom Schloßberg sah er auf die Stadt hinunter. Durchs Schneetreiben schimmerten einige Lichter zwischen den Fabrikschornsteinen und Kirchtürmen. Wenige, bewährte Worte sagen – das war nicht zu verachten. Sprechen können ohne Angst, Scham oder Wut. Ruhige Art, sichere Hand. Entschiedenheit. Fragen: keine. Plötzlich wußte er: das Spießertum war eine geniale Einrichtung, um allzu komplizierte Gedanken einzudämmen und die Zahl der wirklich Klugen kleinzuhalten. Es mußte genügend Menschen geben, die sich trotz aller Gefahren wohl fühlten und weitermachten, wenn sie nur eine Lebensversicherung abgeschlossen hatten. So gesehen ließ sich sogar Hansi Trieb akzeptieren, der Mitschüler am Gymnasium, der während des gesamten Aufstiegs zur Hochries anderthalb Stunden lang erläutern konnte, warum er zum Skifahren in seinem Rucksack belegte Brote, Skiwachs, Ersatzsocken, Ersatzhemd und eine in Zellophan eingeschlagene Rolle Klopapier mitnahm.

Zehn Jahre früher war diese Stadt für Alexander noch die Welt gewesen. Erst später schien ihm in der Enttäuschung, als wären Rosenheims größte Schöpfungen das Lüngerl mit Knödel im Schmiedbräukeller und ein blaues Faltboot mit aufblasbarem Rand. In Rosenheim lebten Bierbrauer, Viehzüchter, Seiler, Holzknechte und Holzwissenschaftler, Flüchtlinge und Bürstenbinder. Ihre Frauen konnten so gute Dinge auf den Tisch bringen wie Schweinsbraten und Geschwollene Gans. Es war eine hübsche Stadt, mit erkerverzierten Häusern, deren Fassaden oben waagrecht abschlossen. Ein riesenwüchsiger Marktflecken, für ein ruhiges Leben ohne größere Visionen vielleicht gut geeignet.

Einen Rosenheimer Visionär hatte es gegeben: Thomas Gillitzer, Hotelier, Pflanzer und Fischzüchter, vor allem ein bedeutender Bauherr am Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Was von Gillitzer stammte, hätte auch in Rom oder Berlin gute Figur gemacht.

Alexanders immer wiederkehrender Tagtraum aus der Schülerzeit: in Gillitzers »Hotel Deutscher Kaiser« eine Rede halten. Der dortige Rokokosaal, in dem sogar Münchener Schauspieler Theater spielten, war zweifellos der Kern des geistigen Rosenheim und seine Verbindung zur Welt. Wenn überhaupt reden, dann dort. Aber er war ja nicht einmal von hier. Ein Gymnasiast nur, der neun Jahre lang aus Degerndorf am Inn hatte anreisen müssen, ein »Fahrschüler«. Und nur ein halber Bayer, von der Mutter her, wenn Augsburg überhaupt noch Bayern war. Er sprach hochdeutsch und war Protestant – alles keine guten Voraussetzungen, um hier Reden zu halten.

Alexander klopfte sich den Schnee vom Anorak und beschloß, in die Stadt hinunterzugehen. Auf dem Rückweg traf er ausgerechnet auf der Innbrücke seinen ehemaligen Griechischlehrer, genannt das Nebelhorn. Mit dem wollte er nicht reden. Was hatte der hier im Schneetreiben überhaupt zu suchen? Womöglich den Freitod, dachte er, und den habe ich jetzt verhindert. Der Lehrer blieb stehen, musterte seinen Schüler wie einen verlorenen Sohn – so hatte er ihn auch angesehen, als er ihn während des Unterrichts über Realis und Irrealis beim Micky-Maus-Lesen erwischt hatte. Jetzt wollte er bestimmt etwas über das Wetter oder Winston Churchill sagen, beides war möglich.

Um ihm auszuweichen, hätte Alexander durch den Schnee steigen und zum anderen Geländer hinübergehen müssen. Zu spät. Schon legte der Lehrer die Hand an den Pelzkragen, um ihn für das Gespräch zu öffnen. Alexander verlangsamte den Schritt, verzichtete auf einen Gruß und wartete mißtrauisch. Er erinnerte sich an den Satz über sein mißglücktes Platon-Referat: »Wie der Geist, so die Rede!« Aber jetzt hatte er das Abitur hinter sich, die Situation war nicht mehr hoffnungslos.

»Der Alexander in Rosenheim, bei dem Wetter! Na, wie sieht's aus?«

Aussehen? Wie sah was aus? Er mußte es schaffen, »gut« zu sagen, vielleicht war es damit erledigt.

»Gut!«

»Na bitte! So schlimm ist der Wehrdienst doch auch nicht. – Wissen Sie schon, wie es danach weitergeht?«

Das wird er mir sicher gleich selbst sagen, dachte Alexander. Weitergehen, das wäre schön. Im Kopf hatte er das Bild von einem kleinen Mädchen, das die Stiefel eines Uniformierten umklammerte und um sein Leben bettelte. Nichts also, was er auf des Lehrers Frage hätte mitteilen können. Und sonst? Treibeisschollen, Reste von eingeübten, dann wieder vergessenen Sätzen, aggressive Zerklüftung.

Die Hand des Lehrers lag am Pelzkragen, sein Gesicht hatte jetzt so eine überdeutlich teilnehmende Schieflage. Im Licht der Brückenlampe sah Alexander auf dem Handrücken Pigmentveränderungen, sogenannte Altersflecken, sie erschienen ihm wie eine Art Tarnung.

Wie es weiterging. Wie der Geist, so die Rede, Heil Hitler! Bis fünfundvierzig Parteifunktionär und Schuldirektor im Fränkischen; das Schlimmste verhindert. Darüber hätte er mit ihm vielleicht sprechen sollen. Aber wenn, dann mußte das rasch und selbstverständlich kommen. Zu spät. Er mußte gerade daran denken, wie der Lehrer gesagt hatte: »Nach allem, was ich erlebt habe, sehe ich die Dinge anders als Platon.« War das wieder gegen die Besatzungsmächte gegangen?

»Man kann ja nicht alles voraussehen«, meinte der Lehrer.

»Ach so, ja«, sagte Alexander. Warum war die Wahrheit Platons erst zu haben, nachdem man jahrelang in die Gesichter solcher Lehrer geblickt hatte?

»Kopf hoch!« Der wollte freundlich sein. Alexander hatte mehrere Bilder vor Augen. »Kopf«: Klaus Störtebeker tauchte auf, wie er in Hamburg auf dem Grasbrook ohne Kopf an zwölf Getreuen vorbeilief. Und Hermann Göring, Rosenheims zeitweise vielgenannter »großer Sohn«, in Nürnberg mit Kopfhörern vor Gericht.

»Na dann …!« sagte der Lehrer. Alexander erinnerte sich daran, wie er gesagt hatte: »Es fehlt der Esprit!«

»Jawohl«, antwortete er jetzt, »Ihnen auch!« Er wechselte so eilig auf die andere Brückenseite, als wollte sich dort wirklich einer vom Geländer stürzen.

Eine Niederlage. Wenn man reden konnte, dann auch im Schneetreiben mit so einem – was war er denn? »Ein Rindvieh«, sagte Alexander. Bei einzelnen Wörtern war er treffsicher.

Er ging wieder durch die in Schnee gehüllte Stadt und überlegte, welche Antworten T. E. Lawrence formuliert und wie Peter O'Toole sie vorgetragen hätte. Er wußte schon, warum er reden können wollte: einschüchtern wollte er, verletzen, all diese wohlwollenden Kröten in die Flucht schlagen samt ihrem gefräßigen Lächeln, joviale Schwätzer stumm machen.

Er stellte fest, daß er den Zug nach Brannenburg verpaßt hatte. Nun wollte er per Anhalter fahren, mußte aber sehr weit gehen, bis ein Auto kam, und das hielt nicht. Er dachte an Lawrence in der Wüste, ferner an Churchills Abneigung, sich für besiegt zu erklären. »Ich habe nichts zu bieten als Blut, Schweiß und Tränen«, sagte er zu sich. Mit stoischer Miene sah er die Rücklichter des Wagens verschwinden. Der Klang eines Satzes war wichtig, der Rhythmus. »Ich habe euch nichts zu bieten als –«, das war eine Einladung wie eine Sprungschanze, und danach mußte was Gemeißeltes kommen, kurz-kurz-lang. So ein Satz brachte Menschen in Bewegung, der Sinn war gar nicht wichtig. Er begann zu üben: »… nichts zu bieten als Wut, Haß und – Hyänen. Migränen. Quarantänen …, als Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit«. Ein Gerüst mußte her, die Worte kamen von selbst.

Churchill lag im Sterben, die Radionachrichten begannen alle mit den Kommuniqués seines Arztes.

Bis zur Happinger Kreuzung dachte Alexander über Brüderlichkeit nach. Nicht, daß er von ihr viel erwartet hätte! Das war etwas für Anhalter und Leute, die sich Geld leihen wollten – die Realität war unbrüderlich. Aber dann nahm ihn immerhin ein Kufsteiner Mercedes mit, wohlgeheizt und mit amerikanischer Musik aus dem Autosuper. Im Licht der Scheinwerfer sah das Schneegewirbel aus wie eine sich verströmende Chrysantheme. Eines Tages werde ich reden, dachte er, und den anderen in aller Brüderlichkeit die Wahrheit um die Ohren hauen. Vielleicht kommt man so auch zu einem Mercedes.

3.

Mesut gehörte nicht zu denen, die sich von Besorgnissen anderer anstecken ließen. Im Gegenteil, wenn er selbst einmal unsicher war, beruhigte ihn nichts zuverlässiger als die Nervosität der übrigen. Gewiß, er war keine besonders gütige Seele, aber er gedachte als erster durchs Ziel zu gehen. Wenn ihn etwas nervös machte, dann war es ein gemütlicher, behaglich erzählender Selim.

»Beim Boxen«, sagte Selim gerade, »brauchst du schnelle Muskeln und Augen. Beim Ringen auch, aber da mußt du auch noch einen schnellen Kopf haben.« Schon ging das Erzählen wieder los, er schilderte zwanzig Minuten lang einen Kampf, der zwei Minuten gedauert hatte.

Den Kurden Niyazi kannte Mesut schon von der Gesundheitsuntersuchung in Istanbul. Der hatte sich schrecklich aufgeregt: »Sie prüfen unsere Zähne wie bei Pferden auf dem Markt! Sollen wir mit den Zähnen arbeiten?« Niyazi konnte eben nichts sportlich nehmen. Ein Schafhirt nur, aber er lebte und starb für seine Ehre. In Deutschland würde er vor Heimweh sterben oder an der Liebe, er war der Typ dazu.

Mevlut würde nur an seine Ochsen denken. Dabei war Landwirtschaft zur Zeit nur ein anderes Wort für Hungerleiden. Und Ömer? Er zeigte jedem die Photos von seiner runden Frau und seinen zierlichen Kindern und träumte von einem Friseurladen in Bursa. Für diese Ziele würden sie zittern und schuften. Er, Mesut, war anders. Ich weiß, was ich will, dachte er. Bestimmt keine Ochsen oder Frisiersessel. Vor allem wollte er in diesem Leben nie mehr geprügelt werden, sondern selbst austeilen. Er hatte die Prügel fürs ganze Leben schon als Kind bezogen, jetzt waren die anderen an der Reihe. Die mit der glücklichen Kindheit und den sanften, lieben Vätern. Wie dieser Selim, der soeben ausdauernd und strahlend davon erzählte. Ein wunderbarer Vater mußte das gewesen sein!

»Er hat mir zwei Hennen geschenkt, als ich fünf war, und einen Hahn, ein Prachtstück der Minorca-Rasse, mit breiter Brust, gut drei Kilo schwer. Und stolz! Er wußte, wie schön er war. Schwarze Federn hatte er mit einem wunderbar gebogenen Sichelschweif, und einen hohen Kamm und große, weiße Ohrenscheiben. Und wie der böse werden konnte, wenn er einen anderen Hahn sah!«

Bei Selim mußte man aufpassen, er ging von einer Begeisterung ohne Pause zur anderen über – erst der Vater, jetzt der Hahn.

»Eines Tages wurde er krank, aber wie! Krähte nicht mehr, pickte nicht, fraß nicht und ging nicht auf die Hennen – nichts! In der Nähe wohnte ein Rentner, der alles über Hühner wußte. Er hatte selber dreißig, und dazu einen schnellen russischen Hund, um die Katzen fernzuhalten. Der sagte mir: ›Dieser Hahn stirbt. Er hat unverdauliche Blätter gefressen, die seinen Kropf aufblähen. Sofort schlachten!‹ So lautete das Urteil. Ich habe erst mal geheult. Der Hahn konnte nicht richtig atmen und wurde von Stunde zu Stunde schwächer und trauriger. Da sagte ich zu ihm: ›Keine Angst, ich operiere dich!‹ Das tat ich dann auch, leicht war's nicht!«

Dieser Selim war kaum ernst zu nehmen, aber er war immerhin Sportler und fürchtete sich, wie er sagte, nur vor Hunden, weil er mit denen weder ringen noch reden konnte. Einen Moment lang dachte Mesut an Karabaş, einen zwei Wochen alten Jagdhund mit schwarzem Köpfchen, ein tapsiges Hundebaby, das er bei den Verwandten hatte zurücklassen müssen. Zu Menschen hatte Mesut nicht viel Vertrauen. Was er liebte, waren Hunde.

Ewig würde das Abenteuer nicht dauern. Es gab einen Zwölfmonatsvertrag mit der Kieler Werft, der Grundlohn betrug zwei Deutschmark und neunzig Pefnik – so hießen hier die Kuruş.

»Wir sind in Deutschland schon fast hunderttausend«, warf er ins Gespräch. Die anderen sahen ihn an und rätselten, was das wohl heißen sollte. Nein, er sagte nichts weiter, das war seine Taktik. Er merkte, wie Ömer ihn zu bewundern begann, weil er so kurz die wichtigen Dinge sagte und dann darauf verzichtete, sie für irgendwelche Idioten nochmals zu erklären. Wer nicht verstand, was Mesut sagte, war eben zu langsam und zählte nicht. Mevlut zum Beispiel. Der konnte nur meckern, beten und vielleicht noch Fahrrad fahren. All das lernte in der Gegend von Konya jeder. Selim erzählte schon wieder von einem anderen Kampf.

»›Den schlägst du nicht‹, sagten sie mir, ›der ist Weltmeister, und das ist die harte Wahrheit.‹ Ich fragte: bitte wieso? Das ist ein Mann mit Armen und Beinen wie ich! Ich mache die Wahrheit selbst, ich bin Ringer!«

»Und?« fragte Niyazi, Selims bester Zuhörer.

»Gewonnen habe ich! Leider war es nur ein Trainingskampf.«

Mesut ahnte, daß Selim zu der Sorte gehörte, die ihm Schwierigkeiten machen konnte. Wenn Selim Erfolg hatte, dann auf andere Weise als er: mit den anderen, nicht gegen sie. Mesut fühlte sich unfähig zur Bewunderung von Eigenschaften, die er nicht selbst besaß. Mißgünstig betrachtete er Selims Bewegungen. Starke Muskeln hatte er wie alle Ringer, war aber dabei zierlich und beweglich. Noch waren ihm auf der Matte die Ohren nicht breitgerieben worden. Bei erfolgreichen Ringern hatte Mesut bisher immer die traurigsten Blumenkohlohren festgestellt.

»Gut, ich habe also in der Brücke ausgehalten, bis die Zeit um war. Dem fiel einfach nichts mehr ein, ich war Sieger nach Punkten. Dabei bin ich normalerweise kein Held, sondern ein Techniker.« Es war sofort klar, daß bei Selim Techniker höher rangierten als Helden.

Irgend etwas in Selims Wesen war massiv wie ein Haus. Den brachte keiner so leicht vom Fleck, wenn er es nicht selbst wollte.

Regentropfen liefen waagrecht übers Fenster. Draußen zog das kalte, windige Europa vorüber, drinnen erzählte sich Selim ins helle Licht seiner Punkt- und Schultersiege hinein, und alle durften sich dran wärmen. Daß er wirklich Ringer war, konnte der Kundige sofort an der Halspartie erkennen. Selim fand kaum ein Hemd, bei dem er den obersten Knopf schließen konnte, und wenn er es doch tat, blieb man besser in Deckung.

Vor den Deutschen schien er auch keine Angst zu haben. Seine Istanbuler Großtante war mit einem vom deutschen Konsulat befreundet gewesen, Selim wußte also über dieses Volk so gut wie alles. Außerdem kannte er die Namen verschiedener deutscher Ringer, vor denen er ebenfalls keine Angst hatte. Und er war mit Ahmed, einem türkischen Ringer, in Hamburg verabredet – er wußte schon, wohin in diesem Land.

»Ich habe als Kind sogar noch Bilge und Doğu trainieren sehen. Und Atlı habe ich mal in der Straßenbahn getroffen – ihr kennt doch Atlı, den, der so geschielt hat! Sein Gegner Tahti hat sich darüber beim Ringrichter beschwert, er sagte: ›Man sieht ja nie, wo der hinguckt!‹ Das war Tahti der Perser – der Revolutionär, den sie später hingerichtet haben. Na gut, Atlı saß also in der Straßenbahn. Ich fuhr schwarz und kletterte bei jedem Halt in einen anderen Wagen – immer dorthin, wo der Schaffner nicht war, fliegen konnte er ja nicht. Atlı merkte das und grinste mir aufmunternd zu. Wirklich, der große Atlı hat mir in die Augen gesehen! Mit dem einen Auge natürlich nur, mit dem anderen sah er sich die Schaufenster an.«

Selim hatte die Gabe, sich durch nichts unterbrechen zu lassen. Er stahl allen anderen die Zeit, aber er belohnte sie durch Geschichten und sein jungenhaftes Strahlen. Wie ein sonniges, kräftiges Baby, dachte Mesut, und das war es eben, was ihn ärgerte. Glückskinder mochte er nicht. Er tröstete sich. im Leben nützte das nichts, da gewann man nur mit Härte und Kälte, mit Disziplin und überlegener Taktik.

Mevlut nahm unbewußt Mesuts Gedanken auf: »Ich habe nichts Lustiges erlebt, aber ich bin weiß Gott ein harter Bursche. Keiner von euch ist so verprügelt worden wie ich! Mein Vater sagte zum Lehrer: ›Das Fleisch sei dein, aber die Knochen gehören mir!‹ Mein Vater war schon brutal, aber der Lehrer, das war ein Experte.«

»Na und?« fragte Mesut.

»In Deutschland gibt es das nicht«, unterbrach Ömer, der an die Deutschen glaubte wie an Märchenhelden. »Und das ist gut. Man soll Kinder lieben und nicht kaputtmachen.« Jetzt kam also eine pädagogische Diskussion, Mesut hörte gelangweilt weg. Überrascht nahm er wahr, daß Selim ohne weiteres das Thema wechselte, indem er von einem deutschen Ringer erzählte. Das war an Selim erstaunlich: er konnte bei jeder Unterhaltung blitzschnell auf das kommen, was er selbst mitzuteilen hatte.

Der Deutsche, von dem er sprach, war wohl wirklich ein Held gewesen; er hatte Adolf Hitler den Gruß verweigert und dafür mit dem Tod gebüßt. Halbschwergewicht, er hieß Veriner Selene Bineder. Allerdings Kommunist. Nie gehört den Namen. Im Deutschen waren vermutlich die Eigennamen das Schwierigste, der Rest lernte sich. Vor allem die wichtigen Schlüsselwörter mußte man lernen, die einen starken Eindruck machten. Jedenfalls bringt mich niemand um, wußte Mesut. Ich bin Stratege, die werden sich wundern.

Als sie die türkisch-bulgarische Grenze passiert hatten, begann Selim von der Zukunft zu reden. Er sagte, daß er nicht lange Arbeiter bleiben würde. Er könne arbeiten, aber was er werden wolle, sei: unabhängig, Unternehmer, Kapitalist! Andächtig hingen alle an Selims Mund und waren ganz seiner Meinung. Das ärgerte Mesut erneut.

»Wenn wir nur an das verdammte Geld denken, sind wir so gut wie verloren!« sagte er großartig. Die Gefolgschaft wandte sich ihm wieder zu: Mesut, der Heilige. Er dachte für sie, er sprach das Wichtige und Rettende aus. Und er vermied es, auch nur eine Silbe mehr zu sagen, sondern trank in Ruhe einen Schluck Wasser. Ein bedeutender Mann.

»Wie wär's?« fragte Selim. »Spielen wir eine Runde Tavla?«

Was war das nun wieder? Die vaterländische Stimmung war dahin, und alle wollten nur noch sehen, wer besser Tavla spielte. Ömer langte schon das Brett aus dem Gepäckständer herunter.

Gut! Irgendwann mußte dieser Kraftmensch seine Lehre bekommen. Beim Tavla gewann man nicht mit Muskeln oder schönen Geschichten. Mesut fing an und warf sechs-vier. Er wählte die strategische Eröffnung: ein Renner auf Punkt elf. Alle sahen mit großen Augen dem Spiel zu, wie Kinder.

Keiner von ihnen war älter als zweiundzwanzig.

4.

Der 22. Januar 1965, ein Freitag, ging zu Ende.

Viele sprachen miteinander, vor dem laufenden Fernseher oder in einer ausreichend geheizten Kneipe. Über die voraussichtlichen Verkehrsstockungen am nächsten Tag, aber auch über glückliche Zufälle, erlittene Frechheiten, Hallentennis, Minister Buchers Rücktrittsabsichten und die Debatte um die Verjährung von Naziverbrechen, den zweiten Bildungsweg, die Gefahren des Alkohols, die Preise für Fausthandschuhe und Grundstücke, Heilungschancen bei unheilbaren Krankheiten, laufende Prozesse. Man sprach aus Wichtigtuerei, Mitleid, Bosheit, Hilfsbereitschaft, zur Beruhigung oder um aufzustacheln. Man redete, um andere zu gewinnen oder fernzuhalten. Der Alkohol tat seine Wirkung: die Verbesserung der Welt hatte man im Sinn oder wollte ganze Kontinente schlechtmachen. Man verhandelte, schmeichelte, drohte, gestand zu, höhnte, sang gute und böse Lieder. Vor allem stellte man sich dar: »Ich persönlich bin ein Mensch, der …«, und man wollte Menschen um sich haben, die dem zustimmten.

In Degerndorf am Inn, in einem Haus am Hang, setzte ein junger Mann sich die Kopfhörer auf und hörte mit einem uralten Detektorempfänger die nächtliche Mittelwelle durch. Wenn man mit einer Silbernadel auf einem Kristall nach der für den Empfang besten Stelle tasten mußte, wurde alles Gehörte zu einer Kostbarkeit, ausgenommen die deutschen Schlager. »Ippi tippi tippso, beim Calypso ist dann alles wieder gut« – schnell tastete er weiter. Hinter dem erbarmungslosen Maschinenrhythmus eines Störsenders stieß er immerhin auf eine verwehte Klaviersonate. Kaum hatte er sie etwas vom Lärm getrennt, verschwand sie wie ein Schiff in der Ferne.

Ein Rosenheimer Lehrer erzählte seiner Frau, er sei einem ehemaligen Schüler begegnet, einem etwas linkischen, aber nicht unintelligenten Burschen.

»Er wird es nicht leicht haben, er versucht immer, was er nicht kann. Gegen mich hat er was. Klar, das Übliche.«

»Wie hat er denn das Abitur geschafft?« fragte die Frau.

»Im Schriftlichen geht es. Theoretiker mit leichtem Größenwahn. Niemand will ihm zuhören, aber es wundert ihn nicht. Eines Tages tun alle, was er sagt, und es wundert ihn auch nicht.«

In einer Villa in Frechen wurde ein siebzehnjähriges Mädchen von seinem Vater beschimpft. Schöne Frauen galten ihm als Huren, der Himmel wußte warum, und mit Bestürzung hatte er schon vor Jahren feststellen müssen, daß seine Älteste schön wurde. Zum Unglück für alle war er hochgeachtet, Widerspruch nicht gewöhnt und in seinen Irrtümern nicht zu beirren. Heute hatte die Tochter sich nachgiebig und freundlich gegeben – für ihn ein Zeichen von schlechtem Gewissen, seine Wut war groß.

Eine Stunde nach Mitternacht stand sie auf, verließ leise das Haus, stahl Vaters Opel aus der Garage und fuhr nach Köln, um ihn dort gegen einen für sie gefälschten Schweizer Paß einzutauschen. Es geschah Vater recht, warum zwang er alle, ihm nach dem Mund zu reden? Fieser Kerl, dieser Vater. Im Leben viel Mist gebaut und drei Fabriken. Sie aber wollte nach Holland.

Auf dem Glatteis rutschte ihr der Wagen von der Straße und stak hilflos im Schnee. Der Abnehmer sah das Geschäft gescheitert und wollte den Paß behalten. Es gelang ihr aber, auch diesen zu stehlen und damit zu flüchten. Sie bat eine Frau, die mitten in der Nacht ihren Volkswagen startete, sie irgendwohin mitzunehmen, »am besten Richtung Holland«. Die Frau fuhr nach Hamburg. Es war eine verständnisvolle und gescheite Frau. Deshalb fand sie schnell heraus, daß die Ausreißerin sich schwanger fühlte und abtreiben wollte. Sie beschloß, sich um sie zu kümmern.

Ein anderes Mädchen, Schweizerin aus den Bergen über Martigny, verbrachte im Rheinland ihre erste Nacht im Kloster. Bücher über Therese von Avila und Edith Stein hatte sie gelesen, und ihr weiterer Weg schien klar. Sie betete und sang gern, von Liebe war sie erfüllt, zum Gehorsam fühlte sie sich fähig. Sogar dem Schweigegebot glaubte sie folgen zu können. Nur würde sie als Klosterfrau auf den Skisport verzichten müssen, schade. Im Val des Bagnes hatte es im Slalom kaum eine Bessere gegeben als sie. Daß ihr der Paß gestohlen worden war, hatte sie noch nicht bemerkt.

Bei Plovdiv hielt der Zug aus Istanbul eine Stunde lang. Mesut klappte das Tavlabrett zu und machte eine schmallippige Bemerkung über Spielerglück und glückliche Würfe. Selim hatte ununterbrochen gewonnen, mal einfach, mal doppelt.

Mesut sprach von Glück, Selim von Strategie und Taktik. Und er erklärte Mesut ganz freundlich dessen Fehler, das war das Schlimmste. Es roch nach einer Feindschaft fürs Leben. »Taktik? Du spielst mit der Brechstange und hast dabei noch Glück!« sagte Mesut. »So spielt man vielleicht bei euch da unten, bei den Griechen um die Ecke …«

»Mann«, antwortete Selim, »du redest wirklich wie einer aus Ankara!« Niyazi hatte die gute Idee, das Licht auszuschalten, die Gespräche verstummten.

Ich werde mächtig, dachte Mesut.

Ich werde Onassis, dachte Selim.

Eine halbe Stunde später schliefen alle fest.

Sie hatten noch nichts miteinander zu tun und wohnten an verschiedenen Orten: Alexander, ein Soldat mit Abitur aus Degerndorf am Inn, die schöne Gisela aus Frechen bei Köln, die fromme Geneviève aus der Schweiz. Diese war sogar sicher, daß in ihrem Leben Männer keine Rolle mehr spielen würden, ganz zu schweigen von einem nordwesttürkischen Meister im griechisch-römischen Stil. Und der Stratege Mesut aus Ankara wußte, daß er in dieser Welt nicht zu den Betrogenen gehören würde.

Berlin war für alle noch weit, aber einiges hatten sie doch gemeinsam: sie waren zwischen siebzehn und zweiundzwanzig; niemand von ihnen neigte dazu, Kompromisse zu machen; sie bekamen etwa das gleiche Wetter und dieselben Temperaturen zu spüren; sie versuchten sich Tag für Tag in der deutschen Sprache zu vervollkommnen, um nicht durch Stummheit Chancen zu verpassen.

Und alle wollten erst nach großen Erfolgen dorthin zurück, wo sie hergekommen waren. Vorher auf keinen Fall.

5.

Im Traum lag vor Alexanders Augen die größte Arena der Welt, ein Riesenbau, mit zahllosen ineinander verschachtelten Tribünen in die Felsen hineingebaut, mit weiten Flächen voller Menschen wie bei einer Revolution, und immer saßen auch kleinere Gruppen separat über oder neben den anderen in Logen und Nischen. Es waren einfach alle anwesend. Das gab es also: einen einzigen Ort für die ganze Gattung.

Alexander saß in der letzten Reihe unter den Felsen. Das war nicht gerade der beste Platz. Neben ihm waren aus gutem Grunde die Sitze frei geblieben: hoch darüber nisteten in den Felsspalten die Tauben, die Dohlen und Mauersegler. Die ließen unglaublich viel herunterfallen auf die letzten Ränge des Welttheaters, immerzu tickte und pitschte es, die Sitze waren braun und grau gesprenkelt. Er sah hinauf zu den Felsen. Ja, da saßen sie, flogen ab und zu auf, linsten neugierig herunter aus Ritzen und Nestern. Unter ihnen, auf halbem Wege hinauf, hingen andere, klobigere Lebewesen in der Wand. Das waren Kühe. Sie hatten es den Tauben und Seglern gleichtun wollen, und jetzt wußten sie, daß sie weder fliegen noch klettern konnten. Ziemlich grüblerisch hingen sie da in der Wand und fühlten sich unwohl, denn sie konnten weder vor noch zurück. Alexander formte die Hände zu einem Trichter und rief hinauf: »Von wegen ›Esprit‹! Und jetzt?«

Er sah wieder nach vorn. Da schlenderte jemand durch die Reihen und nahm Anmeldungen für die Rednerliste entgegen: Wilhelmine Lübke, die Frau des Bundespräsidenten. Sie schaute liebenswürdig-verschmitzt wie eine in der Sonne spazierengehende Katze. »Wer möchte noch etwas vorbringen, eine Rede halten, wer?« Sie beugte sich mal hierhin, mal dorthin und kam immer näher wie eine Eisverkäuferin. Alexander horchte in sich hinein: wollte er? Wollte er nicht?

In geringer Entfernung sah er einen Mann, der aufmerksam hersah und ihm zunickte. Sein Bruder wohl. Guck an, der war also keineswegs tot. Stumpfsinnig sah er jedenfalls nicht aus, das beruhigte. Mit längst verstorbenen Brüdern konnte man schön hereinfallen. Dieser da, der wollte bestimmt, daß er redete.

Ihm fiel ein: es gab wirklich etwas mitzuteilen. Von einem Augenblick zum anderen war der Zusammenhang da. Er erinnerte sich an einen Film, den er gesehen hatte, den größten der Welt, amerikanisch natürlich, er enthielt alles, was je geschehen war. Noch konnte ihn keiner kennen – er hatte ihn in einem Kino gesehen, von dem nur wenige wußten. Der Film erzählte die lange Geschichte der Völker und ihres Elends, und wie unverwüstlich und verrückt die Menschen waren. Sie hofften, liebten sich, verstanden sich nicht, taten einander weh, bereuten schrecklich, hofften wieder. Das ging nun schon Hunderte von Generationen so, und ständig wurde doch nur gestorben, mehr kam nicht zustande. Der Film hatte einen Titel, und jetzt wußte er ihn wieder: »A Mickey Mouse for little Jesus«.

Darüber mußte er reden! Kraft und Liebe durchströmten ihn. Er war erleichtert darüber, daß der Alptraum von Stummheit und Verwirrung nun ein Ende hatte. Keine Rede halten – nur liebevoll einen Film erzählen – so einfach war das!

Mit den Tauben in den Felsen wollte er anfangen, und mit dem Unglück verstiegener Rindviecher – das war die Gegenwart, von ihr her war alles beleuchtet. Alexander sah in Wilhelmines Katzenaugen und sagte mit fester Stimme: »Okay!«

Schon war er dran, das ging rasch. Er machte sich auf den Weg nach vorne zur Brüstung, damit alle ihn sehen konnten. Einen Moment lang stand er ruhig da und sah die Menschenmengen auf den Terrassen im Felsgebirge und in dem riesenhaften, dunstigen Stadion, das sich in der Ferne verlor und alles in sich versammelte: Städte und Strände, Strandkörbe, Sandburgen, alles, und auch alle übrigen Arenen der Erde. Jetzt mußte er nur seine Kraft und Wärme weitergeben. Ob sie für so viele reichte?

Er wußte noch nicht genau, wie anfangen. In seiner Nähe legten schon einige den Kopf schief, teilnahmsvoll oder wie Schwerhörige, die nichts verpassen wollten. Sein Bruder war plötzlich viel höher oben auf einem der seitlichen Ränge, er sah mit einem brütenden, mißgelaunten Ausdruck herunter.

»Ich habe mich hier auf einen Platz gestellt!« begann Alexander. Er versuchte, seine Atmung unter Kontrolle zu bringen.

»Na gut. Ich hoffe eben, daß hier alle mich hören werden.« Und wenn nicht?

Jetzt merkte er schon: es drohte Gefahr. Was wollte er denn sagen? Im Hirn nur Gefitzel. Es war etwas mit – über die Welt war es! Okay, okay. Jetzt half nur Frechheit.

»Überhaupt möchte ich gleich mal sagen, daß ich es einen ziemlichen Skandal finde, also, ein Stadion wie hier, das hat ja viele Milliarden gekostet, und dann weiß man nicht einmal, ob einen überhaupt alle hören!«

Ekelhaft spärlicher Beifall von höchstens zehn Leuten ganz in der Nähe. Er tat ihnen wohl leid. Sein Bruder war damit beschäftigt, Leute zu beobachten. Der alte Trick: ich bin auf deiner Seite, ich beobachte für dich die Leute. Alexander horchte in sich hinein, hörte Gefasel, ließ es gar nicht erst heraus. Die Pause dauerte schon zu lange, die Uhr lief ab. In der Tat: da war sie, die Rokokouhr über der Bühne. Bühne? ja, die Arena schnurrte jetzt zusammen, sie war kaum noch größer als der Saal in Gillitzers »Hotel Deutscher Kaiser«, und die Felsen trieben Stuckverzierungen heraus, als wollten sie tröstend sagen: »Alles gar nicht so felsig hier.«

Er sprach immer noch nicht. Dabei hatte er eine Erkenntnis, die er sich später aufschreiben wollte: das einzige, was man durch Stummbleiben garantiert nicht vermeiden kann, ist eine Pause.

Das felsige Rokokotheater wurde unruhig, weil nichts kam, keine Kraft, keine Wärme. Alexanders Blick traf in den von Wilhelmine, die ihm ermutigend zunickte. Da war's ganz aus. Im Kopf herrschte Luftmassentrennung: kalt gegen warm, klar gegen bedeckt, ein Wirrklima.

21. Januar 1980

Jetzt schreibe ich schon eine Woche lang.

Gisela ist für zwei Tage in Berlin. Wir frühstücken in ihrem Hotel. Als ich ihr erzähle, daß der Roman auch von Selim handelt, fragt sie sofort, warum. Ich sage: »Die Türken interessieren mich mehr am Rande, wichtig ist mir nur er.«

»Weißt du viel von ihm?«

»Was er mir erzählt hat: fünf Spiralblocks voll. Und dabei kamen wir erst bis 1970. Mesut hat auch ein paar Geschichten geliefert.«

Ich lese ihr die Passage vor, wo sie im gestohlenen Auto von zu Hause flieht. Sie sagt, ihr Vater habe eine einzige Fabrik gegründet, nicht drei. Das sei kein Einwand, sie sei nur neugierig, warum mir drei lieber wären. Ich bin ertappt: ich weiß es nicht.

Gisela geht noch immer auf jeden los, der den Verdacht erregt, sich etwas vorzumachen. Inzwischen paßt es zu ihrem Beruf Sie ist Politikerin aus Passion, liest mit Begeisterung dicke Akten, sammelt und formuliert Argumente. Es gibt kaum ein Stück Politik, das sie nicht erbarmungslos kritisiert, aber das geschieht in guter Laune: sie spricht als die, die es früher oder später besser machen will.

Von Selim keine Nachricht. Er wollte letzte Woche aus der Schweiz zurück sein. Ich würde ihn gern fragen, was aus Mevlut, Niyazi und Ömer geworden ist.

25. Januar 1980

Morgens Telephongespräch mit meiner Mutter, die mich in der Livesendung gesehen hat. »Alexander, bei so was müßtest du eine Krawatte anziehen!«

In Bayern schneit es seit Tagen. Ich sage: »Das paßt zum Anfang des Romans.« Sie antwortet: »Du wirst dich überarbeiten!«

Zweites Kapitel

Reise in den Winter

6.

Alexander wachte in seinem durchgeschwitzten Pyjama auf und ließ die Bettdecke los, die wohl seinen Untergang hatte verhindern sollen wie ein Rettungsring. Sein Gehirn erinnerte sich sofort wieder, mit höhnischer Zuverlässigkeit, an »Mickey Mouse for little Jesus«. Sein Puls wurde wieder langsamer.

Wenn er in diesem Stadion so angefangen hätte: »Ich habe euch nichts zu bieten als –«, dann wäre alles gutgegangen. »… als Tauben, Dohlen und Mauersegler. Von den Rindviechern müssen wir auch reden. Dort« – Handbewegung – »hängen sie in der Wand und sind doch alles andere als Dohlen oder Tauben.« Dann noch fünf, sechs Sätze, und die Welt war einleuchtend dargestellt. Oder wenn er gesagt hätte: »Reden ist immer das Reden der Stummen«, »Himmel ist immer der Himmel – über den Landfremden«, genau so, oder »Freiheit ist immer die Freiheit …«, nein, »Heimat ist immer die Heimat der Probleme« – tautologisch anfangen, und dann ein Gag! »Brüderlichkeit ist immer Brüderlichkeit gegenüber Schwestern«, »Gott ist immer der Gott, der uns alleinläßt« – Sätze gab es wie Sand in einer Arena, und mit Wörtern konnte er umgehen.

Er stand auf und ging zum Dachfenster, aus dem er über das im Morgengrauen weiß schimmernde Inntal hinsah. Das Wetter war klar und frostig heute. Er verließ die Dachkammer und schaltete das Licht ein, um nicht in eine der Mausefallen zu treten. Durch die Gaube sah er nach St. Margarethen und zu den runden Schneebuckeln vor dem Wildalpjoch hinauf. Unten im Haus pfiff der Wasserkessel und wurde abgestellt. Jetzt kam die Stimme des Nachrichtensprechers dazu, einen Moment lang brüllend laut, dann rasch leiser gedreht. Schon der Wetterbericht. Metallisches Stochern klang vom Kamin her, ein ungeduldiges Geräusch, Mama war beim Heizen. Er wusch sich fröstelnd und zog sich an. Als erstes hieß es Ausschaufeln bis zur Straße, es hatte die ganze Nacht geschneit.

»Ich habe eine Liste gemacht«, sagte Mama beim Frühstück, »weil du nur so kurz da bist. Erstens das Moped! Kannst du das mal aus der Garage wegtun? Am besten in die Holzlege. Oder soll ich's verkaufen?«

Du lieber Gott, wieviel Geld würde es noch geben für eine alte, verschrammte und defekte NSU »Quickly«?

»Zweitens die Standuhr, die türkische in der Diele. Die bleibt vollaufgezogen stehen. Da müssen sich wieder die kleinen Stifte verbogen haben, an diesem Rad mit den kleinen Stiften.«

Die türkische Uhr stammte, wie alles Ehrwürdige im Hause, vom Großvater. Er hatte sie von irgendeinem Pascha geschenkt bekommen, als er ihn im alten Konstantinopel besuchte. Fast hundertfünfzig Jahre war sie alt, 1818 in London gebaut, vielleicht sogar für den Sultan. Ferner stammten vom Großvater etwas über dreißig kapitale Jagdtrophäen, ein antiker Sekretär und ein halber Dachboden voll feiner Reisekoffer, in denen jetzt die Mäuse hausten.

»Ich sehe mir die Uhr an. Ich muß allerdings morgen schon wieder weg.«

»Ach, du bist ja kaum da! ›Familienheimfahrt‹ nennen die das? Und gestern abend hast du nur oben herumgebastelt.«

Ach habe die Antenne befestigt und Detektor gehört.«

»Das würde deinen Vater freuen, daß du mit seinem Spielzeug etwas anfangen kannst.«

»Mußt du morgen auf Tour?« fragte Alexander.

»Und ob! Hoffentlich springt er mir an bei der Kälte. Leider geht der Schaumstoff immer schlechter. Der Raglanschnitt kommt aus der Mode, ich bleibe auf meinen ganzen Schulterpolstern sitzen.«

Sie erzählte von den Ärgerlichkeiten des Vertreterberufs, kam von den Schulterpolstern auf den Sommer, vom Auto auf die Verwandten, von Tanzstundenerinnerungen auf die Mäuseplage. Mamas Welt war Text. Auf einem Luftkissen aus Worten glitt sie dahin, mit hundert Erwähnungen nebenbei, Plädoyers, Anekdoten, Verurteilungen umrundete sie ständig ein ausgedehntes Revier und hielt es zusammen wie ein Schäferhund die Herde. Sie war, wie sie selbst sagte, ihrem Vater ähnlich, dem Geheimrat, der stets aus dem Stand eine Rede hatte halten können, in der alle Anwesenden vorkamen. Die hatten ihm daher auch immer gut zugehört, sogar der Gazi, der Mustafa Kemal hieß, später Atatürk.

»Schaumgummi wird immer gebraucht werden, Mama. Denk an die BH-Einlagen!«

»Warten wir's ab. Eines Tages entdecken sie wieder die flache Brust, dann stehe ich schön da!«

Alexander dachte an die vielen Formschalen in verschiedenen Größen, die im ehemaligen Mädchenzimmer lagerten. Oft hatte er sie aufeinanderstapeln müssen. Für die Brustwarzen gab es glücklicherweise ein genau passendes Loch in der Hohlseite der jeweils nächsten Schale, so entstanden solide kleine Türme.

»Unverkäufliche Bestände kannst du doch zurückgeben. Dann werden sie eingeschmolzen, vielleicht zu Radiergummis.«

»Was hast du denn Schönes gemacht in München?« Er ärgerte sich über »Schönes«. Sie wollte ja nur wissen, warum er nicht auf dem schnellsten Wege nach Hause gefahren war.

»Schulfreunde besucht, einen Lehrer getroffen …«

Er ließ das Kino unerwähnt und auch, daß er eigentlich eine ehemalige Schulfreundin hatte besuchen wollen, die aber verreist war. Er hatte noch nie mit einer Frau geschlafen und mit jener auch nur fast. Bis zum Ende der Rekrutenzeit wollte er das geschafft haben. Daß sie keine Schalenpolster aus Mamas Vorräten brauchte, hatte er schon festgestellt. Vielleicht versuchte er es doch lieber vorher zur Probe mit einer anderen. Aber er hatte sich das hundertmal vorgestellt, es konnte kein Problem mehr sein.

7.

Inzwischen war Gisela in Hamburg. Die Frau mit dem Volkswagen gab ihr einen Tee aus Schlangenwurzel und Beifuß zu trinken – wenn der normale Zeitpunkt der Regel wirklich erst eine Woche her sei, könne das helfen. Außerdem massierte sie eine Stelle in der Nähe der Fußknöchel. Wie Gisela dabei erfuhr, war sie geschieden, hatte eine zweijährige Tochter, Anna, die aber ihrem Mann zugesprochen worden war. Sie lebte allein.

Ständig zogen auf der Elbe Schiffe vorbei. Wenn Gisela das Maschinengeräusch hörte, versuchte sie zu erraten, in welcher Höhe des Fensterrandes das Schiff erscheinen würde. Oft erschien nach großem Lärm nur ein winziger Lastkahn, dann wieder, leise wie ein Geist, ein riesiger Dampfer, der das ganze Fenster ausfüllte.

Hermine hatte auch nach dem Beinahe-Kindesvater gefragt. Was sie für ihn fühle und wie er sich verhalten habe. Gisela hatte nicht verstanden, was an Klaus so interessant sein sollte. Ein Mitschüler eben, Brillenträger, und keine Ahnung von irgendwas.

Hermine arbeitete tagsüber in einer Bibliothek, sie war Wissenschaftlerin. Überhaupt der klügste Mensch, dem sie je begegnet war, keiner ihrer Lehrer kam da heran.

Am schönsten fand Gisela, daß sie jetzt »Geneviève« hieß und einen bildschön gefälschten Schweizer Paß hatte, der sie sogar um ein Jahr älter machte. Leider sprach sie weder französisch noch schweizerisch, mußte sich also für Kontrollen noch eine Geschichte ausdenken.

Von einer Zelle aus rief sie ihren Vater an. Der hatte seinen Wagen schon wieder und redete süß und sanft, um ihren Aufenthaltsort herauszufinden. Nein, sie wollte nicht zurück!

Vielleicht sah sie in zehn Jahren wieder einmal nach ihm, wenn sie mit irgendwas berühmt geworden war. Wie die Zukunft auch aussehen mochte, sie hatte immerhin schon eine Freundin in Blankenese.

8.

Beim Bäcker Widuwilt in Kiel kam am Sonnabend mittag Besuch: Dörtes Bruder hatte eine Nachtschicht hinter sich, war übermüdet und aufgedreht und wollte vor dem Schlafengehen ein wenig reden. Natürlich erzählte er ununterbrochen aus der Werft, aber er lebte eben für seine Arbeit. Gelangweilt stand Dörte dabei.

Ein Schiff bauten sie jetzt, einen Frachter für den Gipstransport, der sich an der Pier mit eigenen Förderbändern leerschmeißen konnte. Das ist wie Gebären, dachte Dörte. Sie sah ein Schiff vor sich, aus dessen Bauch ein kleineres Schiff herauskam. Es sah aus wie eine Miniatur des großen.

»Wir werden jetzt auch einen 169000-Tonner bauen«, sagte der Bruder, »für Shell, fünfzig Millionen Mark. Die Docks sieben und acht werden für den Sektionsbau vergrößert. Es ist ganz schön was im Gange!« Er schien glücklich darüber. Vielleicht heiratete er nicht, weil er die Werft hatte.

Acht Jahre war sie jetzt Bäckersfrau, und kein Kind. Sie hatte sich untersuchen lassen: alles in Ordnung! Und dann hatte sich der Mann so verändert, und im Bett hatte er keine Lust mehr. Es käme von der Hitze in der Backstube, hatte eine Freundin gesagt. Aber das stimmte nicht: es gab jede Menge Bäcker, die nichts anbrennen ließen. Es gab überhaupt andere Männer. Mit ihm hatte sie nur noch Ärger. Bestenfalls war er ängstlich besorgt, daß irgendwas zu viel Geld kosten könnte, ein Kind zum Beispiel.

Weggehen, dachte Dörte Widuwilt, weit weg. Mit einem Türken nach Anatolien, warum nicht? Die hatten Kinder gern, und sie wollte nun mal eines. Auch mehrere.

Ein dunkles Kind kriegen, dachte sie, ein dunkles Kind. Sie lachte geheimnisvoll, und ihre Augen blitzten die beiden Männer an. Die kamen ohnehin nie dahinter, was sie dachte. Sie fragten gar nicht erst.

9.

In Süddeutschland schneite es nun schon dreißig Stunden. Die Flocken waren so groß, daß die Kinder sie aufzufangen suchten wie etwas Kostbares von ganz oben. Noch war der Schnee relativ feucht. Es ließen sich riesige Schneemänner daraus zusammenpappen. Gegen siebzehn Uhr wurde es dunkel, da mußten die Kinder ins Haus und die Schuhe gut abputzen. Ob sie denn gar keine Schularbeiten zu machen hätten, fragten die Eltern. Es war eben ein Samstag, da fragt jeder, was der andere eigentlich zu tun hat.

Alexander hatte die Uhr repariert, das Moped verstaut, Holz gehackt, erneut Schnee geschaufelt, seine Stiefel mit Zeitungspapier ausgestopft, Béla Bartók gehört, Filmkritiken eingeordnet, gegessen, beim Abspülen geholfen und seiner Mutter zugehört. Das war alles. Er fragte sich, wie ein Tag, an dem so wenig Bedeutendes vollbracht wurde, so rasch vergehen konnte.

In Norddeutschland rieselte nur feiner, weißer Staub vom Himmel, es knackte vor lauter Frost. In Kiel wehte dazu von der See her ein kleiner, tückischer Luftzug, die Kälte fraß sich durch bis zu den Knochen. Im Freien zog man den Schal über den Mund und sprach keine Silbe. Wer ein Feuer nachzulegen hatte, tat es sorgfältig und sparte nicht an Kohlen.

In der Wohnbaracke der Werft wurde es trotzdem nicht richtig warm, man behalf sich mit Schnaps und wollenen Decken. Die Betten, in denen ab Sonntag abend Selim, Mesut, Ömer und die anderen schlafen sollten, standen bereit und waren – das ist im kälteren Teil der Welt das ungeschriebene Gesetz für Neuankömmlinge – am weitesten vom Ofen entfernt.

10.

Zwei Tage dauerte die Fahrt nach Kiel, und bis heute abend waren sie noch unterwegs. Der Zug rollte an weißen, schattigen Bergen vorbei, von denen nur die Gipfel in der Sonne glänzten. Man war schon in Österreich, einem kleinen, aber ziemlich hochgelegenen Land, wo die Luft dünn war – »Wie in Nepal«, sagte Selim und freute sich, als man ihm glaubte, »nach Kiel geht es jetzt steil bergab.«

»Blonde Frauen haben wir schließlich auch«, sagte Ömer zu Niyazi, »ich kenne eine in Ankara, die singt im Ahu-Pavillon – blond am ganzen Körper!«

»Davon hat dir doch höchstens jemand erzählt«, sagte Mesut geringschätzig. Mesut war Unteroffizier, aber von der Sorte, die sich einfachen Soldaten gegenüber aufführte wie ein Vier-Sterne-General. Wenn ich sein Untergebener gewesen wäre, dachte Selim, er wäre seines Lebens nicht froh geworden. Eines möchte ich aber gern wissen: ob er wirklich hundert Meter in zehn Komma zwei läuft.

Ein Läufertyp war dieser Mesut auch im Reden. Er warf schnell die Worte hin und war schon wieder weg. Man konnte ihn kaum einholen und zur Rede stellen. Wenn, dann schwieg er höhnisch oder machte Bemerkungen darüber, warum man ihn das wohl fragte. Er selbst wollte es sein, der die Fragen stellte.

Ich bin anders, entschied Selim, vor allem laufe ich nicht. Dableiben, den Gegner zwingen, Stärke zeigen, das war, was ein Ringer tat. Wer die Matte verließ, hatte verloren. Laufen sollten die, die es nötig hatten. Er konnte alles, bei dem man nicht laufen mußte: Schwungkippe, Salto, die schwierigsten Übungen am Barren und Pferd. Aber er hatte keine Lust, sich vor Ehrgeiz und Disziplin verrückt zu machen und dann eine Zehntelsekunde schneller zu sein.

Aber bei Mesut hieß es jedenfalls achtgeben. Der schaute so lauernd drein mit seinem Wolfsgesicht, er betrachtete alles als Beute. Gelegentlich versuchte er sich zur Tarnung als Idealist, dann fragte er noch mehr, blickte ungeheuer ernst und sprach auf künstliche Weise ruhig, wie ein Tierbändiger. Aber wenn der Löwe doch mal die Tatze hob, rannte er hundert Meter in zehn Komma null. So ähnlich spielte er auch Tavla. Mesut konnte nicht gewinnen, weil er unter keinen Umständen verlieren wollte. Das war aber falsch, Wollen half nie. Glauben mußte man, dann kam der Sieg von selbst.

11.

Beim Frühstück am Sonntag morgen mußte Alexander niesen. Er war so in Gedanken, daß er den Reiz nicht unterdrückte und ein lautes »Hatschi!« herausschrie, statt wie üblich nur ein kurzes »Ick!« hören zu lassen.

»Denk an dein Nasenbluten!« rief Mama. »Ich sehe dich schon wieder im Bad sitzen und stundenlang tropfen!«

Weil die feinen Äderchen in seiner Nase so leicht platzten, hatte man sie ihm als Kind im Krankenhaus verätzt. Danach bluteten sie seltener, aber wenn, dann heftig. Immer wieder fand man ihn stumm über Badewannen und Schüsseln gebeugt, einen kleinen See interessant gerinnenden Blutes unter sich und unbeweglich wie eine Statue, damit sich die Nase beruhigte. Diesmal passierte nichts.

»Du hättest sie dir innen eincremen müssen bei dem Wetterumschwung! Wenn du das jetzt wieder kriegst, bist du zum Zapfenstreich nicht in der Kaserne.«

»Das wäre auch kein Beinbruch. Die können mich ja deswegen nicht …« Er stockte, weil ihm klar wurde, worauf er hatte anspielen wollen – und weil Mama es bereits gemerkt hatte und sich nervös darauf gefaßt machte: Vaters angebliche oder wirkliche Urlaubsüberschreitung 1944. Wahrscheinlich hatte er irgend etwas gegen die Nazis gesagt. Degradierung, Strafbataillon, mit dreiundzwanzig Jahren tot. Alexander hatte sich darüber früh eine Meinung gebildet. Aus der zweiten Volksschulklasse gab es noch ein Löschblatt, auf dem stand: MAN MUS MUTICH SEIN UND GLEICHZEITICH GESCHEIT.

Um die Buchstaben der Worte »MUTICH« und »GESCHEIT« hatte er deren Konturen in lauter Parallellinien weitergemalt, als schaukle jeder Buchstabe in einem Wasser und schlüge Wellen bis zum Rand des Blatts. Die Buchstaben überzogen sich gegenseitig mit ihren Echos, das Wort »GESCHEIT« verschwamm beinahe wieder.

Als Alexander den Weg zum Bahnhof antrat, studierte er liebevoll die Linien der Berge: Kranzhorn, Spitzstein, Heuberg. Hinter einem Gesteinsriegel halb verborgen lag Flintsbach, wo sein Bruder 1948 vor dem Unglück mit der Fundmunition zuletzt gesehen worden war, und noch weiter rechts der Madron mit dem Steinbruch, in dem man den Eidechsen zusehen konnte. Er mochte Eidechsen. Sie waren Verwandte der Dinosaurier, konnten aber senkrechte Wände hinaufklettern und sich durch die engsten Risse schmiegen.

Unterhalb der Astenhöfe lag der Steilhang, auf dem er 1959 bei einem vielbeachteten Sturz seine Ski zerbrochen hatte, alle beide. Die Zeit der Tapferkeitsproben: Schußfahrten mit zusammengebissenen Zähnen, Sprünge vom Dach, alles Gewaltsame, alles, was weh tat, anstrengte oder durch seine Unvernunft eine grundvernünftige Angst auslöste.

Bis zur Abfahrt war noch Zeit. Er ging auf den Steg, der über die Gleise führte. Von hier aus konnte man den aus Richtung Kufstein fast geräuschlos heranschwebenden Zügen entgegensehen, auf deren Wagenschildern italienische Namen standen: Verona, Milano, Roma Termini. Da kam die große Welt daher, und mit ihr zusammen fuhr man weiter.

12.

Bahnhof Salzburg. Der Zug stand eine Weile auf Gleis sechs. Dicht daneben hoben Arbeiter mit erstaunlicher Langsamkeit einen Kabelgraben aus. Sicherlich war es die Kälte, die sie behinderte.

Dann rollte man über ein Flußbett aus Schnee und vereisten Steinen, in dessen Mitte ein dünnes Rinnsal dahinsickerte. Die Stadt bestand aus dichtgedrängten, schmalen Häusern. Einige Kamine rauchten. Gleich darauf wieder ein Bahnhof, »Freilassing«, aber der Zug hielt nicht. Junge Leute mit Anorak, Stiefeln und langen Skiern auf dem Bahnsteig, dann ein Sekundenblick auf eine Kreuzung. Ein Mann stand an der Ampel und wartete auf grünes Licht. Dabei war er allein, kein Auto weit und breit. Die Deutschen waren korrekt. Er trug Ohrenschützer und darüber eine Schirmmütze. Ob das nun ein Bauer war oder ein Polizist, Zigarrenhändler oder Kellner, wer sollte das wissen? Selim wollte aber gleich möglichst viel über Deutschland herausfinden. Wieder ein kleiner Bahnhof ohne Halt. An jedem Lichtmast zwei Lautsprecher – es war wirklich ein reiches Land. Große Fensterscheiben überall, neue Schneeräumfahrzeuge mit gelben Blinkleuchten. Hohe, gerade Fernsehantennen.

Die Deutschen, das wußte Selim längst, stellten von allem viel zuviel her. Deshalb mußten sie ständig exportieren, und dafür brauchten sie Transportunternehmer mit guten Verbindungen. In dieser Richtung ließen sich Pläne machen.

Ich werde dieses Land erobern, dachte Selim. Ich kann schuften, aber vor allem kann ich etwas Eigenes gründen, ein Geschäft. Daran denken die anderen weniger, die wollen nur gehorsam arbeiten. Außer Mesut vielleicht, aber der wird Politiker.

Er sah wieder hinaus. Der Blick zuckte von Punkt zu Punkt durch die Schneelandschaft. Dicht neben der Bahn waren Büsche, gebeugt durch die Schneelast, seltsam, daß sie nicht zusammenbrachen. Und Spuren von hungrigen Tieren gab es, die nach Abfällen gegraben hatten – Niyazi hatte das gleich gesehen – Spuren von Menschen auch, die vielleicht schon erfroren hinter der nächsten Waldecke lagen. Ein hartes Land. Und die Menschen?

Vor Männern hatte er keine Angst, wenn sie ihm direkt gegenüberstanden, und vor Frauen erst recht nicht. Zupacken und ausweichen im richtigen Moment, darin war er zu Hause. Mit dem Geld war es noch einfacher, da entfiel das Ausweichen.

Selim wollte genug Geld haben, um auch noch andere reich zu machen. Er wollte das große Los sein für seine Freunde. Beim Tee wollte er sitzen und spannende Geschichten hören, unbehelligt von den guten Geschäften, die er gegründet hatte. Die sollten ohne ihn laufen, sich von selbst vermehren. Das war auch die Geschichte, die er erzählen wollte: wie einer allein durch Kraft und gute Ideen reich werden konnte. Das wollte er erst erzählen, dann vollbringen, dann wieder erzählen.

In der Ferne begleitete den Zug eine lange Kette von kahlköpfigen Bergen. Nach einer hohen Flußbrücke kam ein etwas größerer Bahnhof, aber auch durch ihn hindurch rauschte der Zug ohne Halt. Vor dem Stationsgebäude stand eine Frau im kurzen Rock, mit blauen Strümpfen ohne Nähte! Und das war ein Blau! Mesut hatte es gesehen, Ömer war aufgesprungen und klebte seine Wange an die Scheibe, um noch etwas davon leuchten zu sehen. Dann wieder Bauernhöfe mit zahllosen Fenstern, deren oberste, dicht unterm Dach, wie verschlafene Kinderaugen aussahen. Weiter ignorierte der Zug alle Stationen, fuhr durch ein endloses Moor mit windschiefen Holzhütten, wurde aber schließlich doch langsamer und hielt bei einer Stadt namens »Rosenheim«. Es standen einige Menschen am Gleis und wollten einsteigen, aber aus dem Lautsprecher tönte eine knarrende Stimme. Da zuckten alle wieder zurück – er hatte es wohl verboten. Nur einer, ein langer Bursche in Jeans und Anorak, griff trotzdem nach seinem Gepäck, öffnete die Tür und kletterte in den Zug. Nochmals tönte der Lautsprecher, aber der junge Mann stieg nicht wieder aus. Gleich darauf stand er im Gang vor ihrem Abteil, stellte einen Fuß auf den Koffer und sah hinaus, während der Zug wieder anfuhr. Ömer winkte ihm zu, um ihm den Platz zu zeigen, der im Abteil noch frei war. Aber der Deutsche lächelte nur geistesabwesend und wandte den Kopf wieder weg.

»Komische Leute«, sagte Mevlut, »warum steht er, wenn er sitzen kann?« Ömer ging zu ihm hinaus und tippte ihn an. »Bitte«, sagte er auf deutsch und wies auf den freien Platz. Da kam er dann. Er sagte »Guten Tag«, was alle so schön wie möglich nachahmten. Er lächelte verlegen in das Schweigen hinein, zog dann aus dem Kofferriemen eine Zeitung und begann zu lesen. Sie sahen ihn immer wieder an, was er zu merken schien, denn er blickte oft auf, und dann genau in die Augen des zudringlichsten Betrachters. Danach runzelte er regelmäßig beim Lesen die Stirn, als wäre im Geschriebenen etwas unklar. Wahrscheinlich war er Soldat: unterhalb des Haaransatzes hatte ein Mützenschirm oder Helmrand die Stirn weiß gelassen. Da Selim den Deutschen nicht länger taktlos anstarren wollte, sah er wieder aus dem Fenster.

In einiger Entfernung leuchteten meterlange Eiszapfen an mehreren Dachrinnen. Feste Straßenschilder gab es, mit dicken Ausrufungszeichen, und blitzend weiße Kirchtürme mit Haubendächern und darauf noch einmal eine Haube aus Schnee. Wer es hier ein Leben lang aushielt, mußte widerstandsfähig und irgendwie gläubig sein. Die Deutschen, das wußte jeder, waren die meiste Zeit mit Arbeiten, Heizen und Schneeschaufeln beschäftigt. Keine Leute, die viel redeten, und alle riesig und blond wie die Teufel. Wenn sie doch einmal Zeit hatten, dann lasen sie.

Der junge Mann war offensichtlich ein »Rechts-Linkshänder«. Selim hatte es schon bemerkt, als er noch im Gang gestanden hatte. Der wußte nie automatisch, mit welcher Hand er zufassen sollte. Selim kannte das von einigen Trainingsgegnern: linkshändig geboren, dann zur Rechtshändigkeit gezwungen. Gute Theoretiker, aber fürs Ringen zu langsam. Sein Trainer war so einer gewesen. Ein lieber Kerl, er hatte nur zu oft auf die Uhr gesehen.

»KIEL?« fragte Mesut. Der Deutsche lächelte und zuckte mit den Achseln, schüttelte den Kopf. Er sagte auch nicht, wo er statt dessen hinfuhr. Offenbar hielt er »Kiel« für ein türkisches Wort. Schweigen. Der wollte wirklich die ganze Zeitung sofort auslesen.

Niyazi fragte Selim: »Wie ging das denn nun, als du deinen Hahn operiert hast?« Erleichtert wandten sich alle Selim zu und wollten es hören.

»Gut, also da gab es neben der Moschee einen Krämer. Sein Bruder war Arzt in Muğla, daher fragte ich ihn, wie eine Operation geht. Kurz gesagt, es ist ziemlich einfach. Als ich zu Hause war, band ich den Hahn auf einem Brett fest, rupfte ihm an der Brust, da, wo er sich so hart anfühlte, die Federn aus. Ich klaute Vaters Rasiermesser und machte es über einer Flamme glühend. Dann fing ich an zu operieren.«

Alle waren jetzt gespannt und hörten zu. Selim nahm eine Zigarette und ließ sich Feuer geben.

»Hinter der äußeren Haut kam noch eine, und dann der Kropf, und in dem waren lauter dunkelgrüne, harte Blätter, die holte ich heraus. Dann nähte ich den Kropf und die Häute mit Nadel und Faden wieder zu. Ich sagte zu dem Hahn: ›Um neue Federn mußt du dich selbst kümmern!‹«

»Und dann starb er?«

»Unsinn! Kaum war er losgebunden, fing er an zu fressen und krähte, wie es sich gehörte. Es war nämlich Morgen. Er interessierte sich auch sofort wieder für Hennen und Raufereien.«

»Und alles ging weiter glatt?«

»Mit dem Hahn ja. Mein Vater war sauer wegen des Rasiermessers.«

Der Deutsche las, sah aber so aus, als ob er zuhörte, lächelte sogar ein wenig, wenn alle lachten. Vielleicht konnte er doch etwas Türkisch? Die Deutschen lernten ja ständig alles mögliche.

5. Februar 1980

Selim ist verhaftet worden!

Sein Wohnungsnachbar rief mich an und erzählte von Kriminalbeamten, die seine Sachen durchsucht hätten. An der Schweizer Grenze habe man ihn gefaßt und nach Hamburg gebracht. Ich werde ihn dort im Gefängnis besuchen.

Wäre er untergetaucht geblieben, sie hätten ihn nicht gekriegt. Ob er Geneviève gefunden hat?

6. Februar 1980

Für die nächsten Kurse hundertdreißig Anmeldungen, darunter drei Bundestagsabgeordnete auf Giselas Empfehlung. Was man von mir erwartet: Kniffe, Regeln und Checklisten. Sie wollen reden lernen, ohne ihr Leben zu ändern. Und die, die sich ändern wollen, kommen nie darauf, beim Reden anzufangen.

7. Februar 1980

Für nächste Woche alle Termine abgesagt – ich muß zu Selim nach Hamburg. Die Sekretärin fragt entgeistert: »In welchem Verhältnis stehen Sie denn zu dem?«

Gute Frage. Ich sage »Freund«.

Selim ist eine Geschichte, die ich erzählen will.

Selim ist einer, dem ich verpflichtet bin.

In der Türkei Anarchismus und Terror, viele Tote.

13.

Diese Türken fuhren zum ersten Mal in die Bundesrepublik, das war sicher. Was das wohl hieß: »Ki El«?

Alexander hatte das Gefühl, daß etwas Freundliches gesagt werden mußte. Dabei blieb es, denn er konnte nicht glauben, daß in einem engbegrenzten Wortschatz etwas Passendes zu finden sei – es war ihm deshalb immer schwergefallen, mit Kindern zu sprechen. Verlegenes Schweigen.

Der Lautsprecher hatte gerufen: »In den Sonderzug bitte nicht einsteigen.« Aber den regulären Zug hatte er verpaßt, wie sollte er anders zum Anschluß nach München kommen? Und warum hatte der Zug denn dann gehalten? Vielleicht ein eingefrorenes Signal.

Er sah aus dem Fenster. Der letzte Infanterieunterricht fiel ihm ein. »Tarnen von Feldbefestigungen im Schnee«. »Schützenstände bilden starke Lochschatten, daher durch Einsatz von weißen Laken Kontraste verschwimmen lassen. Überprüfung von der Feindseite her, sofern Feind abwesend. Spuren verwischen, sofern vom Feinde einsehbar.«

Zurück zur Wochenendzeitung. Die Türken sahen ihm neugierig zu. Er fahndete nach wichtigen Neuigkeiten. Der Bundeskanzler wollte ein Volkskanzler sein. Der Innenminister plante Notstandsgesetze. Prinz Charles machte sein Abitur. War Churchill nun tot oder nicht? Dann eine halbe Seite über den Auschwitz-Prozeß. Die riß er heraus, faltete sie zusammen und steckte sie in die Tasche seines Anoraks.

Die Türken sahen einander verblüffend ähnlich. Erst ab Bahnhof Grafing erkannte er überhaupt Unterschiede, etwa daß zwei von ihnen keine Schnurrbärte trugen. Arbeitertypen. Es kamen wohl nicht die Besten und Klügsten, um hier zu arbeiten – die Tüchtigsten wurden sicher von Ankara zurückbehalten.

Jetzt redeten sie wieder untereinander, und ihn interessierte, wie. Einer von den Glattgesichtigen beantwortete Fragen und erzählte etwas. Er gab sich dabei offenbar wenig Mühe, brummte mit gerunzelter Stirn, räusperte sich, unterbrach, um eine Zigarette anzuzünden – er wirkte fast unkonzentriert. Oft fiel ihm aber plötzlich etwas ein, und er lachte im voraus, während die anderen auf die Pointe warten mußten. Auffällig war, daß er bei jedem Wort ihre Aufmerksamkeit hatte. Vielleicht erzählte er Märchen, so waren ja die Orientalen.

Dann widersprach einer und sprang dabei auf, scheinbar um das Fenster ganz zu schließen, in Wirklichkeit aber, um im Stehen reden zu können. Auch ihm wurde widersprochen, offenbar mit einem erdrückenden Argument, denn er setzte sich wortlos wieder hin und nahm eine Zigarette. Jetzt redete der andere Bartlose, ein Langnasiger, Schmalschultriger, Spitzfindiger, der im Rhythmus seiner Sprache ununterbrochen energisch mit dem Kopf nickte. Er sprach einmal langsam, dann wieder mit rasender Geschwindigkeit, und seine Sätze fingen meistens mit »Bu« an.

Was bewirkte in einem Gespräch, daß ein Satz geglaubt wurde, daß die Zuhörer bestätigend nickten und keine Fragen hatten? Auf die Wirkung der reinen Wahrheit war ja nicht immer Verlaß.

Als er zur Toilette ging, sah er im Waschraum den einen der beiden Bartlosen stehen und ihm freundlich zulächeln, den mit dem breiten Hals. Alexander nickte zurück, dann ging er weiter. Durch die Kloröhre blickte er auf die rasende Schiene hinab und hoffte auf eine große Zukunft.

14.

Ein dicker Mann mit Pudelmütze und einem Klemmbrett kam ins Abteil und sprach auf sie ein. »Er will die Namen wissen«, sagte Ömer und nannte den seinigen. Er hatte richtig getippt, der Mann malte ein Häkchen auf seiner Liste. Als er alle Namen gefunden hatte, sagte er mit wichtiger Miene: »Ich – Edmund. Eddy – okay?« Alle nickten, weil sie das Wort »Okay« schon gehört hatten.

»Ihr nach Kiel!« sagte Eddy Okay.

»Er ist so eine Art Führer«, meinte Ömer. Dann war die Pudelmütze wieder verschwunden.

In München verabschiedete sich der lange junge Mann; er hob die Hand etwas zaghaft in Schulterhöhe, ließ sie sofort wieder fallen, lächelte und sagte »Auf Wiedersehen«, was alle erwiderten.

Eddy lief am Zug entlang und fuchtelte mit den Armen. Sie sollten aussteigen und essen. Ein türkisches Wort kannte er offenbar: yemek, essen. Sie mußten dazu erst in einen anderen Zug. Nach den Strapazen einer zweitägigen Reise wogen ihre Koffer schwer wie Blei. Wieder hieß es »yemek« – ein Suppenwagen stand auf dem Bahnsteig, und der jetzt wohlwollend lächelnde Eddy schenkte mit einigen Helfern Gulaschsuppe in Papptellern aus. »Es ist kein Schweinefleisch drin«, rief eine Frau sehr schrill auf türkisch durch den Lautsprecher. Sie stand zu nah am Mikrophon. Es gab auch Freßpakete mit gummiartigem Brot, Glibberwurst und einem bräunlichen, ebenfalls gummihaften Käse, zu dem niemand Vertrauen faßte. Damit man sich in Zukunft vor ihm hüten konnte, trug er ein Namensschild: HARZER ROLLER. Es gab etwas zu trinken, was LIMO