Seneca und der Tyrann - James Romm - E-Book

Seneca und der Tyrann E-Book

James Romm

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Beschreibung

Wenn die Philosophen Trauer tragen! Wir kennen den edlen Römer Seneca, den Stoiker und Autor ethischer Schriften, der mit verklärtem Blick seinen Tod erwartet. Aber es gibt noch einen anderen Seneca – den skrupellosen Politiker und Tyrannenlehrer, der als engster Berater Neros fungiert. Seine Geschichte erzählt James Romm in diesem packenden Buch über das alltägliche Sterben am Hof des Kaisers. Wird es Seneca als Erzieher des jungen Nero gelingen, seinen Zögling zum ersten römischen „Philosophenkönig“ zu formen? Dem steht der Sinn eher nach Musik, Frauen und rauschenden Gelagen. Kaum dass er im Jahre 54 seine Regierung antritt, beginnt sich eine Spirale aus Verunsicherung, Misstrauen und Größenwahn zu drehen. Mit scharfem Blick für die Windungen der neronischen Tyrannenherrschaft zeichnet Romm das Grauen nach, das bald in Rom um sich greift. Dort sterben nicht nur vermeintliche Konkurrenten – nein, das Blutvergießen Neros gipfelt im Mord an der eigenen Mutter. Der Kaiser lässt sich auch nicht die Chance entgehen, nach einer gescheiterten Verschwörung in einer wahren ‚Säuberung‘ die führenden Senatoren hinzurichten. Schließlich ist Seneca selbst an der Reihe und muss erkennen, dass sich die süße Milch der Weisheit, mit der er seinen Schüler einst nährte, in das Gift eines Ungeheuers verwandelt hat.

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James Romm

Seneca und der Tyrann

Die Kunst des Mordens an Neros Hof

Aus dem Englischen von Karl Heinz Siber

C.H.Beck

«Nero, Seneca beim Sterben zusehend»Renaissance-Medaillon

ZUM BUCH

Wenn Philosophen Trauer tragen! Da denkt man gern an den edlen Seneca – den römischen Stoiker und Verfasser ethischer Schriften –, wie er mit verklärtem Blick seinen Tod erwartet. Aber es gibt noch einen anderen Seneca – den skrupellosen Politiker und Tyrannenlehrer, der als engster Berater Neros fungiert. Seine Geschichte hat James Romm in diesem spannenden Buch über das alltägliche Sterben am Hof des Kaisers erzählt.

Wird es Seneca als Erzieher des jungen Nero gelingen, seinen Zögling zum ersten römischen «Philosophenkönig» zu formen? Wer will es dem Jüngling verdenken, dass sein Sinn eher nach Musik, Frauen und rauschenden Gelagen steht. Doch kaum, dass er im Jahre 54 seine Regierung antritt, beginnt sich eine Spirale aus Verunsicherung, Misstrauen und Größenwahn zu drehen. Mit scharfem Blick für die Windungen der neronischen Despotenherrschaft zeichnet der Autor das Grauen nach, das schon bald in Rom um sich greift. Dort sterben nicht nur vermeintliche Konkurrenten, nicht nur die fälschlich der Brandstiftung verdächtigten Christen – nein, der Blutrausch Neros gipfelt gar im Mord an der eigenen Mutter. Und der Kaiser lässt sich auch nicht die Chance entgehen, nach einer gescheiterten Verschwörung in einer wahren ‹Säuberung› führende Senatoren hinzurichten. Schließlich ist sein Lehrer Seneca an der Reihe, und der muss erkennen, dass sich die süße Milch der Weisheit, mit der er seinen Schüler einst nährte, in das Gift eines Ungeheuers verwandelt hat. Doch entweder weiß Nero nicht, dass über allen Tyrannen das Schwert des Damokles hängt, oder er verdrängt dieses düstere Fatum, denn auch seine Mörder wetzen bereits die Dolche. Ein zeitloses Lehrstück über Konflikte zwischen Tugend und Korruption, Moral und Macht!

ÜBER DEN AUTOR

James Romm lehrt als Professor for Classics am Bard College in Annandale (New York). Im Verlag C. H.Beck ist von demselben Autor lieferbar: Der Geist auf dem Thron. Der Tod Alexanders des Großen und der mörderische Kampf um sein Erbe (2016).

INHALT

EINLEITUNG: DIE BEIDEN SENECAS

KAPITEL EINS: SELBSTMORD (I) – 49 N. CHR. UND DAVOR

KAPITEL ZWEI: KÖNIGSMORD – 49–54 N. CHR.

KAPITEL DREI: BRUDERMORD – 54–55 N. CHR.

KAPITEL VIER: MUTTERMORD – 55–59 N. CHR.

KAPITEL FÜNF: GATTENMORD – 59–62 N. CHR.

KAPITEL SECHS: BRANDOPFER – 62–64 N. CHR.

KAPITEL SIEBEN: SELBSTMORD (II) – 64–66 N. CHR.

EPILOG: DER GUTE TOD – 68 N. CHR. UND DANACH

DANKSAGUNG

ANMERKUNGEN

Einleitung: Die beiden Senecas

Kapitel Eins: Selbstmord (I)

Kapitel Zwei: Königsmord

Kapitel Drei: Brudermord

Kapitel Vier: Muttermord

Kapitel Fünf: Gattenmord

Kapitel Sechs: Brandopfer

Kapitel Sieben: Selbstmord (II)

Epilog: Der gute Tod

BILDNACHWEIS

DEUTSCHE AUSGABEN ANTIKER TEXTE

LITERATUR

REGISTER

für Tanyameae deliciae, mei lepores

EINLEITUNG

DIE BEIDEN SENECAS

Eine mögliche Beschreibung der Karriere Senecas als Schriftsteller, Denker, Dichter, Moralist und langjähriger engster Berater und Weggefährte des Kaisers Nero könnte lauten:

Ein Mann, zu dessen höchsten Idealen Besonnenheit, Vernunft und moralische Tugendhaftigkeit gehörten, wurde ins Zentrum der römischen Politik katapultiert. Er tat sein Bestes, die Launen eines irregeleiteten Despoten zu mäßigen, während er fortfuhr, die moralischen Abhandlungen zu veröffentlichen, die seine eigentliche Berufung waren. Als sein Einfluss im Palast schwand, zog er sich zurück und schuf in Abgeschiedenheit seine eindringlichsten und nachdenklichsten Werke über Tugend, Natur und Tod. Der Kaiser, dem er lange als Berater zur Seite gestanden hatte, bediente sich, wütend über Senecas Rückzug, eines Vorwandes, um ihn zur Selbsttötung zu zwingen. Seine ihm treu ergebene Frau wollte ihn in seinen nüchternen, tapferen Selbstmord begleiten, entschlossen, mit ihm in den Tod zu gehen, doch kaiserliche Truppen kamen dazwischen und retteten ihr Leben.

Eine andere Möglichkeit, dasselbe Leben zu beschreiben, könnte so lauten:

Ein schlauer Manipulant aus bescheidenen Verhältnissen erschmeichelte sich den Weg ins Machtzentrum des Römischen Reiches. Er nutzte seine glänzende Sprachbegabung dazu, sich als Philosoph darzustellen, nutzte in der Folge seinen großen Einfluss, um sich zu bereichern, und verschuldete einen Aufstand in Großbritannien durch die Wucherzinsen, zu denen er Geld an die Bewohner dieser Provinz verlieh. Nachdem er sich an den finstersten Verbrechen des Palastes als Mitverschwörer oder sogar als Anstifter beteiligt hatte, versuchte er seinen Ruf mit wohlbedacht ausformulierten literarischen Paradestücken zu retten. Als immer klarer wurde, dass der Zorn des Kaisers zur Gefahr für ihn wurde, suchte er Zuflucht am Altar der Philosophie, was ihn nicht hinderte, gleichzeitig ein Mordkomplott zu schmieden. Den letzten Trumpf in seinem Buhlen um Anerkennung spielte er mit seinem theatralischen Selbstmord aus, den mit ihm zu erleiden er seine Frau gegen ihren Willen überredete.

Das sind die beiden gegensätzlichen Vorstellungen, die die Römer des ausgehenden 1. Jahrhunderts von Seneca hatten, der eloquentesten, rätselhaftesten und politisch engagiertesten Persönlichkeit ihrer Zeit. Die erste ist weitgehend dem historischen Drama Octavia entnommen, das ein unbekannter Autor in den letzten Jahrzehnten des 1. Jahrhunderts geschrieben hat. Die zweite hat uns Cassius Dio überliefert, ein römischer Chronist, der mehr als hundert Jahre nach Senecas Tod lebte und sich auf die Schriften früherer Autoren stützte. Es besteht kein Zweifel daran, dass diese Autoren an der Wahrhaftigkeit Senecas zweifelten. Sie glaubten den Gerüchten, denen zufolge Seneca ein ausschweifendes und unersättliches Leben geführt, als Politiker alles dem kalten Kalkül der Macht untergeordnet und eine zentrale Rolle in einer Mordverschwörung gegen Nero im Jahr 65 gespielt hatte.

Zwischen diesen Extremen steht Tacitus, der größte aller römischen Historiker und die bei weitem beste Quelle für das Zeitalter Neros, auf die wir heute zurückgreifen können. Tacitus, ein scharfsinniger Erforscher der menschlichen Natur, war fasziniert von dem Philosophen, der die Vorzüge einer schlichten, arbeitsamen Lebensführung pries, während er zugleich Wohlstand und Macht anhäufte. Doch letzten Endes konnte auch Tacitus das Rätsel Seneca nicht lösen.

Tacitus wählte Seneca zum Protagonisten der letzten drei der erhalten gebliebenen Bücher seiner Annalen; er schuf in diesen drei Bänden ein Porträt, das sich durch große Fülle und Komplexität auszeichnet. Der Grundton dieses Porträts lässt sich jedoch nur schwer bestimmen. Tacitus bleibt im Ungefähren, schwankt in seinem Urteil oder flüchtet sich in Ironie und Mehrdeutigkeit. Seltsamerweise erwähnt er Senecas philosophische Schriften, obwohl er sie kennt, mit keinem Wort, als seien sie für die Deutung seines Lebens nicht von Belang. Er fällt auch kein ausdrückliches Urteil über den Charakter Senecas, wie er es bei anderen oft tut. Letzten Endes müssen wir uns damit abfinden, dass das ausführlichste Porträt Senecas, das auf uns gekommen ist, ambivalent und streckenweise auch zwiespältig bleibt.

Ein weiterer antiker Porträtkünstler hat uns ebenfalls ein Bild Senecas hinterlassen. 1813 kam bei Ausgrabungen in Rom eine aus dem dritten nachchristlichen Jahrhundert stammende Doppelbüste zutage. Sie zeigt auf der einen Seite Sokrates, auf der anderen Seneca; am Hinterkopf sind die beiden Philosophen verbunden wie siamesische Zwillinge, die sich ein Gehirn teilen. Die Entdeckung zeigte der modernen Welt erstmals, wie der wirkliche Seneca aussah, denn sein Name war auf Brusthöhe in die Büste eingraviert. Die Skulptur zeigt einen Mann mit einem fülligen Gesicht, bartlos und glatzköpfig, der eine gleichgültige und selbstzufriedene Miene zur Schau trägt. Sein Gesicht könnte das eines Geschäftsmannes oder Besitzbürgers sein, eines wohlsituierten Mannes, der es gewohnt ist, an einem reich gedeckten Tisch zu essen.

Bis zu der Entdeckung von 1813 galt eine andere Büste als das einzig erhaltene Bildnis Senecas; wir bezeichnen sie heute als den Pseudo-Seneca. Sie zeigt ein hageres, verhärmtes und gehetztes Antlitz mit Augen, die in die Unendlichkeit zu starren scheinen. Dieses Gesicht hatte etlichen Malern, die den Tod Senecas auf die Leinwand bannten, als Vorlage gedient – Giordano, Rubens, David und anderen.

Es gab also erneut zwei Senecas. Der Pseudo-Seneca entsprach dem Bild, das die westliche Welt sich von einem stoischen Philosophen der Antike zu machen beliebte. Seine Verhärmtheit schien zu einem Mann zu passen, der um die Wahrheit ringt und Wohlstand und materiellen Luxus verschmäht. Die Entdeckung des wahren Seneca 1813 ließ diese Vorstellung zerstieben. Die Welt erkannte, als sie dieses füllige Gesicht unter die Lupe nahm, dass Seneca nicht der war, für den man ihn gehalten hatte.

Der Eindruck, den die 1813 wiederentdeckte Büste vermittelt, spiegelt für viele denjenigen Eindruck wider, der beim Studium der Rolle Senecas im Rom Kaiser Neros entsteht. Der Mann, dem wir in den Büchern des Tacitus (und mehr noch in Dios Werk) begegnen, ist nicht der Mann, den wir zu kennen glauben, wenn wir seine moralischen Abhandlungen, seine Briefe oder seine Tragödien gelesen haben. Zu diesen Schriften scheint jener Seneca einfach nicht zu passen, schon gar nicht, was sein Verhältnis zu materiellem Wohlstand betrifft. Die beiden Senecas stehen nebeneinander, und kein Echtheitszertifikat gibt uns die Gewissheit, dass der eine der wahre Mensch ist und der andere ein Phantom.

Was in den nachfolgenden Kapiteln unternommen wird, ist der Versuch, diese beiden Senecas zur Deckung zu bringen. Es ist eine Aufgabe, die ich lange Zeit für unlösbar gehalten habe, und das vielleicht zu Recht. Seneca schrieb eine Menge, verlor aber nur sehr wenige klare Worte über seine politische Laufbahn, und in den politischen Rollen, die er übernahm, ignorierte er häufig Grundsätze, die er in seinen philosophischen Schriften vertrat. Es war mein Bestreben, sowohl den Schriftsteller als auch den Höfling stets im Blick zu behalten, trotz der Tatsache, dass sie keine Notiz voneinander nahmen.

Der falsche Seneca …

Herausgekommen ist dabei ein Buch, das teilweise Biografie, teilweise erzählte Geschichte und teilweise eine Exegese der Schriften Senecas ist, sowohl seiner Prosawerke als auch seiner Versdichtungen. Das Buch bietet weder einen umfassenden Überblick über diese Schriften noch ist es eine erschöpfende Geschichte der neronischen Ära. Der Ehrgeiz, die beiden Senecas zu einer Persönlichkeit zusammenzufügen, hat mich zu einem selektiven Vorgehen in beiden Disziplinen genötigt.

Ich habe das Hauptaugenmerk auf die Texte und Textpassagen Senecas gelegt, die die deutlichsten Bezüge zu seinem Leben am kaiserlichen Hof aufweisen. Das hat zur Folge, dass ich vieles von dem, wonach ein philosophischer Fährtenleser suchen würde, links liegen gelassen habe. Tatsächlich folgt daraus sogar, dass ich alle Schriften Senecas, von denen man nicht weiß, ob sie vor oder nach der Inthronisierung Neros entstanden sind, vollkommen außer Acht gelassen habe. Der Leser wird also feststellen, dass vier wichtige Abhandlungen Senecas in diesem Buch keine Erwähnung finden, die in diese Rubrik fallen. Es sind, um sie nicht ungenannt zu lassen: De Otio, De Providentia, De Constantia Sapientis und De Tranquillitate Animi.

… und der echte. Römische Porträtbüsten aus dem 1. Jh. v. Chr. und dem 3. Jh. n. Chr.

Aus analogen Gründen behandle ich in dem Buch nur den Teil von Neros Leben und Herrschaft, in den Seneca verwickelt war. Ich erzähle also die Geschichte Neros nur bis in die Anfangsmonate des Jahres 66 und lasse die letzten zweieinhalb Jahre seiner Herrschaft aus. Ein glücklicher Zufall will es, dass die erhalten gebliebenen Teile von Tacitus’ Annalen genau bis zu diesem Zeitpunkt reichen (wenn man angesichts dessen, dass die letzten Bände dieses Werks verloren gegangen sind, überhaupt etwas als «glücklich» apostrophieren darf). Ich beschäftige mich kaum mit Neros Außenpolitik und nur wenig mit den unter seiner Herrschaft zuwege gebrachten Errungenschaften im Inneren. Ich habe stattdessen die persönliche Beziehung Senecas zu Nero sowie die Interaktionen der beiden mit Agrippina, Neros Mutter, in den Vordergrund gerückt. Die Geschichte, die ich erzähle, ist, so gesehen, zu großen Teilen ein Familiendrama, sofern man gelten lässt, dass diese drei eine Kernfamilie besonderer Art bildeten.

Familiendramen sind immer spannend, doch die Turbulenzen im Palast Neros waren darüber hinaus auch von großer historischer Tragweite. Die Zukunft einer Dynastie, ja die Zukunft Roms hing davon ab, ob eine Mutter mit ihrem Sohn zurechtkam, ob eine Ehe Bestand hatte und ob ein Privatlehrer es schaffte, sich den Respekt und die Fügsamkeit seines Schülers zu sichern. Dass Nero in extrem jungen Jahren Kaiser wurde und sich in der Folge zu einem immer unberechenbareren Monster entwickelte, machte die Aufgabe, ihn im Zaum zu halten – bzw. das Unvermögen, dies zu tun –, zu einem entscheidenden Faktor für die Zukunft des Reiches und der Welt – denn die Römer sonnten sich gerne in der Überzeugung, ihr Reich erstrecke sich mittlerweile bis an die äußersten Ränder der Erde, über die es sich breitete.

Zu den Quellen, aus denen ich meine Erkenntnisse beziehe, gehören die drei bereits erwähnten Werke: die Annalen des Tacitus, das Drama Octavia aus anonymer Feder und Cassius Dios Römische Geschichte (von der die Abschnitte über die Ära Neros allerdings nur in Fragmenten und Zusammenfassungen vorliegen). Zusätzlich verwendete Quellen sind Suetons Kaiserviten, diverse Texte von Plutarch, Flavius Josephus und Plinius dem Älteren sowie die anonymen antiken Lukan-Biografien. Mein wichtigster und reichhaltigster Fundus sind natürlich die Schriften Senecas selbst – die mich allerdings vor dieselben immensen Probleme gestellt haben wie alle anderen Althistoriker.

Seneca schrieb während Neros gesamter Regierungszeit unablässig und viel, verlor aber kaum je ein geschriebenes Wort über die Herrschaft dieses Kaisers. Nur selten erwähnte er die Personen, mit denen er jahrelang Hand in Hand arbeitete – Claudius, Nero, Agrippina, Burrus, Tigellinus. Vielleicht liegt die Erklärung für diese Diskretion in einem Ehrenkodex, vielleicht aber auch in Senecas Befürchtung, er könne sich mit einschlägigen Äußerungen in Gefahr bringen. So oder so müssen wir uns damit abfinden, dass er ein Œuvre geschaffen hat, das gähnende Lücken des Schweigens aufweist. Sogar die große Feuersbrunst des Jahres 64, eine Katastrophe, die große Teile Roms zerstörte und massive Umwälzungen verursachte, bleibt unerwähnt.

Im Hinblick auf einen Autor, der so feinfühlig auf die Welt um ihn herum reagierte und so tiefgründig über sie nachdachte, wäre die These, sein Leben habe keinen Einfluss auf sein Werk gehabt, unglaubhaft. Seneca-Exegeten haben seit langem diesem Einfluss nachzuspüren versucht; manche haben sehr viel Energie in diese Forschungsarbeit investiert, während andere sich damit begnügt haben, eine Handvoll spekulativer Fragen aufzuwerfen. Ich habe mich in diesem Buch ihrer aller Erkenntnisse bedient und hoffe, zusätzlich ein paar eigene eingebracht zu haben. Ich behaupte nicht, dass man Senecas Texte als verschlüsselte historische Dokumente lesen kann oder sollte, bin jedoch überzeugt, dass sie ein Spiegel der von Seneca erlebten Geschichte sind, wenn auch vielleicht eher im Sinne eines Spiegelkabinetts aus Mythen, Metaphern und Analogien.

Die schon in der Antike einsetzende Diskussion darüber, wer Seneca war und ob er der Bewunderung wert sei, hat nie zu einem schlüssigen Ergebnis geführt. In dem Jahr, in dem dieses Buch entstand, erschien ein populärwissenschaftliches Werk über die Geschichte Roms, das einen vernichtend kritischen Abschnitt über Seneca enthält. Der Autor, der Kunsthistoriker Robert Hughes, behauptet, die antiken Zeitgenossen hätten Seneca als einen Aufschneider ersten Ranges verachtet. «Seneca war ein Heuchler, wie er in der antiken Welt kaum seinesgleichen hatte», schreibt Hughes. «Nur die Wenigsten dürften ihm eine Träne nachgeweint haben.» Im gleichen Jahr erschienen in der US-Presse Artikel über einen Mann Mitte 50, einen Einwanderer aus Osteuropa, der, während er als Hausmeister an der Columbia University Fußböden wischte, gleichzeitig dort studierte und seinen Abschluss machte. Wie der Mann in einem Interview erklärte, hatten die Briefe Senecas ihm die Kraft gegeben, sein Ziel rigoros zu verfolgen. Für ihn war Seneca kein Scharlatan.

Meine größte Herausforderung beim Schreiben dieses Buches bestand darin, zu entscheiden, wie (oder ob) ich seine Hauptfigur beurteilen sollte. Ich schwankte viele Male zwischen widerstreitenden Beurteilungen, manchmal im Verlauf eines einzigen Tages. Nie, auch nicht im Endstadium der Arbeit an dem Buch, hatte ich das Gefühl, die zentralen Fragen, um die es ging, für mich selbst befriedigend beantwortet zu haben. Ich kann nur hoffen, dass ich den Problemfall Seneca wenigstens annähernd in seiner ganzen Tiefe und Komplexität aufgeblättert habe und dabei fair geblieben bin.

Seneca ließ verschiedentlich durchblicken, dass er seinen eigenen Idealen nicht immer Genüge tat. Man kann ihm ankreiden, dass er sich ausmalte, ein besserer Mensch sein zu können als derjenige, mit dem er letzten Endes seinen Frieden machte. Das ändert nichts daran, dass wir seine Vision als schön, bezwingend und zutiefst human empfinden. Er hat damit im Lauf der Jahrhunderte große Schriftsteller und Denker ebenso inspiriert wie Universitätshausmeister.

Unter dem Strich war Seneca ein menschliches, allzu menschliches Wesen mit all den Schwächen und Unzulänglichkeiten, die zum Menschsein gehören. Wie er selbst in einer seiner Apologien andeutete, hielt er sich für einen Mann, der sich nicht mit den Besten messen konnte, aber besser war als die Schlechten. Mehr dürften die meisten meiner Leser wohl auch nicht verlangen.

KAPITEL EINS

SELBSTMORD (I)

49 N. CHR. UND DAVOR

Wie bereitet man einen vorpubertären Knaben auf die Aufgabe vor, die Welt zu regieren?

Mit dieser Frage sah sich das Römische Reich um die Mitte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts konfrontiert, als der regierende Kaiser, Claudius, zusehends abbaute und alles darauf hindeutete, dass die höchste Macht im Staat zum ersten Mal auf einen minderjährigen Erben übergehen würde. Der Anwärter mit den größten Chancen war zwölf Jahre alt: Claudius’ Stiefsohn Domitius, den er kurz zuvor adoptiert und dem er den Namen Nero gegeben hatte. Auch ein leiblicher Sohn des Kaisers, Britannicus, wartete in der Kulisse; er war drei Jahre jünger als Domitius.

Angesichts der Tatsache, dass das gesamte Römische Reich, das sich vom Süden Britanniens bis an den Euphrat erstreckte – ein Weltreich von unermesslicher Macht und Komplexität –, auf den Schultern entweder des einen oder des anderen jugendlichen Thronfolgers ruhen würde, bedeuteten diese drei Jahre womöglich einen himmelweiten Unterschied. Das war zumindest die Hoffnung von Neros Mutter Agrippina, der mächtigsten Frau ihrer Zeit, die seit kurzem mit Claudius verheiratet war.

Es gab in Rom keine Lehrbücher oder Studiengänge, die einen jungen Mann auf das Herrschersein hätten vorbereiten können – auf die Ausübung des acht Jahrzehnte vorher von Kaiser Augustus begründeten und nach wie vor nur unscharf definierten Amtes. Vier «erste Männer» hatten nacheinander dem Amt ihren eigenen Stempel aufgedrückt, mit unterschiedlich großem Erfolg. Der junge Nero, der sich anschickte, der fünfte in der Reihe der Kaiser zu werden, würde sich an ihrem Beispiel orientieren müssen – und für diesen Lernprozess bedurfte es eines Lehrers von außergewöhnlichem Format.

Nero im Knabenalter

Agrippina, die treusorgende Mutter des neuen Thronanwärters, war sich der Anforderungen der Situation bewusst – ebenso wie der Chancen. Ihr Sohn (ihr einziges Kind) musste nicht nur die beste Unterweisung erhalten, die zur Verfügung stand, sondern diese musste sich auch sichtbar vor den Augen des offiziellen Rom abspielen. Die Güteklasse von Neros Lehrern würde, wie jede Personalentscheidung im kaiserlichen Haushalt, die Aussichten auf seine Kür zum Nachfolger seines Adoptivvaters reflektieren. Noch hofften viele Römer, dass Britannicus, Claudius’ leiblicher Sohn, den Platz seines Vaters einnehmen werde; Agrippina hatte indes die Lehrer ihres Stiefsohns entlassen und durch Leichtgewichte ersetzt, um diesbezügliche Erwartungen zu dämpfen.

Ausgestattet mit einem untrüglichen Gespür für Imagepflege, brauchte Agrippina nicht lange, um ihre Wahl zu treffen. Ein überragender Redner und Schriftsteller, ein Mann, dessen hohes Ansehen als Moralist ein gutes Licht auf ihren Sohn werfen würde, befand sich zu der Zeit als Verbannter auf der Insel Korsika und wünschte sich nichts sehnlicher, als nach Rom zurückzukehren. Dieser Mann würde für immer in Agrippinas Schuld stehen – so hoffte sie wenigstens –, wenn sie für seine Begnadigung und Rückkehr sorgte. Er würde alles tun, was sie von ihm verlangte, um den jungen Nero zu erziehen. Kaiser Claudius hatte diesen Mann acht Jahre zuvor aus Rom verbannt, doch sein Vergehen – Ehebruch – erlaubte durchaus eine Begnadigung. Es war denkbar, dass ein von Agrippina bearbeiteter Claudius überredet werden konnte, sein Urteil aufzuheben.

So kam es, dass Lucius Annaeus Seneca nach Rom zurückgerufen wurde, der Mann, den wir einfach als Seneca oder als Seneca den Jüngeren kennen. (Sein Vater, ein Literat von gewissem Rang, trug denselben Namen.) Aus seinem Exil auf dem felsigen Korsika, wo er seine Zeit mit der Beobachtung von Kometen, Sternen und Planeten zugebracht hatte, machte Seneca sich auf den Weg zum Kaiserpalast in Rom, einem Observatorium für die finsteren Abgründe des menschlichen Herzens.

Besser lebte ich verborgen, fern von der Missgunst Bosheit, verbannt inmitten der Klippen des Korsischen Meeres. […] Welche Lust war es, den Himmel zu betrachten, dem an Größe sich nichts vergleichen lässt, was Mutter Natur, einer gewaltigen Schöpfung Baumeisterin, hervorgebracht: der Sonne heiliges Gespann, des Alls Bewegung, der Nacht regelmäßige Wiederkehr, des Mondes Scheibe, welche die wandelnden Gestirne umgeben, und des großen Äthers weithin funkelnde Zier.

Mit diesen Zeilen führt der Autor der Octavia, eines römischen Dramas aus der Feder eines Seneca-Bewunderers, die Figur «Seneca» in das Stück ein. Dieser unbekannte Autor hat uns ein mythisch überhöhtes, aber dennoch faszinierendes Porträt des innersten Machtzirkels um Kaiser Nero hinterlassen, einer im eigenen Saft schmorenden Gruppe, deren vielfach verschränkte Beziehungen untereinander und deren Psycho-Querelen schon zu ihren Lebzeiten den Stoff für Legenden lieferten. Eine Tragödie fürs Theater war nach Überzeugung des Autors das beste Mittel, um das Handeln dieser Personen verständlich zu machen, selbst wenn dafür die eine oder andere historische Tatsache zurechtgebogen werden musste. Viele moderne Dramatiker und Opernkomponisten, darunter Rossini, Monteverdi und Händel, waren derselben Meinung.

Seneca äußerte sich in keiner seiner erhalten gebliebenen Schriften dazu, ob er seinen Weggang aus Korsika je bedauerte, den bei weitem folgenreichsten Schritt, den er in seinem an dramatischen Wendungen reichen Leben tat. Manche behaupteten später, er habe sich in der Hoffnung auf den Weg gemacht, nicht in Rom zu landen, sondern in Athen, um die Werke der großen griechischen Denker in der Stadt zu studieren, in der sie gelebt hatten. Die These könnte einem Versuch entsprungen sein, ihn in ein besseres Licht zu rücken. Seneca hatte viele Unterstützer (darunter den Autor der Octavia), die ihn als den Mann porträtierten, der er zu sein bestrebt war: als einen Moralphilosophen der Schule der Stoiker; und sie versuchten, den von anderen erhobenen Vorwurf zu kontern, er sei ein Politiker, ein habgieriger Geschäftsmann und korrupter Strippenzieher der Macht gewesen, der die Philosophie dazu missbraucht habe, seine wahren Motive zu vernebeln. Die Kontroverse zwischen diesen beiden Auffassungen besteht bis zum heutigen Tag fort.

Nach seiner eigenen Darstellung war Seneca schon im Knabenalter für den Stoizismus gewonnen worden, als Schüler des griechischen Philosophen Attalos, der um die Jahrtausendwende herum in Rom gelehrt hatte.

Zusammen mit seinem Vater und seinen Brüdern war Seneca aus Corduba im heutigen Spanien nach Rom zugewandert, zu einer Zeit, da griechische Gelehrte mit Macht in die Hauptstadt des neuen Weltreichs drängten. Attalos beeindruckte den jungen Seneca mit seiner enthaltsamen Lebensweise, einem Asketentum, das ihn nach eigener Aussage zu einem König machte: Dadurch, dass er nichts brauche – weder Wohlstand noch ein hohes Amt noch feine Kleider und Speisen –, könne er es an Macht und Freiheit mit jedem Monarchen aufnehmen. «Doch mehr als zu herrschen schien er mir, weil ihm das Recht zustand, über Herrschende zu urteilen», schrieb Seneca viele Jahrzehnte später – nachdem er selbst von eben diesem Privileg gekostet hatte.

Attalos war nur einer von mehreren, dessen Angebote der junge Seneca auf Roms geschäftigem Marktplatz der Ideen einsammelte. Kyniker predigten dort einen noch strengeren asketischen Kodex als die Stoiker: Sie wetterten gegen Reichtum und Macht, während sie demonstrativ durchgescheuerte Umhänge trugen und an Brotkrusten knabberten. Pythagoräer verkündeten die mystische Lehre von der Seelenwanderung und verschmähten den Fleischkonsum, in dem sie einen Akt des Kannibalismus sahen. Seneca ließ sich vorübergehend zu dieser Praxis bekehren, doch brachte ihn sein Vater wieder davon ab. In dem betreffenden Jahr, 19 n. Chr., waren in einem Anfall von Fremdenfeindlichkeit jüdische Riten aus Rom verbannt worden, und eine vegetarische Diät hatte eine unerquickliche Ähnlichkeit mit einer koscheren.

Die meisten der Philosophen, denen der junge Seneca zu Füßen saß, waren Zuwanderer aus Griechenland, es war aber auch eine einheimische philosophische Schule entstanden, die bei Seneca großes Interesse weckte. Ihr Gründer, Quintus Sextius, hatte großes Aufsehen erregt, indem er die ihm angebotene Aufnahme in den römischen Senat – ein exklusives Privileg, das ihm von Julius Caesar angedient worden war – abgelehnt hatte. Er hatte es vorgezogen, sich voll und ganz der Philosophie zu widmen, obwohl sich die selbst gestellte Aufgabe anfangs als so schwierig erwies, dass er sich vor lauter Frustration fast aus einem Fenster gestürzt hätte.

Seneca fand großen Gefallen an der Art und Weise, wie Sextius in seinen Schriften moralphilosophische Ideen der Griechen, die sich in deren Muttersprache oft kraft- und saftlos anhörten, in einem zupackenden und scharfkantigen Stil formulierte. In einer Passage bei Sextius, die er bewunderte, fand sich eine militärische Analogie, ein Vergleich zwischen dem Widerstand eines tugendhaften Mannes gegen das Böse und dem hohlen Karree als Kampfformation der Infanterie, mit auf allen vier Seiten nach außen gerichteten Speerspitzen. Die kraftstrotzende Metapher besaß für Seneca den Zauber des Unerlangbaren, denn er litt an Beschwerden der Atemwege und leistete nicht einen einzigen Tag Wehrdienst. Unter den zahllosen Metaphern, die er in seinen Schriften gebrauchte, war der Vergleich des moralischen Ringens (oder des menschlichen Lebens an sich) mit dem bewaffneten Kampf eine seiner liebsten.

In seinen Schriften pries Seneca die Entscheidung des Sextius, die Philosophie zu praktizieren und der Politik zu entsagen; in seiner eigenen Laufbahn war er jedoch nicht so konsequent. Als Resultat eines gedanklichen Entscheidungsprozesses, über den er jedoch seinen Lesern nichts verriet, beschloss Seneca in seinen Dreißigern, beide Wege einzuschlagen. Während er einerseits an asketischen Gepflogenheiten festhielt, die er von Attalos übernommen hatte – etwa nur auf harten Kissen zu schlafen und auf Roms beliebteste Delikatessen wie Pilze und Austern zu verzichten –, und auch weiterhin der Beobachtung von Naturerscheinungen frönte, schlug er auf der anderen Seite den cursus honorum ein, der Sprosse für Sprosse zu immer höheren Ämtern auf der Karriereleiter führte. Als Enddreißiger zog Seneca nach einem Ägypten-Aufenthalt bei einem mächtigen Onkel zusammen mit seinem älteren Bruder Novatus in den Senat ein – genau der Karriereschritt, den Sextius verschmäht hatte.

Vom Status seiner Familie her hatte Seneca keinen Anspruch auf einen Sitz im Senat. Seine Sippe, die Annaei, waren equites, «Ritter», wohlbestallt, aber weder reich noch adelig; nach Roms ständischer Verfassung waren ihnen hohe Ämter nicht zugänglich. Senecas Vater, ein willensstarker knochenharter Mann des Wortes und mit Ende 80 noch immer bei scharfem Verstand, hatte einst für sich auf die adlectio gehofft – jenes magische Verfahren, mittels dessen der Princeps einen Ritter zum Senator erheben konnte –, und sei es nur, um Cicero als Redner erleben zu dürfen. Seine beiden ältesten Söhne erklommen schließlich den Rang, der ihm versagt geblieben war.

Gegen Ende eines langen Lebens erteilte Seneca senior, mittlerweile an den Sitz der Familie in Corduba zurückgekehrt, den Pfaden, für die sich seine beiden Sprosse entschieden hatten, seinen eingeschränkten Segen und pries sogleich seinen geliebten dritten Sohn – den jungen Mela, den stillen und gelehrsamen Bruder – dafür, dass er sich gegen diesen Weg entschied. «Ich sehe, dass dein Wesen keineswegs zu öffentlichen Aufgaben neigt, jedem Ehrgeiz abhold ist und nur begehrt, nichts zu begehren», schrieb der knorrige alte Literat und empfahl Mela sein eigenes Fach, das Studium der Rhetorik. «Deine Begabung übertraf von Kind an die deiner Brüder. […] Deine Brüder freilich streben voller Ehrgeiz», fügte er hinzu, als sei es eine Warnung, «und bilden sich für Forum und Ehrenämter aus, bei denen man selbst das, worauf man hofft, fürchten muss.»

Etwa um die Zeit, als diese Worte niedergeschrieben wurden – kurz nachdem Seneca sein Debüt im Senat gegeben hatte –, brachte Agrippina die Jüngere (so genannt, weil ihre Mutter ebenfalls Agrippina hieß) einen Sohn zur Welt. Es war ein Ereignis von politischer Bedeutung, denn diese Agrippina war eine Urenkelin des Kaisers Augustus und die Schwester des regierenden Princeps Caligula, der selbst noch kinderlos war. Das offizielle Rom registrierte die Ankunft eines vielversprechenden Erben – denn jeder männliche Neugeborene mit Augustus’ Blut in den Adern weckte große Erwartungen, und der kleine Domitius hatte mehr von diesem Blut in seinen Adern als die meisten anderen.

Digitale Rekonstruktion des Sitzungssaals des Römischen Senats in der Curia Iulia, einschließlich der Bänke, auf denen die Senatoren saßen.

Wenn Seneca zusammen mit seinen Senatskollegen diese Geburt bejubelte, wovon sicher auszugehen ist, so ahnte er zu diesem Zeitpunkt wohl kaum, wie sehr sein eigenes Schicksal mit der Zukunft dieses Knaben verknüpft sein sollte. Noch deutete nichts darauf hin, dass diese beiden Leben fast zwei Jahrzehnte lang in einer seltsamen und verwickelten Partnerschaft, die von großem Gewicht für das weitere Schicksal Roms war, miteinander verflochten sein würden. Ebenso wenig konnte Agrippina aus dem Zeichen, das sie bei der Geburt ihres Sohnes erblickte – die auf das Gesicht des Neugeborenen fallenden Strahlen der aufgehenden Sonne –, die Ahnung ableiten, dass dieser Knabe sich eines Tages entschließen würde, sie zu ermorden, und dass er dafür Senecas Hilfe zu gewinnen versuchen würde.

Agrippina war eine höchst aufgeweckte 22-jährige Schönheit, als ihr Sohn auf die Welt kam, und hatte bereits ihre Erfahrungen mit den gefährlichen Klippen dynastischer Politik gesammelt. Ihr Vater Germanicus, ein viel bewunderter Kriegsheld, den sich viele als Princeps gewünscht hatten, war unter ungeklärten Umständen gestorben, als sie noch ein Kind war; seine Asche, von Agrippinas Mutter aus dem Ausland heimgeführt, hatte im ganzen Reich Kundgebungen der Trauer veranlasst. Im Laufe der folgenden 15 Jahre hatte Agrippina ihre Mutter und zwei ihrer drei Brüder durch politischen Mord verloren. Dem regierenden Princeps Tiberius war die kultische Verehrung der Massen für Germanicus ein Dorn im Auge, und er beäugte mit Argwohn die verwaisten Kinder, auf die ein Teil davon abfiel. Dennoch verschonte er Agrippina und ihre Schwestern ebenso wie den letzten überlebenden Sohn des Germanicus, Gaius – der Nachwelt unter seinem Spitznamen Caligula bekannt –, den er am Ende sogar adoptierte.

Tiberius war vor kurzem verstorben, und die vier Geschwister waren gerade erwachsen geworden, als Agrippina Mutter wurde. Caligula war offiziell nur Mitherrscher, gleichberechtigt mit Tiberius’ Enkel, doch er schaltete seinen Partner schnell aus und übernahm die Alleinherrschaft. Ein schneidiger junger Mann von 25 Jahren, gesund an Körper und (vorläufig noch) Geist, wurde Caligula als Heilsbringer begrüßt, der Rom ein neues goldenes Zeitalter bescheren würde; seine drei bezaubernden Schwestern verliehen ihm zusätzlichen Glanz. Caligula machte seine Schwestern sogar zu Teilhaberinnen seiner Macht, indem er in die Eidesformel für den Treueschwur, der jedes Jahr auf den Princeps abgelegt wurde, ihre Namen einfügte. Agrippina hatte als eines der gerühmten Kinder des Germanicus einen Nimbus erlangt wie noch keine römische Frau vor ihr; und sie war vermögend, dank ihrer Verheiratung – als 13-jährige – mit dem reichen Aristokraten Domitius Ahenobarbus, dem Vater Neros.

Agrippina durfte an Sitzungen des Senats nicht teilnehmen (was sie später allerdings zu ändern versuchte), aber sie erfuhr eine Menge darüber, was sich in dieser turbulenten Kammer, der curia, abspielte. Ein Redner, der seit kurzem dabei war, Lucius Annaeus Seneca, erregte Aufsehen mit seinem neuartigen rhetorischen Stil, einer verführerischen Prosa aus kurzen wuchtigen Sätzen und prägnanten Epigrammen. Agrippina schloss Freundschaft mit Seneca, der fast zwei Jahrzehnte älter war als sie und zudem als eques deutlich unter ihr (und seinen Senatorenkollegen) rangierte. Agrippinas Schwester Livilla tat es ihr gleich, und diese Beziehung ging, wie manche zu wissen glaubten, über reine Freundschaft hinaus.

Agrippinas Bruder hatte für Seneca nichts übrig, und erst recht nichts für den epigrammatischen Stil, dessen er sich als Redner bediente. «Sand ohne Kalk», so charakterisierte Caligula die Reden Senecas, eine bildliche Anspielung auf das Baugewerbe, in dem Sand und Kalk zu Mörtel gemischt wurden. Den Reden Senecas fehlte es für Caligulas Geschmack an Gediegenheit – eingängige Phrasen, aneinandergereiht ohne ein rhetorisches Bindemittel, das ihnen Festigkeit verliehen hätte. Diese Kritik ist in den verschiedensten Formen seither immer wieder geäußert worden; so schrieb Lord Macaulay in den 1830er Jahren: «Es gibt [bei Seneca] kaum einen Satz, den man nicht zitieren könnte; aber seine Schriften am Stück zu lesen, ist so, wie zum Abendessen ausschließlich Sardellensauce serviert zu bekommen.» So gesehen, seien Senecas Reden nichts als commissiones, deklamatorische Paradestücke ähnlich denen, wie sie bei einem Rednerwettstreit zu Beginn großer öffentlicher Spiele vorgetragen wurden.

Senatoren wie Seneca waren in der Anfangsphase von Caligulas Regierung willkommene Besucher in der Residenz des Kaisers, denn der Senat hatte den neuen Princeps bejubelt und sich beeilt, ihm die Herrschermacht zu übertragen. Wie freilich die Geschichte Roms lehrte, würde diese freundschaftliche Beziehung nicht von Dauer sein. Der Senat, in dem die Erinnerung an die zentrale Rolle, die er in der Republik gespielt hatte, noch lebendig war, hatte sich nie mit dem Kaisertum ausgesöhnt, auch nicht, nachdem der Versuch, es abzuwenden – durch die Ermordung Julius Caesars –, fehlgeschlagen war. Ein blutiger Bürgerkrieg hatte die Entscheidung gebracht, Augustus hatte die Macht übernommen. Doch sowohl er als auch sein Nachfolger Tiberius hatten darum gerungen, einen modus vivendi mit den halsstarrigen Senatoren zu finden. Wenn dieses Bemühen wieder einmal fehlschlug, führte das oft dazu, dass der eine oder andere starre Hals unter dem Schwert endete.

Mitglieder der Prätorianergarde; Relief aus dem 1. Jh. n. Chr.

Seit siebzig Jahren versuchte der Senat nunmehr, seine alten Prärogativen wieder geltend zu machen. Doch der Princeps hatte immer das letzte Wort, auch dank seiner persönlichen Leibwache, der Prätorianergarde. Diese Elitetruppe, deren Kaserne sich am nordöstlichen Rand der Stadt befand, hatte als einzige das Recht, im Stadtgebiet Roms Waffen zu tragen. Jeder römische Kaiser hatte Sorge dafür getragen, dass die Prätorianer – und namentlich ihre Präfekten oder Kommandeure – gut verpflegt und gut bezahlt wurden und seiner Sache treu ergeben waren. Es galt zwar als unschicklich für einen Princeps, die Prätorianer gegen den Senat in Stellung zu bringen, doch waren sich alle Beteiligten sicher, dass die Truppe im Zweifelsfall den Befehlen des Kaisers gehorchen würde.

Die Prätorianer waren für den Princeps also das Machtmittel letzter Wahl. Caligula wagte es, als es mit seiner Psyche bergab ging und er in immer stärkeren Gegensatz zum Senat geriet, die Grenzen dieser Waffe auszuloten – und sein Blatt am Ende zu überreizen.

Niemand weiß mit Bestimmtheit, wie der Bruch seinen Anfang nahm, doch Seneca als Zeitgenosse bezeugt die erschreckenden Dimensionen, die er erreichte. Caligula geistert durch die späteren Schriften Senecas wie ein Ungeheuer in einem wiederkehrenden Albtraum, ein Ungeheuer, das Senatoren verhaften, foltern und töten lässt oder aus purem Sadismus ihre Frauen vergewaltigt, um die Männer anschließend mit genüsslichen Schilderungen der Gewalttat zu verhöhnen. Es habe den Anschein, schrieb Seneca über die Tollheit Caligulas, als habe die Natur ihn nur hervorgebracht, «um zu zeigen, wozu höchste Lasterhaftigkeit im höchsten Glück imstande sei».

Unter den ersten, die Caligula zu seinen Opfern erkor, als seine Geisteskrankheit einsetzte, waren seine Schwestern Agrippina und Livilla. Sie waren seine engsten Gefährtinnen gewesen, zusammen mit einer dritten Schwester namens Drusilla, von der manche glaubten, sie sei auch seine Geliebte gewesen. Drusilla starb 38 n. Chr. an einer Krankheit, was Caligula in tiefste Trauer stürzte; er ging aus diesem persönlichen Desaster als veränderter Mensch hervor. Ohne Vorwarnung beschuldigte er seine überlebenden Schwestern während eines Freizeitaufenthalts auf einem schicken Landsitz, sie unterhielten – beide zugleich – ein Liebesverhältnis zu ihrem verwitweten Schwager Lepidus und hätten sich verschworen, diesen auf den Thron zu setzen.

Der Senat gab der Forderung nach, ein Urteil im Sinne des Kaisers zu fällen: Agrippina und Livilla wurden zu Staatsfeindinnen erklärt und auf die Pontinischen Inseln verbannt, winzige felsige Eilande im Tyrrhenischen Meer. Vermutlich hatte Caligula nicht vor, sie jemals zurückkehren zu lassen.

Im Alter von 23 Jahren ging Agrippina in die Verbannung, ihren Säugling in der Obhut ihres Mannes und ihrer Schwägerin zurücklassend. Vor ihrer Abreise krönte Caligula ihre Verurteilung noch mit einem Akt der Demütigung (seiner persönlichen Spezialität): Er zwang Agrippina, im Rahmen einer öffentlichen Begräbnisprozession die Asche ihres angeblichen Geliebten, des mittlerweile hingerichteten Lepidus, zu tragen. Es war eine grausame Parodie auf den heroischen Triumphzug ihrer Mutter zwei Jahrzehnte zuvor, als diese die Asche ihres Vaters Germanicus nach Rom gebracht hatte.

Ideenreich in seinem Sadismus, hatte Caligula einen Weg gefunden, seine Schwester, seinen toten Schwager und den Nachruhm seiner toten Eltern in einem einzigen inszenierten Spektakel zu beschmutzen. Anschließend ließ er Agrippinas Besitztümer an bärtige Germanen versteigern und machte seine Schwester so zur Besitzlosen.

Die Verbannung auf die Pontinischen Inseln hatte bislang für die meisten Nachkommen des Augustus den Tod bedeutet, und auch in diesem Fall schien sie nur eine Vorstufe zu sein. Er habe «nicht nur Inseln, sondern auch Schwerter», hatte Caligula gewitzelt, als er seine Schwestern wegbringen ließ. Doch wundersamerweise schleppten sich die Monate dahin, ohne dass vor Agrippinas oder Livillas Gefängnis Prätorianer aufmarschiert wären, und auch die Verpflegungsrationen wurden nicht gestoppt. Caligula ließ seine Schwestern, aus welchen Gründen auch immer, erst einmal am Leben.

Vielen Römern wurde die vermeintliche Lepidus-Verschwörung zum Verhängnis; darunter waren Aristokraten, die eine Generation zuvor einen versuchten Staatsstreich unterstützt hatten, unternommen von einem Prätorianerpräfekten namens Seianus. Caligula war noch ein Kind gewesen, als sein Adoptivvater Tiberius diese Revolte niedergeschlagen hatte. Doch Caligula steigerte sich allmählich in den Verdacht hinein, die übrig gebliebenen Seianiani, die Unterstützer des Seianus, hätten sich gegen ihn verschworen; die beiden Komplotte, zwischen denen 15 Jahre lagen, wuchsen in Caligulas kranker Phantasie zu einem zusammen. Und sein Argwohn fiel auch auf Seneca, dessen Familie einige kaum zu übersehende Verbindungen zu den Seianern unterhielt.

Vielleicht fürchtete Seneca, der Ruch der Seianus-Verschwörung hafte auch 15 Jahre danach noch an ihm und werde Caligula in die Nase steigen. Das ist jedenfalls ein Schluss, der aus dem Umstand gezogen worden ist, dass er zu diesem Zeitpunkt eine Abhandlung veröffentlichte – seine früheste erhalten gebliebene philosophische Arbeit.

Die Trostschrift an Marcia, entstanden ca. 40 n. Chr., ist in die Form eines Briefes an eine um ihren toten Sohn trauernde Mutter gekleidet, war aber für ein breites Lesepublikum bestimmt. Es war derselbe rhetorische Kniff, den Seneca sein Leben lang immer wieder anwandte: seinen Lesern das Gefühl zu geben, sie würden Zeugen eines persönlichen Zwiegesprächs. Der Adressat seiner Briefe war häufig ein Familienmitglied – mehr als einmal sein älterer Bruder Novatus – oder ein enger Freund. In diesem Fall war es freilich eine Frau mittleren Alters aus senatorischer Familie namens Marcia, die in keiner nachvollziehbaren persönlichen Beziehung zu Seneca stand. Sie war die Tochter eines gewissen Cremutius Cordus, der seinerzeit von Seian verfolgt worden war.

Seian war im Jahr 25 n. Chr. zu dem Schluss gekommen, Cordus, ein Senator und Teilzeit-Historiker, habe sich des Hochverrats schuldig gemacht, indem er Brutus und Cassius, die Mörder Julius Caesars, als tapfere Männer porträtiert hatte. Cordus hatte sich im Senat verteidigt und dabei den Vorwurf erhoben, die Redefreiheit sei noch nie zuvor so brutal unterdrückt worden. Allein, die Stimmung im Senat und die stirnrunzelnde Miene des die Verhandlung verfolgenden Kaisers ließen ahnen, wie das Urteil ausfallen würde. Cordus begab sich nach Hause, schloss sich ein und begann bis zum Tode zu fasten.

Den Fortgang der Geschichte erzählt Seneca in der Trostschrift an Marcia. Vier Tage nachdem ihr Vater sich eingeschlossen hatte, verschaffte sich Marcia Zutritt zu seinem Zimmer und stellte fest, dass er dabei war, sich zu Tode zu hungern. Er flehte sie an, ihn nicht daran zu hindern. Unterdessen hatte sich im Senat herumgesprochen, dass Cordus versuchte, Seian um seine Trophäe zu betrügen. Dessen Anhänger vertraten den Standpunkt, ein Angeklagter dürfe sich nicht auf solche Weise seinem Prozess und seinem Urteil entziehen, und plädierten für die Verhaftung und Hinrichtung des Cordus. Während die Debatte darüber noch andauerte, gelang es Cordus, des gewünschten Todes zu sterben. Erzürnte Staatsdiener ordneten die Verbrennung seiner historischen Schriften an, doch ein Exemplar blieb erhalten, und mit Hilfe Marcias gelang es zwölf Jahre später, als sowohl Tiberius als auch Seian tot waren, das Werk wieder in Umlauf zu bringen.

Es ist ein eigenwilliger Kniff, den Seneca hier anwendet: Marcia in einem Brief, der ihr Trost spenden soll, mit der Erinnerung an schmerzliche Vorgänge im Zusammenhang mit der Verhaftung und dem Selbstmord ihres Vaters zu konfrontieren. Vielleicht war es einfach ein Fall von Taktlosigkeit. Doch vielleicht stellte er sich damit auch, wie einer seiner modernen Exegeten vermutet, dezidiert auf die «richtige» Seite eines politischen Grabenbruchs. Wenn es gefährlich war, mit Freunden von Seian befreundet zu sein, dann versprach es Sicherheit, Freundschaft mit seinen Feinden zu schließen – und diese Freundschaft aller Welt zu offenbaren. Dieser Lesart zufolge steckte hinter Senecas Trost für Marcia ein egoistisches Motiv.

Beweisen lässt sich nichts, doch die These fügt sich ein in ein Muster des Opportunismus, das einen Großteil der Schriften Senecas durchzieht. Sein Umgang mit dem geschriebenen Wort war so virtuos, seine Rhetorik so subtil, dass es ihm ein Leichtes war, sich selbst zu helfen, während er anderen half. Die Herausforderung für den heutigen Leser besteht darin, zu entscheiden, welches Motiv in diesem oder jenem Werk bestimmend ist. Vielleicht wusste Seneca das oft selbst nicht.

In ihrer vordergründigen Zweckbestimmung bedient sich die Trostschrift an Marcia stoischer Ideen und Methoden für den Umgang mit dem größten Leid, das einem Menschen widerfahren kann, dem Verlust eines Kindes. Seneca porträtiert sich selbst als Arzt, der die Wunden eines Patienten reinigt. Diese Wunden haben zu eitern begonnen: Mehr als zwei Jahre nach dem Tod ihres Sohnes Metistius trauert Marcia noch immer. In der Redeweise der Stoiker hat sie in einem gefährlichen Maß den Bezug zur Vernunft verloren, dem Element, das uns erst zu einer vollwertigen Persönlichkeit macht. Das Göttliche hat dieses Element in die menschliche Seele gepflanzt, ebenso gewiss wie sie den menschlichen Leib mit einem denkenden Gehirn gekrönt hat. Wenn es Marcia nicht gelingt, der Vernunft wieder den ihr zustehenden Vorrang zu verschaffen, wird sie ihr Menschsein und ihre Hoffnung auf Glück verlieren.

Das Recht zu trauern spricht Seneca Marcia nicht ab; das zu tun wäre gefühllos – und Gefühllosigkeit wurde, wie Seneca sehr wohl wusste, den Stoikern oft vorgeworfen. Senecas Spielart des Stoizismus war sanfter, empfänglicher für menschliche Schwächen. Seneca räumt ein, dass Trauern für Eltern nach dem Verlust eines Kindes eine natürliche Reaktion ist, doch Marcias Trauer wächst in seinen Augen über die natürlichen Grenzen hinaus. Die Natur war für Seneca, wie für alle Stoiker, das Maß aller Dinge; sie war aufs engste mit der Vernunft und mit dem Göttlichen verbunden. Diese drei Begriffe waren in der Tat für die Stoiker annähernd synonym.

Marcias Trauer stand aus Senecas Sicht beispielhaft für eine universelle menschliche Blindheit. Wir gehen davon aus, dass wir Dinge besitzen – Familie, Vermögen, Stellung –, während wir sie in Wirklichkeit doch nur vom Schicksal geborgt haben. Wir halten es für gottgegeben, dass sie uns für alle Zeit erhalten bleiben, und trauern, wenn wir sie verlieren; doch der Verlust ist der normalere Vorgang – er ist das, womit wir von vornherein hätten rechnen müssen. Unser Zustand gleicht, wenn wir ihn richtig einschätzen könnten, dem einer Streitmacht, die eine gut befestigte Stadt angreift: Jeden Augenblick kann sich ein mit Widerhaken versehener Pfeil in unser Fleisch bohren. Gleich darauf vergleicht Seneca, eine andere Metapher herbeiziehend, unser Schicksal mit dem eines verurteilten Verbrechers: «Wenn Du beklagst, dass Dein Sohn sterben musste, dann liegt beim Tag seiner Geburt die Schuld: Der Tod wurde ihm angekündigt, als er auf die Welt kam.»

Ist ein Leben auf dem Schlachtfeld oder in der Todeszelle wert, gelebt zu werden? Seneca scheint in dieser Frage uneins mit sich selbst zu sein. An einer Stelle schwärmt er von der Schönheit der Welt, von den Freuden, die jedes Leid wettmachen. An einer anderen zählt er die Schmerzquellen des sterblichen Lebens auf und behauptet, wenn das Leben uns als Geschenk angeboten würde, anstatt dass wir hineingestoßen werden, würden wir es dankend ablehnen. In jedem Fall sei das Leben, wenn man es richtig betrachte, nur eine Reise auf den Tod zu. Wir begehen den Fehler, nur von den Alten und Kranken zu sagen, sie seien dem Tod geweiht, wo das doch für Säuglinge und Jugendliche genauso bestimmt zutreffe. Laut Seneca sterben wir jeden Tag, wir alle. Dieses Werk früh zu vollenden, wie Marcias Sohn es getan habe, sei ein beneidenswertes Los.

Manche von Senecas Tröstungen klingen hohl oder erscheinen geschmacklich fragwürdig. Wenn er Marcia rät, dankbar zu sein, dass sie das Glück hatte, ihren Sohn aufziehen zu können, so wie ein Züchter sich daran freut, Welpen großzuziehen, nur um sich von ihnen zu trennen, sobald sie ausgewachsene Hunde sind, so ist das nach unserem Gefühl eine Analogie zu viel. Während seiner ganzen Laufbahn hatte Seneca mit dem Stigma des schreibenden Leichtfußes zu kämpfen, der nicht wisse, wann er aufhören müsse. Seine Trostschrift an Marcia ist aber im Großen und Ganzen ein inspirierendes Werk, leidenschaftlich im Ton und umfassend in der Vielzahl seiner Botschaften. Worauf es Seneca ankam – und an diesem Ziel sollte er für die Dauer des nachfolgenden Vierteljahrhunderts festhalten –, war das Denken der Menschen über unsere größte Krise, den Tod, zu verändern.

Die Trostschrift für Marcia endet mit einer bizarren Hyperbel, aus dem Repertoire der Stoiker stammend, aber von Seneca zu einer ganz eigenen Kreation verarbeitet. Der griechische Stoizismus vertrat die Lehre, die Welt werde in einem regelmäßigen Turnus im Feuer verglühen und danach neu geschaffen. Es war dies eine Vorstellung, die im zeitgenössischen Rom kaum mehr gefragt war, der Seneca jedoch in dieser Schrift und in anderen Werken neues Leben einhauchte. Er fordert Marcia auf, sich ihren Vater, den heroischen Selbstmörder Cordus, als Bewohner einer anderen Sphäre vorzustellen, die sehr viel Ähnlichkeit mit dem christlichen Himmel hat. (Dabei hatte das Christentum zu diesem Zeitpunkt in Jerusalem, eine halbe Welt entfernt, gerade erst die Weltbühne betreten und war noch kaum an römische Ohren gedrungen.) Von seinem alles überblickenden Platz im Himmel aus sieht Cordus voraus, was kommen wird:

Nichts bleibt an dem Ort stehen, wo es steht, alles wird das Alter niederzwingen und mit sich reißen. Und nicht mit den Menschen allein […], sondern auch mit Örtlichkeiten, Landschaften, Erdteilen wird das Schicksal sein Spiel treiben. Ganze Berge wird es einebnen und anderswo Felsen hoch auftürmen, Meere austrinken, Flüsse in ein anderes Bett lenken, den Verkehr zwischen Völkern unterbrechen und die Gemeinschaft und Einheit des Menschengeschlechts spalten. Anderswo wird es in unermesslichen Abgründen Städte verschwinden lassen, andere durch Erdbeben erschüttern und aus der Tiefe verderbliche Dämpfe senden, mit einer Sintflut alles bewohnte Land bedecken und jegliches Wesen töten, weil die ganze Erde im Meer versinkt. Auch in riesigen Feuersbrünsten wird es verbrennen und einäschern, was vergänglich ist. Und wenn die Zeit kommt, dass die Welt, um neu zu werden, sich vernichtet, dann wird aus eigener Kraft dies alles sich zerschmettern, Sterne werden gegen Sterne rasen und, weil jeglicher Stoff brennt, wird in einem Feuer alles, was nun in schöner Ordnung leuchtet, verglühen.

All dies bietet er auf, um Marcia zu trösten und ihr zu veranschaulichen, dass ihre individuellen Verluste – wie der Tod des Metistius – bald jede Bedeutung verlieren würden. Die zitierte Passage zielt jedoch in ihrer ekstatischen Intensität weit über dieses Anliegen hinaus. Es drängt sich der Eindruck auf, dass Seneca, da er selbst die Bösartigkeit Caligulas erdulden musste, aus der Vorstellung, das Ende der Welt sei nahe, eine Art tiefe Befriedigung schöpfte.

Was Seneca bald nach der Veröffentlichung der Trostschrift an Marcia erwartete, war indes nicht die Apokalypse, sondern die Erlösung.

Eines Morgens Anfang 41 n. Chr. erwachte Caligula, damals in seinem vierten Jahr als Princeps, aus einem seltsamen Traum. Er hatte auf dem Olymp zu Füßen Jupiters gesessen, als der Gott ihm einen Schubs mit dem großen Zeh versetzt und ihn in den Abgrund gestoßen hatte. Es war ein prophetischer Traum, denn noch vor Ablauf des nächsten Tages war Caligula ein toter Mann.

Er hatte seine zügellose Bösartigkeit so weit getrieben, dass er damit sogar seine Prätorianer gegen sich aufgebracht hatte. Blieb er an der Macht, würde er, so fürchteten sie, das Prinzipat selbst in Gefahr bringen, die Institution, die ihre Lebensgrundlage und ihr Daseinszweck war. Daher machten die Prätorianer gemeinsame Sache mit den Senatoren, die Caligulas erstrangige Opfer waren. Eine Gruppe Soldaten lauerte ihm in einem unterirdischen Korridor auf, der aus einem Theater führte, und stach auf ihn ein, bis er tot war. Sein Leichnam wurde unfeierlich eingeäschert, seine Asche mit einer flachen Kuppe Erde bedeckt.

Die tödlichen Dolchstöße in den Leib Caligulas veränderten die ungeschriebene Definitionsgrundlage des Prinzipats für immer. Sein experimenteller Ausflug in die Sphäre der absoluten Macht hatte den Beweis dafür geliefert, dass es am Ende doch einen Riegel gab, der vorgeschoben werden konnte – und zwar von den Prätorianern. Sie rissen in den Stunden, die auf den Tyrannenmord folgten, auch eine maßgebliche Rolle bei der Wahl des Nachfolgers an sich. Während der Senat noch unentschlossen über die erhoffte Rückkehr zur Republik palaverte, schnappten sich Soldaten Caligulas kränklichen Onkel väterlicherseits, Claudius – der Legende nach fanden sie ihn zitternd hinter einem Vorhang, doch wahrscheinlicher ist, dass er schon vorbeugend eingeweiht worden war –, und brachten ihn zur Kaserne der Prätorianer, wo er mit dem Hochruf «Imperator!» empfangen wurde.

Claudius bedankte sich seinerseits bei der Garde mit einer überaus üppigen Belohnung von fünf Jahresgehältern pro Mann. Die Prätorianer hatten, indem sie einen Kaiser abserviert und einen anderen installiert hatten, einen Präzedenzfall geschaffen, der noch Jahrhunderte nachwirken sollte – und waren für ihre Leistung reich belohnt worden. Sie hatten sich aus einer Ehrengarde und Leibwache in die heimlichen Königsmacher Roms verwandelt. Wobei Claudius freilich kein König war, sondern Inhaber eines etwas vage definierten, weniger substantiellen Herrscheramts. Rom hatte der erblichen Monarchie schon vor Jahrhunderten abgeschworen und konnte sich selbst nicht eingestehen, dass ein rex – das bloße Wort galt schon als hochgefährlich – wieder der oberste Lenker von Staat und Reich war.

Der Senat, der drei vorausgegangene Kaiser formell inthronisiert hatte, war an diesem Machtwechsel nicht beteiligt. Die Plötzlichkeit, mit der Caligula implodiert war, hatte den Senatoren keine Zeit gelassen, sich hinter dem neuen Staatsoberhaupt zu formieren. Claudius, der wusste, dass der Senat ihm misstraute, hütete sich einen vollen Monat lang, die curia zu betreten – und als er es tat, brachte er einen Leibwächter mit. Er war ein Geschöpf der Prätorianer, gewählt von niemandem außer ihnen. Er stellte das auf seinen Münzen offen zur Schau, von denen etliche die Tore der Prätorianerkaserne zeigten, andere einen Soldaten, der Claudius an der Hand führt.